White Lives Matter - Jasmina Kuhnke - E-Book

White Lives Matter E-Book

Jasmina Kuhnke

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Beschreibung

Struktureller Rassismus über Jahrhunderte: Eine Alternativ-Weltgeschichte Anna ist 20 Jahre alt und studiert Geschichtswissenschaft. Sie ist die Erste ihrer Familie, die es geschafft hat, eine Zulassung an der Hochschule zu erhalten. Denn für Weiße ist es eher ungewöhnlich, einen Studienplatz zu bekommen. Um nicht aufzufallen und diesem Privileg gerecht zu werden, verhält sich die junge Frau möglichst unauffällig. Bis ihr Bruder Alexander plötzlich brutal aus ihrem Leben gerissen wird und sie sich die Frage stellen muss, ob sie wirklich weiter mit geducktem Kopf leben und die Diskriminierung der Gesellschaft akzeptieren kann. - Der zweite Roman von Own-Voices-Autorin Jasmina Kuhnke: ein aufrüttelndes, gesellschaftskritisches Buch - White Lives Matter: Ein Parallelwelt-Roman über strukturellen Rassismus - Annas Entwicklung: Von der Zurückhaltung zum politischen Aktivismus - Dystopie über Anti-Rassismus: Ein Aufruf zu Inklusion und Gleichstellung der Spiegel-BestsellerautorinDie Welt auf den Kopf gestellt, um aufzurütteln: Ein Buch gegen Rassismus Jasmina Kuhnke hält mit ihrem Buch der weißen Gesellschaft einen erschreckenden Spiegel vor. Eine Geschichte voller Alltagsrassismus und Ausgrenzung aufgrund der Hautfarbe – nur dass es diesmal die Weißen trifft. Annas Weg zur "White Lives Matter"-Bewegung ist geprägt von traumatischen Erlebnissen und dem neu erworbenen Wissen aus ihrem Studium. Ihr Ausbruch aus der Zurückhaltung in den Kampf für grundlegende Rechte ist beispielhaft für politischen Aktivismus. Hier trifft Gänsehaut-Spannung auf Gesellschaftskritik und verbindet sich zu einem packenden Roman über das Thema Rassismus und Diskriminierung!

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Seitenzahl: 328

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Über die Autorin:

Jasmina Kuhnke ist Schriftstellerin und Filmschaffende. Mit ihrem Debütroman »Schwarzes Herz« gelang Kuhnke ein Bestseller.

1. Auflage 2024

© 2024 WeCreate Books - Ein Verlag der WeCreate Germany GmbH

Sternstraße 117

D-20357 Hamburg

ISBN: 978-3-911034-03-6 eISBN: 978-3-911034-04-3

Texte: Jasmina Kuhnke

Lektorat: Victoria Linnea

Umschlaggestaltung: Sandra Lehmann

Coverabbildung: Falk Lehmann

Beratung: Nic Wellnitz und Yong Ah Thwin

Satz: Gradoo Publish

Korrektorat: Elisa Garrett

Druck und Bindung: Gradoo Publish

WeCreate Books – Ein Verlag der WeCreate Germany GmbH

https://wecreate-books.com/

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Der Inhalt dieses Buches wurde mit größter Sorgfalt von der Autorin und dem Verlag erarbeitet und geprüft. Eine Garantie kann jedoch nicht übernommen werden. Eine Haftung der Autorin bzw. des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- oder Vermögensschäden ist ausgeschlossen. Alle Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig, alle geschilderten Situationen frei erfunden.

Für M, N, Y, Y & B

In liebevollem Gedenken an Mouhamed Dramé

»Try walking in my shoes«

Inhaltswarnung

Dieser Roman enthält explizite Darstellungen körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt, Rassismus, Sexismus und Misogynie, diskriminierende Sprache und Beschimpfungen, psychische Krankheiten und Konsum von Alkohol und Drogen. Bitte achten Sie beim Lesen auf sich, da diese Inhalte belastend und retraumatisierend sein können.

INHALT

PROLOG

Süden, 31. August 1882, dreizehn Uhr mittags Eva

LITTLE GIRL BLUE

REDEMPTION SONG

Süden Eva

COLOR IS A BEAUTIFUL THING

Norden, 4. Januar 1897, morgens Karl

BEAUTIFUL STRUGGLE

Norden, 4. Januar 1897, nachts Karl

Süden, 30. Oktober 1831 Erik

FAMILY TIES

GOOD DAYS

RUMBLE IN THE JUNGLE

I CAN’T BREATHE

HURT

FUCK THA POLICE

HEARTBEAT

CHANGES

UNITED IN GRIEF

THE SURE SHOT

Westen, 28. August 1955 Hermann

JUDGEMENT DAY

SAVIOR

JUMP

COPS SHOT THE KID

TALKIN’ BOUT A REVOLUTION

STRANGE FRUIT

Norden, 1977 Stefan

IF I RULED THE WORLD

RUN THE WORLD

Westen, 12. April 1860 Mathilda

Westen, 1860 Mathilda

GIRL ON FIRE

THE UNCOMFORTABLE TRUTH

IN GEDENKEN AN

DANK

PLAYLIST

PROLOG

Süden, 31. August 1882, dreizehn Uhr mittagsEva

Erschöpft lag die kleine Magda in ihren Armen. Ihre Tochter, deren spröde, blau schimmernden Lippen sich von der geröteten und mit Brandblasen übersäten Haut abhoben. Ihre Tochter, die trotz der brühend heißen Sonne, die unbarmherzig auf ihre ausgemergelten Körper schien und ihnen das Fleisch von den Knochen zu brennen drohte, vor Kälte zitterte. Kälte eines so hohen Fiebers, dass sie selbst das Blut eines gestandenen Mannes gefrieren ließ.

Gedämpft drang eine sorgenvolle Stimme in ihr Bewusstsein. Eva wollte antworten, aber selbst wenn sie gewusst hätte, woher diese Stimme kam, hätte sie sich ihr nicht zuwenden können. Sie konnte ihren Blick nicht von Magda wenden, als würde jeder Moment, der ihre Aufmerksamkeit von dem Kind lenkte, ein Todesurteil besiegeln. Eva durfte sich nicht mal einer erlösenden Ohnmacht hingeben. Sie musste mit allen Mitteln wachsam bleiben.

Magda, ihre wunderschöne, kleine, zarte Magda war erst zwei Jahre alt. Sie sollte zu Hause sein, sich am knisternden Feuer des Steinofens wärmen, während draußen der sanfte Regen auf den Waldboden prasselte. Zu Hause hätte Eva einen Tee aus Weidenrinde gekocht und in Kräutersud getränkte Leinentücher um Magdas Waden gewickelt, um das schreckliche Fieber zu senken. Stattdessen war sie dieser trockenen Einöde ausgeliefert. Eingesperrt hinter Zäunen, inmitten von Staub und Dreck. Hier gab es nichts, um Magda die Qualen zu erleichtern.

Und bei dem Gedanken, ja, dem Wunsch danach, dass ihre Kleine sterben durfte, um von all dem hier verschont zu bleiben, erschauderte Eva so sehr, dass sie einen erschöpften Atemzug lang sogar die unerträgliche Hitze vergaß. Vergaß, wo, aber vor allem, wer sie war. Sie hatten sie nicht nur ihrer Herkunft, sondern auch ihres Lebenswillens beraubt.

Damals wurde sie aus ihrem Dorf entführt, auf ein Schiff gebracht, wo sie einen Monat lang wie Vieh auf engstem Raum eingepfercht worden war, und auf diesen Kontinent verschleppt, wo alles fremd war und die Menschen so anders aussahen als Eva, Magda und all die anderen Übriggebliebenen. Diejenigen, die die unmenschliche Überfahrt zwar überstanden hatten, aber keinen Lebensfunken mehr in sich trugen. Deren Lebenswille unter der Kälte dieser schwarzen Augen erloschen war.

Seitdem hatte Eva nicht mehr aufgehört zu schwitzen. Erst aus Furcht vor dem, was diese Fremden ihrer kleinen Tochter und ihr selbst antun könnten. Und nun wegen der Hitze, die sie Tag und Nacht quälte.

Doch sie ertrug es. Sie überlebte, anders als jene von ihnen, die sich bereits dem erlösenden Tod hingegeben hatten. Sie war hier, um ihr Kind nicht alleine sterben zu lassen. Eva durfte noch nicht dem Leben entrissen werden. Noch nicht. Sie hatte Magda auf diese Welt gebracht, und sie würde diese Welt gemeinsam mit ihr verlassen. Ihr war sie es schuldig, durchzuhalten. So lange, bis ihre Zweijährige den letzten Atemzug getan hatte und all das nicht mehr ertragen musste, sondern in den Armen ihrer Mutter endlich sterben durfte.

Das Zittern ihrer Tochter wurde heftiger und ging in ein stoßartiges Zucken über. Eva brachte ihre restliche Kraft auf, um ihr Kind zu halten. Sie flehte Magda an, dass sie noch nicht aufgeben solle, nicht, während sich andere an ihrem Leid ergötzten.

Eva schreckte aus ihrer Lethargie, als ihr bewusst wurde, dass Magda ihre Worte vielleicht nicht mehr wahrzunehmen vermochte, und die Angst, Magda könne vor den Augen dieser Fremden sterben, nahm sie ein.

So weit durfte es nicht kommen. Nicht in diesem eingezäunten Gehege, das man in ihrer Heimat für Tiere benutzte. Und auch wenn sich dieses Mal nur etwa zwanzig Personen zum Gaffen versammelt hatten, fühlte sich Eva hilflos bei dem Gedanken, dass diese Fremden ihrer Tochter beim Sterben zusehen würden.

»Halte noch ein bisschen durch«, flüsterte sie ihrer vor Schmerzen wimmernden Tochter ins Ohr. Sie wusste, sie verlangte zu viel von ihrem Kind. Sie wusste, Magda hatte keine Kraft mehr. Dennoch wollte sie es nicht zulassen, dass die Männer, Frauen und sogar Kinder ihrem Kind amüsiert beim Sterben zusahen. Das Weiß ihrer Augen stach so deutlich hervor, dass Eva sie alle für Teufel hielt. Sie starrten und starrten. Stießen einander begeistert an und zeigten mit den Fingern auf Eva und die anderen Gefangenen.

Behutsam wischte Eva weißen Schaum aus Magdas Mundwinkeln und flüsterte ihr noch einmal eindringlich zu, dass sie noch warten solle. Warten, bis diese Augen sie nicht mehr sahen, sich nicht mehr an ihrem Leid und Tod weiden konnten. Eva wollte nicht mehr viel. Sie wollte nur, dass Magda wenigstens das erspart und ein letzter Rest ihrer Würde bewahrt bliebe.

Die Zuschauer*innen sahen aus, als hätten sie sich für den Tod ihres Kindes zurechtgemacht: Sie trugen lange Gewänder in leuchtenden Farben, glänzenden Goldschmuck und große Sonnenhüte. Und als wäre es nicht schmerzlich genug, dass Eva keine edlen, kühlenden Stoffe tragen durfte wie die anderen Menschen, sondern sackartige Überwürfe aus grober Jute, kratzten diese auch noch auf der Haut ihres geschundenen Körpers. Am liebsten hätte sie die Kleider abgeworfen, aber so demütigend und ausweglos diese Situation auch für sie war, sie wollte den Zuschauenden den Anblick auf ihren nackten Körper nicht vergönnen.

Die ausgemergelte Frau neben ihr, Minna, die mit den nässenden Wunden an den Handgelenken, wo zuvor die Fesseln gewesen waren, zuckte plötzlich zusammen. Ihre Augen verdrehten sich, bevor sie in sich zusammensank und zu Boden kippte. Sofort hob Eva in Erwartung auf den nächsten Schlag schützend eine Hand über sich und Magda. Denn bereits als sie in Ketten vom Schiff auf die Straße des Hafens geführt worden waren, und in der prallen Sonne des Marktplatzes hatten stehen müssen, hatte Eva gelernt, dass Ohnmacht eine große Gefahr barg. Wer nicht mehr stand, wurde von den Peinigern wieder aus der Bewusstlosigkeit geprügelt. Jeder Schlag holte sie ein Stück zurück in die schmerzhafte, unerträgliche Realität.

Eva würde es sich niemals verzeihen, dass sie sich an jenem Tag einen kurzen Moment dieser Schwäche hingegeben und ihr Kind, ihre kleine, süße Magda, den anderen überlassen hatte. Als sich ihr Blickfeld verengte, war das Letzte, was sie wahrnahm, Magdas entsetztes Gesicht und wie dahinter die Männer mit schweren Schritten auf sie zuhielten.

Es war nicht der Schmerz der Schläge, sondern der panische Schrei des Kindes, der sie wieder ins Jetzt holte. Minna hatte das Kind rasch an sich gezogen und ihm den Mund zugehalten, damit die Männer es nicht ebenfalls prügeln würden.

Eva hätte Magda auch in klarem Zustand nicht vor der Grausamkeit schützen können, das war ihr bewusst. Dennoch hätte ihre Tochter zumindest gesehen, dass ihre Mutter alles tat, um für sie da zu sein, und sich gegen diese Fremden zur Wehr setzte. Eine Zweijährige verstand nicht, dass auch Mütter irgendwann am Ende ihrer Kräfte sein konnten. Dass auch Mütter Angst hatten und nicht wussten, was sie tun sollten. Wie sollte Magda begreifen, dass auch Eva nicht verstand, was hier passierte?

Was sie beide jedoch schnell begreifen mussten, war, dass sie für diese Fremden mit der schwarzen Haut keine Menschen waren. Nicht sie, nicht ihre geliebte Magda und auch die anderen Gefangenen nicht. Für sie war keine*r von ihnen menschlich. Keine*r ihrer Art. Weshalb sonst sollten sie sie einsperren und zur Schau stellen? Was für Menschen stellten andere Menschen wie Tiere aus und sahen ihnen beim Sterben zu?

Sie selbst hatten die wilden Tiere in ihrer Heimat, die Füchse, Milane und Wölfe, nie eingesperrt. Nie hatten sie andere Lebewesen malträtiert, so wie es der kleine Junge auf der anderen Seite des Zaunes nun tat. Er zog aufgeregt am Ärmel seines Vaters und zeigte mit dem Zeigefinger seiner anderen Hand auf Magda. Dann sammelte er Steine vom Boden und warf sie nach dem sterbenden Kind.

Niemand, der einen anderen Menschen als Menschen respektierte, tat so etwas, fand Eva. Wie konnte ein Kind seinesgleichen nicht erkennen und ein anderes, viel kleineres Kind so grausam quälen? Wie konnte es sein, dass der Junge, mit der schwarzen Haut und dem schwarzen Haar, in Magda nicht auch sich selbst sah? Lag es daran, dass Magda im Gegensatz zu ihm kurzes, weiches blondes Haar, blaue Augen hatte und blass, ja, weiß war?

Als Eva ihre Tochter von dem Jungen wegdrehte, spuckte eine Frau von der anderen Seite des Geheges sie an und traf ihre verfilzten Haare. Eva entschied sich, nicht darauf zu reagieren – was hätte sie auch tun können? - und schluckte die Demütigung herunter. Doch dann sah sie, dass sich Heinz schützend vor sie und Magda setzte.

Eva hielt den Atem an, als die anderen seinem Beispiel folgten und an die Mutter und das Kind heranrückten. Trotz der vor Schweiß stinkenden, nassen Körper drängten sie noch enger zusammen und bildeten einen Kreis um die beiden Schwächsten der Gruppe. Eine tiefe Dankbarkeit erfüllte Eva, doch da war auch Angst.

Diesen Akt des rebellischen Widerstands würden ihnen die Wärter nicht lange durchgehen lassen. Das wusste Eva, das wusste Heinz und das wussten die anderen. Ja, selbst Magda, mit ihren unschuldigen zwei Jahren hätte es gewusst, befände sie sich nicht in einem Fiebertraum. Und offenbar wussten es auch die Gaffer*innen, denn in der Menge breitete sich eine Unruhe aus.

Magdas Augenlider begannen zu flattern, als der Junge vor dem Zaun erneut einen Stein nach ihnen warf. Doch der Stein landete nicht wie beabsichtigt auf Magda, sondern auf dem Boden vor Heinz’ dreckigen Füßen und wirbelte eine Staubwolke auf.

»Diese Schweine«, zischte Heinz ihr und den anderen zu, die mit ihnen auf dem Boden kauerten.

»Diese Wilden«, schrie eine der Frauen außerhalb des Geheges. Sie trug ein rotes Kleid um ihren üppigen, wohlgenährten Körper. Ihre schwarzen, gelockten Haare lugten unter dem bunten Sonnenhut hervor. Eigentlich waren sie es, die angestarrt werden sollten, dachte Eva.

Die Frau lachte amüsiert dem umstehenden Publikum zu. Als wäre all das hier ein besonders unterhaltsames Theaterspiel. Aber sie waren keine Schauspieler*innen. Sie erhielten weder Lohn noch Anerkennung für ihr Mitwirken. Sie waren Wilde. Das waren die ersten Worte dieser fremden Sprache, die Eva gelernt hatte: die Wilden.

Sie waren nicht mehr Eva, Magda, Minna und Heinz. Sie hatten keine Namen mehr, wie es für und unter Menschen üblich war, überall wo sie bisher auf Menschen getroffen war. Sie waren von dem Moment ihrer Entführung bis zu ihrem Ende, dem Tod, keine Menschen mehr. Sie waren »die Wilden«. Und wenn man kein Mensch mehr war, dann sollte man tot sein dürfen, dachte Eva.

Sie warf einen weiteren Blick auf Magda, ihre kleine, süße, liebe, unschuldige Magda, die in ihren Armen alles tat, damit das Leben sie endgültig aufgab und der Tod sie endlich schützend in seinen Armen barg.

LITTLE GIRL BLUE

Magda hat es also nicht geschafft, stellte Anna fest und fuhr mit der Hand über die vergilbte Seite des Geschichtsbuchs, auf der die Kopie der Sterbeurkunde abgebildet war. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass auch Kinder entführt und in Menschenzoos ausgestellt worden waren. Und obwohl Anna den Bericht nicht näher an sich heranlassen wollte, lief ihr bei den expliziten Beschreibungen ein kalter Schauder über den Rücken – aber nicht einer der wohligen Sorte, der durch die beständig surrende Klimaanlage der Unibibliothek verursacht wurde.

Sie schob das Gefühl von Unbehagen von sich, welches sicherlich jeder Mensch empfinden würde, der vom Tod eines anderen Menschen, insbesondere eines kleinen Kindes, las. Sie wollte sich nicht von Emotionalität einnehmen lassen. Schließlich war es genau das, die emotionale Vereinnahmung, die der Professor offenbar erwartet hatte. Doch diesen Gefallen der Unprofessionalität würde sie weder ihm noch sonst wem tun, sondern die Hausarbeit wie jede*r andere gewissenhaft behandeln.

Anna sah von ihren Unterlagen auf, die vor ihr ausgebreitet auf dem Tisch lagen, als sie glaubte, Blicke auf sich zu spüren. Konnten die anderen ihr ansehen, was die Geschichte mit ihr machte? Weil sie, Gott bewahre, wieder einmal vor gebannter Konzentration rot angelaufen war?

Obwohl Anna sich nicht darum kümmern wollte, was andere über sie denken könnten, drehte sie den Kopf über die Schulter in Erwartung auf Getuschel hinter vorgehaltener Hand.

Hinter ihr saß ein Student in graublauem Pullunder und sorgfältig rasiertem Muster in den Haaren. Auch er hatte dicke Bücher um sich herum gestapelt, während er an seinem Laptop Notizen machte. Er hob den Kopf und sah Anna direkt in die Augen. Als sie nicht reagierte, sondern weiterhin starrte, verzog er seine geschwungenen Lippen zu einem Lächeln, das seine strahlend weißen Zähne entblößte. Wieder errötete sie, aber diesmal, weil sie peinlich berührt war. Sie fiel ohnehin auf, da brauchte sie nicht auch noch mit ihrem Verhalten die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Irritiert hob der Student eine Augenbraue und widmete sich wieder seiner Arbeit.

Okay, das war unangenehm, dachte sie. Dennoch war das immer noch besser als jetzt in ihrer WG zu sitzen. Im Gegensatz zu dem jungen Mann hinter ihr, der zumindest Freudigkeit vorgab, waren Annas Mitbewohner*innen nicht so verhalten. Sie sagten ihr direkt, was an ihr falsch war. Deshalb verkroch sich Anna, wenn sie zu Hause war, meist in ihr kleines Zimmer, obwohl dort die Luft für gewöhnlich um diese Uhrzeit heiß und schwer, wie eine undurchdringliche Mauer war.

Genug mit schlechten Gedanken, redete sich Anna selbst zu und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Schicksal von Magda und Eva. Sie war gerade dabei, herauszuarbeiten, welche Rolle Menschenzoos bei der Festigung des Rassengedankens spielten.

Doch bei der Vorstellung, dass selbst Kindern das Menschsein abgesprochen worden war, regte sich ein Gefühl in ihr, das sie nicht recht einordnen konnte. War es etwa Wut? Aber wie konnte etwas, was so weit in der Vergangenheit lag, ihr überhaupt derart nahegehen? Ja, sie waren früher unterdrückt worden, aber heutzutage war das ja nicht mehr der Fall. Schließlich hatten alle die gleichen Rechte.

Es war einfach die Frage, was man daraus machte. Man konnte sich darauf ausruhen, dass man gesetzlich die gleichen Rechte hatte, und nichts Höheres mehr anstreben, oder eben im Hier und Jetzt leben und das Beste aus den Möglichkeiten herausholen – so wie Anna selbst.

Und deshalb hatten Annas Eltern alles gegeben, um sie zu unterstützen. Sie hatten hart dafür gearbeitet, dass Anna als Erste ihrer Familie zur Universität gehen konnte – um zu studieren und nicht zu putzen, wie es andere mit ihrer Herkunft seit so vielen Jahren taten und wohl noch tun würden. Wobei Herkunft so ein seltsames Wort war. Denn Anna kam ja von hier – aus dem Süden. Sie war im Jahre 2000 hier geboren worden, fast Hundertzwanzig Jahre nachdem die zweijährige Magda in einem Menschenzoo verstorben war.

Und mehr als ein Jahrhundert später sitze ich jetzt hier, in der heruntergekühlten Bibliothek meiner Uni und erfahre von dir, deinem Schicksal, liebe, kleine Magda, dachte Anna.

Eben noch hatte sie all ihre Gefühle im Griff gehabt, sich ermahnt, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und sich nicht der Albernheit hinzugeben, emotional auf das Gelesene zu reagieren, doch jetzt versuchte sie mit zitternder Hand ihr Gesicht vor der Grausamkeit zu verbergen. Wenn ihre Augen nicht mehr sahen, musste es vielleicht auch ihr Herz nicht mehr.

»Okay, reiß dich zusammen, Anna«, ermahnte sie sich. Sie nahm die Hände herunter und ballte ihre Fäuste. »Du klingst ja schon wie Alex. Das alles ist ewig her und hat nichts mit dir oder dem, wer du bist, zu tun!« Sie war nur müde und sie könnte darauf wetten, dass sie allein schon deshalb so dünnhäutig, ja, fast empfindlich war.

Entschlossen klappte Anna ihren Laptop zu. Für heute reichte es endgültig. Sie hatte genug getan. Sie konnte sich eh nicht mehr konzentrieren und wollte es, um ehrlich zu sein, auch nicht mehr. Diese Quellen ausfindig zu machen, hatte sie mehrere Wochen Recherche gekostet. Ihr Studiengang, Geschichtswissenschaften, war wie alles hier afrozentristisch ausgelegt, weshalb es für Anna sehr herausfordernd war, an Fachlektüre zum Thema zu gelangen. Allein das Buch hatte sie extra in die Bibliothek bestellen müssen, und auch das war nicht einfach gewesen. Sie konnte nur hoffen, dass dem Professor das bewusst sein würde, wenn sie ihm ihre Ausarbeitung vorlegen würde.

Anna steckte ihren Laptop und das Buch in die durchsichtige Tüte mit dem Logo der Universität, schnappte sich den verschließbaren Kaffeebecher, und schlich sich mit gesenktem Kopf an ihren Kommilitonen vorbei zum Ausgang. Sie beeilte sich hinauszugelangen. Denn sie musste ja nicht extra provozieren, dass die anderen Studierenden sie heimlich oder ganz unverblümt anstarrten.

Als sie letztes Jahr hier mit dem Studium begonnen hatte, hatte ihr ein Mädchen doch ernsthaft ungefragt in die Haare gefasst. Da hatte ihr hastig hinterhergeschobenes »Deine Haare sind so schön glatt« nichts mehr genützt, um die Situation zu retten. Es wurde sogar noch unangenehmer, als die Studentin fragte, ob Anna auch richtige Frisuren tragen könne. Dabei deutete sie mit dem Finger auf ihre kunstvoll eingedrehten Twists. Aber Anna hatte nichts von ihrer Ablehnung gezeigt, sondern nur höflich gelächelt und geantwortet, dass es ihr nicht möglich sei, da sich ihre glatten Haare nicht eindrehen ließen.

Übergriffigkeiten dieser Art waren nichts Neues für Anna. Je nachdem, an welchen Orten man sich bewegte, war es kein großes Ding. An ihrer alten Schule hatten sich alle irgendwann an das blasse Mädchen mit den graublauen Augen und dem blonden glatten Haar gewöhnt. Von Vorfällen wie dem Anstarren, ungebetenen Anfassen und der Frage danach, wo sie ursprünglich eigentlich herkam, blieb Anna nahezu verschont. Klar, auf der Straße und im Alltag passierte immer irgendwas, aber diese Mikroaggressionen ignorierte sie einfach. Es nützte ja nichts, und Anna fand auch nicht, dass es ihrer Aufregung wert war. Ob man empfindlich darauf reagierte, lag auch an einem selbst und der eigenen inneren Einstellung.

An der Uni hatte man sich an ihren Anblick noch nicht so recht gewöhnt, aber das lag daran, dass weiße Studierende eine Ausnahme waren. Nur wenigen Weißen gelang es, in schwarzen akademischen Räumen zu partizipieren und diese für sich zu beanspruchen. In genau jenen schwarzen Räumen bewegte sich Anna, seit sie das Studium begonnen hatte, nahezu ausschließlich, denn schnell hatte sich herausgestellt, dass jene Kommilitonin mit dem prächtigen Haar eine ihrer Mitbewohner*innen wurde.

Sie hieß Awa, war wunderschön und ihre Eltern unanständig reich, wie Anna eines Tages von Olu, der einzigen Person, mit der Anna so etwas wie eine Freundschaft knüpfen konnte, erfahren hatte.

»Die haben altes Geld«, erzählte ihr Olu, während sie wie wild in ihrem grünen Superfood-Smoothie rührte, so als ob dieser nicht gerade aus dem Hochleistungsmixer gekommen wäre und sie die Zutaten jetzt erst durch ihr Rühren vermischen würde. »Awa wird in ihrem ganzen Leben bestimmt nicht arbeiten müssen.«

Und noch bevor Anna nachhaken konnte, weshalb jemand, der so reich war, in einer engen WG mit weiteren zwei Leuten leben würde, fügte Olu mit vielsagendem Blick hinzu: »Und ihre Eltern möchten, dass Awa lernt, wie es ist, wenn man wie ganz normale Leute und ohne viel Geld klarkommen muss. Quasi eine Erziehungsmaßnahme.«

»Also zahlt Awa ihre Miete und all das selbst?«, fragte Anna fast schon wieder anerkennend.

Olu lachte auf und verschluckte sich dabei leicht an ihrem Smoothie. »Hahaha, natürlich nicht! Sie muss nur ihre Designer-Klamotten ab einer gewissen Preisspanne selbst bezahlen. Du bist echt zu naiv!«

Anna spürte, wie ihre runden Wangen erröteten. Peinlich berührt knibbelte sie an der aufgequollenen Ecke des Pappuntersetzers, auf dem ihr Eiskaffee stand.

Es stimmte. Manchmal war Anna zu naiv – aber das lag vor allem daran, dass sie sich nicht vorstellen konnte, wie es sein musste, schwarz, reich und damit relativ frei von Sorgen leben zu dürfen. Zugegeben, Awa war eine Frau und somit von Sexismus betroffen, aber sie war eben eine schwarze Frau, das war der entscheidende Unterschied.

Aber mit großen Reden darüber, wie unfair das Leben war, würde sie nichts erreichen – vor allem keine Veränderung ihrer eigenen Verhältnisse. Diese zu ändern lag ganz bei ihr. Es war ihre Verantwortung, besser zu sein und damit sich selbst aus der ewigen Opferrolle, in der sich besonders ihr Bruder Alex gerne immer wieder suhlte, zu befreien.

»Revolution? Gerne, aber ohne mich! Ich habe keine Zeit für den Quatsch! Ich habe andere Pläne«, hatte sie Olu einmal geantwortet, als diese sie empört gefragt hatte, warum sie sich nicht gegen die ungerechte Behandlung durch ihren Professor Dr. Batista wehre.

Was konnte Anna schon groß dagegen tun? Die Welt war voll von Typen wie diesem Professor. Die Welt war voll von diesen Awas. Und sie waren es, die die Macht besaßen. Menschen wie Anna hatten keine Macht, außer sie würden sich ausschließlich auf sich selbst und ihre akademische Laufbahn konzentrieren, statt wie andere ständig darüber zu jammern, wie furchtbar unfair doch alles war.

Anna stand nun in der erbarmungslosen Hitze des Vorplatzes des Hauptgebäudes der Universität. Sie blinzelte in den wolkenlosen Himmel und zog die Sonnenbrille auf. Ihre Augen waren lichtempfindlicher als die der Mehrheit, weil sie wegen der hellen Farbe mehr Licht durchließen. Ein weiteres Detail, über das ihre Mitmenschen nie nachdenken würden. Ein weiterer Bias, bemerkte Anna und schmunzelte. Kleine süße Magda, diese Welt ist immer noch ein Menschenzoo. Wir, die Wilden, sind jetzt gebändigt.

REDEMPTION SONG

Erschöpft schleppte sich Anna die vier Stockwerke hoch. Die Luft staute sich in diesem muffigen Treppenhaus, und die Stufen knarrten bei jedem schweren Schritt. Als sie atemlos oben angekommen war und vor der alten verzierten Holztür stand, hörte sie bereits dumpfe Geräusche aus dem Inneren der WG. Turnschuhe, die weder ihren Mitbewohner*innen noch ihr selbst gehörten, standen auf der Fußmatte, auf der »Home sweet Home« aufgedruckt war. Sie öffnete die Tür und konnte feststellen, dass die dumpfen Geräusche aus der Küche stammten. So wie die Gerüche, die bis in den schmalen Flur drangen. Es roch nach Gebratenem, und Anna, die immer noch ein wenig außer Atem war, zog ihre schmal geschnittene Nase kraus. Kurz war ihr schwindelig geworden, und sie musste sich an der gelb gestrichenen Wand anlehnen. Ich hätte heute auch einfach mal zuhause und im Bett bleiben sollen, dachte sie, als sie die fröhliche Stimme ihrer Mitbewohnerin aus der Küche hörte. Einfach mal auf alles scheißen, so wie Awa es anscheinend wieder mal gemacht hat. Die ist heute wahrscheinlich gar nicht erst losgegangen.

Nun folgte ausgelassenes Lachen, aber Anna konnte nicht zuordnen, wem es gehörte. Langsam, nachdem der Schwindel etwas nachgelassen und ihr Atem sich beruhigt hatte, zog sie sich die Schuhe aus und stellte sie ordentlich in das Schuhregal, das sie aus Backsteinen und Holzplatten aus dem Baumarkt selbst gebaut hatte.

»Haben wir noch Rührei?«, fragte eine sanfte, melodische Stimme. Das konnte nur Amadou, ihr anderer Mitbewohner, sein. Anna hatte seine Stimme schon immer gemocht.

»Ja, und wir haben auch noch Bacon, falls du möchtest?«, antworte Awa. Jetzt roch Anna den Duft des Kaffees und überlegte, ob sie sich welchen holen oder sich wie geplant lieber an der Küche vorbei direkt in ihr Zimmer schleichen sollte.

»Hey, so früh schon zurück? Schwänzt unsere Streberin etwa die Vorlesung?«, sagte Awa, als Anna versuchte, vorsichtig an der Küchentür vorbeizugehen. In ihrem seidenen Pyjama saß Awa am Tisch, die langen, schwarz glänzenden Beine elegant überschlagen und lässig in den Stuhl zurückgelehnt, musterte sie Anna verächtlich von oben bis unten. Auch ihre drei Freund*innen wandten sich jetzt Anna zu und versahen sie mit abschätzigen Blicken. Lala, Awas beste Freundin, hob eine ihrer Augenbrauen, schön buschig und perfekt in Form gezupft, um Anna zu verdeutlichen, dass sie störte. Was sie in deren Augen immer tat, wenn sie zuhause war.

»Ich habe dir eine Frage gestellt, oder braucht die Prinzessin noch eine Aufforderung?«, zischte Awa.

»I-ich fühle mich heute nicht so wohl«, antwortete Anna.

»Du bist auch ganz schön blass um die Nase, wobei, das ist ja Standard bei dir.« Awa lachte auf und zeigte dabei ihre perfekten, strahlend weißen Zähne. »Kein Wunder«, fügte Awa hinzu und ihr Lächeln verzog sich zu einer angeekelten Grimasse. Sie deutete auf den Kühlschrank, der mit Postkarten und Notizzetteln an bunten Magneten übersät war. »Du hast schon wieder diesen exotischen Fraß gekocht. Wie heißt das Zeug noch mal? Das, was so säuerlich riecht. Ihr habt es doch auch gerochen, als ihr heute Morgen hier reingekommen seid. Das sind so komische, wabbelige Fäden.«

»Sauerkraut«, antwortete Anna verlegen, die Hitze schoss ihr in den Kopf und ihre Wangen glühten. Dass sie rot wurde, war ihr unendlich peinlich. Ihr Gesicht zeigte einfach all ihre Emotionen, während sie ihren Mitmenschen nie ansehen konnte, ob sie beschämt waren, weil sie ihre schwarze Hautfarbe, ungeachtet ihrer Gefühle, beibehielten. Wie sehr sie sich wünschte, immer diese souveräne Ausstrahlung wie ihre Mitbewohnerin zu haben. Wobei ja nicht nur Awa dieses Selbstbewusstsein hatte. Sie alle, die da saßen, hatten eine Anmut, die Anna selbst nie vergönnt sein würde. Einfach, weil sie von Natur aus selbstsicherer waren, als sie es je sein würde. Selbst Lala, die, wie sie von sich selbst behauptete, wegen ihres Mehrgewichts nicht dem Schönheitsideal entsprach, war in Annas Augen so viel schöner als sie selbst. Anna bewunderte sie dafür, mit welchem Stolz Lala stets figurbetont und, ja, sexy gekleidet war. Selbst hier, zum Brunch in der kleinen WG-Küche, war sie im Mini-Kleid und einem perfekten Make-up erschienen.

»Richtig, Sauerkraut!« Lala sprach das Wort aus, als würde sie würgen müssen. Die anderen stimmten mit Lachen ein. »Mir würde es auch den ganzen Tag schlecht gehen, wenn ich das essen müsste!«

»Übrigens stinkt die ganze Küche nach dem Zeug.« Awa hob ihre Mokkatasse an, aber als sie bemerkte, dass diese leer war, setzte sie sie seufzend wieder ab. Langsam entknotete sie ihre schönen langen Beine, erhob sich vom Stuhl und machte ein paar Schritte zum Gasherd. »Deshalb fände ich es auch nur fair, wenn du den Küchendienst von Amadou heute übernimmst.«

Anna sah gar nicht ein, den Küchendienst zu übernehmen. »Wieso sollte ich …«, versuchte sie sich zaghaft zu wehren.

»Wieso?!«, wiederholte Awa und schraubte die kleine Mokkakanne auf. Das Unterteil war von dem Ruß der Flammen schwarz verfärbt. »Es kann einfach nicht sein, dass du uns mit dem Gestank deines ekligen Essens jedes Mal belästigst!« Awa warf das abgebrühte Pulver in den kleinen Bio-Mülleimer, so heftig, dass eine kurze Stille entstand.

Amadou sah verlegen auf seine großen Hände, deren langgliedrigen Finger, die Nägel waren hellblau lackiert, die er ineinander verhakt und auf die abgenutzte Tischplatte gelegt hatte. Lala spielte mit einer ihrer tiefschwarzen Locken. Nur das wütende Knirschen erfüllte die Küche, während Awa die Kaffeebohnen in der kleinen Mühle mahlte. Als sie die Mokkakanne füllte und Wasser in den Bauch laufen ließ, nahm Anna ihren Mut zusammen und holte tief Luft, um Awa erneut zu widersprechen, doch diese ließ den Widerspruch gar nicht erst zu: »Eigentlich müsstest du den ganzen Kühlschrank ausräumen und das ganze Ding komplett desinfizieren!«

Davon, sich nicht gegen die Vorwürfe wehren zu können und nicht mal aussprechen zu dürfen, fühlte sich Anna gedemütigt. Ihr Herz raste. Nicht mal einen Funken Respekt hatte Awa ihr entgegengebracht. Und warum musste diese eigentlich jedes Mal vor ihren Freund*innen so eine Show abziehen und Anna so bloßstellen?

Zu allem Überfluss schaltete sich jetzt auch Lala ein, die immer noch an ihrer Locke rumnestelte. Sie setzte sich gerade auf, wodurch sie noch beeindruckender auf die eher schlaksige Anna wirkte. »Ganz ehrlich, Anna, ich sitze hier erst eine halbe Stunde und mein ganzer Afro stinkt nach deinem Essen. Ich meine, an deinem Haar bleibt das nicht hängen, die Gerüche rutschen ab, die können bei der Struktur ja gar nicht daran haften bleiben, aber unser Haar nimmt halt alles auf, und ich habe echt keinen Bock, nachher durch die Stadt zu gehen und so zu stinken, dass sich alle nach mir umdrehen.«

»Ich habe heute eigentlich noch mega viel für die Uni zu tun und mir geht es auch echt nicht gut«, erklärte sich Anna fast flüsternd.

»Interessiert uns doch nicht!«, schmetterte Awa ihr entgegen. Der Gasherd begann zu knistern, als sie mit einem Knacken den Schalter umdrehte und die Flammen emporschossen. »Lala geht extra deinetwegen nicht in die Stadt. Dann kannst du auch mal die Küche putzen. Und den Kühlschrank.«

»Okay … ich mache das heute Abend.« Ihr Hals schnürte sich zu und Tränen stiegen ihr in die Augen. So schnell der Schwindel es zuließ, wandte sie sich von der Gruppe ab und ging zur Tür. Sie wollte nicht, dass die anderen sahen, wie sie weinte. Sie wollte nicht, dass sie merkten, wie sehr sie sie verletzt hatten. Sie wollte eigentlich nur ihre Ruhe haben!

Als sie im Flur stand, hörte sie das Lachen der Freund*innen, das das Pfeifen der Mokkakanne übertönte.

Sie ging doch schon ständig den unteren Weg, den Weg des geringsten Widerstands! Was sollte sie denn noch machen, damit sie sie endlich in Frieden ließen! Sie hatte einfach keine Kraft mehr für diese Auseinandersetzungen. Nicht heute, wo es ihr eh schon so beschissen ging. Und unabhängig von der Erschöpfung war da ja auch noch das, was sie über Magdas Schicksal gelesen hatte.

Jetzt fiel ihr wieder auf, dass in ihrem Inneren irgendetwas ausgelöst wurde, das sie nicht einordnen und auch nicht einfach abschütteln konnte. Etwas, das sie sonst nicht war, zumindest nicht so, dass sie derart verletzt reagierte.

Für Streitereien wegen des Essens hatte sie sonst weder die Energie noch die Nerven. Ihr war das, ehrlich gesagt, schlicht zu kindisch. Klar, Sauerkraut hatte schon einen recht speziellen Eigengeruch. Aber keinesfalls war er so stark, dass er dieses alberne Theater hier rechtfertigen konnte.

An jedem anderen Tag hätte Anna sich gar nicht erst auf diese Diskussion eingelassen, sondern das Sauerkraut einfach in den Müll geschmissen und die Küche geputzt.

Aber heute war eben kein gewöhnlicher Tag für Anna.

Mit hängenden Schultern schlurfte sie in ihr kleines WG-Zimmer und schloss sich ein. Ihren Rucksack samt Laptop legte sie vorsichtig auf ihren ordentlich aufgeräumten Schreibtisch. Ein gut organisierter Arbeitsplatz war für sie essenziell, da sie sich bei Unordnung nur schlecht konzentrieren konnte und den Überblick zu verlieren glaubte.

Früher, zuhause bei ihren Eltern, hatte sie nie einen eigenen Schreibtisch besessen und hatte dort ihre Hausaufgaben immer am Küchentisch der Familie erledigen müssen. Umso mehr liebte sie es, an ihrem Platz zu arbeiten. Sich in Ruhe hinsetzen und stundenlang konzentriert komplizierte Sachverhalte, historische Zusammenhänge und Unmengen an Informationen sammeln zu können, war für sie ein Privileg, das sie sehr zu schätzen wusste.

Nachdem sie bemerkt hatte, dass sie schon einige Minuten vor ihrem Schreibtisch gestanden und aus dem Fenster geblickt haben musste, schmiss sie sich erschöpft auf ihr Bett, das aus Paletten und einer schmalen Matratze bestand.

In der Küche hatten sie offenbar die Musik lauter gedreht, damit Anna nicht hören konnte, was dort geredet wurde. Ihr war durchaus bewusst, dass Awa und ihre Freund*innen sie als störend empfanden, selbst wenn sie sich hier allein ins Zimmer zurückzog. Das gab Anna jedoch nicht weiter zu denken. Sie zahlte hier Miete, beteiligte sich an den WG-Aufgaben, und ansonsten waren ihr Awa und ihre Clique herzlich egal. Da konnte sie drüberstehen. Und dennoch war sie heute nicht sie selbst. Anna fühlte sich ungewöhnlich verletzlich.

»Warum geht mir die Geschichte von Magda nur so nah?«, fragte sie sich, erstaunt über die Traurigkeit, die sie seit dem heutigen Vormittag ergriffen hatte. Das war doch albern! Diese Geschichte war eine unter vielen. Und vor allem war sie Ewigkeiten her. Es war unprofessionell und unwissenschaftlich, die Sachverhalte emotional zu betrachten. Und wenn Anna eine Sache gut konnte, dann die sachliche Einordnung komplexer Informationen. Ihr fiel plötzlich auf, dass sie schon wieder an Magda, ihre Mama Eva und die anderen Weißen aus dem Menschenzoo dachte.

Es ist mehr als hundert Jahre her und du sitzt hier wie ein Häufchen Elend und weinst Tränen wegen Menschen, die du nicht mal gekannt hast, dachte Anna sich selbst ermahnend, in der Hoffnung, so zu ihrer sonst gewohnt abgeklärten inneren Haltung zurückzufinden. In ihren Ohren dröhnte die Musik vom Nebenraum und das Gelächter, und konnte sie vorhin ihr körperliches Unwohlsein nur auf ein diffuses Gefühl der emotionalen Überforderung zurückführen, so bahnte sich jetzt ein sich penetrant in den Mittelpunkt spielender Kopfschmerz an, der ihr zu allem Übel auch noch auf den Magen schlug - anders als das blöde Sauerkraut, welches zu dieser erneuten, insgesamt sehr albern eskalierenden Auseinandersetzung mit Awa geführt hatte. Dabei mochte sie das Zeug gar nicht mal so gern, sie wollte ihre Mama aber nicht vor den Kopf stoßen, die extra für sie vorgekocht hatte.

Ihre Mutter äußerte stets das unbegründete Gefühl, dass sie ihre Tochter kaum anders, und somit für ihre eigenen Ansprüche an sich als Mutter nicht ausreichend, unterstützen konnte. So hatte Anna alles gegeben, damit sie sich mit den Noten ihres Abitur-Zeugnisses für ein Stipendium an der Universität bewerben konnte. Gereicht hatte es trotz mehr als solider Noten aber nur für ein Teil-Stipendium, und so musste sie einen Teil der Studiengebühren selbst tragen und ihr WG-Zimmer bezahlen. Und klar, die Miete war im Vergleich echt günstig, aber für Anna noch so viel, dass sie gleich zwei Jobs neben dem Studium annehmen musste.

Sie wollte nicht, dass ihre Eltern sich noch mehr Sorgen machten. Außerdem wusste sie, dass ihre Eltern die Studiengebühren nicht aufbringen konnten. Sie lebten schon so sparsam und kamen dennoch gerade so mit dem hart verdienten Geld über die Runden. Mit Sicherheit war das auch der Grund, weshalb sie bei den Auseinandersetzungen zwischen ihr und Awa stets bemüht blieb, diese nicht unnötig hochzukochen oder gar sich emotional so mitreißen zu lassen, dass diese womöglich noch in einem richtigen Streit enden würden.

Anna wusste, im Gegensatz zu Awa würde sie so schnell keine neue Bleibe finden. Allein schon wegen ihres Namens wäre es nahezu aussichtslos: Anna Heinrich. Mit dem Namen fand man nicht so leicht eine Wohnung oder einen Job. Dieses Zimmer hier hatte sie auch nur deshalb bekommen, weil ein Kunde ihres Vaters, der immer seine Luxusautos bei ihm putzen ließ, sehr zufrieden mit der Arbeit ihres Vaters war und ihn aus unerfindlichen Gründen irgendwie ins Herz geschlossen hatte. Als Papa dann stolz davon berichtete, dass seine Tochter studieren würde, sie aber noch eine Unterkunft in der Hauptstadt suche, um nicht, wie immer, stundenlang mit den öffentlichen Verkehrsmitteln anreisen zu müssen, offenbarte der Kunde begeistert, dass er seiner Tochter gerade eine Wohnung besorgt habe, die sie mit Freund*innen als WG nutzen würde.

»Meine Tochter wollte das eine Zimmer eigentlich unvermietet lassen und unbedingt einen begehbaren Kleiderschrank für die gesamte WG da drin haben«, hatte Herr Malinda ihrem Vater begeistert berichtet.

Und so beschloss der Kunde ihres Vaters, dass es eine gute Idee sei, Anna, anstelle eines begehbaren Kleiderschranks, einziehen zu lassen. Das hatte selbstverständlich in der gesamten WG für Unmut gesorgt. Und Anna war, schon bevor sie überhaupt eingezogen war, bei all ihren Mitbewohner*innen unten durch.

Allein deshalb schon durfte Anna es sich mit Awa nicht verscherzen und riskieren, aus der WG zu fliegen: Es würde ihren Vater vor seinem wichtigsten Kunden bloßstellen und zum größten Familienkrach unter der heißen Sonne führen, der im Süden je ausgebrochen war!

Anna wusste, nicht ihr Vater würde es ihr übelnehmen, sondern ihre Mutter, die ohnehin schon immer um alle und alles in Sorge war. In Sorge um ihren Mann, der viel zu viel und viel zu hart schuftete. Neben seinem Job in der Fahrzeugaufbereitung arbeitete er zusätzlich jedes Wochenende nachts als Taxifahrer, damit es seiner Familie an nichts fehlen musste. Natürlich fehlte es trotzdem an allem. Da half auch das bisschen, was ihre Mama beim Putzen und Regale einräumen im Supermarkt verdiente, nicht.

Das Einzige, was trotz der dauerhaften Überlastung der Eltern immer ausreichend vorhanden war, war die bedingungslose und unerschöpfliche Liebe für ihre beiden Kinder. Das spürte Anna jeden Tag ihres Lebens. Selbst Alex, der gerade nicht das beste Verhältnis zu ihren Eltern hatte, war sich ihrer Liebe immer sicher.

Deswegen machte es Anna auch nichts aus, weniger Geld zu haben als die meisten Leute. Weder nagte es an ihrem Selbstbewusstsein, noch haderte sie mit ihrem Schicksal, anders als ihr Bruder Alexander, der irgendwann in seiner frühen Jugend damit angefangen hatte, sich das zu nehmen, von dem er glaubte, es würde ihm fehlen, und ihren Eltern damit sehr viel Ärger und sehr viele schlaflose Nächte voller Sorge bereitete.

Alexander, oder Alex, wie ihn eigentlich alle außer Papa nannten, war zwei Jahre älter als Anna und in seiner Kindheit das gewesen, was man wohl ein Problemkind nannte. »Mit dem Jungen hat man immer nur Ärger«, hallte es noch heute in Annas Ohren nach, wenn sie darüber nachdachte, wie ihre Eltern über Alex sprachen. Und so leid es ihr tat, das zugeben zu müssen, ihr Bruder war wirklich schwierig gewesen. Er war es auch heute noch.

Das Schlimmste daran war eigentlich, dass Alex und sie eine fantastische Beziehung zueinander hatten und sie sich keinen besseren großen Bruder wünschen könnte, er aber ansonsten ein hoffnungsloser Fall war und am laufenden Band in dubiose Machenschaften verwickelt war.

Wie konnte man einerseits so liebevoll mit seiner kleinen, zugegeben durchaus hin und wieder auch nervigen Schwester umgehen, ihr stets mit Rat und Tat zur Seite stehen, sie immerzu unterstützen und ihr das Gefühl geben, alles schaffen zu können, was sie sich vorgenommen hatte, und andererseits für sich selbst so wenig erreichen wollen, ständig Mist bauen und sich damit alles zu verbauen? Immerhin war Alex jetzt schon dreiundzwanzig Jahre alt und sollte endlich einmal damit anfangen, sein Leben in den Griff zu bekommen. Warum er das nicht tat, würde Anna immer ein Rätsel bleiben.

Für ihn waren immer alle anderen schuld daran, wie sein Leben verlief. Verlor er einen Job, dann deshalb, weil der Chef rassistisch war, und nicht etwa, weil Alex dreimal hintereinander verschlafen hatte und zu spät zur Arbeit erschienen war. Wenn eine Kassiererin unhöflich war, dann weil er weiß war und nicht etwa, weil sie müde von der Schicht und den