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Amira Ben Saouds atmosphärisch dichtes Debüt ist »ein mit gespenstisch ruhiger Seele geschriebener Roman über die existenziellen Zerreißproben der Menschen«. Clemens J. Setz
Gewalt scheint nicht mehr zu existieren, der Klimawandel längst vollzogen. Eine bedrohliche Gelassenheit liegt über der abgeschotteten Siedlung, in der sie lebt. An ihren eigenen Namen hat sie keine Erinnerung mehr. Sie verdient ihr Geld damit, andere Frauen zu imitieren, deren Angehörige nicht mit dem Verlust der Geliebten, der Ehefrau, der Tochter zurechtkommen. Während eines neuen Auftrags gerät ihre Welt ins Wanken: Wer ist diese Emma, die sie spielt? Weisen seltsame Phänomene am Rand der Siedlung auf deren Untergang hin? Und warum ist sie selbst so besessen davon, eine andere zu sein? Amira Ben Saoud gelingt ein fesselndes Debüt, das schwebend leicht grundsätzliche Fragen nach Identität und Beziehungen stellt und danach, was wir uns selbst vorspielen.
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Seitenzahl: 214
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Gewalt scheint nicht mehr zu existieren, der Klimawandel längst vollzogen. Eine bedrohliche Gelassenheit liegt über der abgeschotteten Siedlung, in der sie lebt. An ihren eigenen Namen hat sie keine Erinnerung mehr. Sie verdient ihr Geld damit, andere Frauen zu imitieren, deren Angehörige nicht mit dem Verlust der Geliebten, der Ehefrau, der Tochter zurechtkommen. Während eines neuen Auftrags gerät ihre Welt ins Wanken: Wer ist diese Emma, die sie spielt? Weisen seltsame Phänomene am Rand der Siedlung auf deren Untergang hin? Und warum ist sie selbst so besessen davon, eine andere zu sein? Amira Ben Saoud gelingt ein fesselndes Debüt, das schwebend leicht grundsätzliche Fragen nach Identität und Beziehungen stellt und danach, was wir uns selbst vorspielen.
Amira Ben Saoud
Schweben
Roman
Paul Zsolnay Verlag
Sasha saß an eine Fichte gelehnt auf dem Waldboden und nestelte an ihrer Waffe herum. »Lass das«, ermahnte sie Luis. Aber Sasha hörte nicht auf ihn oder hatte ihn nicht gehört. »Sash«, rief Luis und schlug ihr mit dem Handrücken leicht gegen die Schulter. »Ist eh nicht geladen«, nuschelte Sasha. Sie hielt die Augen fest geschlossen. »Bist du verrückt«, fuhr er sie an, »was ist, wenn wir unsere Pflicht tun müssen?« Sasha öffnete die Augen, nur um sie zu verdrehen.
Noch nie war es vorgekommen, dass die Pflicht getan werden musste; so nannte man die Order, jeden, der sich den Grenzen der Siedlung von außen näherte, sofort zu erschießen. Und es würde nicht vorkommen, war Sasha sich sicher. Niemand wollte in diese Siedlung. Das System, das behauptete, das hier wäre einer der wenigen schönen, lebenswerten Orte auf der Welt, log doch. Wenn es so wäre, müsste es doch irgendwann einmal jemand, der sich nach einem besseren Leben sehnte, probieren. Tat aber keiner. Wahrscheinlich war es in den anderen Siedlungen viel schöner, also gab es für ihre Bewohner gar keinen Grund auszuwandern, dachte Sasha.
Es war aber nicht der Neid, der sie an das Draußen und seine Bewohner denken ließ, sondern die Neugier. Sie wollte nur gerne mal einen von ihnen sehen. Wenn die Lastwägen, die die Waren zwischen den Siedlungen hin- und hertransportierten, kamen, setzte sie sich manchmal auf einen der Hochstände und versuchte durch ihr Fernrohr die Gesichter der Fahrer auszumachen, aber bevor sie etwas erkennen hätte können, verschwanden die Lastwägen schon im Stützpunkt. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als sich auszumalen, wie die Menschen aus den anderen Siedlungen wohl aussahen. Jene, die daher stammten, wo das Eisen produziert wurde, stellte sie sich mit besonders harten Zügen vor, die, die mit Öl handelten, irgendwie schmierig, die mit der Kohle verstaubt, und die mit den Medikamenten trugen immer weiße Kittel und Brillen. Natürlich wusste Sasha, dass das Unfug war, aber ihrer Fantasie war das egal. Sie schaute Richtung Grenze, sah aber nur die Umrisse der Bäume in der Dunkelheit.
»Drehen wir halt eine Runde«, sagte sie endlich zu Luis. Sie wartete gar nicht auf seine Antwort und ging voran. Nach wenigen Minuten blieb sie plötzlich stehen. Luis, der seine Augen nie dort hatte, wo sie sein sollten, lief direkt in Sasha hinein. »Jetzt pass doch mal auf«, sagte sie und drehte sich zu ihm um, um ihn böse anzufunkeln, doch die beiden blendeten einander nur mit ihren Stirnlampen. »Wieso bleibst du denn stehen«, schimpfte Luis.
»Sei mal still, hörst du das nicht«, flüsterte Sasha aggressiv.
Und wirklich, auch Luis vernahm nun Geräusche. Sofort brachte er seine Waffe in Anschlag. Sasha hatte ihr nutzloses Gewehr lässig umgehängt. Sie hatte kein schlechtes Gewissen. Luis war zwar im Allgemeinen unglaublich tollpatschig, hatte aber eine Begabung für zielgenaues Schießen. Wenn die dreißig Schuss aus seiner Waffe gegen welche Gefahr auch immer nicht ausreichen würden, dann täten es sechzig auch nicht.
Sie schlichen weiter, bis sie in einiger Entfernung zwei Gestalten bemerkten — und auch sie waren den Gestalten aufgefallen. Nach einer Sekunde absoluter Stille, in der beide Parteien einander studierten, sprinteten die beiden Gestalten davon. »Stehen bleiben«, schrie Luis und gab einen Warnschuss ab. Sasha lief ihnen hinterher, sie war sich sicher, dass es sich nicht um Eindringlinge von draußen handelte, nein, sie hatte eine viel schlimmere Ahnung. Nach einigen Minuten kam sie völlig außer Atem zurück. »Hab sie verloren«, hechelte sie. Luis stand nun da, wo die beiden Gestalten zuvor gestanden hatten, kreidebleich. Er ließ das Licht seiner Stirnlampe langsam über den Boden gleiten. Da lag ein Mensch, nachlässig mit ein paar Ästen bedeckt. Ein leichtes Röcheln verriet, dass er noch lebte. Sasha kniete sich hin und begann den fast nackten und schwer geschundenen Körper vom Astwerk zu befreien. Kein schöner Anblick. Es mussten mehrere gewesen sein, die das angerichtet hatten. »Sollen wir einen Arzt holen?«, versuchte es Luis.
Sasha hatte mit ihrer Befürchtung recht gehabt. Ihr schlug das Herz bis zum Hals, sie konnte nicht antworten. Das linke Auge des Buben war zugeschwollen und blutunterlaufen, mit dem anderen versuchte er zu fokussieren, suchte ihren Blick. Sie hatte ihn schon einmal irgendwo gesehen, wo war das nur gewesen? Als sie ihm mit ihrer Hand über die Haare streichelte, vermengte sich verkrustetes Blut mit frischem. Das Röcheln wurde leiser, hörte aber nicht ganz auf.
»Verdammte Scheiße«, sagte Luis und, nachdem er kurz auf und ab gegangen war, »ich hole Verstärkung.« Er wollte schon loslaufen. »Warte«, sagte Sasha, stand auf und ging einen Schritt zurück. Sie hatte entschieden. »Mach die Augen zu, wenn du willst.« »Was? Wieso?«, fragte Luis, tat aber schon, was sie sagte. Sasha nahm ihr Gewehr und holte aus. Mit der schönen Schulterstütze aus Holz schlug sie, so fest sie konnte, auf den Kopf des Jungen. Es knackte, dann war Ruhe. »Du hast ihn umgebracht«, flüsterte Luis. Und als wüsste Sasha nicht, was sie gerade getan hatte, setzte er ein »das ist Gewalt!« hinterher, das unfassbar unbeholfen klang.
Sasha sammelte sich, dann sagte sie: »Hör mir gut zu. Was du gerade gesehen hast, war keine Gewalt, sondern das Gegenteil davon. Es war ein Gefallen, er hätte nicht überlebt.« Es war eine glatte Lüge, man hätte ihn wohl retten können, aber was der Bursche dann bei den Behörden erzählt hätte, hätte sie alle in Gefahr bringen können. Selbst wenn er nichts erzählt hätte — sein Zustand allein sprach bereits gefährliche Bände. »Aber …«, sagte Luis, Tränen in den Augen. »Reiß dich zusammen«, zischte Sasha. »Egal, was hier wirklich passiert ist, sie werden es uns anhängen. Sie werden sagen, dass wir es waren, die ihn totgeprügelt haben. Dann müssen wir ins Exil! Willst du ins Exil? Willst du sterben, Luis? Was würden deine Eltern sagen? Deine kleine Schwester?« Sie zog alle Register, bald würde sie nicht nur Luis, sondern sogar sich selbst davon überzeugt haben, dass es richtig war, was sie getan hatte. Luis begann langsam zu nicken. »Du erzählst es niemandem, ja?«, fragte sie. »Ich erzähle es niemandem«, antwortete er. »Gut, Luis, alles gut. Schick mir Anouk. Sie soll Schaufeln bringen. Und dann gehst du nach Hause und vergisst das.« Nachdem Luis sich umgedreht hatte, reckte es Sasha.
Anfangs war es nur eine Art Zeitvertreib gewesen, eine Form von Mutprobe, der Kitzel, etwas Verbotenes zu tun. Man war vorsichtig an die Sache herangegangen, hatte einander nur dort verletzt, wo man es kaum sehen konnte, oder an Stellen, die durch kleine Unfälle, wie vom Rad fallen, leicht zu erklären waren. Aber das Spiel hatte sich schnell verbreitet, und je mehr Jugendliche es spielten, desto mehr Gruppen bildeten sich. Jede schwor auf eine andere Form der Gewaltausübung und verschrieb sich ihrer Perfektionierung. Die einen verwendeten Unterlagen. Man legte einander zum Beispiel Schneidbretter auf den Bauch, bevor man auf jemanden eindrosch. So sollten sich die Spuren der Gewalt besser verteilen, weniger eindeutig zuordenbar sein. Andere arbeiteten mit nassen Handtüchern, die sie sich um die Fäuste wickelten, bevor sie einander schlugen, wobei sie das Gesicht aussparten, und wieder andere verwendeten Wachs, das sie einander auf die Körper träufelten.
Gemein war allen das Ritualhafte, die Disziplin, die es dafür brauchte. Trotzdem musste man schon sehr naiv sein, um nicht vorauszusehen, dass irgendwann nicht mehr die Jugendlichen die Gewalt als Instrument benutzen würden, sondern die Gewalt sie. Dass diese Spielchen aus dem Ruder laufen würden, dass jemand übermütig werden und es zum Äußersten kommen würde. Es war nicht leicht, jemanden nicht umzubringen, wenn man schon einmal dabei war. Sasha war das immer klar gewesen, und deswegen hatte sie nur ganz am Anfang mitgemacht und aufgehört, noch bevor sie in die falschen Kreise geriet oder süchtig werden konnte. Sasha war eine vernünftige junge Frau. Trotzdem lag nun die erste Leiche zu ihren Füßen, wurde zu ihrer Verantwortung. Luis hatte keine Ahnung von den Gewaltspielen. Er war noch ein bisschen zu jung, um eingeweiht zu werden. Er konnte einfach weggehen, während Sasha ihr Wissen hier festhielt.
Anouk kam immerhin schnell, sie brauchte keine Viertelstunde und brachte zwei Schaufeln. Sie hatte Tränen in den Augen und zitterte am ganzen Leib, schwächelte dann beim Graben, tat es halbherzig und viel zu langsam. »Meine Güte«, sagte Sasha. Sie gruben weiter, bis Sasha ein Geräusch hörte und sich panisch umdrehte. »Es ist nur Juri«, sagte Anouk.
Der hatte Sasha gerade noch gefehlt. Juri versuchte die Lage einzuschätzen und nahm dann mit einem leichten Kopfschütteln, das er sich nicht verkneifen konnte, Anouk die Schaufel aus der Hand. Anouk fuhr ihn an: »Kannst du irgendetwas sagen …« Sasha unterbrach sie: »Wieso hast du ihn dazugeholt, er wollte von Anfang an nicht dabei sein.« »Weil er mein Freund ist«, sagte Anouk. »Weil er mein Freund ist«, äffte Sasha sie nach. Anouk verschränkte die Arme. »Komm, geh nach Hause, ich mach das schon«, sagte Juri zu ihr. Warum musste er immer so gönnerhaft klingen, dachte Sasha. Anouk drehte sich beleidigt um und stapfte davon.
Nun gruben Juri und Sasha. Sie kamen schnell voran, weil alles, was die beiden zusammen taten, den Charakter eines Wettbewerbs hatte. So war es immer gewesen. Als die gewünschte Tiefe erreicht war, zogen sie den leblosen Körper ins Grab und begannen, es wieder mit Erde zuzuschütten. Die zwei flüchtigen Gestalten, die für die Beseitigung dieses ersten Opfers zuständig gewesen waren, hatten immerhin eine gut versteckte Stelle ausgesucht, auf die die Siedlungsbewohner bei ihren Spaziergängen nicht so leicht stoßen würden. Ob die Nächsten so klug sein würden, bezweifelte Sasha; sicher war sie sich, dass es Nächste geben würde. Nachdem sie das Grab mit Ästen bedeckt hatten, standen sie da, ohne etwas zu sagen, bis es langsam unangenehm wurde.
»Wir waren das nicht, nur dass das klar ist«, fing Sasha an, obwohl das nur die halbe Wahrheit war. Zwar waren sie nicht an dem Spiel beteiligt gewesen, das den Burschen so zugerichtet hatte, sein Tod ging aber auf ihre Kappe. Das musste Juri aber nicht wissen. Sein abschätziges »Ich will es eigentlich gar nicht wissen« hätte er sich trotzdem sparen können. »Was willst du hören?«, fuhr Sasha ihn an.
»Nichts will ich hören. Kriegt das einfach unter Kontrolle«, antwortete er, obwohl er genau wusste, dass es dafür längst zu spät war.
»Ich kenne den Burschen nur vom Sehen, ich weiß nicht einmal, in welcher Gruppe er war, ob er überhaupt in einer Gruppe war. Es hat sich komplett verselbstständigt, sie machen es jetzt überall. Wenn sich das häuft, dann kommt es raus, und dann sind wir alle dran — du auch.«
»Ich hab doch nicht mal mitgemacht!«, sagte Juri etwas entrüsteter, als er es vorgehabt hatte.
»Ja, aber dagegen hast du auch nichts getan.«
»Was hätte ich denn … Sag mal, drohst du mir jetzt?«
Nein, drohen wollte sie ihm nicht. Außerdem wusste sie, dass es sinnlos war, sich gegenseitig Vorwürfe zu machen. Ihre Wut, die ja nicht einmal Juri galt, schlug plötzlich in Verzweiflung um. Sie versuchte durchzuatmen, aber da kamen ihr schon die Tränen. Juri wurde sofort weich. Er legte seinen Arm auf ihre Schulter: »Sash, sie können uns nicht alle exilieren, wie sieht denn das aus? Und wenn sie jemanden exilieren, dann werde das nicht ich sein, und du wirst es auch nicht sein. Dafür sind wir doch zu klug, hm? Dreh mal nicht durch!«
Sasha musste lachen. Auch Juri lächelte, obwohl ihm nicht gerade danach war.
Der Trick besteht darin, die Finger aus den kleinen Handbacköfen herauszuziehen, genau bevor der Schmerz einsetzt. Sobald man nur den leisesten Anflug von Wärme spürt, geht es um Zehntelsekunden. Reagiert man nicht rechtzeitig, verwandelt sich die Wärme in einen brennenden Schmerz, der von den Fingerspitzen aus den ganzen Körper durchfährt.
Ich war wieder nicht schnell genug gewesen, Merve war es nicht entgangen. Ihr rechter Mundwinkel verzog sich zu einem kleinen, fiesen Lächeln. Sie sagte nichts, ich sagte nichts. Ihre Hündin saß wie immer in ihrem Körbchen und schaute mich aus ihren verspiegelten Knopfaugen herablassend an.
Wir waren erst bei der ersten Gelschicht, es würde noch lange dauern. Zuerst werden die einzelnen Finger in spitz zulaufende Schablonen eingeklebt, dann wird die erste Schicht Gel aufgetragen, die man zur Aushärtung in die kleinen Geräte steckt. Nach der Aushärtung wird gefräst und gefeilt, mit der Maschine und händisch, manchmal bis das Nagelbett blutet. Dann wird die brennende Tinktur daraufgeträufelt, die die Blutung stoppt, worauf die nächste Schicht Gel und das nächste Aushärten folgen, und wenn man nicht schnell genug ist, der nächste stechende Schmerz. Ein schrecklicher Zyklus.
Vor dem Termin bei der Maniküre waren meine Nägel abgebissen gewesen wie die von Ona, weil es bei meiner Arbeit um diese Art von Details geht. Ja, man muss auch die Intonation, die Wortwahl, die Bewegungen, Mimik und Gestik der Person, die man darstellt, beherrschen; zuerst muss aber das Aussehen stimmen. Unreine Haut und schuppende Haare oder glatte Haut und ein glänzender Schopf, perfekte Maniküre oder abgebissene Nägel. Niemand kann sich der Oberfläche entziehen.
Normalerweise hätte ich meine Nägel einfach wachsen lassen, bis sie so lang gewesen wären wie die der Frau meines potenziellen neuen Klienten, aber das hätte mindestens einen Monat gedauert. Diese Zeit hatte ich nicht; ich musste schnell zu überzeugenden Ergebnissen kommen. Gil, der mir geschrieben hatte, weil »ich ihm vielleicht helfen könnte«, war ungeduldig.
Das Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er mich zum ersten Mal sah. Er konnte sich nicht vorstellen, wie aus mir, die ich noch Ona war, jemals seine Frau Emma werden sollte. Oberflächlich hätte der Kontrast zwischen Ona und Emma auch kaum größer sein können. Emma war Perfektion. Zumindest auf den Bildern, die mir Gil geschickt hatte. Nicht so sehr im Sinne von Schönheit, obwohl sie gut aussah. Perfektion im Sinne des Gegenteils von Schlampigkeit, die Ona verkörperte. Onas Haare zum Beispiel waren trocken, die rote Färbung fast schon rausgewachsen — mühsam muss man diesen durch Nachlässigkeit erreichten Zustand künstlich herstellen —, während Emma einen dunkelblonden, kinnlangen Pagenschnitt trug, bei dem jedes Haar so geschniegelt war, als hätte es ein Bewusstsein darüber, dass es Teil einer Frisur war.
Ona war abgemagert, Emma dagegen schlank, aber prall. Es würde mir Disziplin abverlangen, diesen Körper zu meinem zu machen, aber die eigentliche Arbeit würde erst danach beginnen. Ich musste nicht nur herausfinden, wer Emma war, sondern wer sie für Gil war. Was hatte Emma, was hatte diese kaputte Beziehung ihm gegeben, dass er sie in Form eines Rollenspiels wiederauferstehen lassen wollte?
Dass mich Klienten beim Erstkontakt fast schon abschätzig vermaßen, wie auch Gil es getan hatte, konnte mir nichts mehr anhaben. Ich war diese Blicke gewohnt. Seit mehr als einem Jahrzehnt wurde ich so angesehen. Seit mehr als einem Jahrzehnt tat ich nichts anderes, als mich in andere Frauen zu verwandeln und ihre Rollen einzunehmen. Diesen Beruf, den ich für mich erfunden hatte, nannte ich »Begegnungen«, und ich war gut darin. Ich hatte also keine Zweifel, dass ich schon bald eine passable Emma abgeben würde.
Nach dem Termin bei Merve ging ich in den zweiten Stock des Komplexes, wo man die Kleidung kaufen konnte, ging von Geschäft zu Geschäft und strich über die Kleider, Hosen und Röcke aus Viskose, die in der Siedlung hergestellt wurden. Mir fielen ein paar Stücke ins Auge, die Emma wohl gefallen hätten. Ich kaufte aber nichts.
Früher, als die Busse noch häufiger und verlässlicher gekommen waren, hatte ich mich hineingesetzt und war Runden gefahren, hatte besonders die Frauen beobachtet, Gesten notiert, auf Redeweisen geachtet. Nun waren die Busse selten und fast leer. Auch ihre Routen waren unvorhersehbar geworden, die Endstationen beliebig. Ich hatte mir daher andere Routinen angewöhnt, die mir dabei halfen, zu einem neuen Menschen zu werden. Beim Spazierengehen oder Radfahren ging es ganz gut. Oft verschlug es mich zu den Buden meiner Zone, kleine Geschäfte, die aus einem kleinen Verkaufsraum und einem Lager bestanden und sich nur durch die Farben ihrer Fassaden unterschieden. Alle Siedlungsbewohner waren einer bestimmten Zone und innerhalb dieser Zone einer Bude zugeordnet, in der sie für den täglichen Bedarf einkaufen sollten, zumindest den Großteil. Ich plauderte dann mit dem Besitzer meiner Bude, dem roten Radan, aber auch mit den anderen wie der blauen Manthe, dem gelben Milo, dem grünen Wim und mit jenen, deren Fassaden weniger prägnante Farben hatten; vor allem ging ich aber wegen der Huren dorthin, denn die lagerten in Kleingruppen vor den Buden und warteten auf ihre Kunden. Immer riefen sie mich mit dem ersten Frauennamen herbei, der ihnen einfiel. »Nives, he, was machst du?« »Wera, he, Wera!« »Wie geht’s, Mei?« Dann dachte ich mir spontan eine Lebensgeschichte aus, passend zum gerufenen Namen, und antwortete dementsprechend. Manchmal warfen sie mir auch ein Stöckchen, indem sie die zu erzählende Geschichte gleich in die Richtung, in die es gehen sollte, lenkten. Sie sagten dann Dinge wie: »Na, Eva, wie läuft’s in der Fabrik?« oder »Lou, wie geht’s dem Papa?« oder »Asra, hattest du heute wieder einen Fetten?«, wobei ich mir dann aussuchen konnte, ob ich Ärztin oder Masseuse, Schneiderin oder selbst Hure war. In dieser Rolle plauderte ich dann mit ihnen. Das war eine gute Übung.
Manchmal ging ich runter zu Olav, unserem Hausmeister, der das Lokal im Erdgeschoss führte. Kurz bevor er aufsperrte, setzte ich mich an die Bar und unterhielt mich mit ihm und seinen ständig wechselnden Kellnerinnen, während sie Gläser polierten und Inventurlisten durchgingen. Olav sprach fast ausschließlich über Dinge, die im Haus zu reparieren waren, und darüber, in welcher Reihenfolge er vorhatte, das zu tun oder tun zu lassen. Seine Kellnerinnen sprachen dagegen kaum. Sie waren allesamt dürre Mädchen unter achtzehn, mit blond gefärbten Haaren und O-Beinen, hängenden Schultern und glasigem Blick. Alle sahen aus, als wäre ihnen vor langer Zeit, vor ihrer Geburt noch, etwas Schreckliches zugestoßen, dessen Nachbild sie immer wieder unvermutet einholte. Es kam mir so vor, als ob die jungen Frauen einander in den letzten Jahren immer ähnlicher geworden wären. Wäre ich später geboren worden und hätte denselben Beruf gewählt, hätte ich mich vielleicht nur in eine von ihnen verwandeln müssen, um alle zu sein.
Auch das Museum für Naturkunde war zu einem meiner Orte geworden. Es warb mit dem Satz »Werden Sie Naturkunde«, der auf einer ausgeblichenen Plane über dem Eingang hing, für seine Jahreskarten. Der Satz kam mir ziemlich oft in den Sinn, dann musste ich ihn immer sofort aussprechen, ganz leise. Schon beim ersten Mal, als ich ihn gelesen hatte, hatte er mich überzeugt, mir sofort eine dieser Jahreskarten zu besorgen, auf denen verschiedene ausgestorbene Tiere abgebildet waren. Meine zierte ein kleiner Eisbär, der auf einer Scholle sitzend dem Ende seiner Spezies entgegengähnte.
Der Museumsbau stammte aus dem Davor, aus einer Zeit, in der die Siedlung noch nicht die Siedlung war. Seine Architektur aus hellem, plumpem Beton wollte sich nicht recht in die ihn umgebenden Holzbauten einfügen. Obwohl man diese später und mit Rücksicht auf ihn geplant hatte, blieb er ein Fremdkörper. Ich hatte nie verstanden, warum das System das Museum nicht längst für etwas anderes nutzte oder den Bau nicht überhaupt niedergerissen hatte, denn eigentlich war es verboten, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Das gehörte zu den wenigen Regeln, die es in der Siedlung gab: kein Streben nach mehr, keine Akkumulation von Wissen um das Davor und Draußen. Verstöße gegen diese beiden Regeln wurden allerdings kaum geahndet, einzig die Ausübung von Gewalt wurde hart bestraft. Es war das älteste Verbot, angeblich so alt wie die Siedlung selbst.
Übte man Gewalt aus, konnte man im äußersten Fall sogar exiliert werden. Dann hatte man über die Grenze zu gehen, ins Niemandsland, wo man verdursten und verhungern würde, wenn einem nicht ein wildes Tier ein schnelleres Ende bereiten würde. Es gab auch Verrückte, die die Siedlung freiwillig verließen, weil sie sich von haltlosen Gerüchten, dass es anderswo besser sei, dazu verleiten ließen. Beweise dafür, dass es irgendjemand mal in eine andere Siedlung geschafft hätte, gab es keine. Wahrscheinlich taten die Leute in den anderen Siedlungen genau dasselbe wie wir: Eindringlinge sofort liquidieren.
Das war auch die einzige Ausnahme für die legale Anwendung von Gewalt: die Siedlung vor Eindringlingen zu verteidigen. Dass jemand tatsächlich in die Siedlung hatte eindringen wollen, war meines Wissens aber noch nie vorgekommen, und ich bezweifelte, dass die Jugendlichen, die für den Grenzschutz zuständig waren, überhaupt wussten, wie sie die Waffen, die sie mit sich herumtrugen, im Ernstfall zu benutzen hatten.
Wenn sie nicht im Dienst waren, lungerten einige von ihnen mit ihren Freunden gern bei den Buden herum, am liebsten bei jenen vor dem großen Abgrund im Norden, der als Müllhalde der Siedlung diente. Dass es dort bestialisch stank, schien sie nicht sonderlich zu stören. Wenn einer eine Flasche ausgetrunken hatten, warf er sie in hohem Bogen über den Abgrund. Bevor die Jugendlichen diesen Platz für sich entdeckt hatten, hatten sie sich einige Jahre lang in der Nähe des Wasserkraftwerks herumgetrieben. In meiner Jugend hatte man meistens auf einer der drei Brücken gesessen, die über den Fluss, der mitten durch die Siedlung verlief, führten. Jede Generation schien andere Präferenzen zu haben, aber immer gab es einen Hauptort und Nebenorte. Die verschwenderisch breiten Stiegen des Museums waren schon in meiner Jugend ein Nebenort gewesen.
Wenn ich ins Museum ging, blieb ich gern in einiger Entfernung stehen und beobachtete, wie sie dasaßen und kollektiv nichts taten. Trotzdem gab es eine Hierarchie, und sie war leicht erkennbar. Die Grenzer waren automatisch wichtiger und populärer als die anderen.
Und trotzdem schienen sie den schiefen Juri von allen am meisten zu respektieren, obwohl er weder Waffe noch Uniform trug. Er arbeitete im Museum und stellte sich manchmal in seinen Pausen zu ihnen. Mit seinen ungefähr zwanzig Jahren war er zwar kaum älter als die anderen, wirkte aber so ernst und verantwortungsvoll, als wäre er ihr Vorgesetzter. Juri musste manchmal Aufsichtsdienste leisten, und dann erzählte er den Besuchern gern von Komodowaranen und Ameisenkolonien. Ich liebte diese Geschichten, besonders aber, wie er sie mir ins Ohr flüsterte, um die wenigen anderen Besucher nicht zu stören. Sein Atem fühlte sich genau so an wie der Dampf aus den Maschinen im Komplex, die die Poren bei der Gesichtsbehandlung öffneten. Ich fragte mich, ob seine schmalen Lippen auch die Ohrläppchen anderer Menschen streiften, wenn er sich, groß wie er war, zu ihnen abseilte, oder nur meines. Und ob auch andere Menschen wegen so einer Berührung einmal ihre Lippen auf seinen Mund gedrückt hatten oder nur ich.
Ona war ein guter Auftrag gewesen, weil sie leicht zu fassen und der Konflikt mit ihrer Mutter, meiner Klientin, durchschaubar war. Sie hatte keinerlei besondere Fähigkeiten. Außer ihre schwer kopierbare Nichtfrisur hinzukriegen, gab es für mich wenig zu tun. Abgemagert genug war ich bereits, da die Frau, die ich davor gespielt hatte, Sibel, ihrem Körper alles an Masse entzogen hatte, was möglich war — in der Hoffnung, sich irgendwann aufzulösen. Ich verdiente zwar mit Ona nicht viel Geld, hatte aber einige Tage in der Woche frei. Das fühlte sich gut an, obwohl ich nicht wirklich wusste, was ich mit der gewonnenen Zeit anfangen sollte. Das Spazieren im Wald, das die meisten Siedlungsbewohner so liebten, reizte mich nicht sonderlich, vermutlich hatte ich meine Besuche bei Juri im Museum deswegen zuletzt intensiviert. Mir war einfach langweilig.
Obwohl Ona schon 27 war, benahm sie sich noch immer wie ein kleines Mädchen, ganz Konfrontation — eine banale Übung, die mich kaum forderte. Das Problem war allerdings — und das kam gerade in Eltern-Kind-Beziehungen immer wieder vor —, dass ihre Mutter mit der Zeit keine reine Nachstellung der Situation mehr wollte. Doch bei den Begegnungen geht es nun einmal um Nachstellung. Authentizität ist das Wichtigste: Die wechselseitigen Abhängigkeiten einer Beziehung, die zugefügten und empfundenen Schmerzen müssen so realitätsgetreu wie möglich wiedergegeben werden. Onas Mutter, die ursprünglich den Eindruck erweckt hatte, genau das zu wollen, entpuppte sich schließlich doch noch als eine, die auf eine Versöhnung hinarbeitete, sich nach Vergebung sehnte, die ich ihr anstelle ihrer Tochter verschaffen sollte. Ich musste die Begegnung also abbrechen; verzeihen hatte ich nicht im Angebot.
Es war immer mühsam, wenn ich einen Klienten verlor. Zwar hatte ich im Laufe der Zeit gelernt, mich zumindest finanziell abzusichern — dauerte eine Begegnung weniger als zwei Monate, mussten beide Monate bezahlt werden, beziehungsweise behielt ich das Geld ein, da ich es mir im Vorhinein auszahlen ließ —, aber die fordernde äußerliche und innerliche Verwandlung war dann umsonst gewesen. Außerdem musste ich mir einen neuen Auftrag besorgen.
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