Season Sisters – Herbstschatten - Anna Helford - E-Book

Season Sisters – Herbstschatten E-Book

Anna Helford

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die scheue Herbstschwester auf der Suche nach der Wahrheit über ihre Familie Autumn, die Herbstschwester, ist schweigsam und scheu. Nur auf der elterlichen Farm in Wales fühlt sie sich geborgen. Autumns große Leidenschaft sind Pferde – ihre Gesellschaft zieht sie der von Menschen vor. Nur Pferdepfleger Max erlaubt sie ein klein wenig Nähe. Durch eine unbedachte Bemerkung wird Autumn auf die Geschichte ihrer Mutter aufmerksam. Sie ist eine Deutsche, eine Adlige sogar! Aber warum schweigt Leah hartnäckig über ihre Herkunft? Neugierig geworden, vertieft sich Autumn in die Tagebücher ihrer Urgroßmutter Mathilda ... Dritter Band des großen Schwestern-Vierteilers Zwischen Wales und Schloss Roteich an der Mosel – die Herbstschwester auf den Spuren der Geschichte ihrer Mutter Von der Serie sind bereits erschienen: Season Sisters – Frühlingsgeheimnisse Season Sisters – Sommerstürme Jeder Band kann unabhängig von den anderen gelesen werden. 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 470

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Autumn, die Herbstschwester, ist schweigsam und scheu. Nur auf der elterlichen Farm in Wales fühlt sie sich geborgen. Autumns große Leidenschaft sind Pferde, in ihrer Gesellschaft taut sie auf. Und auch ein wenig in der Gesellschaft des Pferdepflegers Liam. Doch eines Tages kommen Autumn erstaunliche Dinge über ihre Mutter zu Ohren. Und sie erkennt: Leah ist eine Deutsche, sie entstammt sogar einem Adelsgeschlecht an der Mosel. Aber warum hat Leah ihre Herkunft vor den Töchtern verheimlicht? Ist sie vor ihrer Vergangenheit geflohen? Autumns Neugierde ist geweckt, sie will mehr über die Geschichte ihrer Familie erfahren. Doch dazu muss sie über ihren Schatten springen und nach Cochem an der Mosel reisen.

 

 

Von Anna Helford ist bei dtv außerdem erschienen:

Season Sisters – Frühlingsgeheimnisse

Season Sister – Sommerstürme

Anna Helford

Season Sisters

Herbstschatten

Roman

Prolog

Cochem an der Mosel, August 1851

»Herein!«

Woldemar straffte die Schultern, bevor er das Zimmer seines Vaters betrat. Er tastete unauffällig nach dem Orden an seinem Revers, um sich zu vergewissern, dass er noch tadellos saß.

Die Abendsonne, die durch die spitzen gotischen Fenster fiel, tauchte den Raum in goldenes Licht. Woldemars Schritte hallten auf dem unebenen Steinboden. Der Kamin war gefegt, auf den Tischen waren bereits die Kerzen und Öllampen entzündet worden.

»Durchlaucht, Sie haben nach mir geschickt?« Woldemar blieb am Ende des Zimmers stehen und verneigte sich vor dem weißhaarigen Mann, der jetzt aus dem Stuhl hinter seinem Schreibtisch aufstand.

Woldemar sog den Geruch von Tabak und Kaffee ein. Er betrachtete seinen Vater, der schon festlich für den Ball gekleidet war. Fürst Bois du Lynn war noch immer stattlich und wirkte nicht wie ein Mann, der bald das siebzigste Lebensjahr vollenden würde.

»Mein Sohn«, der Fürst kam um seinen Schreibtisch herum und deutete auf zwei Eichenstühle, die in der Ecke des Zimmers standen, »ich habe mit dir zu reden.«

Woldemar nickte. Schweigend folgte er seinem Vater, der mit energischen Schritten den Raum durchquerte. Er wartete, bis der Fürst Platz genommen hatte. Dann setzte er sich auf den anderen Stuhl.

»Es wird Zeit, über deine Vermählung nachzudenken«, kam der Fürst ohne Umschweife zum Thema und griff nach seiner Pfeife, die auf dem Tisch bereitlag.

Woldemar hielt einen Augenblick überrascht die Luft an.

Sein Vater öffnete die Tabakdose. »Der Krieg ist vorüber, die Cholera gebrochen, langsam beruhigt sich die Lage im Land wieder. Du hast für den König gekämpft und dich ausgezeichnet.«

Woldemar nickte. Er hatte seinen Teil dazu beigetragen, die Revolutionäre zu besiegen. Die alte Ordnung war wiederhergestellt, und der König hatte ihm sogar persönlich gedankt.

»Ich bin stolz auf dich«, sagte sein Vater. »Eine vielversprechende Militärkarriere liegt vor dir.«

Er klopfte die Pfeife auf dem Tisch aus und schien kurz über seine Worte nachzudenken. »Du hast dich nun lang genug den Freuden des Junggesellenlebens hingegeben.« Ein Lächeln umspielte die Lippen des Fürsten. »Ein Vorzug, den ich deinem Bruder nicht gewähren konnte. Als mein Erbe darf er sich keine Skandale leisten.«

Woldemar spürte, dass er errötete. Ja, er hatte sich einige Freiheiten herausgenommen. Ihm war durchaus bewusst, dass sein Vater stets großzügig über Woldemars Abenteuer hinweggesehen hatte. Ohne ein Wort hatte er seine Spielschulden bezahlt und Bordellbesuche ignoriert. Vielleicht war es ein Versuch der Wiedergutmachung gewesen, nachdem er Woldemar in die Fürsorge eines brutalen Hauslehrers gegeben hatte. Woldemars Körper trug immer noch die Narben der Misshandlungen, die ein abruptes Ende genommen hatten, als der Fürst zufällig hinter die sadistischen Neigung des Mannes gekommen war. Fürst Bois du Lynn hatte dafür gesorgt, dass die Qualen seines Sohnes bestraft wurden. Aber seit jenen Jahren trug Woldemar eine gewisse Kälte in sich, die ihn nie verließ.

Fürst Blois du Lynn stopfte seine Pfeife und griff nach einem Zündholz, das er an der Kerze entflammte. Nachdem er eine Weile nachdenklich gepafft hatte, sagte er: »Aber inzwischen bist du kein junger Bursche mehr. Du hast dir die Hörner abgestoßen. Du bist erfolgreich und hast deine Orden verdient. Ja, du bist ein gestandener Mann. Nun soll Hochzeit gefeiert werden.«

»Meine Hochzeit?«, fragte Woldemar, eine Spur zu entsetzt. Er biss sich auf die Unterlippe. »Verzeihen Sie, Durchlaucht. Ich wollte nicht … Ich bin nur noch nicht darauf vorbereitet. Ich habe bisher keiner Dame einen Antrag gemacht.«

»Das soll bald geschehen, Sohn!« Woldemars Vater rauchte einen Moment lang schweigend seine Pfeife. Dann stand er auf und trat ans Fenster. Während er in den orange gefärbten Himmel hinaussah, fuhr er fort: »Heute Abend wird auch die Comtesse Friederike hier sein, die Tochter des Grafen von Andernach. Ich habe schon alles mit ihrem Vater besprochen. Sie ist vorbereitet und wird deinen Antrag annehmen. Die Mitgift sichert dir ein unbeschwertes Leben, und diese Ehe ist ein guter politischer Schachzug. Denn mit den Andernachs wird unsere Verbindung ins sächsische Königshaus hergestellt, sie sind Verwandte von König Friedrich August II.«

Woldemar schluckte. Er war noch nicht bereit, sich zu vermählen. Der Gedanke daran, nur noch mit einer einzigen Frau zusammenkommen zu dürfen, bereitete ihm Verdruss.

Sein Vater schien die Zweifel zu erkennen. »Es ist eine vorteilhafte Verbindung. Und eine Ehe ist nicht das Ende der Welt.«

Woldemar zwang sich zu einem Lächeln. Vielleicht war eine Ehe nicht das Ende der Welt, aber das Ende des Lebens, so wie er es kannte und genoss. Er hatte gewusst, dass es eines Tages passieren würde. Der Fürst würde natürlich nicht dulden, dass sein jüngerer Sohn ein Leben lang ledig blieb. Auch Woldemar musste durch eine vorteilhafte Verbindung die gesellschaftliche Stellung der Familie festigen. Aber er hatte gehofft, dass sein Vater ihm noch Zeit gab und er eine eigene Wahl treffen konnte.

»Die Tochter des Grafen von Andernach«, begann Woldemar vorsichtig. »Haben Sie sie bereits zu Gesicht bekommen, Durchlaucht?«

Sein Vater schüttelte den Kopf. »Aber der Graf versicherte mir, dass sie von erlesener Schönheit ist.«

Woldemar nickte mechanisch. Welcher Vater würde das nicht von seiner Tochter behaupten, insbesondere wenn es um eine aussichtsreiche Eheschließung ging?

In diesem Moment klopfte der Diener. »Durchlaucht, die ersten Gäste treffen ein.«

Der Fürst stand auf, und auch Woldemar erhob sich rasch.

»Gut, mein Sohn«, Fürst Bois du Lynn legte ihm die Hand auf eine Schulter, »du weißt also, was ich von dir erwarte. Sei galant zu der Comtesse. In den nächsten Tagen wirst du ihr und ihrem Vater einen Besuch abstatten und um ihre Hand anhalten.«

»Ja, Durchlaucht«, antwortete Woldemar knapp, ehe er seinem Vater in die Ahnengalerie hinaus folgte.

 

Als sie die Eingangshalle betraten, waren sämtliche Kerzen in den Kronleuchtern entzündet. Auf den Tischen standen Kandelaber, das Kerzenlicht ließ die Kristallgläser funkeln. Die Teppiche waren von der Dienerschaft so lange geklopft worden, dass sie auf dem alten Steinboden wie neu wirkten. Rosen, Dahlien, Hortensien, Astern und Silberblatt waren von der Fürstin eigenhändig arrangiert worden, die Blumen standen in Vasen auf den Tischen und verströmten ihren lieblichen Duft. Woldemar hörte die Instrumente, die gerade von der Kapelle im Ballsaal gestimmt wurden.

Diener standen in den Ecken bereit, um den ankommenden Gästen die Mäntel und Umhänge abzunehmen. Von draußen klangen das Geräusch von Pferdegetrappel und fröhliche Stimmen herein.

Die Fürstin und ihr ältester Sohn Maximilian warteten bereits auf sie. Woldemar begrüßte seine Mutter mit einer tiefen Verbeugung und nahm neben seinem Bruder Platz. Kaum stand die Fürstenfamilie bereit, wurden die großen Türen geöffnet und eine Menschenmenge strömte in die Halle. Absätze klapperten auf dem Steinboden, aufgeregte Rufe drangen an Woldemars Ohr. Und dann schritten die Gäste feierlich an ihnen vorbei. Woldemar schüttelte unzählige Hände, äußerte immer wieder Komplimente und bemerkte amüsiert die schmachtenden Blicke der jungen Damen. Ihm war seine eindrucksvolle Erscheinung durchaus bewusst, sein Bruder Maximilian war jedoch der Erbe des Bois du Lynn’schen Vermögens und somit die bessere Partie. Leider war Maximilian immer schon kränklich gewesen, was sich auf sein Wachstum ausgewirkt hatte. Er hatte nicht die stattliche Figur des Vaters geerbt. Woldemar war es immer gewesen, der die Aufmerksamkeit der Frauen auf sich zog, doch Maximilian hatte sich im letzten Jahr mit Claudette vermählt, einer hübschen Verwandten Napoleons. Die Verbindung war zwar strategisch geschickt gewesen, und Woldemar musste zugeben, dass er seinen Bruder zunächst um diese Heirat beneidet hatte. Claudette war ein wunderschönes Wesen, aber die Ehe war unglücklich gestartet. Kurz nach der Hochzeit war Claudette an einem Nervenleiden erkrankt und befand sich nun schon seit Monaten zur Genesung bei ihrer Familie in Paris. Was für ein Schicksal für Maximilian! Vermählt mit einer schönen Frau, musste er die Nächte dennoch allein verbringen. Woldemar zweifelte daran, dass die Ehe überhaupt jemals vollzogen worden war. Sein Bruder machte nicht den Eindruck, als habe er die Freuden des Ehelebens kennengelernt, und Claudette war nur wenige Wochen nach der Hochzeit aufgrund ihrer Krankheit nach Frankreich zurückgereist. Der Fürst achtete streng darauf, dass kein Makel auf die Familie fiel, und war bemüht, seinen ältesten Sohn vor jeglichem Skandal zu schützen. Während Maximilian sich stets korrekt und untadelig den Damen gegenüber verhielt, nutzte Woldemar sein Aussehen und auch seinen Stand gern für den ein oder anderen Flirt. Aber er war nie so weit gegangen, einer der Damen Hoffnungen zu machen. Wenn ihm nach erotischen Abenteuern gelüstete, besuchte er die Dirnen in den Städten, die gewandt waren und keine Wünsche unerfüllt ließen.

Inzwischen war die Eingangshalle gut gefüllt. Die ersten Gäste waren bereits weiter in den Ballsaal gezogen. Woldemar ließ seinen Blick über die lange Reihe von Menschen wandern, die vor ihnen standen und darauf warteten, willkommen geheißen zu werden. Perlen und Edelsteine glitzerten im Kerzenlicht. Samt, Taft und Seide flossen wie sanfte Wasserfälle an den Krinolinen der Damen hinab. Kunstvolle Frisuren zeugten von der Kreativität und Fingerfertigkeit der Zofen. Der Duft von verschiedenen Ölen, Pudern und Parfüms lag in der Luft. Zarte Hände streckten sich Woldemar entgegen, auf die er Küsse hauchte. Seine Mutter begrüßte mit der ihr eigenen zurückhaltenden Höflichkeit die Gäste. Der Fürst nickte den Menschen wohlwollend zu, die sich vor ihm verneigten.

Plötzlich ging ein Raunen durch die Menge. Die Gäste wandten sich um. Auch Woldemar hielt inne und versuchte, den Grund der Unruhe zu erkennen. Die Aufmerksamkeit der Menge richtete sich offenbar auf ein Paar, das gerade eingetreten war.

Woldemar folgte neugierig den Blicken – und dann sah er sie: ein Geschöpf von solch strahlender Anmut und mit einer so gewaltigen Präsenz, dass einen Moment lang alle Gespräche im Saal verstummten. Sie trug ein Kleid aus hellblauer Seide, ihre Haut war eine Spur zu dunkel, als dass es vornehm gewesen wäre, doch gerade das schien einen Teil ihres unwiderstehlichen Reizes auszumachen. Ihre hellblonden Haare umrahmten ihr liebliches Gesicht wie ein Heiligenschein. Es war eine besondere Art Selbstsicherheit, die sie verströmte. Der Blick, mit dem sie in den Raum sah, das leichte Lächeln, das zwischen Neugier und Verachtung lag, fesselten anscheinend nicht nur Woldemar. Die Schönheit der Fremden war niemandem verborgen geblieben. Es war, als hielte die gesamte Gesellschaft den Atem an. Nur allmählich wurden die Gespräche wieder aufgenommen, und die Menschen wandten sich von ihr ab. Aber Woldemar war noch immer von dieser imposanten Person fasziniert. Das musste die Tochter des Grafen sein! Woldemar kannte sonst alle anwesenden Gäste. Nur dieses zauberhafte Geschöpf war ihm noch nie begegnet. Mit einem Mal kam ihm die geplante Hochzeit gar nicht mehr so abwegig vor.

»Graf von Andernach«, vernahm er in diesem Moment die Stimme seines Vaters.

Woldemar zwang sich, den Blick von der verführerischen Figur der Fremden zu lösen und sich seinem Vater zuzuwenden, der einem kleinen rundlichen Herrn die Hand reichte. »Darf ich Ihnen meinen Sohn Woldemar vorstellen?«

»Angenehm.« Der Mann lächelte und entblößte eine Reihe brauner Zähne. »Und das ist meine Tochter Friederike.«

Woldemar verneigte sich und wurde sich schon im nächsten Moment bewusst, wie sehr er sich getäuscht hatte.

Der Graf von Andernach trat einen Schritt zur Seite und gab den Blick auf eine blasse Person mit Hakennase und vorquellenden Augen frei. Woldemar schluckte und versuchte, sich sein Entsetzen nicht anmerken zu lassen. Hatte er jemals eine so hässliche Frau gesehen? Sein Vater konnte doch nicht im Ernst davon ausgehen, dass Woldemar sie heiraten würde.

»Wir sind entzückt«, rief der Fürst neben ihm und verneigte sich. »Ich bin sicher, meine Söhne lassen Sie nicht gehen, ohne dass sie sich auf Ihre Tanzkarte geschrieben haben, nicht wahr, Woldemar?«

Er atmete tief durch. »Selbstverständlich.«

Woldemar nahm die kleine silberne Schatulle entgegen und zögerte einen winzigen Augenblick, bevor er sich für den ersten Tanz eintrug. Während er seinen Namen auf die Karte schrieb, dachte er angestrengt nach. Er musste eine Gelegenheit finden, mit seinem Vater über die geplante Verbindung mit der Comtesse zu sprechen. Der Fürst musste einsehen, dass Woldemar dieses unattraktive Geschöpf nicht zur Ehefrau nehmen konnte.

Nachdem der Graf und seine Tochter in Richtung des Ballsaals verschwunden waren, hielt Woldemar Ausschau nach der faszinierenden Frau, die vorhin bei allen Anwesenden für Aufsehen gesorgt hatte. Wenn sie nicht die Tochter des Grafen war, wer war sie dann? Während er einen weiteren Gast seines Vaters begrüßte, entdeckte er sie. Sie stand noch einige Ellen entfernt in der Reihe der Wartenden. Und sie hielt den Arm seines engen Freundes Caspar Kückelhausen. Als Woldemar den Glanz in Caspars Augen bemerkte, atmete er tief ein. Kückelhausen war in dieses Zauberwesen verliebt! Noch nie hatte er so viel Weichheit in seinem Blick gesehen, so viel Gefühl. Normalerweise war Caspar ein Spaßvogel, er wurde von der Fürstenfamilie liebevoll »Hofnarr« genannt. Doch mit dieser Frau schien es ihm ernst zu sein, und Woldemar konnte ihn nur allzu gut verstehen. Auch wenn er noch kein Wort mit ihr gewechselt hatte, wusste er, dass sie dafür gemacht war, die Herzen der Männer zu brechen. Nein, Woldemar musste sich von dem Gedanken verabschieden, die Dame näher kennenzulernen. Niemals würde er seinem Freund in die Quere kommen! Sie hatten es stets so gehalten: Wenn einer von ihnen Interesse an einer Dame zeigte, war diese für den anderen tabu. Aber würde Woldemar sich diesmal an ihren Ehrenkodex halten können? Bei diesem Geschöpf?

»Woldemar!« Caspar kam mit ausgestrecktem Arm auf ihn zu, und die beiden Männer begrüßten sich herzlich. Dann deutete er auf seine Begleiterin. »Das ist die Gräfin von Vornbach.«

Eine Gräfin? Woldemars Herz machte einen Sprung. Da eine Gräfin gesellschaftlich weit über Caspar stand, stellte dieser für Woldemar kein Hindernis dar. Sein Freund mochte in die wunderschöne Frau verliebt sein, aber er musste einsehen, dass eine Verbindung zwischen ihm und einer Adeligen unmöglich war. Schließlich entstammte Caspar dem Bürgertum und lebte von dem Geld von Woldemars Vater, der ihm zweitausend Taler jährlich zur Verfügung stellte. Caspars Vater hatte dem Fürsten in jungen Jahren das Leben gerettet, nachdem dieser von Wegelagerern überfallen worden war. Daraufhin hatte der Fürst, ohne zu zögern, die Patenschaft für den damals zweijährigen Caspar übernommen, und als Caspar nur fünf Jahre später zum Waisen wurde, hatte er ihn wie einen dritten Sohn auf Schloss Roteich aufgezogen.

Woldemar ergriff nun die zarte Hand, die in einem hellen Seidenhandschuh steckte, und verneigte sich. Von dem Adelsgeschlecht Vornbach hatte er noch nie gehört. Vermutlich kam es aus einem anderen Königreich oder Fürstentum.

Als er sich wieder aufrichtete, blieb sein Blick an den kristallblauen Augen hängen, die ihn neugierig musterten. Beinahe schien es so, als würde sie auf etwas warten. Hatte er jemals ein so vollkommenes Gesicht gesehen? Die zarte, gerade Nase, die hohen Wangenknochen, der lange schlanke Hals. Welch Anmut und Grazie! Er wollte etwas sagen, aber kein Wort kam ihm über die Lippen. Die Gräfin betrachtete ihn einen Moment zu lang. Als sie sich wieder Maximilian zuwandte, spürte er die Wärme ihres Blickes noch immer auf seiner Haut.

 

Eine Stunde später traf Woldemar seinen Vater auf der Galerie, wo er sich gerade mit einem Gast unterhalten hatte. Der Fürst war im Begriff, die Treppe in die Eingangshalle hinunterzusteigen, als Woldemar ihn aufhielt.

»Durchlaucht! Verzeihen Sie, darf ich einen Moment mit Ihnen sprechen?«

Der Fürst sah sich überrascht um.

Woldemar hatte sich entschlossen, ohne Umschweife zur Sache zu kommen. Daher erklärte er nun mit leiser Stimme: »Es ist mir unmöglich, um die Hand der Comtesse anzuhalten.«

Sein Vater schwieg, und Woldemar wusste, dass es am besten war, abzuwarten, bis er von sich aus sprechen würde.

Der Fürst stützte sich auf das Geländer und sah in die Eingangshalle hinunter. Schließlich richtete er sich auf. »Ich gebe zu, dass ich von ihrer Erscheinung ebenfalls überrascht war, und ich kann verstehen, dass du etwas anderes erwartet hast. Mehr Liebreiz, mehr Schönheit.« Er hielt kurz inne, ehe er energisch fortfuhr: »Und doch solltest du über diese Verbindung nachdenken. Sie ist wirklich sehr vorteilhaft.«

»Durchlaucht, bitte zwingen Sie mich nicht zu dieser Heirat, ich kann es nicht.« Woldemar hörte selbst den flehenden Ton in seiner Stimme.

»Nun gut, mein Sohn. Aber dann verlange ich, dass du dich in den nächsten Wochen mit einer anderen Dame standesgemäß vermählst. Sonst sehe ich mich gezwungen, auf die Hochzeit mit der Comtesse zu bestehen.«

»Selbstverständlich«, beeilte sich Woldemar zu erwidern. Er dachte an die wunderschöne Gräfin von Vornbach. Das wäre eine Dame, die sein Vater sicher akzeptieren würde. Er sah wieder ihre zarte Haut vor sich, erinnerte sich an das tiefe Dekolleté, an das anmutige Gesicht und ihre Ausstrahlung. Woldemar wollte die vollen, glänzenden Lippen küssen, ihre Haut auf seiner spüren.

»Worüber denkst du nach, mein Sohn?«, drang die Stimme des Fürsten in Woldemars Fantasien.

»Über die Gräfin von Vornbach«, gestand er und biss sich erschrocken auf die Unterlippe. Das wollte er seinem Vater eigentlich gar nicht verraten.

Die Stirn des Fürsten legte sich in Falten. »Eine seltsame Frau. Ich habe von diesem Geschlecht noch nie gehört. Vornbach …?«

»Ja, sie ist bemerkenswert«, gestand Woldemar.

»Wenn du ihr einen Antrag machen möchtest, wäre ich einverstanden«, sagte der Fürst. »Aber erst nachdem ich ihre Familienverhältnisse überprüft habe. Mit den Grafen von Andernach wäre zwar eine Verbindung ins sächsische Königreich hergestellt – aber ich werde dich nicht von deinem Vorhaben abhalten.«

Woldemar sah seinen Vater überrascht an. Er war davon ausgegangen, dass es schwerer sein würde, den Fürsten davon zu überzeugen, dass er die Comtesse nicht heiraten wollte. Doch sein Vater hatte offenbar eingesehen, dass er Woldemar in diesem Punkt nicht beeinflussen konnte.

»Aber trage ihr zügig die Ehe an. Ich möchte nicht, dass sich die Sache weiter hinzieht. Meine Geduld währt nicht mehr lange«, sagte der Fürst und stieg die Treppe hinunter, die in die Halle führte.

Woldemar folgte ihm langsam. Sollte er schon heute einen Vorstoß wagen und um die Hand der Gräfin von Vornbach anhalten? Oder wäre es besser, mit Kalkül vorzugehen, erst mehrmals seine Aufwartung zu machen, bevor er ihr die Ehe antrug? Allerdings wusste Woldemar nicht, wo die Gräfin wohnte, sie schien zurzeit bei Caspar zu Besuch zu sein. Woldemar vermutete, dass sie eine weite Reise bis in ihre Heimat hatte, und wenn er zu lange wartete, war sie vielleicht schon wieder fort aus Preußen. Ein Werben würde dann sehr aufwendig werden.

Woldemar schlenderte durch die Eingangshalle und folgte dem Klang der Tanzmusik. Als er den Ballsaal erreicht hatte, sah er sich nach der Gräfin um. Sie hatte gerade den Tanz mit einem jungen Mann beendet, der sich jetzt vor ihr verneigte. Das war eine gute Gelegenheit, um sie in ein Gespräch zu verwickeln. Er wusste, dass er gerade im Begriff war, überstürzt zu handeln, aber die Androhung der Ehe mit der hässlichen Comtesse zwang ihn dazu.

»Verzeihen Sie, Gräfin«, Woldemar trat zu der jungen Frau, die sich von ihrem Tanzpartner vom Parkett führen ließ, »darf ich Sie einen Moment sprechen?«

Gräfin von Vornbach sah ihn mit einem Schmunzeln an, das ihn durcheinanderbrachte. Sie nickte, und Woldemar hatte noch nie so viel Liebreiz in dieser kleinen Bewegung gesehen.

Nachdem ihr Tanzpartner sich verabschiedet hatte, führte Woldemar die Gräfin aus dem Saal und in die Eingangshalle. Außer ihnen und einigen Lakaien schien sich niemand hier aufzuhalten. Die zahlreichen Kerzen und Lampen tauchten den großen Raum in goldenes Licht.

»Verehrte Gräfin«, begann Woldemar, »ich weiß, dass ich Sie mit meinem Anliegen erschrecken werde, denn wir haben noch kaum ein Wort miteinander gewechselt. Und doch muss ich Sie fragen: Möchten Sie meine Gemahlin werden? Ich bin von Ihrer Schönheit und Anmut entzückt und so in Ihren Bann geraten, dass ich mir nichts sehnlicher wünsche, als eine positive Antwort von Ihnen zu erhalten.«

Ein überraschter Laut entfuhr dem zarten Mund. Die vollen, seidig weichen Lippen zuckten, als wollte sie gleich in Gelächter ausbrechen. Ihre strahlenden Augen schienen sein Gesicht zu erforschen, viel zu dreist, viel zu offen. Und doch war es gerade dieses, für eine Dame eigentlich unziemliches Verhalten, das ihn verrückt werden ließ. Ihr Ausdruck war keck, fast schon frech. Er versank in ihren tiefblauen Augen, und sein Atem ging schneller, Erregung stieg in ihm auf, und plötzlich wollte er diese Frau mehr als jemals eine andere. Nur mit Mühe konnte er sich beherrschen, sie nicht jetzt und gleich an sich drücken, ihren Mund mit Küssen zu bedecken, ihren Körper zu liebkosen und sich ihr hinzugeben. Sein Blick wanderte zum Ausschnitt ihres Kleides, der die üppigen Rundungen der Brust erahnen ließ. Er spürte die Enge in seiner Hose und errötete. Hoffentlich wandte sie ihren Blick nicht nach unten. Noch nie hatte er sich so tölpelhaft gefühlt, noch nie so kindisch. Was war nur los mit ihm? Er hatte schon mit vielen Frauen geschlafen, keine Dirne hatte ihn jemals so erregt.

»Ich werde mir Ihr Angebot durch den Kopf gehen lassen«, sagte die Gräfin plötzlich mit ihrer kräftigen Stimme und einem eigenartigen Dialekt.

»Ich müsste selbstverständlich noch Ihren Vater um Erlaubnis bitten«, erklärte Woldemar.

»Oh ja«, sie lachte, »das wäre wohl notwendig.«

»Dann darf ich mir also Hoffnungen machen, dass Sie meinen Antrag annehmen werden?« Woldemars Herz schlug vor Aufregung schneller.

»Dazu müsstest du dich mit mir duellieren«, vernahm er plötzlich die Stimme seines Freundes, der hinter ihm stand.

Woldemar wirbelte herum.

»Wie meinst du das?«, fragte er erschrocken. »Ich hatte keine Ahnung …«

»Ich habe der Dame schon vor einer Woche einen Antrag gemacht«, erwiderte Caspar mit seltsam ausdruckslosem Gesicht. Dann wandte er sich an die Gräfin. »Wie darf ich Ihre Worte verstehen? Ich dachte, Sie hätten mir Ihre Hand versprochen.«

Sie runzelte die Stirn, was entzückende Fältchen auf ihrem Nasenrücken entstehen ließ. Dann lachte sie. »Nun, ich bin bereit, mich dem Besten zu schenken. Duellieren Sie sich also, meine Herren.«

Woldemar starrte die Gräfin ungläubig an. Noch nie hatte er eine Dame getroffen, die so offenherzig, ja beinahe begeistert einem Duell entgegensah.

»Entschuldige uns bitte einen Moment.« Caspar fasste den Arm der Gräfin und führte sie ein wenig zur Seite. Woldemar hörte seine leise Stimme. »Meine Liebe, das ist kein Spiel. Er meint es ernst und ich auch.«

Die beiden wechselten einige Worte, die Woldemar nicht mehr verstehen konnte, ehe die Gräfin schließlich zu ihm trat: »Durchlaucht, verzeihen Sie mir, ich habe Ihnen falsche Hoffnungen gemacht. Ich habe meine Hand bereits Herrn Kückelhausen versprochen.«

Woldemar hatte das Gefühl, als hätte er gerade einen Schlag in die Magengrube erhalten. »Caspar? Aber aus welchem Grund? Sie nehmen gesellschaftlichen Abstieg in Kauf? Was sagt Ihr Vormund dazu? Weiß er, dass Caspar weder Titel noch Anstellung besitzt? Und dass er nicht mehr als zweitausend Taler im Jahr zur Verfügung hat?«

Caspar starrte Woldemar wütend an. Noch nie hatte er so viel Verachtung in den Augen seines Freundes gesehen.

»Das ist sehr viel Geld«, stellte die Gräfin fest, und Woldemar war nicht sicher, ob sie sich einen Spaß mit ihm erlaubte. »Es tut mir sehr leid, aber ich dachte, Sie hätten gescherzt.«

»Was?« Woldemar sah sie entsetzt an. »Warum sollte ich darüber scherzen?«

»Das war sehr aufschlussreich, mein Freund«, sagte Caspar, während die Gräfin mit großen Augen zwischen den beiden Männern hin- und hersah. »Jetzt weiß ich endlich, wie du wirklich über mich denkst.«

»Du kannst dich doch nicht ernsthaft mit mir auf eine Stufe stellen«, sagte Woldemar fassungslos. »Ich habe dir immer geholfen, habe dich überall empfohlen. Du gehst hier ein und aus wie ein Bruder.«

»Und deshalb steht mir eine glückliche Ehe nicht zu?«, fragte Caspar sarkastisch. Die Kerzenflammen zuckten in der dämmrigen Halle.

»Doch, natürlich, aber eine standesgemäße«, erwiderte Woldemar, der plötzlich wütend war. Er hatte Caspar beim Militär protegiert, und sein Freund hätte den Aufstieg zum Unteroffizier sicher nicht so schnell geschafft, wenn Woldemar sich nicht immer wieder für ihn eingesetzt hätte. Caspar war auf Schloss Roteich ein gern gesehener Gast, aber die Gräfin stand Woldemar zu. Es war ausgeschlossen, dass Kückelhausen, ein Mann ohne Stand und Namen, diese wunderschöne Frau heiratete, während Woldemar die Comtesse Friederike bekommen sollte.

»Ich kann nicht zulassen, dass du die Gräfin inkommodierst!« Woldemar baute sich vor seinem Freund auf. »Sie würde verachtet und ausgegrenzt werden. Du bist es doch nicht einmal wert, dass …«

Plötzlich landete Caspars Faust in Woldemars Gesicht. Er ging in die Knie und schnappte überrascht nach Luft. Im nächsten Moment waren zwei Diener bei ihm und halfen ihm auf. Jetzt gab es tatsächlich nur noch eine Möglichkeit, die Angelegenheit zu regeln.

»Ich fordere dich zum Duell heraus.« Woldemar ignorierte den stechenden Schmerz an seinem Kinn und sah seinem Freund fest in die Augen. »Ich werde dir noch heute Abend einen Kartellträger schicken.«

»Nein«, rief die Gräfin, obwohl sie einem Duell eben noch äußerst zugetan gewirkt hatte. »Das alles ist doch nur ein Missverständnis.«

»Wie du willst«, antwortete Caspar, ohne auf ihren Einwurf einzugehen. »Wann soll es stattfinden?«

»Morgen Mittag, unter der großen Buche, einen Ehrenrat brauchen wir nicht«, entschied Woldemar, der fest entschlossen war, die Gräfin im Duell für sich zu gewinnen.

Caspar nickte und deutete eine Verbeugung an. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und ging in Richtung Ballsaal davon. Die Gräfin folgte ihm. Woldemar überlegte fieberhaft, wen er als Sekundanten auswählen sollte. Eigentlich wäre Caspar seine erste Wahl gewesen, aber der kam nun nicht infrage. Woldemar seufzte. Er würde wohl oder übel seinen Bruder fragen müssen. Maximilian würde mit ihm schimpfen und sein Vater vermutlich auch. Aber Woldemar war fest entschlossen.

Er blieb noch eine Weile in der Halle, um seine Gedanken zu ordnen. Dann machte er sich auf den Weg in den Ballsaal, um seinen versprochenen Tanz mit der Gräfin von Andernach zu tanzen.

Erstes Kapitel

Nordwales, April, Gegenwart

Donner grollte in der Ferne. Autumn sah überrascht zu dem blauen Frühlingshimmel hinauf, an dem kein Wölkchen zu erkennen war. Es war einer der ersten milden Tage des Jahres, zwar noch frisch, aber trocken. Das Geräusch kam näher, und Autumn schloss kurz die Augen, um sich darauf zu konzentrieren. Es klang fast wie Pferdehufe. Viele Pferde. Ja, das war kein Gewitter, sondern eine Pferdeherde. Sofort war sie alarmiert. Hier im Schlosspark des hochherrschaftlichen Anwesens von Daffodil Castle gab es zwar eine Menge Pferde, aber sie standen auf den Weiden, und Autumn hatte es noch nie erlebt, dass sie so wild durch den Park galoppierten. Natürlich wurden hier häufig große Jagden abgehalten. Aber kaum jemand aus der Gesellschaft, die dazu eingeladen war, konnte so gut reiten, dass ein Pferd diese Geschwindigkeit erreicht hätte. Und außerdem war der Park dafür nicht vorgesehen – die Wiesen und Wege wären danach völlig zertrampelt.

Autumn strich sich ihr langes dunkelblondes Haar hinter die Ohren und richtete sich auf. Sie kannte jedes Pferd auf den Weiden von Daffodil Castle. Manchmal unterhielt sie sich stundenlang mit ihnen, denn mit diesen Tieren verstand sie sich besser als mit jedem Menschen und konnte ihnen ihr Innerstes öffnen.

In diesem Moment tauchten die vier Araber am anderen Ende der Wiese in Autumns Blickfeld auf. Sie erkannte sofort, dass es die Hengste von der Südweide des Schlosses waren, sie waren alle noch recht jung und hatten Flausen im Kopf. Erst letzte Woche hatte Autumn gesehen, wie zwei von ihnen versuchten, ihre Tränke umzustoßen.

Autumn trat entschlossen auf die Wiese. Sie fixierte die vier majestätischen Tiere und hob leicht eine Hand. Sofort wurde der erste Schimmel auf sie aufmerksam und kam direkt auf sie zu. Autumn bewunderte seine geschmeidigen Bewegungen, die beinahe wie ein Tanz wirkten. Die Mähne wehte im Wind, die schwarzen Augen erwiderten ihren Blick. Wie von einem unsichtbaren Band gezogen, ließ er sich von ihr anlocken, und die anderen drei Tiere folgten ihm. Sobald sie Autumn erreicht hatten, kamen sie zum Stehen. Ihre Nüstern blähten sich, und sie wieherten freudig, als sie Autumn erkannten.

»Was habt ihr denn vor?«, fragte sie lächelnd, während sie den ersten Hengst an der Nase kraulte und ihre Stirn gegen ihn lehnte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass das ein geplanter Ausflug ist.«

Der Araberschimmel schnaubte leise, und Autumn sog seinen Pferdeduft tief ein, der sie immer ein wenig an Honig und Heu erinnerte. Sie strich dem Hengst durch die seidige Mähne und schloss kurz die Augen, um seine Nähe zu genießen. Doch kurz darauf stupste sie einer der anderen an und forderte ebenfalls Streicheleinheiten ein. Also wandte sich Autumn dem nächsten Araber zu, einem glänzenden Braunen mit schwarzen Augen. Eine ganze Weile beschäftigte sie sich mit den vier Tieren, die in ihrer Nähe blieben, grasten oder sich an sie drängten. Dann machte Autumn sich auf den Weg zu den Ställen, denn sie vermutete, dass die vier Jungtiere dort ausgebüxt waren.

»Bestimmt werdet ihr schon vermisst«, murmelte sie und wunderte sich nicht, als die Pferde ihr, ohne zu zögern, folgten. Sie hatte sich eine Weile mit ihnen beschäftigt und ihnen dann die kalte Schulter gezeigt, bis die Pferde um ihre Aufmerksamkeit gebuhlt hatten. Autumn wusste, dass Stuten so mit ihren Fohlen umgingen, und hatte sich dieses Verhalten abgeschaut. Leider waren die meisten Menschen viel zu ignorant, um auf ihre Pferde zu hören. So manches Problem in ihrer Beziehung würde sich viel leichter lösen, wenn die Menschen sie besser beobachten würden.

Sie hatten gerade das Ende der Wiese erreicht, als zwei Männer im Laufschritt auf sie zukamen. Als sie Autumn mit den Pferden sahen, blieben sie abrupt stehen.

»Ganz ruhig«, sagte einer der Männer, streckte beide Arme aus und fixierte die Pferde.

Autumn fielen die teure Reithose, das Tweedjackett und die Kappe auf, die wohl das Image eines Landadligen zeichnen sollten.

Der andere Mann war einer der beiden Söhne der Familie Fowler von Daffodil Castle. Aiden oder Ethan, Autumn hatte sie noch nie auseinanderhalten können. Sein braunes Haar war vorn etwas hochfrisiert, die Seiten waren kurzgeschnitten und offenbar mit Gel in Form gebracht. Er war ein gutaussehender Mann, der sich dessen auch bewusst zu sein schien, wie sein selbstsicherer Gang und das einnehmende Lächeln zeigten.

»Hallo«, sagte Aiden – oder Ethan – und kam grinsend auf Autumn zu. Er war leicht außer Atem und stützte die Hände auf die Oberschenkel, als er sie erreicht hatte. »Verdammte Mistviecher!«

Autumn starrte die Männer an. Sie mochte Menschen nicht besonders und konnte dem Drang kaum widerstehen, einfach wegzulaufen. Aber sie wusste, dass die Pferde ihr dann folgen würden und mit ihnen wohl auch die beiden Männer. Deshalb blieb sie abwartend stehen, bereit, jederzeit die Flucht zu ergreifen. Menschen waren unberechenbar, Autumn ging ihnen lieber aus dem Weg.

Inzwischen war der junge Fowler wieder zu Atem gekommen und richtete sich auf. »Du hast anscheinend unsere Pferde gefunden und eingefangen, vielen Dank dafür.«

Autumn schwieg. Sie hasste es, sich unterhalten zu müssen, weil sie nie wusste, was sie sagen sollte.

Als er keine Antwort bekam, sprach er weiter: »Wie bekommen wir die Gäule jetzt auf die Weide zurück? Sie sind völlig ausgeflippt, als wir vorhin das Gatter geöffnet haben.«

Autumn sah ihn unverwandt an. Er hatte ein paar Sommersprossen und grüne Augen. Sie war keinem der Fowlers bisher so nah gekommen, dass sie sie intensiv hätte mustern können. Im Gegensatz zu seinem Freund, der kräftig, fast schon dick war, wirkte der junge Fowler ziemlich sportlich. Aber eine Ahnung von Pferden hatten sie anscheinend beide nicht, denn es gehörte schon einiges dazu, sich von vier Hengsten überrumpeln zu lassen.

»Lass uns am besten Liam anrufen, damit er mit dem Hänger kommt«, schlug der stämmige Mann jetzt vor.

Autumn hätte laut gelacht, wenn sie nicht so schüchtern gewesen wäre. Waren diese beiden Typen etwa nicht in der Lage, diese vier braven Hengste wieder auf die Weide zu führen?

Sie räusperte sich und nahm all ihren Mut zusammen. Als sie sprach, tat sie es den Tieren zuliebe, denn sie wollte ihnen den Stress ersparen, den ein Transport im Pferdeanhänger bedeutet hätte. »Ich bringe die Araber zurück auf die Südweide.«

»Oh.« Der Mann, von dem sie immer noch nicht wusste, welcher der beiden Fowler-Jungs er war, sah sie überrascht an. »Kannst du das denn?«

Autumn setzte sich wieder in Bewegung. Wie von allein und ohne Aufforderung folgten ihr die vier Pferde. Sie ging den unbefestigten Weg hinauf, den sie sonst eher mied, weil er am Schloss entlangführte und gut einsehbar war. Seit ihrer Kindheit hatte sie sich im Park des Anwesens herumgetrieben, aber sie wusste, dass es Privatgelände war. Sie und ihre Schwestern, die nicht weit vom Schloss entfernt auf einer Farm aufgewachsen waren, hatten schon früh gelernt, sich zu verstecken. Sie waren jeden Tag hier gewesen, immer darauf gefasst, hinter dem nächsten Baum in Deckung gehen zu müssen, falls ein Gärtner oder Schlossbewohner auftauchte. Aber der Park war häufig einsam gewesen, und Autumn hatte sich gewundert, dass ein so schönes und großes Gelände nur so wenigen Menschen vorbehalten sein sollte. Dieser verlassene Schlosspark war ihre Rettung gewesen. Hier konnte sie stundenlang herumstreifen, ohne befürchten zu müssen, irgendjemandem zu begegnen. Es gab kaum einen Tag in Autumns dreiundzwanzigjährigem Leben, an dem sie nicht hier gewesen war und die Pferde besucht hatte.

»Was zum Teufel hat das zu bedeuten?«, erklang in diesem Moment eine erboste Stimme.

Autumn sah auf und erkannte einen jungen Mann, der auf sie zukam. Er hatte schulterlanges und lockiges dunkelblondes Haar und war braun gebrannt, wodurch seine strahlend blauen Augen gut zur Geltung kamen.

»Was machen Sie da …?« Er hielt inne, als sein Blick auf die beiden Männer fiel. »Aiden?«

Der Fowler-Sohn, der Autumn und den Pferden mit einigem Abstand gefolgt war, trat jetzt neben sie. »Liam, Kumpel! Du musst die Gäule besser erziehen. Todd und ich wollten einen kleinen Ausritt machen, aber die Pferde sind einfach verrückt geworden. Haben uns fast über den Haufen gerannt.«

Autumn betrachtete das Gesicht des Mannes, auf dem sich unverhohlener Ärger und eine Spur von Verachtung zeigte.

Er atmete tief ein, bevor er erklärte: »Es sind junge Pferde. Die merken sofort, wenn sich jemand nicht auskennt. Und deine seltenen Reitversuche sorgen nicht gerade dafür, dass du ein Profi auf dem Pferd wirst.«

»Langsam, Kumpel«, sagte Aiden. »Vergiss nicht, wer dein Gehalt zahlt.«

»Das tut dein Vater«, brummte der Mann namens Liam, und der Blick aus seinen blauen Augen blieb an Autumn hängen, was sie irritierte. »Und Sie sind …?«

»Sie hat die Mistviecher wieder eingefangen«, sagte Aiden, bevor Autumn antworten konnte. »Aber stimmt – woher kommst du eigentlich? Du warst in unserem Park.«

»Ich … also …« Autumn sah peinlich berührt zu Boden. Sie hatte natürlich kein Recht, hier zu sein. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust, ihr Atem beschleunigte sich. »Ich wohne auf der Farm und war nur ein bisschen spazieren.« Sie war sich bewusst, dass sie nuschelte, sodass man sie kaum verstehen konnte. Aber vor drei jungen Männern zu sprechen, war die Hölle für sie.

»Es ist unglaublich«, mischte sich jetzt Todd ein, der stämmige junge Mann. »Die Tiere folgen ihr, ohne dass sie irgendwas tut oder sagt.«

Der Pferdepfleger Liam, den Autumn schon oft dabei beobachtet hatte, wie er die Tiere versorgt, auf die Weide oder in den Stall geführt hatte, sah sie mit neuer Aufmerksamkeit an. »Stimmt das?«

Autumn spürte, wie sie errötete, und starrte wieder zu Boden. Doch dann ging sie einfach los, und die Pferde folgten ihr wieder.

»Du wohnst auf der Farm? Auf der Farm?«, hörte sie jetzt Aidens Stimme hinter sich. »Bist du etwa eine der Season Sisters?«

Autumn nickte, ohne aufzusehen. Sie wusste, welchen Ruf ihre Familie in der Gegend hatte, aber es störte sie nicht, weil sie normalerweise sowieso nicht mit fremden Menschen sprach. Höchstens, wenn sich ein paar Touristen in ihren Farmshop verirrten, sah sie sich gezwungen, ein paar Worte mit ihnen zu wechseln. Aber das war einfach, denn es ging ja nur um die Waren, die sie dort für ihre Eltern verkaufte. Viel schwieriger war es, wenn sie eine Unterhaltung führen sollte, deren Verlauf sie nicht vorhersehen konnte.

»Das ist doch kaum zu glauben!«, rief Aiden und lief etwas schneller, um zu ihr aufzuschließen. »Wir haben früher mit deinen Schwestern im Park gespielt. Du musst das kleine Mädchen gewesen sein, das immer dabei war und nie geredet hat. Ich glaube, mein Bruder hatte mal kurz was mit einer von euch.«

Autumn schwieg, obwohl sie wusste, dass es ihre Schwester Spring war, die vor langer Zeit eine kurze Beziehung zu Ethan gehabt hatte. Sie selbst hatte es nur am Rande mitbekommen, denn Aidens Bruder war nie auf der Farm gewesen. Ja, sie konnte sich dunkel an die beiden Fowler-Jungs erinnern und dass ihre Schwestern früher mit ihnen gespielt hatten. Aber Autumn war damals noch ein kleines Kind gewesen und durfte bei den Unternehmungen der Großen selten dabei sein.

»Du bist eine Schönheit geworden. Kaum zu glauben, dass wir uns nie wieder begegnet sind«, sagte Aiden. Er hatte seine Reiterkappe abgenommen und drehte sie in der Hand.

»Das ist wirklich ungewöhnlich«, sagte sein Freund Todd grinsend. »Dabei gibt es doch keine hübsche Frau in ganz Nordwales, die du nicht kennst.«

Autumn beschleunigte ihren Schritt. Die Unterhaltung der Männer war ihr unangenehm. Liam warf ihr einen mitleidigen Blick zu, auch er schien nicht allzu viel von den beiden zu halten.

»Verrückte Sachen müssen da auf der Farm abgehen«, wandte Aiden sich jetzt an seinen Freund. »Swingerpartys und Pornodrehs.«

»Echt?« Todds Stimme klang sensationslüstern.

»Erzähl mal, Autumn«, forderte Aiden sie auf. »Stimmt das?«

»Nein«, sagte sie leise. Auf ihrer Farm war noch nie ein Porno gedreht worden, und das Wort Swingerparty war wohl ein bisschen zu hoch gegriffen. Ja, ihre Eltern hatten früher viel gefeiert, und am Ende dieser Partys lagen überall Schnapsleichen in den Ecken. Es hatte viel Sex gegeben, und meistens hatten sich die Pärchen dabei wild gemischt. Aber Autumn hatte das alles nie gestört, sie freute sich über die Freundlichkeit, die ihre Eltern sich und anderen entgegenbrachten. Und auch wenn sie diese Bilder immer ein wenig abgestoßen hatten, gefiel ihr der Grundgedanke. Sie mochte es, dass ihre Eltern Liebe schenkten.

»Wie auch immer.« Aiden schien zu spüren, dass er von Autumn keine Antwort auf seine Frage bekommen würde. »Es ist unfassbar, dass da so eine umwerfend schöne junge Frau neben uns wohnt, und ich habe es bisher nicht mitbekommen.«

Autumn merkte, dass sie wieder errötete. Noch nie hatte ihr jemand gesagt, dass sie gut aussah. Sie selbst wusste, dass sie eher unscheinbar war und daher meist übersehen wurde, und genauso sollte es auch sein. Sie hasste die Aufmerksamkeit anderer.

Autumn ging schnell weiter, und die Pferde und Liam folgten ihr, während die beiden jungen Männer zurückfielen.

Wenig später hatten sie Daffodil Castle erreicht, das mächtig und imposant vor ihnen aufragte. Zwei Sportwagen standen im Innenhof vor seinem Eingangsportal, das von einem großen Wappen geschmückt wurde. Das Schloss war jahrhundertealt, und im Laufe der Zeit waren einige neue Flügel angebaut worden. Die Stilrichtungen der unterschiedlichen Epochen waren deutlich zu erkennen. Autumn war noch nie so nah an das Anwesen herangekommen, daher betrachtete sie es jetzt aufmerksam. Vor dem rechten Flügel befanden sich prächtige Blumenbeete, in denen Rosen, Geranien und bunte Staudenpflanzen blühten. Kleine Buchsbaumhecken fassten die Beete ein. Von dem Gebäude aus dunklem Sandstein ragten Türme in den blauen Himmel, die Autumn nur zu gern erkundet hätte. Bestimmt war der Blick aus den obersten Fenstern wunderschön und weit.

Sie schlugen den linken Zufahrtsweg ein, der um das Schloss herum zur Südweide führte. Hinter der großen Wiese fielen die Felsen steil zum Meer hin ab, das im Sonnenlicht glitzerte. Das Rauschen der Brandung war zu hören, und Salz lag in der Luft. Möwen hatten sich auf dem Rasen niedergelassen und blickten majestätisch zu ihnen herüber.

Als sie die Südweide endlich erreicht hatten, folgten die vier Araber Autumn durch das weit offen stehende Gatter.

»Das ist wirklich erstaunlich«, sagte der Pferdepfleger, der Autumn bewundernd beobachtete.

Noch nie hatte sie jemand so angesehen, noch nie hatte jemand etwas Außergewöhnliches an Autumn bemerkt. Sie schlug verlegen die Augen nieder.

»Du scheinst mit Pferden aufgewachsen zu sein«, fügte Liam hinzu.

Autumn nickte stumm. Dass es hauptsächlich die Pferde von Daffodil waren, mit denen sie viel Zeit verbracht hatte, erwähnte sie nicht. Schon als sie klein war, hatten ihre drei älteren Schwestern ihre liebe Müh und Not gehabt, Autumn zu bändigen, denn sie war immer ausgebüxt und auf eine der Pferdekoppeln gerannt.

Jetzt drehte sie sich noch einmal zu den vier Hengsten um und streichelte ihnen über die Nasen. Ein letztes Mal sog sie den warmen Geruch dieser Tiere ein, dann lief sie ohne ein Wort des Abschieds davon und zog das Gatter hinter sich zu, damit die Araber ihr nicht folgen konnten.

So schnell sie konnte, eilte sie durch den Wald, sie musste ein paar Wiesen überqueren, über eine Mauer klettern und einen Bach kreuzen, dann hatte sie das Gelände des Schlosses hinter sich gelassen und die Farm erreicht.

 

Als sie am Nachmittag den Stall ausmistete, hörte sie Pferdegetrappel im Hof. Erschrocken sah sie auf. Ob es Touristen waren, die im Farmshop etwas kaufen wollten? Auch wenn sie von Kunden abhängig waren, mochte sie es nicht besonders, sich um diese fremden Leute kümmern zu müssen. Allerdings war bisher noch kein einziger Kunde auf einem Pferd zu ihnen gekommen. Seufzend lehnte sie die Schaufel an die Wand und trat aus dem baufälligen Stall ins Sonnenlicht.

Es war Aiden, der gerade seine Haflingerstute Rachel, die Autumn gut von der Weide kannte, an dem alten Baum festzumachen versuchte. Als er Autumn bemerkte, gab er sein Vorhaben auf und kam grinsend mit dem Pferd auf sie zu.

»Hi.« Er blieb vor ihr stehen, Rachel stupste Autumn sofort an.

Autumn strich der Stute zärtlich über den Hals. Mit dieser Dame kam ein schlechter Reiter wie Aiden deutlich besser zurecht als mit den jungen Araberhengsten, die noch nicht richtig eingeritten waren. Vermutlich hatte der Pferdepfleger Aiden dazu gebracht, die Wahl seines Reittiers noch einmal zu überdenken.

»Ich bin gekommen, um mich zu bedanken.« Aiden hielt Rachel locker am Zügel und beobachtete, wie das Tier Autumns Streicheleinheiten genoss. »Du warst heute Morgen so schnell weg.«

Autumn verbarg ihr Gesicht in der weichen Mähne des Pferdes.

»Ich möchte dich gern zum Essen einladen«, hörte sie Aiden sagen und erstarrte.

Als sie wieder aufsah, ruhte sein Blick noch immer auf ihr. »Passt es dir heute Abend? Ich reserviere uns einen Tisch in einem der angesagten Restaurants in Bangor, obwohl es da nicht wirklich gute Läden gibt. Aber bis London ist es ein bisschen zu weit. Was sagst du dazu?«

»Ich … also, keine Ahnung … ich …« Sie brach hilflos ab.

»Gut, ich hole dich um sechs ab«, sagte Aiden, warf mit einer Kopfbewegung sein Haar nach hinten, zwinkerte ihr zu und kletterte umständlich wieder auf die Haflingerstute. »Ich freue mich riesig auf den Abend mit dir.«

Und dann ritt er davon, noch bevor Autumn widersprechen konnte.

Sie ließ sich auf die wacklige Holzbank vor dem Stall sinken und starrte auf die Pferdeäpfel, die Rachel hinterlassen hatte. Auf gar keinen Fall konnte sie mit Aiden Fowler essen gehen. Aber er würde heute Abend bei ihr vor der Tür stehen, und wenn sie nicht aufmachte, würde es womöglich ihre Mutter oder ihr Vater tun – wobei nicht davon auszugehen war, dass sie heute Abend klar im Kopf und nüchtern waren. Und das durfte Aiden auf gar keinen Fall mitbekommen. Er hatte sowieso schon recht abfällig über sie gesprochen. Wenn Leah oder David ihm heute Abend in ihrem desolaten Zustand begegneten, sähe er die Gerüchte über sie nur bestätigt.

Autumn musste im Schloss anrufen und dort Bescheid geben, dass sie am Abend leider keine Zeit hatte. Zögernd holte sie ihr Handy aus der Tasche, das Summer ihr erst letztes Jahr besorgt hatte.

Eine Weile starrte sie verzweifelt auf das schwarze Display. Sie hasste Telefongespräche! Und was sollte sie sagen, wenn Aidens Vater oder seine Mutter ans Telefon gingen? Ihr wurde ganz flau im Magen, als sie daran dachte, wie sie herumstottern würde bei dem Versuch zu erklären, wer sie war und woher sie Aiden kannte. Resigniert steckte sie das Telefon wieder ein. Nein, das würde so nicht funktionieren. Es war vermutlich am einfachsten, wenn sie heute mit Aiden nach Bangor zum Essen fuhr. Danach hatte sie hoffentlich ein für alle Mal Ruhe vor ihm.

 

Den ganzen Tag über war Autumn von einem ungewöhnlichen Unbehagen erfasst. Ihr war schlecht, und sie konnte sich kaum auf ihre Aufgaben konzentrieren. Während sie die Beete im Gemüsegarten harkte und von Unkraut befreite, um in den nächsten Tagen dort Samen auszusäen, hielt sie ständig inne und dachte verzweifelt an den bevorstehenden Abend. Immer wieder überlegte sie, ob ihr nicht doch eine Möglichkeit einfiel, wie sie die Einladung umgehen konnte, aber keine Ausrede schien ihr geeignet.

Also schrubbte sie sich um kurz vor sechs die schmutzigen Hände und das Gesicht und zog einen sauberen Pullover und einen ihrer langen, weiten Röcke an. Sie war kaum damit fertig, als ein Porsche Cabrio die Auffahrt heraufrollte. Schnell lief sie nach unten, damit ihre Eltern nicht zufällig nach draußen kamen, wenn Aiden auf den Hof fuhr. Sie war beruhigt, als sie ihren Vater auf dem Sofa schnarchen hörte. Ihre Mutter legte auf einer Ecke des Küchentischs, die sie ein wenig von Unordnung und Schmutz befreit hatte, Tarotkarten.

»Mum, ich bin kurz weg«, sagte Autumn leise, um ihren Vater nicht zu wecken. »Da müsste noch Brot sein, das ihr essen könnt.«

»Danke, Liebes.« Ihre Mutter sah nicht von den Karten auf.

Als Autumn in Aidens Porsche stieg, empfing sie der Geruch von teurem Leder. Erschrocken stellte sie fest, wie tief der Wagen auf der Straße lag. Sie musste sich durch die niedrige Tür auf den Beifahrersitz zwängen und fühlte sich unwohl. Als Aiden bemerkte, wie sie sich abmühte, drückte er auf einen Knopf, sodass ihre Rückenlehne hochfuhr. Autumns Herz hämmerte nervös gegen ihre Rippen. Sie hatte bislang nur wenige Male in einem Auto gesessen, meistens in Summers Renault, aber noch nie in einem solchen Luxusgefährt. Vor ihr leuchtete ein Display in milchigem Weiß, das Armaturenbrett war mit Mahagoni verkleidet. Auf einem großen Bildschirm war eine Straßenkarte zu sehen, die den Weg nach Bangor zeigte. Autumn strich mit schwitzigen Fingern über das weiche beigefarbene Leder.

»Hi!« Aiden sah sie strahlend an.

Ihr Bauch kribbelte vor Aufregung, und plötzlich spürte sie ein ganz neues Gefühl, das sich unter ihre Angst mischte. Es war Vorfreude. Autumn freute sich tatsächlich auf den Abend mit diesem Mann, der ein bisschen frech, etwas tollpatschig, sehr attraktiv und vor allem charmant war. Dass er sich heute Morgen blamiert hatte, als die vier Hengste ihm entwischt waren, schien ihn nicht zu stören.

Autumn hatte seine Begrüßung noch nicht erwidert, als er schon fortfuhr: »Das war ein ganz schöner Höllenritt hier herauf. Ihr müsst unbedingt eure Auffahrt richten lassen.«

Nicht nur die Auffahrt, dachte Autumn, traute sich jedoch nicht, es laut auszusprechen. Die Farm war in einem üblen Zustand, aber sie hatten einfach nicht genug Geld. Autumns Schwester Summer unterstützte sie, wo es nur ging, doch ihr Gehalt reichte bei Weitem nicht, um die gesamte Farm zu renovieren. Heutzutage war es nicht mehr so einfach, von einer Bio-Landwirtschaft zu leben, pflegte ihr Vater immer zu sagen.

»Na schön«, sagte Aiden. »Dann wollen wir das Baby mal wieder runter zur Landstraße bringen.« Er startete den Motor, der so leise klang, als würde er gar nicht laufen. Konzentriert lenkte er den Porsche um die tiefen Schlaglöcher herum, bis sie die schmale asphaltierte und von Hecken gesäumte Straße erreicht hatten. Aiden atmete erleichtert auf, als er den Wagen endlich in Richtung Bangor steuerte.

»So«, begann er, da er sich nun wieder anderen Dingen widmen konnte. »Erzähl mir ein bisschen von dir.«

Autumn schluckte. Was sollte sie erzählen?

»Du bist keine große Rednerin, nicht wahr?«, fragte er, als sie immer noch schweigend neben ihm saß.

Autumn schüttelte den Kopf. Sie schämte sich, dass sie so unbeholfen im Umgang mit anderen Menschen war. Aber sie hatte so etwas nie gelernt. Außerdem fühlte sie sich am wohlsten, wenn sie allein und in der Natur war. Wann immer es ging, verließ sie das Farmhaus und streifte über die Wiesen und durch die Wälder von Daffodil Castle. Vermutlich kannte sie die Ländereien des Anwesens besser als Aiden selbst. Aber natürlich hütete sie sich, ihm das mitzuteilen. Der Fahrtwind wehte ihr um den Kopf, sie fasste die langen Haare zusammen und strich sich einige Strähnen hinter die Ohren. Links neben ihnen breitete sich das Meer aus, die Sonne stand tief, und es lag ein goldener Glanz auf den Wellen. Autumn sog die salzige Luft ein, die schon immer zu ihrem Leben gehörte.

»Das mit den Pferden heute war großartig«, sagte Aiden nach einer Weile. »Ich habe noch nie jemanden gesehen, dem die Tiere so gehorsam gefolgt sind. Nicht mal Liam kommt mit den Hengsten klar, die sind ziemlich eigenwillig.«

Und es war keine gute Idee gewesen, die vier Hengste zusammen auf die Weide zu stellen, dachte Autumn. Sie hätte jüngere und ältere Tiere gemischt, um die Gefahr, dass die vier Junghengste Unsinn machten, zu vermeiden. Außerdem konnte es zu Rangkämpfen kommen, wenn die Tiere im selben Alter waren. Aber das sagte sie nicht laut, weil es viel zu anmaßend gewesen wäre. Sie hatte in all den Jahren gelernt, dass niemanden ihre Meinung interessierte und dass es in der Anwesenheit anderer besser war, zu schweigen.

»Ich hatte eigentlich vor, Pferde zu züchten«, sagte Aiden jetzt, den Blick auf die Straße gerichtet.

Autumn war überrascht. Sie hatte ihn für keinen großen Pferdefreund gehalten.

»Aber nach dem Erlebnis heute überlege ich mir das noch mal. Irgendwie hatte ich mir die Sache leichter vorgestellt.«

Autumn nickte. Er sollte sich besser einen guten Trainer für die Pferde suchen, ehe er sich mit ihnen beschäftigte.

»Bist du die jüngste der vier Schwestern?«, fragte Aiden und sah kurz zu ihr herüber.

Sie nickte wieder.

»Und du arbeitest für deine Eltern? Was machst du denn den ganzen Tag?« Aiden hatte einen Arm auf das heruntergefahrene Fenster gelegt, mit einer Hand hielt er das Lenkrad. Autumn bewunderte ihn für seine Lässigkeit.

»Ich bin für den Farmshop und die Kühe zuständig«, stieß sie aus. Dann presste sie die Lippen fest aufeinander.

»Musst du etwa die Kühe melken?«, wollte er wissen.

»Genau«, sagte sie vorsichtig. »Und sie auf die Weide bringen und in den Stall. Und ausmisten.« Beinahe atemlos schwieg sie. So viel hatte sie selten zu einem Fremden gesagt.

»Deshalb kommst du auch so gut mit den Pferden zurecht, stimmt’s?«, sagte er. »Du kannst einfach gut mit Tieren umgehen.«

Autumn zuckte unsicher mit den Schultern. Sie hörte ihnen zu, schaute sich ihr Verhalten ab und kommunizierte mit ihnen, wie sie es auch untereinander taten. Das war kein Hexenwerk, und doch schien gerade das den meisten Menschen unvorstellbar schwerzufallen.

Wider Erwarten genoss Autumn die Fahrt auf der Küstenstraße. Sie war noch nicht allzu häufig hier gewesen. Ein paarmal hatte Summer sie abgeholt und in ihr wunderschönes Cottage in Bangor gebracht, aber meist kam ihre Schwester zur Farm. Jetzt sah Autumn fasziniert aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft. Sie liebte die Felsen und saftig grünen Hügel von Wales und konnte sich nicht vorstellen, jemals woanders zu leben als hier. Ihre Schwestern Winter und Spring waren fortgegangen, doch sie selbst würde ihre Heimat niemals verlassen. Nicht einmal Urlaub wollte sie machen, denn allein der Gedanke daran, in einem fremden Bett schlafen zu müssen, versetzte sie in Panik.

Einmal sah sie zufällig zu Aiden hinüber und fing das Lächeln auf, das er ihr zuwarf. Schnell wandte sie sich wieder ab und spürte, wie sie errötete.

»Gefällt es dir? Die Fahrt, meine ich?«, fragte er mit weicher Stimme.

Autumn nickte und griff nach ihren Haaren, um sie zu einem Knoten zu schlingen, damit ihr die Strähnen nicht immer wieder ins Gesicht wehten.

»Du lebst ziemlich zurückgezogen, oder?«

Ein weiteres Mal konnte sie nur nicken.

»Deine Schwestern sind nicht mehr zu Hause?«

Autumn schüttelte den Kopf und wünschte sich, irgendetwas erwidern zu können, aber es fiel ihr einfach keine interessante Antwort ein.

Wenigstens gab Aiden es jetzt auf, ihr weitere Fragen zu stellen. Den Rest der Fahrt schwiegen sie.

Als sie Bangor erreicht hatten, parkte Aiden den teuren Wagen im Zentrum der Stadt, er stieg aus und reichte ihr seinen Arm. Autumn zögerte kurz, bevor sie sich einhakte.

Als ihre schwielige, raue Hand in seiner Armbeuge lag, nahm sie den dezenten Duft nach Veilchen, Jasmin und Pfirsich wahr, der von ihm ausging. Sie spürte den weichen Stoff seines Hemdes an ihrem Unterarm, und einen kurzen Augenblick lang empfand sie so etwas wie Stolz. Sie war stolz darauf, dass sie am Arm des Erben von Daffodil Castle durch Bangor schritt, dass sie es gewagt hatte, diese Einladung anzunehmen, und dass sie in einem Auto gefahren war, das vermutlich mehr wert war als die ganze Farm, auf der sie lebte. Doch schon im nächsten Moment packte sie wieder die Angst vor dem, was sie erwartete, und sie fragte sich, was um Himmels willen sie eigentlich hier tat.

Aiden führte sie durch die Fußgängerzone, vorbei an leeren Geschäften, kleinen Cafés und dem Uhrenturm, an den Autumn sich noch aus ihrer Kindheit erinnern konnte. Zweimal war sie mit ihren Eltern und Schwestern hier gewesen, um Freunde abzuholen, sie hatten sich damals an dem Uhrenturm getroffen.

»Da wären wir«, sagte Aiden. Er war vor einem kleinen französischen Restaurant stehen geblieben, vor dem ein paar Tische auf dem Gehweg standen. Aber jetzt war es schon zu kalt, um noch draußen zu sitzen, die Aprilabende waren recht frisch. Nur ein paar Raucher standen zitternd um einen der Tische herum, die Arme fröstelnd vor der Brust verschränkt. Durch die bodentiefen Fenster des Restaurants drang warmes Licht nach draußen, im Gastraum saßen Menschen an kleinen Tischen, die Wein tranken und sich unterhielten.

Aiden öffnete die Tür und betrat vor Autumn den Raum. Der Duft nach Estragon und Knoblauch, nach gebratenem Fisch und Basilikum empfing sie. Ein Kellner kam auf sie zu, und Aiden nannte seinen Namen. Sie wurden zu einem Tisch in einer Nische gebracht, der für sie reserviert war. Autumn war völlig verwirrt von all den Eindrücken, die auf sie wirkten. Lichterketten waren quer über den Raum gespannt, Bilder vom Eiffelturm, dem Arc de Triomphe und den Champs-Élysées hingen an den Wänden. Noch nie war Autumn in einem so gemütlichen Restaurant gewesen. Leise Musik spielte im Hintergrund, die sie nicht kannte, der Song wurde in einer fremden Sprache gesungen. Der Kellner kam mit einer Wasserkaraffe und einer Weinflasche, und als er ihnen einschenkte, nahm Autumn das intensive Aroma wahr.

»Darf ich für dich bestellen?«, fragte Aiden und griff über den Tisch nach Autumns Hand, die nervös mit einem der Messer neben ihrem Teller gespielt hatte. Autumn hielt inne und starrte auf seine gepflegten Finger. Und in diesem Moment wurde ihr bewusst, wie absurd die ganze Situation war. Was wollte Aiden von ihr? Warum hatte er sie eingeladen? Sie war nichts und besaß nichts. Und doch befand sie sich hier, in einem Lokal, in das sie überhaupt nicht passte, mit einem Mann, zu dem sie noch viel weniger passte. Sie hörte, wie Aiden ein Menü bestellte, dann ließ der Kellner sie wieder allein. Aidens Hand lag noch immer warm auf ihrer. Dann ließ er sie los und nahm sein Weinglas.

»Danke, dass du mir Gesellschaft leistest. Auf einen wunderschönen Abend!« Er sah sie so intensiv an, dass Autumn in seinem Blick gefangen war.

Das Kerzenlicht spiegelte sich in seinen grünen Augen. Sie stießen mit einem leisen, klingenden Klirren ihre Gläser aneinander, und ohne ihren Blick zu lösen, tranken sie einen Schluck Wein.

Samtig und vollmundig rann er ihre Kehle hinunter.

Sofort verspürte Autumn einen leichten Schwindel. Sie durfte auf gar keinen Fall zu viel trinken, denn sie wusste, wie schnell man die Kontrolle verlor. Und sie war hier nicht zu Hause, nicht im sicheren Farmhaus, sondern draußen, unter Fremden.

»Du bist wunderschön«, sagte Aiden, und seine Augen wanderten über ihr Gesicht.

Autumn schoss die Hitze in die Wangen, und sie wandte sich schnell ihrem Wasserglas zu, um einen eiligen Schluck zu nehmen.

»Ich glaube, dass du vielschichtiger bist, als du vorgibst.« Aiden hatte sein Handy umgedreht auf den Tisch gelegt und schob es jetzt beiläufig hin und her.

Nein, Autumn war genau das, was sie nach außen hin darstellte. Sie hatte kein verborgenes Talent, keine heimlichen Leidenschaften, denen sie nachging, und kein Wissen, mit dem sie prahlen konnte, wenn das Thema darauf kam.