Season Sisters – Winterhoffnung - Anna Helford - E-Book + Hörbuch

Season Sisters – Winterhoffnung Hörbuch

Anna Helford

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Beschreibung

Das große Finale des Schwestern-Vierteilers: die Geschichte der Winterschwester Die vier Schwestern Spring, Summer, Autumn und Winter kämpfen jede auf ihre Weise um ihren Platz in der Welt, um Glück, Liebe und Erfolg. Jede von ihnen geht einen anderen Weg und muss herausfinden, wer sie eigentlich ist und welches Leben zu ihr passt. Dabei helfen ihnen Geschichten aus der Vergangenheit. Gemeinsam zerren sie die Dämonen ihrer Familienvergangenheit ans Licht.  Von den vier Season-Schwestern ist Winter die ehrgeizige und kühle. Früh ist sie ihrem Elternhaus in Wales entflohen, um jenseits des Atlantiks Karriere zu machen. Doch ein Brief, der ihr das Erbe eines Anwesens im englischen Exmoor ankündigt, lockt sie zurück nach England. Winters Aufgabe wird es sein, das grausame Geheimnis der Familie ihres Vaters David aufzudecken. Von der Serie sind bereits erschienen: Season Sisters – Frühlingsgeheimnisse Season Sisters – Sommerstürme Season Sisters – Herbstschatten Jeder Band kann unabhängig von den anderen gelesen werden. 

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Zeit:10 Std. 21 min

Sprecher:Simone Terbrack
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Über das Buch

Winter ist die Ehrgeizige und Zielstrebige der vier Schwestern. Um möglichst viel Distanz zwischen sich und ihr Elternhaus zu bringen, hat sie sich auf die andere Seite des Atlantiks geflüchtet und sich dort als gefragte Anwältin etabliert. Da erreicht sie ein Brief aus England. Fassungslos liest Winter, dass ihre Großmutter ihr ein Anwesen im Exmoor vermacht hat. Nie hat Winter einen Gedanken an ihre Familiengeschichte verschwendet. Und nun stellt sich heraus, dass ihr Vater David dem englischen Adel entstammt! Der Familiensitz Whiteball Hall ist zwar dringend sanierungsbedürftig, besitzt jedoch Charme und lässt sich garantiert zu einem Luxushotel umbauen. Sogleich macht sich Winter mit Handwerker Dylan an die Planungen. Doch die Mauern von Whiteball Hall bergen ein grauenvolles Geheimnis.

 

Von Anne Helford ist bei dtv außerdem erschienen:

Season-Sisters – Frühlingsgeheimnisse

Season-Sisters – Sommerstürme

Season-Sisters – Herbstschatten

Anna Helford

Season Sisters

Winterhoffnung

Roman

Prolog

Exmoor, Juni 1878

Beryl Jackson zitterte am ganzen Leib, obwohl diese Nacht nicht kalt war. Sie starrte auf das Boot, das vor ihr am Steg lag und sie in eine ungewisse Zukunft bringen sollte. Es war so dunkel, dass sie kaum die Hand vor Augen sehen konnte, die Laternen zu beiden Seiten waren die einzige Lichtquelle in der Finsternis. Das Klatschen der Wellen an die Felsen klang plötzlich bedrohlich, der Wind schien ihr pausenlos Warnungen zuzurufen. Es gefiel Beryl gar nicht, dass alles so heimlich ablaufen musste. Sie und Gwen waren mitten in der Nacht im Hunter’s Inn, dem kleinen Gasthof im Wald, abgeholt und nach Lynmouth gebracht worden. Warum konnte Beryl nicht bei Tag und vor den Augen der Dorfbewohner das Anwesen betreten? Was hatten die Herren dort zu verbergen? Alles in ihr wehrte sich dagegen, in diese Nussschale zu steigen und ihr Leben den harmlos dreinblickenden Männern auszuliefern, die neben ihr am Kai standen. Gewiss, auch Sir Ian war dabei, und seine äußere Erscheinung raubte ihr den Atem. Er war der attraktivste Arzt, dem sie jemals begegnet war. Und jung noch dazu, er konnte kaum älter als dreißig Jahre sein. Beryls Londoner Arzt, Doktor Bernstein, hatte ihn in den Himmel gelobt und als ihre einzige Hoffnung bezeichnet. Sir Ians Schönheit, sein ebenmäßiges Gesicht, die makellose Haut, das dunkle Haar, der athletische Körperbau waren durchaus imstande, eine junge Frau nachts wach zu halten – doch Beryl brachten zurzeit ganz andere Dinge um den Schlaf.

Sie atmete tief durch und schloss die Augen. Sie wollten ihr nur helfen, sagte sie sich. Sie waren in der Lage, sie zu retten. Das behauptete zumindest Doktor Bernstein. Beryl betrachtete das Boot. Es besaß eine winzige Kajüte und drei Querbretter, bei deren bloßem Anblick Beryl schon der Allerwerteste – wie ihre Tante Gwendolyn sich ausdrücken würde – schmerzte. Ihr wurde speiübel, wenn sie nur daran dachte, in diesem Kahn über das Meer zu schaukeln. Sie wollte nicht in dieses Haus. Menschen verschwanden dort auf Nimmerwiedersehen. Dutzende junge Frauen und manchmal auch Männer hatten sich nach ihrer Ankunft dort einfach aufgelöst. Aufgelöst im Nebel der Küste. Vielleicht hätten sie und ihre Tante Gwendolyn nicht schon vor einigen Tagen aus London hierherreisen sollen. Vielleicht hätte sie sich all die Geschichten der Dorfbewohner nie anhören sollen, doch nun kannte sie sie. Das ließ sich nicht mehr rückgängig machen.

»Ich kann nicht«, wimmerte sie leise.

»Beryl«, ihre Tante sah sie mit einer Mischung aus Strenge und Mitgefühl an, »du weißt, dass wir keine Wahl haben.«

»Ich habe Angst«, sagte Beryl.

Gwendolyn schwieg einen Moment, ehe sie sich an Sir Ian wandte. »Meine Nichte ist noch nicht bereit, und ich halte es nicht für angebracht, sie zu zwingen.«

Sir Ians braune Augen schimmerten im schwachen Schein der Laterne. Das dunkle Haar umrahmte sein fein geschnittenes Gesicht, und Beryl dachte, dass er schon allein durch sein Aussehen in der Lage sein müsste, die Menschen zu heilen. Und doch war ihre Angst übermächtig.

»Ihr Bruder besteht auf die Dringlichkeit der Angelegenheit«, erwiderte der junge Arzt.

»Dann hätte er seine Tochter selbst begleiten müssen, aber er hat alles in meine Hand gelegt. Somit bin ich verantwortlich für das Schicksal meiner Nichte, und wenn Beryl Bedenken hat, nehme ich diese ernst. Sie braucht eben noch etwas mehr Zeit, um sich an den Gedanken zu gewöhnen. Wir werden einige Tage im Exmoor bleiben und uns vorbereiten. Und wenn sie so weit ist, wird sie mit Ihnen fahren.«

Tränen der Erleichterung stiegen in Beryl auf. Sie wusste nicht, ob sie jemals einen Menschen so geliebt hatte wie ihre Tante Gwendolyn in diesem Moment.

Erstes Kapitel

New York, April, Gegenwart

Winters Absätze klackerten über das Parkett, als sie den Gerichtssaal verließ. Sie schenkte weder dem Staatsanwalt noch ihrem Mandanten einen Blick, der von zwei Sicherheitsbeamten wieder in seine Zelle gebracht wurde. Connor und Christian waren in dieser Beziehung anders als sie, sie genossen den Teilerfolg, den sie heute erzielt hatten, aber Winter ließ im Gerichtssaal keine Gefühle zu. Auch nicht nach Abschluss der Verhandlungen, oder – wie es heute der Fall war – nach einem Abbruch. Sie hatten es erreicht, dass das Verfahren neu aufgerollt werden musste, was sie und ihre beiden Kollegen gerettet hatte.

»Darf ich meine Verlobte zum Lunch einladen?«, fragte Connor sie, während er die Glastür des Gerichtsgebäudes für sie aufhielt.

Während der Verhandlung hatte es anscheinend einen ordentlichen Wolkenbruch gegeben, denn der Platz vor dem Gebäude war nass, und die Regenwolken hingen noch schwer über der Stadt.

»Ich würde mich lieber als deine erfolgreiche Kollegin einladen lassen.« Winter zwinkerte ihm zu und strich sich die kurzen, blond gesträhnten Haare hinter die Ohren, die viel Pflege und jede zweite Woche einen Friseurbesuch erforderten.

»Du hast recht«, sagte Connor und stieg neben ihr die breite Treppe vor dem Gericht hinunter. »Du hast es verdient. Immerhin hast du herausgefunden, dass die Hauptzeugin befangen ist.«

Winter lächelte. Das war tatsächlich gar nicht so leicht gewesen, und da sie die Akte erst spät erhalten hatten, hatte sie unter enormem Zeitdruck gestanden. Normalerweise arbeitete sie zehn bis zwölf Stunden am Tag, doch für diese Verhandlung war sie manchmal sogar noch länger in der Kanzlei geblieben. Aber es hatte sich gelohnt. Zumindest vorläufig. Wie es weiterging, würde sich zeigen.

»Christian, kommst du noch mit uns zum Lunch?«, wandte sich Connor an ihren Kollegen, den dritten Anwalt, der den Mandanten mit ihnen betreute und ebenfalls bei McGregor, Kilian and Fownsworth angestellt war.

»Drei sind in diesem Fall einer zu viel«, erwiderte der junge Mann mit einem angedeuteten Lächeln. »Wir sehen uns später, in der Kanzlei.«

Also verabschiedeten sie sich von Christian, der mit der U-Bahn zurück in ihr Büro in der Upper East Side fahren würde. Winter sah ihm einen Moment lang hinterher, sie wusste, dass Christian Peters sich von ihr bedroht fühlte. Er war drei Jahre länger als Winter in der Kanzlei und genauso ehrgeizig wie sie. Er setzte große Hoffnungen darauf, zum Partner ernannt zu werden, und würde es vermutlich gar nicht gern sehen, wenn Winter vor ihm befördert wurde.

Menschen in Anzügen oder Businesskostümen, mit nassen, zusammengeklappten Regenschirmen in den Händen, strömten an ihnen vorbei. Es roch nach Abgasen und verbranntem Gummi.

»Das war echt gut heute«, sagte Connor und legte den Arm um Winters Schultern. »Ich war mir alles andere als sicher, ob das Gericht unserem Antrag stattgeben würde.«

»Es war riskant«, räumte Winter ein. Sie wich einer großen Pfütze aus, die sich auf dem breiten Gehweg gebildet hatte. »Aber wir hatten ein gutes Argument. Das konnten sie nicht ignorieren.«

»Wollen wir ins Jacques?«, fragte Connor und schob sie durch die Menschenmenge auf dem Bürgersteig.

»Wenn wir da einen Tisch bekommen.« Winter sah auf ihre Smartwatch. »Es ist Viertel nach eins.«

»Du weißt doch, dass ich Zauberkräfte besitze, wenn es um einen freien Tisch geht«, sagte Connor und schmunzelte.

Winter musste lächeln. Ihr Verlobter war der Sohn des legendären Frank McGregor, Gründer und Senior-Partner der Kanzlei McGregor, Kilian and Fownsworth, der über erstklassige Kontakte verfügte, weil er bereits unzählige Menschen von Rang und Namen aus misslichen Lagen befreit hatte. Er war nicht nur ein knallharter Anwalt, der über das größte Wissen verfügte, das Winter sich vorstellen konnte, sondern auch taktisch ein kluger Mann. Manchmal riet er Klienten zu ungewöhnlichen Strategien, wenn er ahnte, dass sie vor Gericht keinen Erfolg haben würden. Auf diese Weise hatte er schon so manchen Skandal von seinen Kunden abwehren können, die ihm das in großzügiger Weise dankten. Viele namhafte Männer und Frauen schuldeten Frank McGregor mehr als nur einen Gefallen, und das hatte die McGregors zu einer einflussreichen Familie gemacht. In ganz New York war der Name in den besten Kreisen bekannt, und zahlreiche Stars aus der Film- und Musikbranche zählten zu ihrem engsten Freundeskreis.

Wenig später hatten Winter und Connor das Nobellokal erreicht, das nur einen Häuserblock vom Gerichtsgebäude entfernt war.

»Mr McGregor«, begrüßte sie die Chefkellnerin, die hinter einem hohen Stehpult am Eingang stand. »Ihr Vater ist auch gerade gekommen.«

»Ach ja?« Connor reckte den Hals. »Ist er allein?«

Die Kellnerin nickte. »Wollen Sie sich zu ihm setzen?«

»Ich frage ihn, möglicherweise hat er wichtige Dinge zu erledigen.« Connor sah sich zu Winter um. »Oder hast du etwas dagegen?«

»Um Himmels willen, ganz bestimmt nicht.« Aufregung stieg in Winter auf, wie jedes Mal, wenn sie ihren zukünftigen Schwiegervater traf, der gleichzeitig auch ihr Chef war. Aber sie hätte niemals zugegeben, dass der strenge, charismatische Mann ihr eine höllische Angst einjagte.

Die Bedienung deutete auf einen Tisch im hinteren Bereich des hellen Restaurants, das im Stil einer Cocktailbar der Zwanzigerjahre eingerichtet worden war. In der Mitte des großen Raumes befand sich eine runde Bar, die in sanftem, goldenem Licht erstrahlte. Die Tische waren fächerförmig rundherum angeordnet und boten wenig Privatsphäre, weil sie eng beieinanderstanden. Ganz hinten, wo die Kellnerin sie nun hinführte, gab es allerdings Nischen mit größeren Tischen, an denen mindestens acht Personen Platz fanden. Und an einem davon saß Frank McGregor ganz allein und telefonierte. Vor ihm lag eine dünne Akte.

Als er seinen Sohn bemerkte, strahlte er übers ganze Gesicht und beendete sofort das Telefonat.

»Connor! Winter! Setzt euch, ich wollte sowieso mit euch sprechen.« Er wandte sich an die Bedienung. »Bringen Sie uns bitte das Tagesmenü und eine Flasche stilles Wasser. Wollt ihr einen Aperitif?«

Winter und Connor schüttelten beide den Kopf.

»Sofort, Mr McGregor.« Die Bedienung entfernte sich, und Winter kam wieder einmal nicht umhin, Frank zu bewundern. Er war einfach souverän und absolut selbstsicher. Er fragte nicht einmal, was Connor und Winter essen wollten, sondern ging davon aus, dass sie sich seiner Wahl anschließen würden. Und die Oberkellnerin, die eigentlich nur dafür da war, die Gäste zu ihren Tischen zu bringen, nahm klaglos seine Bestellung auf. Frank McGregor widersprach man nicht. Und Winter genoss es, sich im Glanz und der Berühmtheit ihres künftigen Schwiegervaters zu sonnen.

»Winter«, sagte Frank zu ihr, nachdem sie zwischen ihm und Connor Platz genommen hatte, »ich habe gerade gehört, dass du wieder einmal großartige Arbeit geleistet hast.«

»Ja, sie war klasse!«, bestätigte Connor. »Sie hat die richtigen Fragen gestellt und uns damit gerettet.«

Frank nickte. Sein dunkles Haar war von silbernen Strähnen durchzogen. Winter ging davon aus, dass er sich intensiv um sein Äußeres kümmerte, denn er wirkte, als ob er höchstens fünfzig wäre, obwohl er um einiges älter sein musste. Seine Haut war glatt, beinahe zu glatt, und sein Körper so durchtrainiert, dass Winter sich fragte, wann er die Zeit dafür fand, derart ausgiebig Sport zu treiben. Denn Frank war, anders als die Vorgesetzten, die sie aus ihren vorherigen Kanzleien kannte, meist schon frühmorgens in seinem Büro anzutreffen und abends einer der Letzten, die nach Hause gingen. Sein Sohn Connor war ihm in vieler Hinsicht ähnlich, aber Winter hatte schnell erkannt, dass Connor zwar ebenfalls versessen auf Erfolg und Ansehen war, die Arbeit aber nicht unbedingt erfunden hatte. Sie war sich ziemlich sicher, dass Frank die Wahl der strebsamen und karrierebewussten Winter als seine Schwiegertochter allein aus diesem Grund begrüßte. Denn sie kam aus keiner angesehenen Familie, was sie als Nachteil den McGregors gegenüber empfand. Sie war davon ausgegangen, dass Connors Eltern nicht gerade begeistert über seine neue Freundin sein würden. Aber ganz im Gegenteil, sie hatten sie sofort herzlich in ihren Familienkreis aufgenommen. Und Frank betonte immer wieder, wie sehr ihn Winters Fleiß beeindruckte.

Winter hatte den McGregors natürlich nicht erzählt, dass ihre Eltern wie Hippies auf einer heruntergekommenen Biofarm in Wales lebten, wo sie ausschweifende Partys feierten. Sie hatte vielmehr behauptet, dass ihre Eltern vor zwanzig Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen seien, weshalb sie bei verschiedenen Verwandten aufgewachsen sei, dann sei sie in London aufs College gegangen und habe ein Stipendium für Cambridge erhalten. Der letzte Teil der Geschichte stimmte, und den ersten glaubte sie inzwischen sogar selbst.

Ein junger Mann kam und brachte das bestellte Wasser in einer edlen Kristallkaraffe. Dann wandte Frank sich an seinen Sohn: »Wir müssen uns für diesen Fall eine neue Strategie überlegen. Die Angelegenheit sollte so schnell und unauffällig wie möglich beendet werden.«

Connor nickte und trank einen Schluck. »Winter ist die Verbindung der Hauptzeugin zum Bruder des Opfers aufgefallen, und das hat uns auf die Idee gebracht, eine neue Verhandlung zu beantragen. Dadurch haben wir Zeit gewonnen.« Connor sah liebevoll und ein wenig stolz zu seiner Verlobten.

»Sehr gut.« Frank lehnte sich zurück, als die Bedienung mit einem Brotkorb und verschiedenen Buttersorten kam. Winter stieg der intensive Duft der Trüffelbutter in die Nase. »Die Richtung stimmt. Parallel sprechen Connor und ich mit dem Senator. Und du, Winter, schaust dir die Zeugin noch einmal genau an. Vielleicht finden wir weitere Punkte, die sie unglaubwürdig machen.«

Winter nickte und überlegte schon, wie sie damit anfangen würde.

»Aber jetzt zu einem ganz anderen Thema«, sagte Frank und nahm sich eine Scheibe von dem knusprigen Weißbrot. »Eure Hochzeit haben wir ja für September geplant. Louise ist schon in einem absoluten Ausnahmezustand.«

Winter warf Connor einen schnellen Blick zu. Ihm gefiel es gar nicht, dass seine Mutter das Datum, den Ort und den Ablauf der Feierlichkeiten bestimmt hatte, ohne ihn und Winter miteinzubeziehen. Winter selbst hatte sich weit weniger darüber aufgeregt, weil sie im Vorfeld eher gebangt hatte, dass das Thema um ihre eigene Familie aufkommen würde. Doch ihre Schwiegermutter hatte nur erleichtert zur Kenntnis genommen, dass es bei Winter keine Eltern mehr gab, die sie hätte fragen müssen, und nicht weiter nachgehakt, wie es um ihre restliche Verwandtschaft stand. Vor Glück, dass ihr dunkelstes, peinlichstes Geheimnis weiterhin sicher war, hatte Winter sich Louise McGregors Planungen vollkommen unterworfen.

»Es wird Zeit, dass wir auch über deine berufliche Zukunft nachdenken, Winter«, fuhr Frank fort.

»Meine Zukunft?«, sagte sie überrascht.

»Plant ihr Nachwuchs? Wie soll es nach der Hochzeit weitergehen? Hast du vor, kürzerzutreten?«

»Nein«, rief Winter, beinahe entsetzt. Sie räusperte sich und fügte in milderem Tonfall hinzu: »Auf keinen Fall werde ich kürzertreten.«

»Wir haben noch nicht über unsere konkrete Familienplanung gesprochen«, sagte Connor und griff nach Winters Hand. »Wenn es so weit ist, dass wir Nachwuchs bekommen – was wir auf jeden Fall irgendwann vorhaben, oder nicht?« Er lächelte Winter kurz an und schien ihre innere Panik nicht wahrzunehmen. »Wenn es so weit ist, wird Winter nicht länger als nötig in Elternzeit gehen.« Er strich liebevoll über ihren Unterarm. »Wir werden eine Kinderfrau einstellen, die sich um das Kleine kümmert.«

»Und das ist noch lange hin«, sagte Winter schnell. Auf keinen Fall konnte sie vor ihrem Boss und künftigen Schwiegervater jetzt darüber sprechen, dass sie niemals Kinder bekommen wollte.

»Das freut mich zu hören«, sagte Frank und biss in sein Brot. Dann fuhr er mit vollem Mund fort: »Kinder sind wichtig, sollten aber deine Karriere nicht beeinträchtigen, Winter. Dafür bist du viel zu talentiert und zu klug. Ich habe erfahren, dass William Harmsbury nach Vermont zurückgeht.«

Ihr Herzschlag setzte einen Moment aus. Das war einer der Junior-Partner. Oh Gott! Er würde diese Partnerschaft doch nicht etwa ihr anbieten? Darauf hatte sie seit Monaten gewartet. Sie wusste, dass sie für eine Beförderung infrage kam, war aber davon ausgegangen, dass Christian zuerst angesprochen werden würde. Außerdem war sie mit ihren neunundzwanzig Jahren noch sehr jung für einen solchen Posten.

»Wärst du bereit für eine Junior-Partnerschaft?« Frank warf ihr einen prüfenden Blick zu.

Winter musste aufpassen, dass sie sich nicht vor Begeisterung verschluckte. »Unbedingt!«

»Dad, das ist eine sehr gute Idee«, sagte Connor mit einem strahlenden Lächeln. »Dann sind wir beide Junior-Partner – ein guter Start in unsere gemeinsame Zukunft.«

»Prima«, Connors Vater schob sich den Rest des Brots in den Mund, »dann besprechen wir in den nächsten Tagen die Einzelheiten.«

»Ich danke dir, Frank.« Winter bemühte sich, einigermaßen abgeklärt zu wirken, obwohl sie gerade am liebsten wild durchs Restaurant getanzt wäre.

In diesem Moment kam die Vorspeise, und sie wechselten das Thema. Winter konnte sich nur noch mühsam auf die Unterhaltung konzentrieren, bei der es um ihre Hochzeit, einen wichtigen Klienten und Connors neues Auto ging. Als sie eine Stunde später aufbrachen, hatte sie den Eindruck zu schweben. Sie war als angestellte Anwältin der Kanzlei McGregor, Kilian and Fownsworth in das Restaurant gekommen und verließ es als Junior-Partnerin. Sie war noch nicht einmal dreißig Jahre alt und hatte schon alles erreicht, was sie sich für ihr Leben vorgenommen hatte.

Wenig später hatten sie die luxuriöse Kanzlei erreicht, die sich in einem eindrucksvollen Kalksteinhaus aus dem Jahr 1899 befand. Es lag an der Ecke der Fifth Avenue und 79th Street.

Frank zwinkerte ihr noch einmal bedeutungsvoll zu, bevor er den Aufzug betrat, der ihn direkt in sein Büro in der zweiten Etage brachte. Winter und Connor gingen an den beiden Empfangsdamen in der Eingangshalle vorbei, die mit teuren Perserteppichen ausgelegt war, und nahmen dann die Treppe in den ersten Stock, wo ihre Büros lagen.

»Und?«, fragte Connor mit einem breiten Grinsen. »Was sagst du?«

Winter lachte leise und dezent. »Ich würde am liebsten schreien und Luftsprünge machen. Aber ich fürchte, das gehört sich nicht für eine angehende Junior-Partnerin.«

»Das Schreien heben wir uns für heute Nacht auf«, sagte er, verschmitzt lächelnd. »Ich habe nichts dagegen einzuwenden. Am besten zwischen den Laken …«

»Hey.« Winter gab ihm einen leichten Klaps und grinste dann. »Wir werden es schon gebührend feiern. Mach dich auf eine aufregende Nacht ge…«

Sie brach ab, als Isabelle aus ihrem Büro kam, eine junge Kollegin, die bald einen weiteren Grund zur Eifersucht haben würde. Isabelle warf Connor mit ihren leuchtend rot geschminkten Lippen ein verführerisches Lächeln zu, während sie Winter wie üblich ignorierte.

»Wir sehen uns später, Darling.« Connor küsste seine Verlobte auf die Wange und ging dann in sein Büro am Ende des Flurs.

Winter betrat das Vorzimmer, in dem Patricia gerade einen Brief tippte.

»Glückwunsch«, sagte die Teamassistentin, ohne aufzusehen. »Hab schon von eurem Erfolg vor Gericht heute Morgen gehört. In deinem Zimmer liegt ein Brief, der an dich persönlich adressiert ist, den hab ich natürlich nicht geöffnet.«

»Danke«, rief Winter so fröhlich und aufgekratzt, dass Patricia nun doch von ihrem Schreibmarathon aufsah.

Winter verschwand in ihrem Büro, das mit dem großen Schreibtisch und einer kleinen Sitzgarnitur schon vollkommen überfüllt wirkte. Auf dem Tisch lag ein kleiner Stapel Post, das meiste nur zur Kenntnisnahme, Patricia hatte es geöffnet und bereits bearbeitet. Nur ein einziger Brief war mit dem Vermerk »Streng vertraulich – persönlich zu öffnen« versehen, und Winter zog die Augenbrauen zusammen, als sie ihn in die Hand nahm. Er stammte von einer Kanzlei aus England, Minehead. Minehead? Winter konnte sich nicht erinnern, wo das lag. Und was wollte diese Kanzlei von ihr persönlich? Sie hatte zurzeit keinen Fall mit einer Verbindung nach England und erst recht keinen, der eine vertrauliche Behandlung erforderte.

Mit ihrem schweren Messingbrieföffner schlitzte sie das eher unscheinbare Briefcouvert aus billigem Papier auf, das sie hier in der Kanzlei niemals verwendet hätten.

Sehr geehrte Mrs Season,

 

ich schreibe Ihnen im Auftrag meiner Mandantin, Margaret Lady Glenbury, die im September des vergangenen Jahres leider verstorben ist. Ihr Sohn, der amtierende Baronet Sir David Glenbury, hat bereits zu Lebzeiten das Erbe meiner Mandantin ausgeschlagen. Lady Glenbury hat daraufhin bestimmt, dass Sie ihre Alleinerbin sein sollen. Zur Verifizierung benötige ich Ausweispapiere, die belegen, dass Sie Winter Season sind, ein Kind von Sir David Glenbury, der in den Neunzigerjahren den Nachnamen Season angenommen hat. Am liebsten wäre es mir, wenn wir uns hier vor Ort treffen könnten, da es sich um ein umfangreiches Erbe handelt und einige Punkte persönlich besprochen werden sollten. Für eine Kontaktaufnahme Ihrerseits wäre ich Ihnen sehr verbunden.

 

Mit freundlichen Grüßen

Sebastian Owen

Winter starrte auf den Brief. Alles um sie herum drehte sich, in ihren Ohren rauschte es. Sie wusste nicht, was sie mehr verwirrte – der Inhalt des Briefes, der vollkommen unverständlich für sie war, oder die Tatsache, dass ihre Vergangenheit sie gerade einholte. In den letzten zehn Jahren war es ihr gelungen, ihre Herkunft geheim zu halten und eine Art Legende zu erschaffen. Niemals durften die McGregors von den Seasons erfahren, die in Nefyn auf einer heruntergekommenen Farm lebten. Nach dieser langen Zeit hatte sie sich allmählich sicher gefühlt, sie war inzwischen überzeugt davon, dass niemand sie mehr mit ihrer Kindheit in Zusammenhang bringen konnte. Sie hatte alle Brücken hinter sich abgerissen und keinen einzigen Kontakt nach England aufrechterhalten.

Und dann dieser Brief … Wie um alles in der Welt kam dieser Mann namens Sebastian Owen nur darauf, dass ihr Vater ein Baronet sei? Ihre Eltern hatten nichts und waren auch nichts – wenn Winter eins mit Sicherheit wusste, dann das. Es musste ein gewaltiger Irrtum vorliegen, den sie am besten sofort klären sollte, bevor Mr Owen noch einfiel, sie hier in der Kanzlei anzurufen, und Connor von der ganzen unangenehmen Sache Wind bekam. So viele Jahre hatte sie ihr Geheimnis gewahrt, es durfte jetzt nicht durch ein solches Missverständnis ans Licht kommen.

Sie warf einen Blick auf die Uhr. Es war bereits drei. In England musste es also acht Uhr abends sein, eher unwahrscheinlich, dass sie jetzt noch jemanden in der Kanzlei in Minehead erreichte.

Trotzdem wählte sie die Nummer, die im Briefkopf angegeben war.

»Hallo?«, meldete sich nach dem dritten Freizeichen eine tiefe, männliche Stimme.

»Guten Tag, mein Name ist Winter Season, ich …«, begann sie und kam sich plötzlich albern vor. Sie hätte den Brief einfach ignorieren sollen.

»Mrs Season! Wie schön, dass Sie sich melden, ich habe sehr lange nach Ihnen gesucht.« Der Mann klang aufrichtig erfreut. »Ich kannte Ihre Großmutter beinahe mein ganzes Leben lang, der Baronet war schon Klient meines Vaters. Und Sie sind eine Kollegin, wie ich erfahren habe?«

»Ja, das ist richtig. Hören Sie, ich bin sicher, dass Sie die falsche Person gefunden haben. Mein Vater ist ganz bestimmt kein Baronet.« Winter sah lauernd auf die geschlossene Bürotür, immer darauf gefasst, dass Connor oder sonst wer ins Zimmer kommen könnte und sie bei diesem Telefonat überraschte.

»Wenn es sich bei Ihrem Vater um David Season aus Nefyn handelt, von der Daffodil Farm, Ehemann von Leah Season, dann sind Sie die richtige Winter. Sie sind doch eine Tochter der beiden, oder nicht?«

»Ähm … ja, das bin ich, aber noch mal: Mein Vater ist kein …«

»Doch, das ist er«, beharrte der Mann, unnachgiebig und dennoch freundlich. »Wie schnell können Sie ins Exmoor kommen?«

»Mr Owen, ich bin Anwältin und stecke in einigen großen Prozessen. Ich habe keine Zeit …«

»Kommen Sie wenigstens für einen Tag, ein Wochenende«, unterbrach Mr Owen sie. »Ich würde die Sache gern abschließen.«

Winter atmete tief durch. »Ich werde darüber nachdenken und sehen, was sich machen lässt. Ich melde mich wieder bei Ihnen.«

Nachdem sie aufgelegt hatte, starrte sie eine ganze Weile auf den Hörer. Nichts von alldem ergab Sinn. Ihr Vater war ein Hippie, ein Mensch, der mit dem Leben überfordert war, der niemals Kinder hätte bekommen dürfen und mit einem gewaltigen Alkohol- und Drogenproblem zu kämpfen hatte. Auf gar keinen Fall durfte Connor davon erfahren. Warum ausgerechnet jetzt? In dieser Situation, in der sie kurz davorstand, all ihre Ziele zu erreichen? Sie hatte den perfekten Verlobten, der bald ihr Ehemann werden würde, der erfolgreich war und aus einer angesehenen, reichen Familie stammte. Und sie würde Junior-Partnerin in einer der führenden Anwaltskanzleien New Yorks werden. Ausgerechnet jetzt, in dieser so wichtigen Zeit, wurde sie mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Und dann auch noch mit einer so merkwürdigen Geschichte, die unzählige Fragen aufwarf. Sie wollte nicht darüber nachdenken, sie wollte sich nicht damit beschäftigen müssen.

Eine halbe Stunde später, in der sie das Problem hin und her gewälzt hatte, war sie zu der Überzeugung gelangt, dass es wohl am besten wäre, wenn sie tatsächlich nach Minehead im englischen Exmoor reiste, um die Sache so schnell wie möglich aufzuklären. Vor Ort würde es ihr sicher gelingen, Mr Owen davon zu überzeugen, dass sie unmöglich die gesuchte Person sein konnte.

Sie schlug ihren Kalender auf und stellte fest, dass das übernächste Wochenende das einzige war, das sie sich in absehbarer Zeit freischaufeln konnte. Weder der Freitag davor noch der Montag danach waren mit Gerichtsterminen oder Meetings belegt. Da sie sich sowieso nie Urlaub genommen hatte, würde es vermutlich nicht schwer werden, jetzt zwei freie Tage zu beantragen. Schwieriger war die Frage, was sie Connor als Grund nennen sollte. Sie legte ihre Hand auf den Hörer und dachte nach. Am besten war es, sich so nah wie möglich an die Wahrheit zu halten, ohne wirklich etwas zu verraten.

Zögernd wählte sie Connors Nummer.

Er meldete sich. »Winter? Darling, ich bin gerade in einer Besprechung.«

»Ich will dich nicht lange aufhalten«, sagte sie rasch. Sie wollte dieses Gespräch hinter sich bringen. »Ich will dir nur schnell sagen, dass ich nächste Woche für zwei Tage nach England fliegen muss. Es geht um das Erbe meines Vaters. Ich fliege am Freitag und bin am Montag wieder zurück.«

»Oh, das … ja, natürlich, Darling.«

Sie verabschiedete sich und hoffte, er würde nicht auf die Idee kommen, mit ihr fliegen zu wollen. Aber sie wusste, dass Connor so viel Arbeit hatte, dass er sich eher über die beiden Tage freute, an denen Winter nicht in New York war, weil er dann alles erledigen konnte, was sonst immer liegen blieb.

Winter wollte gerade Patricia bitten, ihr den Flug nach London zu buchen, als sie zögerte. Ihre Assistentin würde sich fragen, warum Winter so übereilt nach Europa musste. Nein, sie würde sich lieber selbst darum kümmern. Schließlich ging es niemanden etwas an, was sie mit ihren beiden Urlaubstagen vorhatte.

Exmoor, April, eine Woche später

Winter hatte den Leihwagen, den sie am Flughafen in Empfang genommen hatte, sicher nach Minehead gebracht. Es war erstaunlich, wie schnell sie sich wieder an den Linksverkehr, an die viel schmaleren Straßen, die alten Häuser, die grünen Hügel und die klare englische Luft gewöhnt hatte. Dabei hatte sie sich einst geschworen, nie mehr hierher zurückzukommen, doch auf dem Weg von London waren ihr immer wieder Tränen übers Gesicht gelaufen. Sie fragte sich, was mit ihr los war. Sie war kein Typ, der viel weinte. Eigentlich weinte sie grundsätzlich nie. Und sie fühlte sich nicht einmal traurig, eher gerührt. Es war, als wäre sie nach Hause gekommen, dabei wollte sie nicht, dass England je wieder ihr Zuhause war. Sie hatte sich bewusst für New York entschieden und fragte sich, warum es sie so bewegte, jetzt über die kleinen Straßen zu fahren, vorbei an windschiefen, teilweise jahrhundertealten Häusern. Vermutlich lag es an der Müdigkeit. Sie war mitten in der Nacht aufgestanden, hatte sich ein Taxi zum Flughafen genommen und war um sieben Uhr morgens in New York losgeflogen. Gelandet war sie um sieben Uhr abends, dank der fünfstündigen Zeitverschiebung.

Es war fast Mitternacht, als sie das B&B im Exmoor an der Küstenstraße zwischen Minehead und Lynmouth erreicht hatte, das Blue Ball Inn hieß. Es war eine einfache, aber gemütliche Unterkunft über einem Pub, vor allem aber kam es ihr sehr Englisch vor. Die Wände waren schief, die Butzenfenster klein, die Ale-Werbung groß und die Stufen am Eingang ausgetreten.

Nachdem Winter eingecheckt hatte, ging sie sofort ins Bett. Morgen um neun Uhr hatte sie mit dem Anwalt einen Termin in seiner Kanzlei, dafür wollte sie ausgeschlafen sein. Aber sie schlief einfach nicht ein. Während sie in dem weichen englischen Bett lag, war sie hellwach, und die Gedanken flogen durch ihren Kopf. Als ihr Handy endlich klingelte, um sie zu wecken, war sie froh, aufstehen zu dürfen.

Beim Frühstück brachte sie kaum etwas herunter und trank schwarzen Kaffee, fühlte sich aber nach einer ausgiebigen Dusche einigermaßen fit für den Tag.

Mithilfe des Navis fand sie die Kanzlei in Minehead sofort und war bereits zehn Minuten vor neun da.

Kurz nachdem sie auf den runden Klingelknopf gedrückt hatte, summte der Türöffner, und sie betrat einen engen, dunklen Hausflur. Es roch nach altem Holz. Der Boden war mit braunen Fliesen bedeckt, geradeaus führte eine Treppe nach oben. Das Holz der Stufen knarrte, während sie hinaufstieg.

»Morgen, Mrs Season«, hörte sie eine fröhliche Stimme, als sie den oberen Treppenabsatz erreicht hatte.

In einer geöffneten Tür der ersten Etage stand ein Mann in mittleren Jahren.

»Mr Owen?«, fragte Winter, die schon damit gerechnet hatte, dass an einem Samstag wohl keine Sekretärin vor Ort sein würde. Sicher war der Anwalt extra für sie in die Kanzlei gekommen.

Er nickte freundlich und gab ihr die Hand. »Bitte, kommen Sie herein. Möchten Sie eine Tasse Tee oder einen Kaffee?«

Winter entschied sich für Kaffee. Angesichts der schlaflosen Nacht und der anstrengenden Reise des vergangenen Tages konnte eine weitere Tasse sicher nicht schaden.

Das Anwaltsbüro war vollkommen anders als alle, die Winter bisher betreten hatte. Ihr war bewusst, dass McGregor, Kilian and Fownsworth eine der renommiertesten Kanzleien weltweit war, aber auch die Büros, in denen sie ihre ersten Berufserfahrungen gesammelt hatte, waren nicht mit diesen bescheidenen Räumlichkeiten mit ihren alten Möbeln und chaotischen Aktenstapeln zu vergleichen. Durch einen engen Flur, der mit einer grob gemusterten Tapete ausgestattet war, die den Raum noch kleiner wirken ließ, als er ohnehin schon war, folgte sie Mr Owen in ein vollgestopftes dunkles Büro. Aktenschränke standen auf beiden Seiten und mitten im Raum ein Schreibtisch. Auf dem Boden türmten sich Bücher und Ordner.

Winter bemühte sich, ihr Entsetzen über die Unordnung nicht zu zeigen, und nahm auf dem wackligen Stuhl Platz, von dem Mr Owen mit einer schnellen Handbewegung drei Aktenordner und einige lose Blätter räumte.

Dann schenkte er ihr einen Becher Kaffee aus einer Filterkanne ein, die zwischen Büchern, Stiften, diversen Unterlagen und Stempelkarussells auf dem Schreibtisch stand. Winter sah schon vor sich, wie der Becher umkippte und all die wichtigen Dokumente durchnässte.

»Ich danke Ihnen vielmals, dass Sie so schnell hergekommen sind, Mrs Season.« Der Anwalt hatte ihr gegenüber Platz genommen, sodass sie ihn endlich genauer betrachten konnte. Sie schätzte ihn auf etwa fünfzig, er wirkte überraschend gepflegt, wenn man das Chaos in seinem Büro bedachte, und hatte kurze braune Haare, die an den Schläfen ergraut waren. »Dabei hat es ohnehin schon so lange gedauert, bis ich herausfand, wie ich Sie kontaktieren konnte. Ich bin froh, wenn ich die Sache endlich zu den Akten legen kann.«

Winter beschloss, erst einmal abzuwarten, was der Anwalt ihr zu berichten hatte, bevor sie sich zu diesem Missverständnis äußerte. Sie trank einen Schluck Kaffee, der so stark und sauer war, dass es sie innerlich schüttelte. »Es passt mir gerade wirklich gar nicht. Ich hoffe, wir können diese Angelegenheit schnell klären. Hier ist mein Ausweis.« Sie nahm ihren Pass aus der Tasche und reichte ihn dem Kollegen über den Tisch.

»Danke.« Mr Owen tippte auf seinem Computer herum. Dann gab er ihr das Dokument zurück. »Alles korrekt, Sie sind die Erbin von Whiteball Hall und dem gesamten Vermögen von Lady Glenbury.«

Winter schüttelte den Kopf. »Das ist vollkommen unmöglich. Kennen Sie meinen Vater?«

»Selbstverständlich. Und ich erkenne die Ähnlichkeit zwischen Ihnen und David sofort«, sagte Mr Owen und lehnte sich lächelnd zurück. »Ich war drei Jahre lang sogar mit ihm in einer Klasse, bis er nach Eton gegangen ist.«

»Nach Eton? Nie im Leben!« Winter lachte spöttisch. »Mein Vater war ganz bestimmt nicht in einem Eliteinternat.«

»Doch, das war er.« Der Anwalt wirkte überzeugt.

Um Himmels willen! Wie konnte sie diesem Mann nur begreiflich machen, dass er David Season verwechselte.

»Sie meinen definitiv den Falschen«, sagte Winter und atmete tief durch. »Sie haben nicht zufällig ein Bild von diesem David? Dann könnten wir Ihren Irrtum rasch aufklären.«

»Nicht hier.« Er hob bedauernd die Schultern. »Aber ich schlage vor, wir fahren zu Whiteball Hall in Glenbury. Dort gibt es sicher noch alte Fotos von ihm.«

»Moment.« Winter stellte die Kaffeetasse auf die Kante des Schreibtisches, wo gerade noch ausreichend Platz dafür war. Dann legte sie die Fingerspitzen an die Stirn. »Ich weiß nicht, ob das wirklich sinnvoll ist. Das Haus gehört definitiv nicht meiner Familie, und ich …«

»Das entscheiden wir am besten vor Ort.« Mr Owen stand auf. »Kommen Sie, fahren Sie einfach mit Ihrem Wagen hinter mir her.«

Winter seufzte. »Na gut, Sie sind offenbar nicht davon abzubringen.«

»Sehr schön«, sagte der Anwalt, zögerte aber dann. »Möchten Sie erst noch Ihren Kaffee austrinken?«

»Nein, wir können gleich los.«

»Ach so, eins noch …« Er hob die Papiere auf seinem Schreibtisch an und schien etwas zu suchen. »Die Fahrt hinauf zu dem Anwesen ist nicht ganz einfach. Der Weg stammt aus dem neunzehnten Jahrhundert, er müsste dringend hergerichtet werden. Vielleicht stellen Sie Ihren Wagen lieber unten an der Straße ab und fahren mit mir hoch.«

Winter nickte. Das hörte sich abenteuerlich an.

»Wo sind denn die verdammten Autoschlüssel?« Er drehte sich um seine eigene Achse und begann, die Unterlagen auf seinem Schreibtisch von rechts nach links zu räumen.

»Sind es vielleicht die da drüben auf der Fensterbank?«, fragte Winter.

»Oh«, er lachte, »tatsächlich. Wie kommen die nur dorthin? Ach, und die Schlüssel fürs Haus …« Er ging zu einem altmodischen Tresor, der Einbrechern heutzutage vermutlich kein Hindernis mehr bereiten würde, und holte einen rostigen Schlüsselbund heraus.

Zehn Minuten später saß Winter wieder in ihrem Leihwagen und folgte Mr Owens altem Jeep. Er fuhr von Minehead die Küstenstraße entlang, die durch das malerische Örtchen Porlock und am Blue Ball Inn vorbeiführte. Winter war zu aufgewühlt, um das atemberaubende Panorama zu bewundern. Rechts von ihr glitzerte der Bristol Channel in der Frühlingssonne, links breitete sich das von blühendem Ginster gelb leuchtende Exmoor aus. Der Anwalt steuerte den Wagen den steilen Berg nach Lynmouth hinunter. In dem Städtchen, das am Fuße der Felsen lag, wimmelte es von Touristen. Sie mussten langsam fahren, und Winter betrachtete die viktorianischen Häuser, die an den Berg gebaut worden waren und vermutlich eine spektakuläre Aussicht boten. In der Mitte des Ortes fuhr der Anwalt einen steilen Berg hinauf, in Richtung des Valley of Rocks, und bog dann rechts ab, bis sie schließlich eine kleine Siedlung erreichten. »Welcome to Glenbury. Please drive carefully«, stand auf dem Schild am Ortseingang.

Auf einem kleinen Wanderparkplatz, der bis auf zwei Autos leer war, hielt Mr Owen an. Winter stellte ihren Wagen ab und stieg dann zu dem Anwalt in den Jeep.

»Glenbury ist in den letzten Jahren leider immer trostloser geworden, obwohl es eigentlich genug Touristen hat. Das hier ist die Hauptstraße, vor fünfzehn Jahren waren das alles noch Geschäfte. Sie sind heute zu Wohnhäusern umgebaut worden.« Er deutete auf die Gebäude, die rechts und links am Straßenrand standen.

»Der Ort hatte seine Blütezeit vermutlich im neunzehnten Jahrhundert, oder?« Winter betrachtete die wunderschöne viktorianische Architektur, die mit Ornamenten geschmückten Erker, die verzierten Giebel, Sprossenfenster und kunstvollen Dachgauben.

»Wie alle Orte in der Gegend. Die Menschen dieser Epoche haben das Exmoor als Urlaubsregion entdeckt«, bestätigte Mr Owen. »Da drüben, das Bed & Breakfast gibt es schon seit hundertfünfzig Jahren, und auch einige der Hotels sind noch aus dieser Zeit. Zum Beispiel das Hunter’s Inn, gar nicht weit von hier entfernt.«

Winter nickte nachdenklich. Vielleicht konnte sie morgen einen Ausflug dorthin machen, denn wenn sie den hartnäckigen Anwalt davon überzeugt hatte, dass sie die falsche Erbin war, hatte sie noch ein wenig Zeit, ehe sie am Montag nach New York zurückflog.

Mr Owen bog hinter einem gepflegten Cricketfeld, das sich an die Dorfstraße anschloss, in einen unbefestigten Weg ab, der steil den Berg hinaufführte. Nach einigen Metern standen sie vor einem verrosteten Eisentor, das früher sicher einmal prächtig gewesen war, heute aber schäbig wirkte. Winter hätte dahinter kein Anwesen, sondern eher einen Schrottplatz vermutet. Jetzt war sie froh, dass sie dem Rat des Anwalts gefolgt war und ihren teuren Leihwagen auf dem Wanderparkplatz gelassen hatte. Mr Owen war inzwischen ausgestiegen und hatte das Tor aufgeschlossen. Er stieß die beiden rostigen Flügel auf und kam wieder zu ihr zurück. Hinter dem Tor konnte Winter ein zurückgesetztes Haus erkennen, vermutlich die ehemalige Lodge.

»Wird dieses Gebäude noch bewohnt?«, fragte sie, weil ihr das Schweigen allmählich zu schaffen machte.

»Es steht seit fünf Jahren leer. Damals ist der alte Blacksmith gestorben, er war der letzte Nachfahre der Pförtnerfamilie, die über einhundert Jahre lang hier gearbeitet hat.« Mr Owen schaltete in den ersten Gang, als der Weg schmaler und steiler wurde. Über ihnen befand sich jetzt das dichte Blätterdach der Bäume, die rechts und links der Zufahrt standen. »Soweit ich weiß, hat Ihre Großmutter das Pförtnerhaus aber immer heizen und pflegen lassen. Sie könnten es also sicher problemlos verkaufen oder vermieten. Auf dem Rückweg können wir einmal anhalten und einen Blick hineinwerfen, die Schlüssel dazu müssten sich in Whiteball Hall befinden.«

Winter verzichtete darauf, den Mann erneut darauf hinzuweisen, dass es sich bei der jüngst Verstorbenen ganz sicher nicht um ihre Großmutter handelte. Stattdessen beobachtete sie, wie der Anwalt den Jeep nun geschickt durch eine schmale Felsenschlucht lenkte.

»Diesen Weg hat Ihr Vorfahre Sir Marcus Glenbury 1850 in die Felsen schlagen lassen, in der Zeit als Whiteball Hall erbaut wurde. Das alles hier waren unzugängliche Klippen. Er hat nicht nur den Boden begradigen lassen, sondern auch für eine vernünftige Zufahrt gesorgt. Sehen Sie die kleinen Ausbuchtungen in den Felsen dort drüben, auf Kopfhöhe?«

Winter betrachtete die etwa fünfzig Fuß hohen Felsen, die zu beiden Seiten der Fahrbahn emporragten. Efeu und Moos wuchs an ihren Wänden, oben ragten die Zweige von Bäumen über die Auffahrt. In regelmäßigen Abständen waren kleine Ausbuchtungen in den Stein geschlagen worden. Winter strich sich über die Oberarme, die in einer leichten Frühlingsjacke steckten. Die felsige Auffahrt wirkte irgendwie unheimlich und verursachte ihr eine Gänsehaut.

»Diese Nischen waren für Lampen gedacht«, erklärte Mr Owen. »Sie können sich bestimmt vorstellen, wie dunkel es hier nachts war. Diener mussten die Lampen entzünden, wenn Gäste erwartet wurden oder wenn die Herrschaft spät von Abendeinladungen nach Hause zurückkehrte.«

»Das muss für die Dienstboten gruselig gewesen sein, wenn sie in die Dunkelheit hinausmussten«, überlegte Winter laut.

Mr Owen lenkte den Wagen um eine scharfe Kurve. Die Felsen wichen zurück, und sie fuhren zwischen Bäumen hindurch, bis sie zu einer Kreuzung gelangten. »Rechts geht es zum Tennisplatz und zu dem Speicherbecken, zum Haus fahren wir hier entlang.« Er bog links ab, und schon nach wenigen Metern tauchte ein großes Bauwerk vor ihnen auf.

»Ist das ein Speicherbecken?«, fragte Winter.

Mr Owen nickte und hielt in einer von vier Parkbuchten an, die von einer niedrigen Backsteinmauer umgeben waren.

»Es gab lange kein fließendes Wasser hier oben«, erklärte er. »Dafür haben die Glenburys dieses große Becken angelegt, in dem der Wasservorrat für das Anwesen gespeichert wurde. Es diente auch als Löschwasserreserve. Glücklicherweise ist es nie zu einem Brand gekommen. Erst in den Fünfzigerjahren wurden Wasserleitungen vom Dorf hier herauf verlegt.«

Winter stieg aus dem Jeep und ging neben Mr Owen auf dem Weg ein Stück weiter, bis die Bäume spärlicher wurden und sich rechts vor ihnen ein imposantes Anwesen erhob – Whiteball Hall. Auf der linken Seite, kaum fünfzehn Yard vor dem Haus, fielen die Felsen steil zum Meer hin ab. Um das Gebäude herum erstreckte sich eine große Terrasse, etwa zwanzig Fuß breit. Treppen führten zu einer weiteren Terrasse hinunter, über die der Weg verlief, auf dem sie jetzt standen. Hier waren gepflegte englische Rasenflächen angelegt, die Sandwege dazwischen von Unkraut befreit. Alte Gartenbänke standen am Rand der Wiese sowie auf der oberen Terrasse vor dem Haus. Hinter ihnen breitete sich die türkisblaue See aus, die zerklüftete Küstenlinie reichte bis weit in die Ferne.

Winter folgte Mr Owen, der auf dem hellen Sandweg bis zur Mitte der großen Rasenfläche ging, wo eine Treppe zum Haus hinaufführte. Winter wandte sich vom Meer ab und sah zu dem mächtigen Anwesen hinauf. Von hier unten wirkte es besonders eindrucksvoll.

»Das ist eigentlich der Garteneingang«, sagte Mr Owen und deutete auf einen Wintergarten am Haus. »Der Wald ist erst mit der Zeit entstanden. Sir Marcus hat damals den ganzen Hügel roden lassen, sodass man von allen Fenstern aus uneingeschränkte Sicht hatte.«

Winter nickte. Inzwischen waren die Bäume wieder nah an das Gebäude herangewachsen, und ihre Äste reichten bis an die seitlichen Fensterscheiben. Winter betrachtete die vielen Türme, die das Anwesen schmückten. Das Gebäude wirkte, als sei es jahrhundertealt und im Laufe der Zeit immer wieder erweitert worden. Es war drei Etagen hoch, und auf seiner rechten Seite war ein runder Turm angebaut. Winter ließ ihren Blick weiterwandern zum linken Teil des Gebäudes, der im Erdgeschoss einen Erker aufwies. Daneben befanden sich der Wintergarten und ein weiterer runder Turm, imposant und mit einer Kuppel versehen. Im hinteren Bereich des Anwesens schlossen sich ein höherer eckiger Turm an und zusätzliche Gebäudeteile, die von hier aus nicht zu erkennen waren.

»Warum ist das Haus so verwinkelt gebaut worden?«, sagte Winter zu Mr Owen.

»Diese Frage hätte wohl nur Sir Marcus beantworten können«, erwiderte der Anwalt, während er sich wieder in Bewegung setzte. »Und von innen ist es noch verwirrender. Ich verlaufe mich immer wieder, es ist manchmal richtig unheimlich.«

Winter sagte nichts dazu, sie hatte ein beklemmendes Gefühl, schon seit sie die Auffahrt zwischen den schroffen Felsen heraufgefahren waren, die in starkem Kontrast zu der wunderschönen Landschaft des Exmoors standen.

Jetzt folgte sie Mr Owen, der auf die Glastür des Wintergartens zuging. Durch die großen Scheiben konnte sie in den Raum hineinsehen. Es schien sich um eine Verbindung zwischen den beiden Hauptgebäudetrakten zu handeln. Der Boden war mit Kacheln gefliest, die ein hübsches Blumenmuster darstellten. Farne und Zimmerpalmen wuchsen in großen Kübeln, auf Tischen konnte Winter Orchideen erkennen. Einige der Pflanzen schienen selten zu sein, zumindest hatte sie solche Exemplare noch nie gesehen.

Mr Owen hatte inzwischen versucht, die Tür aufzuschließen, doch es gelang ihm nicht.

»Wir müssen zum Haupteingang«, sagte er. »Hier kommen wir nicht hinein. Die Leerstandsbetreuerin hat anscheinend den Schlüssel stecken lassen.«

Winter folgte ihm an der Hausmauer entlang über eine schmale Terrasse, die einen noch besseren Blick über das Meer und die Küste bot. Immer wieder schaute sie durch die staubigen Fenster in große, hohe Räume hinein. Bei der Dunkelheit im Inneren des Hauses ließen sich jedoch nur ein paar alte Möbel erahnen, die mit Laken abgedeckt worden waren.

Als sie die Rückseite des großen runden Turms erreicht hatten, in dem sich offenbar ein Salon mit zierlichen Sesseln und kleinen Tischen befand, stellte Winter erstaunt fest, wie weit sich das Gebäude nach hinten erstreckte. Sie kamen an zusätzlichen Erkern, an verschlossenen Nebentüren und Fenstern vorbei. Je weiter sie gingen, umso dichter wurde der Wald, auch hier wuchsen die Bäume nah an das Anwesen heran. So hell und freundlich es von der Seeseite wirken mochte, hier hinten herrschte eine finstere Atmosphäre.

Winter schauderte, bemühte sich aber, ihr unheimliches Gefühl zu unterdrücken. Schließlich war sie nur mitgekommen, um Mr Owen zu beweisen, dass sie nicht mit diesen Baronets of Glenbury verwandt war.

Als sie endlich den Haupteingang erreicht hatten, stellte Winter fest, dass das Haus auf dieser Seite fast doppelt so breit war wie an seiner Vorderfront zum Meer hin. Was für ein riesiges Gebäude! Man sollte ein Hotel daraus machen, in diesem Anwesen mussten Hunderte von Schlafzimmern sein, und die Aussicht war bestechend schön. Wieso hatte Sir Marcus damals so einen riesigen Kasten hier auf die Felsen gesetzt? Es war offenbar als Privathaus gebaut worden, hätten es da ein paar Zimmer weniger nicht auch getan?

»So, da wären wir.« Mr Owen war vor dem großen Portal stehen geblieben, zu dem drei flache Stufen hinaufführten. Er deutete nach links. »Dort endet die Auffahrt. Sie führt am Tennisplatz und am Speicherbecken vorbei und dann an der Hausmauer entlang durch den Wald bis hierher.«

Winter folgte seinem Blick bis zu einem großen Kiesplatz mit einem Springbrunnen in der Mitte. Es war kein Wasser mehr in dem Steinbecken, wenn man von der Pfütze mit dem restlichen Regenwasser absah, das sich darin gesammelt hatte. Auch der Vorplatz war erstaunlich gut gepflegt, dafür dass das Haus so abgeschieden lag und seit über einem halben Jahr leer stand.

»Bitte.« Der Anwalt wich einen Schritt zurück und gab Winter den Weg in das Vestibül frei, das etwa fünf Quadratmeter groß war und dessen Boden ebenfalls mit einem wunderschönen Mosaik gefliest war. Ein Wappen prangte in der Mitte, und Winter nahm an, dass es das Familienemblem der Glenburys sein musste. Ansonsten war der Raum leer. Durch eine Tür aus dunklem Holz, die mit großen Scheiben versehen war, betraten sie eine geräumige Eingangshalle. Winter blieb beeindruckt stehen. Die Halle war zwei Stockwerke hoch und wurde oben von einer Galerie begrenzt. Winter nahm an, dass es sich bei der Holzvertäfelung um Mahagoni handelte, kannte sich aber nicht gut genug aus, um es sicher sagen zu können. Der Boden war hell gefliest, am Rand führte eine Reihe schwarzer Kacheln einmal um den ganzen Raum herum.

Winter nahm den Geruch des alten Hauses wahr, der von Kerzenwachs, Moder, Reinigungsmittel und schwerem Parfüm definiert wurde. Das Echo ihrer Schritte hallte von den Wänden wider. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah zu der Glaskuppel der Halle hinauf. Fensterscheiben bildeten ein halbrundes Laternendach und versorgten den Raum und die Galerie mit viel Licht. Ein raffinierter architektonischer Kunstgriff, schließlich hatte man in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hier oben bestimmt noch keinen Strom gehabt.

»Das Anwesen ist riesig«, stellte Winter leise fest.

»Oh ja«, bestätigte Mr Owen. »Ich kenne es mein Leben lang und bin noch lange nicht in allen Zimmern gewesen. Einige Flügel sind verschlossen, und ich habe keine Schlüssel dazu gefunden.« Er zwinkerte ihr zu. »Wollen wir trotzdem einen kleinen Rundgang machen? Damit Sie sich mit dem Gebäude vertraut machen können?«

»Mr Owen, so interessant ich das Haus auch finde – ich kann leider nur wiederholen, dass mir dieses Erbe nicht zusteht. Ich würde gern zuerst nach Bildern von Sir David Glenbury schauen, um Ihnen endlich zu beweisen, dass dieser Mann nicht mein Vater ist.«

»Selbstverständlich«, sagte Mr Owen und schien einen Moment nachzudenken. »Vielleicht sollten wir in der Bibliothek nachsehen.«

Er wandte sich zu einer kleineren Halle auf der anderen Seite, in der sich das elegante Haupttreppenhaus befand, und Winter folgte ihm. Mr Owen ging jedoch an der Treppe vorbei und betrat den dahinterliegenden Raum im Erdgeschoss eines der runden Türme des Anwesens. Hier standen Sessel vor gut gefüllten Bücherregalen, und ein Kamin versprach wohlige Wärme.

»Entweder hier«, murmelte Mr Owen, »oder in der Hauptbibliothek.« Er öffnete eine große Tür, die in den Nebenraum führte, dessen Wände deckenhohe Bücherregale einnahmen.

»Meine Güte! Was für eine beeindruckende Sammlung!« Winter betrachtete all die Bücher, die meisten davon waren in Leder gebunden und mit goldener Schrift versehen. Wie sollten sie hier Fotoalben finden mit Bildern ihres angeblichen Vaters?

»Ich vermute, dass die Alben eher im Lesesaal untergebracht sind«, sagte Mr Owen, während er wieder in den Vorraum der Bibliothek zurückging. Hier waren die Regale meist nur hüfthoch, und die Bücher wirkten weniger edel. Es schien sich um moderne Belletristik zu handeln, Winter konnte sogar eine Reihe von Taschenbüchern erkennen.

»Hier sind drei Fotoalben«, rief Mr Owen schließlich. »Mal sehen, ob wir Ihren Vater finden.« Er war vor einigen großen Bänden neben dem geräumigen Erker stehen geblieben und zog die Bücher heraus, die relativ modern wirkten. Eine Weile blätterte er suchend darin herum. »Ah, da habe ich doch schon etwas gefunden. Das ist David an seinem achtzehnten Geburtstag. Nicht lange danach hat er den Kontakt zu seinen Eltern komplett abgebrochen. Schauen Sie.«

Winter griff nach dem Fotoalbum. Die Bilder sahen aus, als stammten sie aus den Achtzigerjahren. Ein junger Mann saß an einem gedeckten Esstisch, eine Torte mit brennenden Kerzen vor sich. Auf anderen Fotos war er im Garten vor Whiteball Hall zu sehen, mit einem Ehepaar, vermutlich seinen Eltern. Winter kniff die Augen zusammen und starrte auf den Jungen. Sie konnte nicht glauben, was sie sah. Ihr wurde schwindelig. Das war eindeutig ihr Vater! Viel jünger, aber unverkennbar. Die weit auseinanderstehenden großen Augen, das eckige Kinn, die lange Nase, die hohen Wangenknochen, die ihren eigenen so ähnlich sahen. Und er stand definitiv vor diesem Anwesen. Mr Owen hatte also recht: Ihr Vater, David Season, war der Baronet Sir David Glenbury.

Zweites Kapitel

Northumberland und Exmoor, November 1878

Rosalie fuhr aus dem Schlaf hoch. Ein Schatten stand neben ihrem Bett, jemand rüttelte sie unsanft.

»Was?«, fragte sie müde und verwirrt. »Wie spät ist es?«

»Miss Thorn, Seine Lordschaft verlangt nach Ihnen.«

»Seine …?« Sie richtete sich auf. Erst jetzt erkannte sie Jane, das Küchenmädchen, das seit einem Monat in Bryerly Court arbeitete. Warum wünschte ihr Herr sie mitten in der Nacht zu sehen? Sie war die Zofe seiner einzigen Tochter Viola. »Wie spät ist es?«

»Gerade zwei Uhr vorbei«, sagte Jane.

»Geht es Lady Viola schlecht?« Rosalie saß schon auf der Bettkante. Ihre Herrin war in den vergangenen Wochen geschwächt gewesen, weshalb sie die letzten Tage in London verbracht hatten, wo Lady Viola sich bei einem befreundeten Arzt Seiner Lordschaft hatte untersuchen lassen. Sobald der Winter vorbei war, wollten Lady Viola und Rosalie nach Brighton ans Meer fahren, wo sich die junge Adlige erholen sollte.

»Ich weiß es nicht, Miss Thorn. Ich glaube aber nicht, dass es um Lady Viola geht, sie hat nicht geläutet. Seine Lordschaft ist mit drei anderen Herren in seinem Arbeitszimmer.« Das Mädchen knickste und verließ dann Rosalies Zimmer, das deutlich komfortabler war als die kleinen Kammern der Haus- und Küchenmädchen. Sie mussten sich jeweils zu zweit einen Raum teilen.

Rosalie kleidete sich so schnell wie möglich an und richtete ihre Haare einigermaßen her. Es war in den letzten fünf Jahren, seit sie die Position der Kammerzofe bei Lady Viola eingenommen hatte, nicht ein einziges Mal vorgekommen, dass der Viscount sie zu sich bestellt hatte – und noch dazu mitten in der Nacht. Mit zitternden Fingern strich sie über ihr dunkelgraues Kleid, dann atmete sie tief durch und trat auf den dunklen Flur hinaus. Sie war schon fast an der Treppe, als ihr auffiel, dass sie eine Lampe mitnehmen sollte, da es vollkommen finster war. Also hastete sie noch einmal zurück, wobei sie sich den Zeh an der Holzleiste stieß, der nur in einem dünnen Leinenschuh steckte, und fand endlich eine Kerze auf ihrem Nachttisch. Wenige Augenblicke später machte sie sich wieder auf den Weg nach unten.

Rosalie war nur ein Jahr älter als Lady Viola, sie war auf Bryerly Court als Gärtnertochter aufgewachsen, hatte mit zwölf Jahren als Stubenmädchen im Anwesen angefangen und sich durch ihren Fleiß, ihre unkomplizierte Art und die Sympathie, die Lady Viola vom ersten Tag an für sie empfand, innerhalb von nur vier Jahren zur Kammerzofe hochgearbeitet. Sie und ihre Herrin hatten als Kinder zusammen im Park gespielt, und als Lady Viola fünfzehn Jahre alt geworden war, hatte sie sich Rosalie als Zofe aussuchen dürfen.

Vor dem Arbeitszimmer des Viscounts hielt Rosalie inne. Sie klopfte an die Eichenholztür und betrat dann den Raum. Das holzvertäfelte Arbeitszimmer war mit schweren Möbeln ausgestattet. Im Kamin prasselte ein Feuer, überall brannten Gaslampen. Rauchschwaden vernebelten Rosalie die Sicht.

»Ah, Thorn!«, hörte sie die Stimme des Viscounts. Er saß am Kartentisch, der neben dem Kamin stand. Außer ihm waren drei weitere Herren im Raum, alle vier Männer pafften ihre Zigarren, was den Rauch erklärte.

Als Rosalies Blick auf den Jüngsten in der Runde fiel, stockte ihr der Atem. Hatte sie jemals einen so schönen Mann gesehen? Sein dunkles mittellanges Haar umrahmte sein fein geschnittenes Gesicht und harmonierte vorzüglich mit dem Braun seiner Augen, die gütig und sanft wirkten. Der gestutzte Backenbart verlieh ihm eine Männlichkeit, die im Kontrast zu seiner sinnlichen Ausstrahlung stand. Und obwohl er saß, ließ sich seine stattliche Größe erahnen.

Der Herr neben ihm schien nur wenige Jahre älter zu sein, Rosalie schätzte ihn auf Mitte dreißig, während der Schöne in seinen späten Zwanzigern sein musste. Der dritte Herr wirkte gegen die ersten beiden vollkommen unscheinbar, mit kurzem dunkelblondem Haar, wässrig blauen Augen und schmalen Lippen.

Rosalie unterdrückte ein Husten und den Impuls, den Rauch mit der Hand fortzuwedeln. Sie trat näher an die Gesellschaft heran. »Sie haben nach mir geschickt, Eure Lordschaft?«

»Richtig, Thorn.« Der Viscount legte seine Zigarre in den Aschenbecher und tauschte einen Blick mit den anderen drei Männern, der Rosalie sofort in Angst versetzte. Tiefe Sorge zeichnete sich darin ab. Der Viscount stand auf und kam auf Rosalie zu. Seine Körperhaltung war ungewöhnlich schlaff für den sonst so aufrechten, imposanten Mann.

»Sie wissen, dass meine Tochter Viola sich schon seit Monaten nicht wohlfühlt«, begann er, und Rosalies Herz schlug schneller. »Deshalb waren wir in London, und die Ergebnisse, die mir Doktor Gordon übermittelt hat, sind niederschmetternd.«

Rosalie schluckte. Die Augen des Viscounts schimmerten, ob vor Trauer oder nur von dem Zigarrenrauch, konnte Rosalie nicht sagen.

Der alte Mann räusperte sich. »Jedenfalls … wie es aussieht, bleiben ihr nur noch wenige Wochen zu leben, Monate, wenn wir Glück haben.«

Rosalie fühlte sich, als hätte ihr jemand einen kräftigen Schlag in den Magen versetzt. Sie strauchelte und tastete mit der Hand nach dem Tisch, um sich daran festzuhalten. »Sie meinen … es könnte sein … Lady Viola – sie stirbt?«

Der Viscount nickte. Mitleid lag auf seinen Zügen, während er auf einen Sessel deutete. Rosalie schüttelte den Kopf, sie wollte sich nicht setzen.

»Ihre Herrin wird sterben«, mischte sich nun der Herr im mittleren Alter ein. »Sie hat ein Geschwür in der Lunge, das ihr sämtliche Kraft und den Atem raubt.«

Rosalie starrte den Mann fassungslos an. Doch seine Worte ergaben auf schreckliche Weise Sinn. Lady Viola wurde schon seit einem Jahr zunehmend schwächer, und selbst wenn sie einen gesunden Appetit hatte, was immer seltener der Fall war, und gut aß, verlor sie an Gewicht. Ihre Haut war grau geworden. Dabei war sie doch erst zwanzig Jahre alt.

»Und doch gibt es eine winzige Hoffnung«, nahm der unbekannte Herr den Faden wieder auf. »Wir sind Ärzte.« Er deutete auf den gut aussehenden jungen Mann am Tisch. »Das ist Sir Ian, ein renommierter, allgemein anerkannter Mediziner, und mein Name ist Bolham, Doktor Bolham.«

Rosalie knickste.

Doktor Bolham hatte schwarzes, dichtes Haar mit Geheimratsecken, er war von großer, eher hagerer Statur, wirkte aber durch seine Kleidung aus dunkelgrauem Samt äußerst vornehm und stattlich.

»Und dann begleitet uns unser geschätzter Anwalt, Mr Walters«, stellte er den unscheinbaren jungen Mann vor, der noch übrig geblieben war.

Rosalie neigte respektvoll das Haupt und musterte dann verstohlen die drei Herren. Der attraktive Mann war also von Adel.

»Wir müssen Ihre Herrin mitnehmen, um sie noch ein-mal gründlich zu untersuchen und sie auch zu pflegen.« Er schenkte ihr ein herzliches Lächeln. »Aber Lady Viola weigert sich, ohne Sie zu reisen.«

»Ich bitte Sie, Thorn«, sagte der Viscount in eindringlichem Ton. »Begleiten Sie meine Tochter. Sie vertraut Ihnen, nur Sie will Viola um sich haben. Und Sir Ians Haus Whiteball Hall ist unsere einzige Hoffnung.«

»Außerdem könnten Sie ihr auch für ihre Heilung von großem Nutzen sein – aber darüber sprechen wir später.« Doktor Bolham warf seinen beiden Begleitern einen kurzen Blick zu.

»Natürlich, Sir.« Rosalie sah irritiert zwischen dem großen, kräftigen Viscount und dem etwas kleineren, aber deutlich schmaleren Doktor Bolham hin und her. Sie war nur eine Kammerzofe, warum machten die beiden Männer so ein Aufhebens um ihre Begleitung? Es war doch selbstverständlich, dass sie mit ihrer Herrin reisen würde.

»Es gibt jedoch eine Bedingung, Miss Thorn.« Doktor Bolham schnippte mit den Fingern, worauf sich Mr Walters erhob, der schweigend am Tisch gesessen hatte. »Wir benötigen eine Versicherung von Ihnen, dass Sie während Ihrer Zeit in Whiteball Hall absolutes Stillschweigen bewahren. Es ist Ihnen nicht gestattet, in Briefen oder Gesprächen über Vorgänge innerhalb des Anwesens zu berichten.«

Rosalie sah Doktor Bolham fragend an. Das Kaminfeuer warf zuckende Schatten auf sein Gesicht, das – wie das von Sir Ian – von einem gepflegten dunklen Backenbart bedeckt war.

»Wir forschen, Miss Thorn. Und unsere Studien sind wertvoll, nicht nur für andere Mediziner, sondern für die ganze Welt. Unsere Erkenntnisse sind Menschenleben wert, daher muss ich Ihnen strengste Verschwiegenheit abverlangen. Sind Sie bereit dazu?«