Sebalds Fluch (eBook) - Jan Beinßen - E-Book

Sebalds Fluch (eBook) E-Book

Jan Beinßen

5,0

Beschreibung

Darauf haben die Fans gewartet: Frankens beliebtester Freizeitdetektiv kommt endlich zurück! Nur äußerst selten ist das berühmte Nürnberger Sebaldusgrab von innen zu sehen – umso aufgeregter ist Paul Flemming, dass er dabei sein kann, als Mitarbeiter des Germanischen Nationalmuseums den Schlüssel des Schreins umdrehen. Doch kurz nach der Öffnung des Grabes stirbt eine Wissenschaftlerin eines qualvollen Todes. Lag es an tödlichen Sporen, die die Gebeine des Nürnberger Stadtheiligen vor Grabräubern schützen sollten? Paul Flemming, der die Reliquien im Auftrag der Kirche fotografiert, will nicht recht an eine solche Spukgeschichte glauben und wird einmal mehr als Hobbydetektiv aktiv …

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Seitenzahl: 228

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Jan Beinßen, Jahrgang 1965, lebt in Franken und hat zahlreiche Kriminalromane veröffentlicht. Bei ars vivendi erschienen neben seinen Paul-Flemming-Krimis u. a. auch der historische Kriminalroman Görings Plan (2014) sowie die Kurzkrimibände Die toten Augen von Nürnberg (2014) und Tod auf Fränkisch (2017).

Jan Beinßen

Sebalds Fluch

Paul Flemmings sechzehnter Fall

Frankenkrimi

Originalausgabe

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen

Originalausgabe (Erste Auflage August 2022)

© 2022 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg

Motivauswahl: ars vivendi

Coverfoto: © mauritius images /imageBROKER / Helmut Meyer zur Capellen

eISBN 978-3-7472-0427-6

Sebalds Fluch

Die Namen der Toten zu sprechen bedeutet,sie wieder lebendig zu machen.

Altägyptisches Sprichwort

Inhalt

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Freitag

Epilog

Danksagung

Sonntag

Es war so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Paul Flemming wusste, dass ungefähr dreißig Personen anwesend waren, und es kam ihm so vor, als würden sie alle die Luft anhalten. Auch er selbst wagte es kaum zu atmen, während er Pfarrer Hannes Fink dabei beobachtete, wie dieser einen Schlüssel ins Schloss eines silber-goldenen Schreins steckte und ihn langsam drehte.

Nicht irgendeines Schreins. Das kunstvolle Gebilde, umgeben von der tonnenschweren Bronzeeinfassung aus der Schmiedewerkstatt Peter Vischers und für manche das schönste gegossene Kunstwerk nördlich der Alpen, beherbergte die Gebeine des Nürnberger Stadtheiligen Sankt Sebald. Oder zumindest das, was von ihnen übrig war, denn der Prediger war bereits im achten Jahrhundert verstorben. Seine Gebeine waren mehrfach umgebettet worden, und seit fünfhundert Jahren lagerten die Reliquien nun in diesem Heiligensarg.

Sebaldus war Namensgeber der Kirche, in deren Ostchor seine Ruhestätte lag. Es kam äußerst selten vor, dass dieses besondere Grab geöffnet wurde. Zuletzt 2019 und davor 1993. Dass schon jetzt die nächste Visitation, wie das feierliche Zeremoniell der Graböffnung genannt wurde, anstand, hatte praktische Gründe. Nach einem Wasserschaden wollte die Kirchenleitung auf Nummer sicher gehen und nachschauen, ob mit dem guten alten Sebaldus alles in Ordnung war. Paul konnte das nur recht sein, denn damit bot sich ihm die Chance auf einige exklusive Aufnahmen. Sein Freund Hannes Fink hatte nämlich dafür gesorgt, dass er als offizieller Fotograf der Visitation beiwohnen durfte. Damit gehörte er zu einem handverlesenen Kreis, der unter anderem aus Vertretern des Kirchenvorstands, der Dombaumeisterin, dem katholischen Stadtdekan, dem Oberbürgermeister und weiteren Politikern aus dem gegenüberliegenden Rathaus sowie einer Redakteurin des Evangelischen Pressedienstes bestand. Paul hatte vorhin der Kulturreferentin die Hand gedrückt und ein paar Worte mit der Leiterin des Bibelmuseums gewechselt, von dem er bis zum heutigen Tag noch nie gehört hatte.

Die Hauptrollen spielten jedoch zwei Konservatoren des Germanischen Nationalmuseums, ein Mann und eine Frau, die weiße Kittel trugen, Haarnetze und Mundschutz. Ihnen fiel die verantwortungsvolle Aufgabe zu, den Inhalt des Schreins auf seinen Zustand zu überprüfen, um zu entscheiden, ob Maßnahmen erforderlich waren oder ob man die alten Knochen dort belassen konnte, wo sie seit Jahrhunderten lagerten. Die zweite Variante wäre wohl ganz im Sinne von Pfarrer Hannes Fink, dachte Paul, der den besorgten Gesichtsausdruck des Geistlichen bemerkte.

Der Moment war also gekommen, in dem Hannes Fink den silbernen Schrein öffnete und ihm behutsam zwei Laden entnahm, auch sie reichlich verziert. Er übergab sie den Konservatoren, die beide Holzkästchen auf einem mit weißem Tuch bespannten Tisch drapierten. Dann machten sie sich mit ihren behandschuhten Händen daran, die Laden aufzuklappen. Zum Vorschein kamen allerlei Papiere, teils in Umschlägen, teils mit Siegeln versehen. Wie Paul bereits wusste, handelte es sich um Beurkundungen früherer Visitationen. Darunter waren purpurfarbene Seidensäckchen gebettet – sie enthielten die Gebeine des Heiligen. Dreizehn Stück waren es insgesamt.

Paul trat mit seiner Kamera näher heran und löste mehrmals aus, als die Konservatorin die Säckchen entnahm und sie ihrem Kollegen weiterreichte. Nun kam Hannes Fink ins Bild. Auch er trug Handschuhe und hob eine der Umhüllungen an. Durch den Sucher seines Fotoapparats verfolgte Paul, wie Fink den kleinen Sack in seiner Hand wog.

Ehrfurchtsvoll sagte der Pfarrer an die Anwesenden gerichtet: »Durch den dünnen Stoff spürt man den Knochen. Es ist, als würde ich die Historie Nürnbergs in meinen Händen halten.« Auch Paul war ergriffen. Es kam ihm wirklich so vor, als könnte er den Hauch der Geschichte erahnen.

»Dabei ist das ja eigentlich gar nicht unser Ding«, holte Hannes Fink ihn in die Wirklichkeit zurück. »Martin Luther hat sich in der Reformation ganz klar gegen den katholischen Knochenkult positioniert, und der Begriff des Heiligen ist uns fremd geworden. Trotzdem bewahren wir natürlich dieses Erbe, denn Sebaldus hat unbestreitbar viel für seine Stadt getan.«

Während Paul Fotos schoss, hörte er weiter zu und lernte, dass Sebald über Jahrhunderte als »Exportschlager« gegolten hatte. Gläubige waren von weither nach Nürnberg geströmt, um an Prozessionen teilzunehmen, bei denen der Schrein durch die Straßen getragen und der prägnante Schädelknochen öffentlich präsentiert wurde. Die Pilger waren so zahlreich gewesen, dass sie für volle Betten in den Herbergen und massig Umsatz in den Gasthäusern gesorgt hatten. Manche würden sogar behaupten, Sebald habe indirekt für die Erfindung der Nürnberger Rostbratwurst gesorgt: sozusagen als Fast Food für die hungrigen Fans des Stadtheiligen.

Als sich die Forscher daranmachten, die Seidensäckchen vorsichtig aufzuschnüren und den fragilen Inhalt auf Filzdecken auszubreiten, herrschte ehrfürchtiges Schweigen. Nur die Schritte auf dem Steinfußboden, das Auslösen von Pauls Kamera und das gelegentliche Räuspern der Konservatorin hallten durch das Kirchenschiff.

Paul zoomte heran und sah die gelblich angelaufenen Gebeine, die er mangels anatomischer Kenntnisse nicht genau zuordnen konnte. Besonders groß waren sie nicht, woraus er schloss, dass es sich wohl um Finger- oder Zehenknochen handelte. Auch den Teil eines Rippenbogens meinte er zu erkennen.

Die beiden Wissenschaftler ließen sich viel Zeit für ihre Untersuchungen. Während sich die Frau auf die Knochen konzentrierte und ihre Beobachtungen auf einem iPad vermerkte, spähte der Kollege mit einem Endoskop ins Innere des Schreins.

Dann – Paul hatte aufgehört, zwischendurch auf die Uhr zu sehen – das Aufatmen bei allen Beteiligten: Der Wasserschaden war ohne Folgen geblieben, und ein Vergleich mit dem Protokoll der letzten Graböffnung zeigte, dass der Inhalt der Säckchen sowie die beiliegenden Urkunden vollständig waren. Das älteste dieser Zertifikate stammte von 1463 und trug die Namen bekannter Nürnberger wie Tetzel und Tucher. Paul machte auch davon Fotos, selbstverständlich ohne Blitz, denn die betagten Pergamente galten als lichtempfindlich.

Alles wurde dokumentiert, und die Unversehrtheit der Reliquien wurde bestätigt. Unter Hannes Finks aufmerksamen Blicken machten sich die Konservatoren anschließend daran, alles wieder sorgfältig zu verpacken und die Säckchen auf dem Tisch zu drapieren, damit sie dann zurück in den Schrein gelegt werden konnten. Paul begann währenddessen damit, seine eigene Ausrüstung zu verstauen, und fuhr das Stativ zusammen. Beiläufig registrierte er, wie das Räuspern der Wissenschaftlerin stärker wurde und sie immer wieder husten musste. Hier war es aber auch kalt, dachte er und nickte den Ehrengästen zu, die nach und nach die Kirche verließen.

Auch seine Aufgabe war getan, weswegen sich Paul von Hannes Fink verabschieden wollte.

»Ich schicke dir einen Link, wo du alle Fotos findest«, sagte er. »Danke noch mal für den Auftrag. Rechnung folgt.«

Der korpulente Pfarrer zog die Stirn in Falten. »Link? Wie wäre es denn mit einer CD oder einem Speicherstick?«

Paul grinste. »Bei der Datenmenge ist es wirklich praktischer, wenn du dir die Fotos selbst runterlädst. Solltest du nicht zurechtkommen, ruf an. Ich hab’s ja nicht weit bis zum Pfarrhaus, aber dieser persönliche Service kostet dann noch einmal extra. Sagen wir in Form von zwei dunklen Landbieren.«

»Zwei Bier? Das ist es mir wert!«

Die Restauratorin hustete nun heftig. Inzwischen hatte sie die Arbeit eingestellt, und ihr Kollege klopfte ihr fürsorglich auf den Rücken.

»Muss man sich Sorgen machen?«, fragte Paul. Hannes Fink zog ratlos die Schultern nach oben.

Der Hustenanfall nahm kein Ende. Das Gesicht der armen Frau war krebsrot, Tränen liefen ihr aus den Augen. Sie fummelte nervös an ihrer Handtasche, woraufhin der Kollege ihr half, ein kleines Sprayfläschchen zu entnehmen.

Eine Asthmatikerin?, fragte sich Paul und sah besorgt zu, wie sich die inzwischen röchelnde Frau den Sprühkopf in den Mund steckte und mehrfach den Auslöser drückte. Die Umstehenden mussten mitansehen, wie die Frau um Luft ringend in die Knie ging.

Hannes Fink und Paul traten näher, wussten aber nicht, was sie tun konnten. Hinter ihnen sprach jemand laut und deutlich in sein Handy und forderte einen Notarzt an.

Dann, von einer Sekunde auf die nächste, wurde das Husten der Frau schwächer, der Atem flacher. Auch ihre Gesichtsfarbe veränderte sich. Sie war jetzt fahl wie Papier. Paul legte seinen Arm um ihre Schultern und half ihr dabei, sich hinzulegen, denn sie war völlig entkräftet. Während er noch überlegte, was als Nächstes zu tun war, begann sie zu sprechen. Ganz leise nur und kaum hörbar. Paul beugte sich tief über sie, um sie verstehen zu können. Doch alles, was er aufschnappen konnte, war das Wort »Leo«.

Ein Name? Ein Begriff? Paul konnte nichts damit anfangen.

Schon wurde er von jemandem beiseitegestoßen – einer der Lokalpolitiker, der etwas von stabiler Seitenlage fabulierte, aber selbst wenig Ahnung zu haben schien, wie diese umzusetzen war.

»Das bringt in diesem Fall nichts«, mischte sich ein anderer ein. »Was tut man denn, wenn jemand keine Luft mehr bekommt?«

»Luftröhrenschnitt!«, rief jemand von weiter hinten.

»Wie geht das?«

»Man braucht einen Kugelschreiber dafür, glaube ich.«

Die Konservatorin atmete kaum noch, als von draußen endlich das Martinshorn zu hören war. Pfarrer Fink lief den Rettungssanitätern entgegen, um ihnen den Weg zu weisen.

»Alles wird gut«, sagte Paul zu der Frau, doch sie reagierte nicht auf seine Worte.

Der Notarzt, ein Hüne mit strohblondem Haar und Tattoos im Nacken, eilte mit zwei Sanitätern und einer Trage herbei. Unverzüglich machten sie sich daran, die Frau zu untersuchen, legten eine Infusion und hoben sie schließlich vorsichtig auf die Trage.

»Kaum Puls«, schnappte Paul aus der Unterhaltung der Rettungskräfte auf.

Bevor sie die Patientin abtransportierten, sah Paul das Asthmafläschchen und gab es dem Notarzt, der dankend nickte. Nun wurde die Trage angehoben. Einer der Sanis klaubte noch die Handtasche der Patientin auf, die ihr von der Schulter gerutscht war, und setzte sie auf ihren Oberschenkeln ab.

In der nächsten Minute hatte der Tross die Kirche verlassen, und kurz darauf war von draußen wieder das Martinshorn zu hören.

»Was für ein Schreck!«, entfuhr es Paul, als er sich wieder Hannes Fink zuwandte. »Hoffentlich können sie ihr im Krankenhaus helfen.«

»Ja, das hoffe ich auch«, sagte Fink ermattet. »Ich verstehe eigentlich gar nicht, wie das passieren konnte. Ich meine: Sind Asthmatiker normalerweise nicht gegen Blütenpollen allergisch? Hier gibt es weit und breit kein Feld und keine Wiese.«

»Paula leidet unter einer Tierhaarallergie«, klärte sie ihr ebenfalls schwer mitgenommener Kollege auf.

»Tiere gibt es hier aber auch nicht«, hielt Fink dagegen.

Pauls Blick fiel auf die Gebeine, die in ihren Seidensäckchen gebettet noch immer auf dem Tisch lagen und darauf warteten, zurück in den geöffneten Schrein verfrachtet zu werden. Er wusste nicht warum – vielleicht mochte es eine Art Übersprungshandlung sein –, doch nun nahm er wieder seine Kamera zur Hand und schoss einige weitere Fotos von den verschnürten Knochen und dem imposanten Grab. Diese Eindrücke vermischten sich in seinem Kopf mit alten Schwarz-Weiß-Bildern, die einen Archäologen inmitten von Ägyptens Pyramiden zeigten. Der Fluch des Pharao …

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte sich Hannes Fink, der bemerkt hatte, dass Paul grübelte.

»Um ehrlich zu sein: nein«, antwortete Paul und ging auf Abstand zu den Knochen. »Hilf mir bitte mal auf die Sprünge: Wie war das damals mit der Entdeckung des Grabes von Tutanchamun im Tal der Könige?«

Pfarrer Fink hob die Brauen. »Du sprichst von Howard Carters Entdeckung im Jahr 1922?«

»Ganz genau. Ist es nicht so gewesen, dass etliche Mitarbeiter aus seinem Team kurz nach der Graböffnung den Tod gefunden haben, unter ganz ähnlichen Umständen wie es heute geschehen ist? Im Sarkophag waren Giftstoffe enthalten, die Grabräuber abschrecken sollten.«

Fink sah Paul befremdet an. »Was redest du da? Erstens ist das eine fälschliche Vereinfachung der historischen Ereignisse, denn das mit dem Gift ist nie bewiesen worden. Und zweitens: Paula Grotewohl lebt, glücklicherweise.« Er schüttelte heftig den Kopf. »Außerdem ist das Sebaldusgrab nicht mit einer Pharaonengruft vergleichbar. Ich sehe da überhaupt keinen Zusammenhang.«

Ich schon, dachte Paul und spürte ein Kribbeln in seinem Hals. Er musste husten.

»Simulant«, zischte Fink. »Mach dich nicht lächerlich.«

Die Veranstaltung wurde nun rasch beendet, die Reliquien hastig zurück in den Schrein befördert und die Gruppe aufgelöst. Paul war froh, wieder an der frischen Luft zu sein, und merkte, wie der Hustenreiz nachließ.

Daher verwarf er den Gedanken, auf dem Heimweg einen Zwischenstopp einzulegen und sich sicherheitshalber in der Klinik Hallerwiese untersuchen zu lassen.

»Jetzt bin ich echt gespannt, was du mir erzählen willst«, sagte Simone. Sie sog am Halm ihres Cocktails, ohne Katinka dabei aus den Augen zu lassen.

Es war früher Abend und Happy Hour in ihrer Lieblingsbar in der Inneren Laufer Gasse. Im Hintergrund lief leise Musik, die meisten Tische waren mit jungen Leuten besetzt. Katinka Blohm hatte ihre beste Freundin spontan zu einem Cocktail eingeladen – verbunden mit der Andeutung, sie habe einen »alten Bekannten« wiedergetroffen und wolle darüber reden. Erst hatte Simone protestiert, denn der Sonntagabend war bei ihr für den Tatort reserviert, doch die Neugierde hatte dann wohl doch überwogen.

»Um wen geht es?«, fragte sie mit leuchtenden Augen. »Helmut?«

»Helmut?«, lachte Katinka. »Ach Gott, nein! Wie kommst du bloß auf den? Das ist so lange her, und ich habe gehofft, diesen Namen nie mehr hören zu müssen.«

»Aber wer denn dann?«, rätselte Simone. »Es geht doch um einen ehemaligen Lover, oder?« Nachdem Katinka nicht sofort antwortete, erkundigte sie sich: »Ist bei dir und Paul alles im grünen Bereich? Ich hatte den Eindruck, dass ihr euch nach den Krisen der Vergangenheit inzwischen gut zusammengerauft habt. Aber der Eindruck kann ja täuschen …«

»Alles ist okay«, behauptete Katinka und merkte selbst, dass sie dabei die nötige Euphorie missen ließ. »Nur glaube ich manchmal, dass er vieles für zu selbstverständlich hält und die Routine überwiegt. Aber ist das nicht normal? Er hat sich eingerichtet im Leben zu zweit, was ihm anfangs ja schwergefallen war. Mittlerweile kommt er gut klar damit und übernimmt auch seine Aufgaben im Haushalt. Ich kann mich also nicht beschweren.«

»Im Haushalt. Soso.« Simone sog wieder am Strohhalm. »Und im Bett? Übernimmt er da auch seine Aufgaben?«

»Wir haben uns nicht getroffen, um Bettgeschichten zu erörtern«, entgegnete Katinka etwas verkniffen.

»Wirklich nicht? Du wolltest mir doch unbedingt etwas über einen geheimnisvollen Mister X mitteilen.«

»Ja, aber dabei geht es nicht zwangsläufig um Sex.«

»Zwangsläufig vielleicht nicht …«

Katinka schob ihr Glas beiseite. »Jetzt hör mal auf damit. Wir sind keine Teenager mehr.«

»Leider nein«, seufzte Simone. »Manchmal würde ich die Zeit gern um zwanzig Jahre zurückdrehen.«

»Sagen wir dreißig. So lange ist es nämlich her, dass ich ihn das letzte Mal gesprochen habe. Und das, obwohl er die ganze Zeit über hier in der Stadt gelebt und gearbeitet hat. Da hätte man sich eigentlich viel früher mal über den Weg laufen müssen, findest du nicht? Nürnberg ist eben doch kein Dorf, wie manche behaupten.«

»Um wen geht es? Ich will endlich den Namen hören.«

»Björn«, lüftete Katinka das Geheimnis. »Björn Hansen.« Kaum hatte sie den Namen ausgesprochen, spürte sie, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss.

»Der Björn? Mister Superhero?«, zeigte sich Simone beeindruckt. »Ich dachte, der wäre nach dem Studium gleich weggezogen. Nach London oder Washington oder irgendwohin, wo es ein berühmtes Museum gibt. Hat er nicht auch mal ein Auslandssemester in Sydney absolviert?«

»Nein, er ist erstaunlicherweise noch immer hier.«

»Im Neuen Museum, im Zukunftsmuseum oder wo?«

»Im Germanischen Nationalmuseum«, sagte Katinka.

»Als ich neulich zufällig dort vorbeigekommen bin, lief er mir auf der Straße der Menschenrechte entgegen.«

»Und?«, fragte Simone interessiert. »Ist er noch so …«

»So?«

»So sexy?«

»So sexy, wie man mit Halbglatze und Bauchansatz sein kann.«

»Uuuuh.« Simone verzog das Gesicht.

»Nein, Scherz. Ehrlich gesagt, hat er sich ziemlich gut gehalten. Treibt wohl viel Sport und kam gerade aus dem Urlaub, als wir uns über den Weg liefen. Braun gebrannt«, berichtete sie versonnen.

»Hm. Hört sich so an wie früher, als du von ihm geschwärmt hast.«

»Ich und schwärmen? Das war nur eine nüchterne Feststellung.«

»Nüchtern klingt anders. Apropos: Trinken wir noch einen?«

»Geht leider nicht. Paul wartet zu Hause bestimmt schon auf mich.« Sie sah auf ihr Smartphone, doch noch war keine WhatsApp von ihm eingegangen. »Wir wollen zusammen kochen, wie jeden Sonntagabend.«

»Dann möchte ich dich nicht aufhalten«, sah Simone ein und winkte dem Kellner. »Lass mal stecken, ich übernehme das.«

»Danke dir«, sagte Katinka und schob den Stuhl zurück.

»Und? Seht ihr euch wieder?«, fragte Simone wie beiläufig.

»Björn und ich? Ist nicht geplant«, antwortete Katinka und wechselte das Thema. Denn obwohl sie fest vorgehabt hatte, ihre Freundin ins Vertrauen zu ziehen und sie nach ihrer Meinung zu fragen, verließ sie plötzlich der Mut.

Und so verschwieg sie auch Björns Einladung auf eine Tasse Kaffee in der kommenden Woche.

»Wissen Sie, worin das eigentliche Problem liegt?«

Carla Winkelberg zuckte mit den Schultern und sah den hageren Reporter mit einer Mischung aus Ratlosigkeit, Widerwillen und Ungeduld an. Um diese Uhrzeit und noch dazu am Wochenende hielt sich bis auf die Kollegen vom Spätdienst kaum jemand in der Redaktion der Boulevardzeitung auf. Auch Carla wäre schon längst gegangen, wartete aber noch darauf, einen Arbeitsauftrag für die neue Woche zu bekommen.

»Das Problem liegt darin, dass es in dieser gottverdammten Stadt schlicht und einfach nicht genügend Morde gibt, um zwei Polizeireporter zu beschäftigen«, stellte Victor Blohfeld kategorisch fest und wartete auf eine Reaktion der jungen Frau, die ihm in seinem schmuddeligen Redaktionsbüro gegenübersaß. »Ich brauche keinen Praktikanten und erst recht keine Praktikantin.«

Carla Winkelberg, die ihren Bachelor absolviert hatte und nun drei Monate Erfahrung in einer Zeitungsredaktion sammeln wollte, sah nicht so aus, als würde sie sich von ihrem Vorgesetzten ins Bockshorn jagen lassen. Die energische junge Frau, deren Pausbäckchen sich rötlich verfärbten, sah den altgedienten Boulevardreporter düster an: »Ich kann nichts dafür, dass mich der Redaktionsleiter dazu verdonnert hat, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Sie können mir glauben: Das Feuilleton hätte mich weitaus mehr gereizt.«

Blohfeld verfluchte gedanklich seinen Chef, den jungen, dynamischen Redaktionsleiter Andi Schock, doch ihm blieb nichts anderes übrig, als Carla Winkelberg in seiner unmittelbaren Umgebung zu akzeptieren oder wenigstens zu tolerieren. Am besten wäre es, dachte er, wenn er so schnell wie möglich eine Beschäftigung für sie finden würde – dann wäre er sie zumindest für eine Weile los, könnte sich eine seiner geliebten Havannas genehmigen und in aller Seelenruhe sein Büro einräuchern.

Beherzt griff er nach einem Stapel Faxe und Computerausdrucke und wühlte eine Weile zwischen ihnen herum. »Ein Aufbruch, Taschendiebstahl, ein Notarzteinsatz in der Sebalduskirche. Das sind doch alles Lappalien.« Schließlich fischte er ein Blatt heraus, das den Rand einer Kaffeetasse und weitere undefinierbare Verschmutzungen aufwies, und hielt es Carla hin.

Diese nahm das Papier mit spitzen Fingern entgegen. Allein die Tatsache, dass Blohfeld noch mit Ausdrucken arbeitete, statt wie die meisten anderen im »Paperless office«, störte sie. Trotzdem warf sie einen kurzen Blick darauf und fragte: »Was soll das sein?«

Blohfeld verzog den Mund. »Wer lesen kann, ist klar im Vorteil«, konnte er sich nicht verkneifen zu sagen. »Ein Auszug aus dem Polizeibericht, eine Vermisstensache.«

»Vermisstensache?«, wiederholte Carla wenig glücklich. »Wollen Sie mich etwa mit der Suche nach einer alten Oma abspeisen, die aus dem Seniorenstift geflohen ist?«

»Wie gesagt: Es herrscht zurzeit ein akuter Mangel an Mord und Totschlag. An Ihrer Stelle würde ich mich glücklich schätzen, diesen Auftrag bekommen zu haben, Ihrem Vorgesetzten für die große Chance danken und mich unverzüglich an die Arbeit machen.«

»Aber ich …« Carla hielt den Zettel noch immer auf Abstand.

»Kein Aber«, sagte Blohfeld resolut. »In Nürnberg verschwinden alle naslang Leute. Die meisten tauchen freilich wenig später wieder auf, und es stecken keine großartigen Geschichten dahinter. Aber bei der jungen Dame, um die es sich in dieser Angelegenheit dreht, scheint es anders zu sein. Sie gilt schon seit über einer Woche als vermisst. Ein hübsches Ding. Wer weiß: Vielleicht bekommen Sie am Ende des Tages doch noch Ihre Tote.«

»Sehr witzig«, keifte Carla und vertiefte sich widerwillig in den Polizeibericht. »Elena Yvanova, einundzwanzig Jahre. Mmm, das Mädchen ist russischstämmig. Reiste ein, um in Erlangen zu studieren. Hier steht, dass sie zuletzt als Haushaltshilfe bei einer Familie Bauer in der Sebalder Altstadt gearbeitet hat. Ein Herr Waldemar Bauer ist als Adressat aufgeführt.«

»Was verraten uns diese dürren Informationen?«

»Ich weiß nicht. Sagen Sie es mir.«

»Nichts. Gar nichts! Aber sie bieten genügend Nährstoff für Spekulationen: Vielleicht hat Elena die Nase voll davon gehabt, bei den Bauers für einen Hungerlohn zu putzen, und tanzt jetzt für die dreifache Gage in einem Striptease-Schuppen. Dann ist die Geschichte für uns uninteressant«, mutmaßte Blohfeld. »Ebenso gut kann es aber sein, dass ihr etwas passiert ist und Elena uns eine hübsche Schlagzeile beschert.« Er sprang auf und wedelte mit den Armen: »Also los, Carla! Stürzen Sie sich auf den Fall! Am besten fangen Sie bei diesem Herrn Bauer an. Quetschen Sie ihn aus und bringen Sie alles in Erfahrung, was er über Elena und ihr näheres Umfeld weiß.«

»Du kommst spät«, sagte Paul und sah seiner Frau müde vom Sofa entgegen.

»Und du hättest ruhig schon mal mit dem Kochen anfangen können«, rief Katinka vom Flur aus und legte die Handtasche ab. »Ich hatte gehofft, der Braten wäre längst im Ofen.«

»Von wegen Braten.« Paul erhob sich mühsam. »Wir haben nichts im Haus außer welkem Salat und einer Packung Spaghetti.«

»Dann machen wir heute einen italienischen Abend mit Nudeln und Salat.« Katinka kam gut gelaunt ins kombinierte Wohn- und Esszimmer ihrer Wohnung an der Kleinweidenmühle und drückte Paul einen Kuss auf die Wange.

»Wir haben keine Sauce«, gab er matt von sich.

Katinka zog die Augenbrauen zusammen. »Wie bist du denn drauf? Ist irgendwas passiert?«

»Ja«, sagte Paul und berichtete von den Vorkommnissen in der Kirche.

»Oje, die arme Frau«, zeigte Katinka ihre Anteilnahme.

»Ja, die Sache ist mir richtig unter die Haut gegangen und lässt mir einfach keine Ruhe. Deswegen habe ich im Nordklinikum angerufen, nachdem ich mitbekommen hatte, dass der Rettungswagen dorthin wollte.«

»Wie geht es ihr jetzt?«

»Sie ist tot.« Paul sah Katinka betreten an. »Schon auf dem Weg ins Krankenhaus ist sie gestorben. Dabei war sie noch relativ jung, ich schätze, höchstens um die vierzig.«

»Oh, das ist wirklich tragisch«, sagte Katinka und ging zum Kühlschrank. Wahrscheinlich wollte sie sich davon überzeugen, dass Paul wirklich nichts übersehen hatte. »Sie war Asthmatikerin, sagtest du? Das ist tatsächlich eine tückische Krankheit. Wenn man nicht sofort die richtigen Mittel zur Hand hat, kann es ganz schnell vorbei sein.« Sie zog einen Bund Karotten aus dem Gemüsefach. »Schau: Rohkost hätten wir auch noch.«

»Ihr Kollege sagte etwas von einer Tierhaarallergie, aber es sind keine Tiere in der Nähe gewesen, als es passierte. Es dürfen ja sowieso keine Hunde oder so in die Kirche«, redete Paul weiter. »Deshalb glaube ich, dass es einen anderen Auslöser gegeben haben muss. Eine Art Giftstoff oder vielmehr Sporen, die durch die Öffnung des Sebaldusgrabes freigesetzt wurden.«

Katinka hielt noch immer die Karotten in der Hand, als sie sich zu ihm umdrehte und verwundert nachfragte: »Sporen?«

»Ja, winzige Schwebeteilchen mit tödlicher Wirkung. Ganz ähnlich wie früher bei den Mumien.«

»Willst du mich auf den Arm nehmen, Paul? Haben die vom Krankenhaus dir das am Telefon so gesagt?«

»Nein, die haben nur den Tod von Paula Grotewohl bestätigt, sonst aber nichts rausgelassen, weil ich ja kein Angehöriger bin. Trotzdem bin ich überzeugt, dass ihr Tod mit der Graböffnung zu tun hat«, beharrte Paul. »Das muss untersucht werden.«

Katinka legte die Karotten auf den Küchentisch und kam auf ihn zu. »Solange der behandelnde Arzt keine unnatürliche oder ungeklärte Todesursache anzeigt, muss gar nichts untersucht werden. Das ist keine Angelegenheit für die Staatsanwaltschaft, falls du darauf anspielst.« Sie drückte ihm einfühlsam den Arm. »Außerdem wären durch ein Gift ja wohl auch andere Anwesende zu Schaden gekommen, inklusive dir, was gottlob nicht der Fall ist.«

»Aber wir können doch nicht einfach nichts tun«, protestierte Paul.

»Das wollen wir auch gar nicht«, entgegnete Katinka und zwinkerte ihm aufmunternd zu. »Wir tun ja was: Spaghetti kochen.«

Darauf hatte Paul keine Lust. Weder auf die Nudeln ohne Sauce noch darauf, dieses Gespräch fortzusetzen. Katinka nahm seine Sorgen wieder einmal nicht ernst, was ihn sehr ärgerte.

Er ging in den Flur und zog seine Jacke vom Haken. »Mach du ruhig deinen italienischen Abend. Ich drehe inzwischen eine Runde. Vielleicht werden es auch zwei.«

Die Runde führte ihn bis zum Weinmarkt und endete am Goldenen Ritter. Ein Zufall? Wahrscheinlich hatte ihn sein hungriges Unterbewusstsein vor sein Lieblingsgasthaus in der Sebalder Altstadt gespült. Innen war es schön warm und gemütlich, und wie fast immer waren alle Tische besetzt. Gastwirt Jan-Patrick fand trotzdem eine freie Lücke für den Stammgast und platzierte Paul an der Theke.

»Sechs auf Kraut und ein Helles«, orderte Paul und bemerkte erst jetzt, wer neben ihm saß.

»Welcher Wink des Schicksals hat Sie denn hierhergeführt?«, fragte die schlaksige Gestalt mit dem verschlagenen Gesichtsausdruck und dem strähnigen grauen Haar. »Ich hatte ohnehin vor, mich mit Ihnen in Verbindung zu setzen.« Blohfeld hob sein Weinglas und prostete Paul zu.

Blohfeld – der hatte ihm gerade noch gefehlt! Am liebsten wäre Paul sofort wieder aufgestanden und gegangen. »Kommen Sie direkt aus der Redaktion?«, erkundigte er sich der Höflichkeit halber.

»Ja. Musste noch eine Neue auf Kurs bringen, deshalb hat es heute länger gedauert.« Der Reporter sah ihn erwartungsfroh an. »Wie man hört, gab es einen Notarzteinsatz während der Visitation der Sebaldusgebeine. Sehr, sehr ärgerlich, dass da keine Presse zugelassen war. Polizeitechnisch herrscht im Moment nämlich tote Hose, und ich weiß nicht, womit ich das Blatt füllen soll. Da greift man nach jedem Strohhalm.« Er grinste. »Aber zum Glück gibt es ja Sie, Flemming. Haben Sie Fotos von dem Unfall gemacht?«

Paul schüttelte den Kopf. »Es war kein Unfall. Sondern ein Asthmaanfall«, wiegelte er ab.

»Aber die Frau ist doch tot, richtig? Eine Restauratorin vom Germanischen Nationalmuseum, nicht wahr?«

Der Polizeireporter war mal wieder bestens im Bilde, stellte Paul fest. »Konservatorin. Ja, das trifft zu.«

»Konservator, Restaurator – wo liegt der Unterschied?«

»Konservatoren befassen sich mit der Pflege, Erhaltung und Dokumentation von Kunstwerken, von musealen Objekten oder eben archäologischen Funden«, wusste Paul von Hannes Fink. »Restauratoren erhalten und pflegen Kunst- und Kulturgüter.«

Blohfeld zuckte die Schultern. »Also doch das Gleiche. Egal! Jedenfalls möchte ich die Bilder haben, die Sie von ihr gemacht haben. Asthma ist zwar nicht besonders spannend, aber besser als nichts.«

»Sie bekommen keine Fotos von mir«, empörte sich Paul. »Das wäre pietätlos. Außerdem sind meine Aufnahmen exklusiv für die Kirche.«

»Eine würde mir schon reichen.«

»Nein, nichts zu machen.«

Blohfeld widmete sich schmollend seinem Wein.

Gut so, dachte Paul und hoffte, der Reporter würde ihn nun in Frieden lassen. Doch nach einer Weile überlegte es sich Paul anders und sagte: »Vielleicht habe ich doch etwas für Sie.«