Seebestattung - Natascha Manski - E-Book

Seebestattung E-Book

Natascha Manski

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Beschreibung

Halbjapanerin Tomma Petersen auf der Spur von illegalem Waffenhandel an der Nordseeküste Am Wattensteg in Butjadingen machen zwei Abiturienten einen grausigen Fund: Eine Leiche treibt im Wasser, von Fischfraßverletzungen entstellt. Hauptkommissarin Tomma Petersen kann die Identität des Opfers dennoch schnell ermitteln: Nicola Sencker, Marketingleiterin der Hafengesellschaft. Die Karrierefrau wurde von den Männern begehrt und von den Frauen gehasst. Alles deutet auf eine Beziehungstat hin. Als Tomma den anonymen Hinweis erhält, die Firma würde illegal Waffen verschiffen, hält sie dies zunächst für ein Ablenkungsmanöver …

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Seitenzahl: 414

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Natascha Manski

Seebestattung

Ein Küstenkrimi

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Halbjapanerin Tomma Petersen auf der Spur von illegalem Waffenhandel an der Nordseeküste

 

Über Natascha Manski

Inhaltsübersicht

WidmungMottoMittwochDonnerstagFreitagSonnabendSonntagMontagDienstagMittwochDonnerstagMontagDanke

Für Sven

Der Duft der Dinge

ist die Sehnsucht,

die sie in uns

nach sich erwecken.

 

Christian Morgenstern

(1871–1914)

Mittwoch

Vielleicht hatte sie ihn ja vergessen?

Julian stellte sein Fahrrad ab, ließ das Schloss zuschnappen und zog sein Handy aus der Hosentasche. Achtzehn Uhr, am Wattensteg – so hatten sie es verabredet. Nun war es bereits zehn nach. Er blickte sich um. Die Badelandschaft Nordsee-Lagune lag verlassen hinter ihm, auf der Uferpromenade war niemand zu sehen, und auch der breite Holzsteg, der vor ihm durchs braune Watt in die dunkle Nordsee ragte, war menschenleer.

Kein Grund, nervös zu werden. Anna-Lena hatte zwar viele coole Eigenschaften, Pünktlichkeit gehörte jedoch nicht dazu. Sie würde ihn schon nicht versetzen.

Julian nahm den Kapuzenpulli vom Gepäckträger und zog ihn über. Der Sommer war vorbei, keine Frage. Und die Schulzeit auch. «Abi 2014», sagte er leise zu sich selbst. Ihm kam es noch immer unwirklich vor, dass das Gymnasium Burhave nun Geschichte war. In ein paar Wochen würden seine Kumpels, mit denen er Chemie geschwänzt, auf dem Schulhof geraucht und für die Prüfungen gepaukt hatte, von der Bildfläche verschwunden sein. Und mit ihnen Anna-Lena.

Vorher musste er ihr jedoch noch etwas Wichtiges sagen.

Ein kurzer Blick nach links und rechts – noch immer keine Spur von ihr. Mann, wenn sie tatsächlich Medizin studieren wollte, musste sie das echt in den Griff kriegen. Julian stellte sich vor, wie eine Gruppe Ärzte in grünen Kitteln im OP um einen Patienten herumstand, während Frau Dr. Sennholz auf sich warten ließ.

Julian ging ein Stück die Promenade entlang zu einer Skulptur, die erhaben aufs Meer blickte. Er hatte sie sich noch nie genauer angesehen, was wahrscheinlich daran lag, dass er nicht gerade ein Kunstfreak war. Er war eher ein Zahlenmensch. Jemand, der es beruhigend fand, dass am Ende immer alles aufging und kein Raum für Interpretationen blieb. Die Skulptur bestand aus einem hohen Pfahl aus Metall, der sich schräg zum Meer neigte. Auf der Spitze stand eine Frauenfigur, die aussah, als würde sie gleich ins Meer springen. Julian legte den Kopf in den Nacken, um ihren Gesichtsausdruck erkennen zu können, doch es gelang ihm nicht. Seltsamerweise fühlte es sich so an, als hätte er etwas mit ihr gemeinsam. Auch er war auf dem Sprung. Etwas unsicher, aber auch gespannt, was die Zukunft bringen würde.

Eine laute Fahrradklingel riss ihn aus seinen Gedanken.

«Wartest du schon lange?» Anna-Lena hielt quietschend neben ihm. Ihre Locken standen von der Fahrt wild vom Kopf ab, die grünen Augen musterten ihn aus dem sommersprossigen Gesicht. Sie trug einen Rock und eine knallrote Strumpfhose, darüber eine weite hellblaue Jacke.

«Nö», log er. «Bist du im Stress?»

«Till.» Sie verdrehte die Augen. «Der Vollhorst hat mein Handy versteckt. Ich habe das ganze verdammte Haus auf den Kopf gestellt, bis ich das Ding gefunden habe.» Till war Anna-Lenas Bruder, der entweder schwer gestört war oder für alle Katastrophen und Verspätungen in ihrem Leben herhalten musste. Und sein heutiger Scherz war besonders fies, denn Anna-Lena und ihr Handy existierten nur im Doppelpack. Es hatte einen Namen, eine abgenutzte Hülle mit Monogramm und einen festen Platz auf ihrem Nachttisch.

Sie stellte ihr Fahrrad neben seins, schloss es ab und nickte zum Wattensteg.

«Wollen wir da rüber? Ich hab auch was mitgebracht.» Gut gelaunt zog sie eine Flasche Sekt aus ihrer Jacke.

Julian mochte eigentlich keinen Sekt, aber wenn ein Mädchen wie Anna-Lena auf dem Wattensteg Schampus trinken wollte, dann stellte man keine Fragen. Außerdem würde der Alkohol vielleicht seine Zunge lockern.

Wie selbstverständlich nahm sie seine Hand und zog ihn mit sich. Kurz vor dem Ende des Steges setzten sie sich auf eine Treppe, die links ins Wasser führte. Die unteren Stufen waren schon nicht mehr zu sehen. Es war auflaufend Wasser, in ein paar Stunden würde die Treppe komplett überspült sein. Touristen unterschätzten die Gezeiten oft und hielten auch die Strömung für ungefährlich – das hatte Julian in den Sommern hier am Strand oft mitbekommen. Das dunkle Wasser gluckste unter dem moosbedeckten Holz. Ab und zu knarzte es, als schlüge ein Stück Treibholz an die dicken Pfähle des Steges.

Anna-Lena löste die Plastikhülle, ruckelte an dem Korken und zog ihn mit einem routinierten Griff aus der Flasche.

Julian pfiff anerkennend durch die Zähne. «Falls es mit einer Karriere als Ärztin nicht klappt, kannst du immer noch eine Bar aufmachen.»

«Klar, warum nicht?» Anna-Lena zog zwei Plastikbecher aus ihrer Innentasche und goss beide randvoll. Feierlich überreichte sie ihm einen Becher. «Auf das Ende einer Ära. Und auf den Start in ein neues, spannendes Leben!»

Die Plastikbecher klackten aneinander. Der Sekt war warm und schmeckte süß. Julian konzentrierte sich darauf, das Gesicht nicht zu verziehen.

«Ja, ein Neuanfang ist es schon, aber es muss sich nicht alles verändern. Ich habe mich in Oldenburg eingeschrieben, für BWL.» Er trank noch einen Schluck. «Das ist nicht so weit weg. Die Wochenenden werde ich hier verbringen. Wir könnten uns weiter sehen.» Er warf ihr einen schnellen Seitenblick zu, um zu sehen, wie sie reagierte.

Sie schaute aufs Wasser, rüber zu den Kränen in Bremerhaven.

«Das können wir doch sowieso, egal, wo es uns hin verschlägt.»

Da musste er wohl noch ein bisschen deutlicher werden. «Ich würde dich aber gerne regelmäßig sehen, nicht nur alle paar Wochen mal. Eigentlich so oft wie möglich.» Er streckte seine Hand aus und legte sie auf ihre. Jetzt war es raus, endlich.

Sie drehte sich zu ihm um.

«Ach ja?», sagte sie lächelnd mit einem leicht amüsierten Unterton, den er nicht recht deuten konnte.

«Ja», sagte er, dieses Mal leiser. Ihm fiel nichts weiter ein, und eigentlich war damit auch alles gesagt.

Einen quälend langen Moment passierte gar nichts, sie saßen nur stumm nebeneinander und sahen sich an. Dann beugte sie sich zu ihm und küsste ihn. Er spürte ihre Locken in seinem Gesicht, ihren warmen Atem. Er roch ihr Parfüm, irgendetwas zwischen Apfel und Vanille, und strich mit seiner rechten Hand langsam über den glatten Stoff ihrer Jacke. Dafür würde er auch eine ganze Flasche von diesem klebrigen Zeugs trinken, wenn es sein musste.

Kurz darauf löste sie sich von ihm, füllte die Plastikbecher auf und trank einen Schluck. Ihr Gesichtsausdruck wurde wieder ernst. «Ich habe gestern eine Zusage bekommen.»

Er wartete darauf, dass sie weitersprach. Dann gab er sich einen Ruck und fragte: «Wo denn?»

«München.»

Nach dem kurzen Höhenflug fühlte er sich, als habe man ihm einen Schlag in die Magengrube versetzt.

«München?» Er sah sie ungläubig an. «Willst du das machen? Ganz nach Bayern gehen?»

Sie lachte kurz. «Du solltest dich mal hören. Als ob ich gerade vorgeschlagen hätte, ein Soziales Jahr in Afghanistan zu absolvieren.»

Eigentlich mochte er ihren Humor, aber jetzt blieb ihm das Lachen im Hals stecken. «Wäre dir auch zuzutrauen.»

«Eben. Deswegen kannst du dich doch freuen, dass es nur Süddeutschland ist.»

Doch das Gegenteil war der Fall, und das wusste sie wohl auch. Julian trank schweigend einen Schluck.

«Ich will mal raus hier, und das Studium ist die perfekte Möglichkeit.» Sie rückte wieder ein Stück näher. «Wir können doch mailen, texten und skypen.»

«Mmh.» Noch ein Schluck. Er sollte damit aufhören, sein Kopf fühlte sich schon etwas schwer an.

«Komm, lass uns ein paar Erinnerungsfotos machen.» Mit einem Ruck war sie aufgestanden und sah sich nun geschäftig um, als suchte sie das optimale Motiv. Offenbar war sie entschlossen, sich die gute Laune nicht verderben zu lassen.

«Keinen Bock.» Ein letzter Schluck, und der Becher war leer. Julian zerknüllte ihn und steckte ihn in die Tasche seines Pullis.

«Ach komm! Die können wir beim nächsten Abi-Treffen herumzeigen und ausgedachte Geschichten erzählen.» Sie zog ihr Handy aus der Tasche. «Please, pretty please?»

Natürlich wusste sie, dass er ihr keine Bitte abschlagen konnte. Nicht während der Mathe-Klausur, bei der sie von ihm abschrieb, nicht in der Pause, wenn sie eine Zigarette schnorrte, und auch nicht im Kino. Was zur Folge hatte, dass er in den letzten Jahren mehr Liebesschnulzen gesehen hatte, als ihm lieb war.

Julian seufzte. «Okay, meinetwegen. In welche Richtung?»

«Wir müssen uns umdrehen, dann haben wir nicht das blöde Geländer, sondern Wasser im Hintergrund.» Sie stellte die Sektflasche zur Seite. Mit Schwung drehte sie sich um und hätte dabei fast das Gleichgewicht verloren. Prüfend tauchte sie die Hand ins Wasser.

«Oh, das ist gar nicht so kalt.»

«Das Meer speichert die Wärme ja auch.»

«Danke für den Hinweis, Einstein. Bist du sicher, dass du dich nicht doch für Bio einschreiben willst?» Sie kicherte albern, schwankte ein bisschen und stützte sich schnell mit der linken Hand auf der Stufe ab.

Julian sah in die dunkle Brühe unter sich.

Anna-Lena streckte den Arm aus und hielt das Handy auf sich gerichtet. Sie saßen beide in der Hocke, die Nordsee und den Horizont im Rücken.

«Cheese!» Anna-Lena drückte ihr Gesicht an seins, ihre rechte Hand legte sie um seine Taille. Er zwang sich, zu lächeln, wusste aber, dass es misslang.

«Mann, Julian, du siehst aus, als hätte man dir gerade die Bude ausgeräumt!» Sie knuffte ihn in die Seite. «Gib dir mal Mühe!»

Ein weiterer Schnappschuss, dann noch einer. Anna-Lena hielt das Handy immer höher, um den optimalen Ausschnitt einzufangen.

In diesem Moment flog eine Möwe kreischend über den Steg. Anna-Lena riss erschrocken den Arm vors Gesicht, dabei glitt ihr das Handy aus der Hand, schlug auf einer Holzstufe auf und schlitterte über das grüne Moos. Dann fiel es mit einem dumpfen Geräusch ins Wasser.

Ungläubig starrten sie hinterher. Nach einer Schrecksekunde kam Leben in Anna-Lena.

«Verdammt, verdammt. Da ist alles drauf, mein halbes Leben! Adressen, Nummern, Bilder, Videos … Scheiße!»

«Nun beruhig dich doch, vielleicht …»

«Du hast Nerven!» Hektisch kniete sie sich auf den Steg und beugte sich nach vorne, als könnte sie ihr Handy irgendwo entdecken.

Julian überlegte. Das Wasser war nicht besonders tief. Vielleicht reichte es ihm bis zu den Hüften, schätzte er. Wenn er sich beeilte, standen die Chancen, das Ding zu retten, gar nicht mal schlecht. Gut möglich, dass er morgen mit einer Erkältung im Bett liegen würde, aber das war ihm jetzt egal.

Ohne weiter nachzudenken, zog er Schuhe, Socken, Pulli und Jeans aus und warf alles auf den Steg. Der kalte Wind strich über seine Haut, und er verfluchte sein Helfersyndrom für einen kurzen Moment. Aber es war sowieso zu spät.

Anna-Lena strahlte. «Mann, das ist so was von nett von dir, weißt du das, Juli?»

In T-Shirt und Boxershorts ging er die Stufen hinunter, während Anna-Lena aufgeregt mit den Armen fuchtelte. Als erst die Füße, dann die Waden und seine Knie vom Wasser umspült wurden, biss er die Zähne zusammen.

«Hier, genau hier ist es reingefallen!»

Seine Füße sackten in dem weichen Watt ein. Das Wasser mochte sich noch nicht kalt angefühlt haben, als Anna-Lena kurz die Hand hineingehalten hatte, aber jetzt, als es bei jedem Schritt an seinen Beinen hochschwappte, war es eisig.

Mit staksigen Schritten ging er in die Richtung, in die Anna-Lena wies, und versuchte, nicht an die Würmer und Krebse zu denken, die im Watt herumkrochen. Vorsichtig suchte er mit dem rechten Fuß den weichen Boden ab. Doch da war nichts.

Die Strömung zog ihn in Richtung des Steges. Langsam ging er weiter und tastete sich auf dem glitschigen Schlick vor. Doch statt etwas Glattem, Rechteckigem spürte er etwas Raues, Scharfkantiges an seiner Fußsohle, über das er lieber nicht weiter nachdenken wollte. Er fror jetzt stärker und drehte sich vom Steg weg, um nicht mehr direkt im Wind zu stehen. Plötzlich spürte er an seinem rechten Zeh etwas Glattes. Das könnte es sein!

«Und – hast du es?» Anna-Lenas Stimme klang aufgeregt. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie sie eine Rettungsstange vom Haken löste und damit am Geländer hin und her schwang.

«Mach das Ding wieder fest. Das hat bestimmt schon mal jemandem das Leben gerettet!»

Konnte sie nicht einfach ruhig dastehen und warten? Musste sie immer irgendwelchen Blödsinn machen? Mittlerweile zitterte er am ganzen Körper, was bestimmt verdammt uncool aussah.

«Okay, ein Griff, und du kannst hier wieder raus», murmelte er mehr zu sich selbst. Er streckte seine rechte Hand ins Wasser und versuchte, den Boden zu erreichen, doch es klappte nicht. Mist, er würde sich auch noch sein T-Shirt einsauen müssen, das bisher trocken geblieben war.

In dem Moment strich etwas ganz leicht von hinten über seinen rechten Oberschenkel. Es war eine kurze, flüchtige Berührung, so als wollte ihn jemand ärgern und bei seinem Vorhaben stören.

«Das ist jetzt echt nicht der Zeitpunkt für irgendwelche Scherze!», rief er in Richtung des Steges.

Weiteres Tasten im Schlick, dann bekam er das Handy zu fassen und zog es aus dem Wasser.

Wieder streifte etwas sein Bein, dieses Mal mit Nachdruck. Etwas Schweres drückte sich gegen ihn und kratzte in seiner Kniekehle.

Langsam verlor er die Geduld.

«Anna-Lena, jetzt lass das und mach die dämliche Stange wieder fest!»

Keine Reaktion.

«Anna-Lena?»

«Hast du was gesagt?», kam es aus einiger Entfernung zurück.

Überrascht drehte er sich um und sah, wie sie vom Ufer aus zu ihm hinüberblickte. Dann fiel sein Blick aufs Wasser.

Er erkannte sofort, dass es sich nicht um Treibholz handelte. Er brauchte nur Sekunden, um das Bild zu erfassen, das sich in seine Netzhaut einbrennen und ihn in seinen Träumen jagen sollte.

Der Frauenkörper lag wie schwerelos im Wasser, die Arme und ein Bein von sich gestreckt. Das zweite Bein endete über dem Knie, Unterschenkel und Fuß fehlten. Hose und Oberteil waren zu dunklen Lumpen verschmolzen, die sich sanft mit den Wellen bewegten. Die weißen Hände waren zu Krallen erstarrt, als wollten sie nach etwas Unsichtbarem greifen.

Flackernd ging Julians Blick an der Toten entlang. Aus der linken Gesichtshälfte starrte ihn ein totes Auge an, bevor sich ein flechtenartiger Teppich aus Haar, Schilf und Algen davorschob. Die andere Hälfte gab es nicht mehr.

Von der Stelle, wo einmal die Nase in die Wange übergegangen war, bis zum Ansatz der Ohren war nicht mehr zu sehen als eine fleischfarbene, ausgefranste Fläche, die bis zum Haaransatz reichte. Die Augenhöhle war ein dunkles, mit Meerwasser gefülltes Loch. Die Lippen der Frau waren geöffnet, als wollte sie etwas sagen und wäre mitten im Satz erstarrt. Entsetzt beobachtete Julian, dass ein Krebs aus der Öffnung kroch, bevor sich das Tier seitlich über ihre Wange bewegte und in ihrem Haar verschwand.

Es war absolut still, nur seinen eigenen Atem konnte Julian hören. «Scheiße», flüsterte er.

«Was hast du denn?» Wie durch Watte hörte er Anna-Lenas Stimme, dann polternde Schritte auf dem Steg. «Komm raus aus dem Wasser, du holst dir noch den Tod!»

Ihre Stimme kam näher, schließlich stand sie vor ihm auf dem Steg. Ihr Schrei durchschnitt die Stille.

Endlich konnte Julian sich rühren. Er machte einen wackeligen Schritt zurück, ließ dabei den Körper nicht aus den Augen. Meter um Meter bewegte er sich zu der Treppe, griff schließlich nach dem glitschigen Holzgeländer und lief nach oben. Er zitterte am ganzen Körper, legte das Handy auf die Holzplanken und griff hastig nach seinen Klamotten.

«Verfluchte Scheiße. Ich habe dein dämliches Handy neben einer verdammten Leiche aus dem Wasser gefischt!»

Er brüllte die Worte, ohne es zu wollen, es brach einfach aus ihm heraus. Hektisch rieb er die Stellen an seinen Beinen, die der Körper berührt hatte, als ob er es so ungeschehen machen konnte.

Anna-Lena hatte sich nicht vom Fleck bewegt und starrte immer noch ins Wasser, die Augen aufgerissen, die Hände vor dem Mund, als könnte sie einen weiteren Schrei nur mühsam unterdrücken.

Julian riss sich das nasse T-Shirt vom Oberkörper und zog erst den Kapuzenpulli über, dann die Jeans.

«Ruf die Polizei.» Der Satz war kaum zu verstehen, so sehr klapperten seine Zähne. «Die Bullen!», sagte er jetzt lauter. «Ruf sie an! Wir müssen hier so lange warten, bis sie …»

Entsetzt blickte sie auf das Handy. «Das kann ich nicht», sagte sie, «das ist nicht meins!»

Aber Julian hörte sie nicht. Er spürte die Magensäure im Mund und schaffte es gerade noch, sich von ihr wegzudrehen, bevor er sich erbrach.

«Du bist die Letzte. Mach nicht mehr so lange!»

Erschrocken sah Chiara Lenhardt vom Mikroskop hoch. Wenn die Uhr an der Wand funktionierte, war es tatsächlich schon halb acht. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war.

«Bis morgen, Jack!», schlug sie einen möglichst unbekümmerten Ton an. «Ich wünsch dir einen schönen Abend!»

Ihrer würde wahrscheinlich so werden wie die letzten Abende auch. Er würde sich quälend in die Länge ziehen, und sie würde schließlich nach einem Glas Wein und zwei Tabletten in einen unruhigen Schlaf fallen. Da war es besser, sich im Büro abzulenken.

Chiara prüfte, ob das Mikroskop die Bilder der Blutkörperchen korrekt auf den Rechner übertragen hatte, speicherte die Aufnahmen und schaltete die Geräte aus. Nachdem sie das Formaldehyd zurück ins Regal gestellt hatte, reinigte sie die benutzten Plättchen und Gläser in der Spüle und stellte alles auf das Abtropfgitter. Schließlich zog sie die weißen Gummihandschuhe aus, entsorgte sie im Mülleimer und hängte ihren Kittel an den Haken. Nach einem letzten prüfenden Blick zog sie die Labortür hinter sich zu.

Ihren früheren Job hatte sie geliebt, und sie hatte sich damals nicht vorstellen können, irgendwann einmal in einer anderen Tätigkeit so aufgehen zu können. Mittlerweile schätzte sie jedoch auch ihre Arbeit als Wissenschaftlerin. Sie musste ihr altes Leben hinter sich lassen und einen klaren Schnitt machen, das hatte ihr Arzt immer wieder gesagt. Solange sie Verlorenem hinterhertrauerte, sei kein Platz für neue Erfahrungen. Chiara wusste, dass er damit recht hatte. Trotzdem war es ein langer, beschwerlicher Weg in ihr neues Leben gewesen.

Die Gummisohlen ihrer Mokassins quietschten auf dem Linoleum, bis sie den Teppich im Bürotrakt erreichte. Während sie das Gebäude durchquerte, schaltete sie hinter sich das Licht aus, sodass schließlich nur noch ein Flur und ihr Büro beleuchtet waren. Müde schloss sie die Tür, warf den Schlüsselbund auf den Schreibtisch und setzte sich an den Rechner. Ihr Blick fiel auf den Kalender.

Drei Tage. Ganze zweiundsiebzig Stunden hatte sie sich nicht gemeldet, seitdem sie am Sonntag nicht im Luzifer aufgetaucht ist. Kein Rückruf, keine SMS. Was hatte das zu bedeuten?

Solange Chiara im Institut beschäftigt war, mit Studenten sprach oder an der Ausschreibungsbeteiligung für Aquazensus arbeitete, konnte sie sich ablenken. Die Bewerbung war nicht nur für ihre Gruppe, sondern für die ganze Abteilung wichtig. Sie durfte sich keinen Fehler erlauben, musste sich konzentrieren. Besonders jetzt, da klar war, dass das aktuelle Projekt Ende des Jahres auslaufen würde.

Am Abend aber, wenn die Flure sich leerten, in den Büros die Lichter ausgingen und keine neuen Mails in ihrem Posteingang eintrafen, breitete sich die Ungewissheit in ihr aus.

Gedankenverloren drehte Chiara an ihrem silbernen Armreif und sah aus dem Fenster über den Parkplatz auf die Weser.

«Wo bist du?», flüsterte sie.

Bis auf das Surren der grellen Neonleuchte an der Decke war es still im Büro. In der Ferne war ein Nebelhorn zu hören.

Ihr Handy piepte.

«Hi there! Time to talk?» stand in leuchtenden Lettern auf dem Display.

Chiara warf einen Blick auf ihre silberne Armbanduhr. Zwanzig Uhr. An der Ostküste war es vierzehn Uhr, Neele war also wahrscheinlich gerade aus der Highschool nach Hause gekommen. Sie drehte sich zu ihrem Rechner, loggte sich bei Skype ein und entdeckte kurz darauf den dunkelbraunen Schopf ihrer Tochter auf dem Bildschirm.

«Hi, Mom!»

Chiara lächelte. «Hallo, Schatz. Geht’s dir gut? Wie war’s in der Schule?»

«Great!» Mit roten Wangen berichtete Neele vom Basketballtraining, von einem Jungen namens Greg und von einer Party, zu der sie alle am Samstag eingeladen waren.

Wie immer spürte Chiara einen kleinen Stich. Ihre Tochter hatte sich schnell in New York eingelebt, hatte Freunde gefunden und kam in der Highschool gut mit. Trotzdem machte Chiara sich ständig Sorgen.

Wieder einmal fiel ihr die Ähnlichkeit zwischen Neele und ihrem Vater auf.

Chiara maß gerade mal einen Meter sechzig, aber ihre Tochter war groß und kräftig. Wenn sie sprach, machte Neele die gleichen raumgreifenden Bewegungen wie Carsten. Sie hatte auch sein lautes, herzliches Lachen. Immerhin: Die braunen Haare und den dunklen Teint hatte sie von ihrer Mutter – auch wenn Neele ihre Haare lang trug und nicht so kurz wie sie selbst.

Drei Jahre lag die Trennung von Carsten nun schon zurück. Wenn Chiara ehrlich war, hatte sich ihr Leben seitdem nicht sonderlich verändert. Sie verbrachte weiterhin die meisten Abende allein, traf alle Erziehungsentscheidungen und kümmerte sich um Einkauf, Haushalt und die vielen kleinen Dinge, die einen Familienalltag zusammenhielten – so wie immer schon.

Die Entfremdung von ihrem Mann hatte schleichend begonnen und im Laufe der Jahre an Fahrt aufgenommen. Irgendwo zwischen seinen Buchpräsentationen, Vortragsreisen und Lehraufträgen war Carstens Interesse an seiner Frau und ihrem kleinen, überschaubaren Leben erloschen. Zuerst hatte sie gekämpft. Schließlich jedoch hatte sie eingesehen, dass sie es nicht aufnehmen konnte mit den unbekümmerten Studentinnen, die rauchend mit ihm die Nacht durchdiskutierten, und den Frauen, die ihm auf den Partys und Empfängen an den Lippen hingen. Dabei galten sie früher als Traumpaar: er, der erfolgreiche Politikwissenschaftler mit internationalem Renommee. Sie, die Flavoristin, die in die exotische Welt der Düfte und Aromen eintauchte und damit sein nüchternes, wissenschaftliches Leben perfekt ergänzte. Doch wahrscheinlich waren ihre Lebensentwürfe von Anfang an zu verschieden gewesen, und die Scheidung setzte lediglich den logischen Schlusspunkt hinter ihre emotionale Talfahrt. Seitdem gab es keinen Mann mehr in Chiaras Leben.

Sie unterhielt sich noch eine Weile mit ihrer Tochter, bevor Neele das Gespräch beenden wollte, da sie mit einer Klassenkameradin verabredet war.

«Okay, Mom. Dann bis nächste Woche. Und viel Spaß am Wochenende!»

«Wobei?», fragte Chiara zerstreut.

«Wolltest du nicht mit Nicola segeln gehen?» Neele zog eine Augenbraue hoch. Ebenfalls ein Tick, den sie von ihrem Vater hatte.

«Genau, das wollten wir, Schatz. Das hatte ich ganz vergessen.» Sosehr sie die moderne Technik schätzte, Chiara wäre in diesem Moment lieber über die gute alte Telefonleitung mit ihrer Tochter verbunden gewesen.

«Ist alles okay, Mom?»

«Sicher, wieso?» Chiara zwang sich, in die Kamera zu lächeln.

«Das klingt jetzt vielleicht etwas mean, aber du siehst nicht gut aus. Irgendwie müde und ernst.»

«Ach, das ist nichts weiter.»

«Hat Nicola sich noch nicht bei dir gemeldet?» hakte sie nach.

«Nein, hat sie nicht.»

«Mohoom …», kam es gedehnt von Neele, und sie seufzte theatralisch. «Es sind nicht alle wie du. Einige Menschen sind auch mal ein paar Tage offline, wollen ihre Schäfchen nicht rund um die Uhr um sich herum haben.»

«Aber in diesem Fall …»

«Weißt du noch, wie viel Sorgen du dir gemacht hast, als ich meinte, dass ich für ein Jahr in die USA möchte? Du hast dir Horrorszenarien ausgemalt! Bist davon ausgegangen, dass meine Gastfamilie die Frankensteins persönlich sind und ich spätestens nach einem Monat drogenabhängig in der Bronx auf dem Straßenstrich lande.»

Zum ersten Mal an diesem Tag musste Chiara lachen. Ihre Tochter hatte einen wunden Punkt getroffen.

«Und was ist davon eingetreten?», fuhr Neele fort. «Nichts! Ich sag dir was: Ihr beide werdet ein nettes Wochenende auf der Nordsee haben. Sie meldet sich bald, wirst schon sehen!»

 

Nachdem sie das Gespräch beendet hatten, sortierte Chiara die Papiere auf ihrem Schreibtisch und stellte den Ordner mit den Dokumenten für Aquazensus ins Regal. Dann fuhr sie den Rechner herunter, schaltete das Licht aus und verließ ihr Büro. Der Pförtner war schon gegangen, deshalb schloss sie die Eingangstür zweimal ab, ließ das leuchtende Schild mit der Aufschrift Institut für angewandte Ozeanologie Bremerhaven hinter sich und ging zu ihrem Wagen.

Chiara wünschte sich nichts mehr, als dass ihre Tochter recht hatte.

Aber ihr Gefühl sagte ihr, dass es dieses Mal nicht so war.

Hauptkommissarin Tomma Petersen schlang den dicken Wollschal um den Hals und ließ den Schlüsselbund in ihrer Ledertasche verschwinden. Zügig verließ sie den Parkplatz, nutzte die Steinstufen, um über den Deich zum Strand zu gelangen, ließ die Nordsee-Lagune links liegen und ging zum Wattensteg.

Feuchte Kälte kroch durch den dünnen Stoff ihres Trenchcoats, ein kräftiger Windstoß wirbelte ihr die Haare ins Gesicht. In ihrer Manteltasche fischte Tomma nach einem Haargummi und band ihre langen Haare zu einem Zopf.

Für einen kurzen Moment dachte sie sehnsüchtig an die dicke Daunenjacke, die in ihrer warmen Wohnung an der Garderobe hing, die sie aber nicht angezogen hatte, weil die Wetter-App ihres Handys immerhin zwölf Grad vorhergesagt hatte. Dieses Mal lag der mobile Assistent jedoch eindeutig daneben.

Die Nordsee war unruhig. Unregelmäßig schoben sich die dunklen Wellen ans Ufer und überspülten das braune Watt. Es war bereits dunkel, und dicke Wolken zogen am Himmel vorbei. Ein paar letzte Sonnenstrahlen tauchten die menschenleere Promenade zwischen Nordsee-Lagune und Wattensteg in ein unwirkliches Licht.

Tomma liebte die Küste, trotz des oft ungemütlichen Wetters. Oder gerade deswegen? Sie schätzte es nicht, wenn das Quecksilber im Sommer die 25-Grad-Marke knackte, und war noch nie auf die Idee gekommen, ihren Urlaub im Süden zu verbringen. Sie mochte den rauen Wind, die Gezeiten, das platte Land, die weite Sicht. Umso ärgerlicher war es, dass sie der blöden Wetter-App gefolgt war, statt die einfachste Grundregel zu beachten: An der Küste ist es immer kälter.

Tomma sog die würzige Luft ein und zog den Schal noch etwas fester. Den ganzen Tag schon hatte sie sich schlapp gefühlt und mit Halsschmerzen zu kämpfen, auch ihr Kopf fühlte sich schwer an. Da eine Erkältung so ziemlich das Letzte war, was sie jetzt gebrauchen konnte, verdrängte sie den Gedanken und konzentrierte sich auf den Fall.

Viel wusste sie bisher nicht. Zwei Jugendliche hatten eine weibliche Leiche in der Nordsee gefunden. Wie lange sie schon im Wasser lag und von wo sie angespült worden war, das würden sie hoffentlich bald herausfinden.

Einen Moment blieb sie stehen und betrachtete das Treiben auf dem Wattensteg. Vier große Strahler tauchten die Holzbohlen in gleißendes Licht. Der Bereich war abgesperrt, die Kollegen der Spurensicherung trugen weiße Anzüge und sortierten ihr Equipment. Am Ende des Steges lag ein Einsatzboot der Wasserschutzpolizei, ein Kollege unterhielt sich leise mit einem Helfer der DLRG, der die Verkabelung eines Strahlers prüfte. Die Szene glich einer Filmkulisse.

Als sie aus den Augenwinkeln bemerkte, wie eine Person auf sie zukam, erwartete sie fast, dass es ein Regisseur sein würde, der gleich «Ruhe bitte, Aufnahme!» rufen würde.

Doch es war nur Spandorff.

«Moin, Chefin.»

«Moin, Spandorff.»

Tomma merkte, dass sie automatisch den Rücken durchdrückte, als könnte sie sich so ein paar Zentimeter größer machen als den einen Meter fünfundsechzig, der in ihrem Personalausweis stand.

Sie konnte nachvollziehen, dass viele Menschen eingeschüchtert waren, wenn sie Ulrich Spandorff das erste Mal begegneten. Der Kriminaloberkommissar war an die zwei Meter groß und ein bulliger Typ. In letzter Zeit hatte er noch einige Kilo zugelegt und trug nun außerdem einen Vollbart. Spandorff sprach wenig, und wenn er etwas sagte, dann nur in kurzen Sätzen, was insgesamt dazu führte, dass sein Umfeld ihm reserviert und mit Respekt begegnete. Seine geliebte blaue Wetterjacke war offenbar auf die Schnelle nicht auffindbar gewesen. Stattdessen trug er einen schwarzen Mantel. Sogar einen dünnen braunen Schal hatte er sich umgebunden, was ihm etwas ungewohnt Seriöses verlieh. Er zog eine Packung Zigaretten aus der Tasche. Dies war bereits der zweite Mord, seit Tomma ins Polizeikommissariat Nordenham gewechselt war. Und nach den Erfahrungen des ersten hielt sich die Vorfreude auf die Zusammenarbeit in Grenzen.

«Bin noch nicht lange da», sagte er und drehte sich aus dem Wind, um die Zigarette besser anzünden zu können. Es klang, als wollte er direkt klarstellen, dass er noch nichts angewiesen und auf sie gewartet hatte.

Tatsächlich hatte Tomma sich im ersten Moment etwas geärgert, weil sie wieder mal als Zweite am Tatort eingetroffen war. Aber von Nordenham aus war Spandorff schneller da als sie aus Oldenburg. Ein klarer Nachteil ihrer Entscheidung, nicht in die Wesermarsch umzuziehen, sondern die Wohnung in der Huntestadt zu behalten.

«Wissen wir schon, wer die Tote ist?»

Spandorff schüttelte den Kopf. «Die Kollegen von der Wasserschutzpolizei haben noch nichts angerührt. Jurek checkt im Büro die Vermisstenanzeigen und meldet sich wieder. Theoretisch kann die Leiche ja von überall herkommen.» Missmutig zog er an seiner Zigarette.

«Sie wurde von Jugendlichen gefunden?»

«Zwei Abiturienten, hier aus dem Ort. Sie stehen wohl noch unter Schock.» Er wies mit dem Kopf zu einem uniformierten Beamten, der gerade ihre Aussagen aufnahm. «Offenbar war der Junge selbst im Wasser, als er sie gefunden hat. Das Mädchen hatte irgendwas verloren, und der arme Tropf wollte es aus der Brühe fischen.» Ungläubig schüttelte er den Kopf, als sei so eine Aktion für ihn früher undenkbar gewesen.

«Berschat müsste auch gleich da sein, dann können wir loslegen.»

In diesem Moment kam der Rechtsmediziner mit federnden Schritten zur Uferpromenade hinunter, in der rechten Hand trug er seinen abgegriffenen Koffer.

«Das ging aber auch schon mal schneller», konnte Spandorff sich nicht verkneifen.

«Manche Menschen haben ein Privatleben. Die sitzen nicht jeden Abend zu Hause und warten auf einen Anruf aus der Dienststelle.»

Berschat lächelte süffisant. Tomma entging nicht, dass er eine leichte Alkoholfahne hatte.

«Sind Sie selbst gefahren?», kam es von Spandorff, der es offenbar ebenfalls gerochen hatte.

«Taxi», sagte der Rechtsmediziner knapp. «Ich war in der Oper. La Traviata. Die erste Arie des zweiten Aktes hatte gerade begonnen, als der Pieper losging.» Er schloss die Augen, summte eine Melodie, und sein Gesichtsausdruck verriet, dass er ausgesprochen verärgert über die plötzliche Unterbrechung war.

«Sie sollten dem Täter dankbar sein», legte Spandorff nach, der nicht gerade als Opernfan bekannt war.

Bevor Berschat noch etwas erwidern konnte, übernahm Tomma die Regie und unterbrach das Geplänkel der beiden Männer: «Dann wollen wir mal!»

Sie hob das Flatterband an und ließ den beiden den Vortritt. Tomma begrüßte die Kollegen der Wasserschutzpolizei und die Männer der DLRG, denen man ansah, dass sie nicht besonders scharf auf diesen Einsatz waren. Zwei Wasserschutzpolizisten hoben jetzt auf Tommas Zeichen und mit Berschats Unterstützung vom Boot aus den Körper Zentimeter für Zentimeter aus dem kalten Wasser und legten ihn vorsichtig auf den Steg.

Sie schienen ihre Arbeit gut zu machen, denn der pingelige Rechtsmediziner verzichtete auf sein übliches Lamento über die Vernichtung wichtiger Spuren, streifte sich weiße Gummihandschuhe über und betrachtete den Körper schweigend.

Tomma fing den Blick einer jungen Wasserschutzpolizistin auf, die sie nun schon eine ganze Zeit lang anstarrte. Weiblich, Mitte dreißig, dazu Halbasiatin – so stellen sich die wenigsten die Leiterin einer Mordkommission vor. Schon gar nicht in der Wesermarsch.

«Und?», fragte Tomma und beugte sich über den Leichnam. Als sie das Gesicht der Toten sah, biss sie die Zähne zusammen.

«Fischfraßverletzungen», kommentierte Berschat trocken. «Und zwar nicht zu knapp.»

Zu Beginn ihrer gemeinsamen Arbeit hatte Tomma die flapsigen Bemerkungen des Rechtsmediziners als Respektlosigkeit empfunden, doch mittlerweile wusste sie, dass es Berschats Art war, eine Distanz zwischen sich und dem Tod aufzubauen.

«Außerdem Waschhautbildung an den Handinnenflächen …», fuhr er fort. Sein Blick wanderte über die dunkle Kleidung weiter nach unten. «… und an der Fußsohle.»

«Wie lange liegt sie schon im Wasser?», fragte Tomma, ging in die Hocke und stützte sich auf den rauen Bohlen ab. Von dem Körper ging ein durchdringender Geruch nach Nordseewasser aus.

Berschat wiegte seinen Kopf hin und her. «Vermutlich weniger als eine Woche. Der Körper zeigt noch keine Fäulnisveränderungen.»

«Dann kann man es doch bestimmt noch weiter eingrenzen.» Spandorff hatte sich ebenfalls über den Körper gebeugt und starrte nun wortlos auf die Stelle, an der das linke Bein der Toten abgetrennt war.

«Vermutlich eine postmortale Verletzung», sagte Berschat, der seinen Blick aufgefangen hatte. «Eventuell durch eine Schiffsschraube oder Ähnliches.»

«Wie lange trieb sie etwa in der Nordsee?», hakte Spandorff nach. «Drei, vier Tage?»

Berschat, der es hasste, im Nachhinein Fehler zugeben zu müssen, weil er sich zu früh auf eine Aussage festgelegt hatte, erwiderte knapp: «Das wäre vermutlich vertretbar. Auch wenn es zunächst nur eine ausgesprochen vorsichtige …»

«… Schätzung ist. Mann, an dem Tag, an dem Sie sich mal festlegen, höre ich auf zu rauchen», kam es pampig von Spandorff.

«Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit», kam es beleidigt zurück.

«Wenn die Kripo so unentschlossen wäre wie ihr Weißkittel, dann würden sämtliche Täter noch frei herumlaufen!» Spandorffs Stimme wurde lauter.

Entschieden ging Tomma dazwischen. «Wir können uns alle etwas Schöneres vorstellen, als uns an diesem nasskalten Septemberabend über eine Wasserleiche zu beugen, aber mit Ihrer Muffeligkeit machen Sie die Situation auch nicht besser!»

Spandorff sagte nichts und starrte wütend aufs Wasser.

«Wie wär’s, wenn Sie noch mal mit den Unglücksraben sprechen, die die Leiche gefunden haben?»

Die beiden Jugendlichen standen noch immer mit zwei Beamten am Ufer, der Junge hatte einen Arm um das Mädchen gelegt und redete beruhigend auf sie ein.

«Die waren einfach zur falschen Zeit am falschen Ort», erwiderte er knapp.

«Das ist zwar korrekt, trotzdem sind noch einige Fragen offen», wies Tomma ihn streng zurecht. «Was hatte der Junge zum Beispiel im Wasser zu suchen? Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das Gespräch nicht alleine den Kollegen überließen, sondern sich einen eigenen Eindruck verschafften.»

Spandorff sah zwar wenig begeistert aus, versenkte dann aber die Hände in den Manteltaschen und entfernte sich. Tomma seufzte. Der letzte Mord lag mehr als zwei Jahre zurück, seitdem hatten sie nur kleinere Fälle gemeinsam bearbeitet. Wohnungseinbrüche oder Raubüberfälle etwa, bei denen sie die Zusammenarbeit auf das Nötigste beschränkt hatten. Bei einem Mordfall war der Raum für Reibereien jedoch deutlich größer. Spandorff und sie gaben nicht nur optisch ein ungleiches Team ab, sondern ermittelten auch grundverschieden. Auf der Polizeiakademie hatte man ihr eingetrichtert, sich intensiv mit dem Team abzustimmen, technisches Know-how für die Ermittlungen zu nutzen, die Akten sorgfältig zu führen und – nicht zuletzt – Hierarchien zu akzeptieren.

Spandorff dagegen war ein introvertierter Sturkopf, der seine Befragungen gerne an Kneipentresen verlegte, Anweisungen nicht so genau nahm, Berichte grundsätzlich zu spät ablieferte und bis vor kurzem nicht mal ein Handy besessen hatte. Rückblickend grenzte es fast an ein Wunder, dass sie den Mord damals aufgeklärt hatten.

«Helfen Sie mir mal», kam es plötzlich von Berschat. Gemeinsam drehten sie den schweren Körper auf die Seite.

Eine ganze Weile sagte er nichts, tastete die Taschen des Oberteils und der Hose ab. Nichts, was ihre Identität verraten würde. Vorsichtig entfernte der Rechtsmediziner Muscheln, Algen und Seetang aus den Haaren und betrachtete die Kopfhaut der Toten. Dann hielt er inne.

Wortlos zeigte er auf den Hinterkopf. «Schauen Sie hier.»

Tomma beugte sich ein Stück nach vorne, der Geruch nach Meerwasser wurde intensiver. Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht, die eine Windböe aus dem Haargummi gelöst hatte.

Berschat zeigte auf ein kreisrundes Loch, um das sich eine gewölbte Kruste gebildet hatte. «Sehen Sie das?»

«Eine Schussverletzung?», fragte Tomma.

«Die Einblutungen sind noch deutlich zu erkennen.»

«Dann ist unser Opfer also durch einen Kopfschuss gestorben?»

Berschat zog die Gummihandschuhe aus und gab zwei jungen Männern ein Zeichen, den Leichnam zur Rechtsmedizin abzutransportieren.

«Es sieht zumindest danach aus.»

Tommas Handy vibrierte, auf dem Display leuchtete eine Nachricht von Jurek. Konzentriert las Tomma die Information und betrachtete das Bild, das er mitgeschickt hatte.

«Es sieht so aus, als hätte unsere Tote einen Namen.»

Donnerstag

Sturm hatte mal wieder alle Register gezogen.

In der Frühbesprechung hatte der Polizeidirektor auf die große Herausforderung des Falls hingewiesen, den Teamgeist der Mordkommission beschworen und seiner Hoffnung Ausdruck verliehen, dass es schon bald erste Ergebnisse geben würde.

Danach hatte er seine Armbanduhr wieder umgelegt, den Verschluss zuschnappen lassen – ein alter Tick von ihm –, die noch träge Runde aufgelöst und sich wegen eines «wichtigen Termins bei Gericht» verabschiedet.

Es war wie immer: Er schwang die Reden, die anderen machten die Arbeit. Ulrich Spandorff warf das Notizbuch auf den Schreibtisch und ließ sich in seinen alten Bürostuhl fallen. Dies war der zweite Fall für die Petersen. Er war gespannt, ob sie etwas dazugelernt hatte.

Für einen kurzen Moment dachte er an seine Überraschung, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Die Chefin besaß zwar einen norddeutschen Nachnamen, war aber mit den pechschwarzen Haaren und den mandelförmigen Augen alles andere als ein typisches Küstengewächs. Er erinnerte sich noch genau an seine Reaktion, als der Polizeidirektor ihm die neue Wunderwaffe vorgestellt hatte: Dieses zarte Persönchen sollte seine Chefin werden und wollte Verbrecher zur Strecke bringen? Sturm wagte es, ihm einen Frischling von der Polizeiakademie vor die Nase zu setzen, ohne jegliche Führungserfahrung? Er gab es nicht gerne zu, aber es war ihm peinlich, nach ihrer Pfeife tanzen zu müssen.

Gedankenverloren legte Spandorff die Füße auf den Tisch. Der Fall war eine echte Herausforderung gewesen. Nach dem Tod eines jungen Fischers hatten sie zunächst am Fedderwardersieler Hafen ermittelt, bevor klar wurde, dass es um mehr ging: um riesige Windparks in der Nordsee, Investoren in Goldgräberstimmung und um Fischer, die sich dagegen zur Wehr setzten, dass ihre Fanggründe den Windparks weichen sollten.

Zugegeben, die Petersen hatte damals den richtigen Riecher gehabt und nicht lockergelassen. Trotzdem sollte er mit seiner ersten Einschätzung über ihre fehlende Erfahrung recht behalten: Nach einem unverantwortlichen Alleingang wäre sie fast so geendet wie ihr neues Opfer am Burhaver Wattensteg.

«Nicola Sencker, siebenunddreißig Jahre alt, etwa eins siebzig groß, wohnhaft in Nordenham.» Die Petersen betrat mit Jurek Pajak im Schlepptau das Büro. Schnell nahm Spandorff die Füße vom Tisch.

«Sie wurde vor vier Tagen vermisst gemeldet von …», sie blätterte in ihren Unterlagen, «… einer Freundin, Chiara Lenhardt.»

Mit einem zackigen Handgriff band sie ihre Haare zusammen und teilte Kopien der Anzeige aus.

«Eigenartig, dass ihre Familie sie nicht zuerst vermisst hat», sagte er.

«Freunde kann man sich aussuchen, Familie nicht», kam es von Jurek.

Spandorff ertappte sich dabei, dass er den Praktikanten aus dem polnischen Swinemünde überrascht anstarrte. Der Kerl war Mitte zwanzig und sah mit seinen tief sitzenden Jeans, den grellen T-Shirts und dem obligatorischen Panamahut so aus, als gehöre er einer Rap-Gruppe an. Aber ab und zu sagte er etwas, bei dem selbst Konfuzius anerkennend genickt hätte. Außerdem konnte er hervorragend mit dem Computer umgehen und war ein Ass in der Online-Recherche. Das war ein Grund gewesen, der die Petersen bewogen hatte, bei Klaus Sturm eine Verlängerung des Praktikums zu erwirken.

«Richtig.» Die Petersen las konzentriert die Anzeige. «Aber Nicola Sencker hat hier vor Ort auch keine Verwandtschaft. Ihre Eltern sind vor einigen Jahren nach Mallorca gezogen, sie wurden bereits benachrichtigt. Ihr Bruder lebt mit seiner Familie in Süddeutschland. Sie ist mit Chiara Lenhardt verabredet gewesen, aber nicht erschienen. Auch auf Lenhardts Anrufe hat sie nicht reagiert.»

«Steht die Identität der Toten eigentlich hundertprozentig fest?», warf Spandorff ein. Er dachte kurz an seine eigene Situation. Seitdem Evelyn bei ihm ausgezogen war und seine Töchter studierten, war er seine eigenen Wege gegangen. Wer würde wohl die Polizei benachrichtigen, wenn ihm etwas zustieße? Womöglich noch die Petersen, die – pflichtbewusst, wie sie ist – bei einem nicht genehmigten Fernbleiben vom Dienst umgehend Meldung erstatten würde. Dieser Gedanke beunruhigte ihn. Vielleicht sollte er sich mal wieder bei Sarah melden. Seine jüngere Tochter hatte sich nach einem missglückten Ausflug in die Welt der Geisteswissenschaften im letzten Jahr für Seeverkehrs- und Hafenwirtschaft in Elsfleth eingeschrieben. Eigentlich eine gute Gelegenheit, häufiger Kontakt zu haben als die vierteljährlichen Telefonate, die zugegebenermaßen nicht mal von ihm, sondern von seiner Tochter ausgingen.

«Laut Berschat steht die Identität fest», erwiderte die Petersen und goss eine grünliche Flüssigkeit aus einer Thermoskanne in einen Becher. «Die Beschreibung und das Foto passen. Außerdem hat sie ein markantes Muttermal an der linken Schläfe. Das DNA-Ergebnis steht zwar noch aus, aber er ist sich sicher. Der Körper war ja nur wenige Tage in der Nordsee, in diesem Zeitraum verändert er sich noch nicht so stark.»

Beziehungsweise das, was vom Körper übrig war, fügte Spandorff in Gedanken hinzu. Für einen kurzen Moment erschienen die Bilder der Fischfraßverletzungen und der abgetrennten Gliedmaßen vor seinem inneren Auge.

«Wir zwei», dabei nickte sie in seine Richtung, «sprechen am besten erst mit Chiara Lenhardt und dann mit Nicola Senckers Arbeitgeber, der …»

«Nordenhamer Hafengesellschaft», kam es von Jurek.

«Genau, der NHG. Du hältst im Büro die Stellung, Jurek. Bitte versuch, so viel wie möglich über die Tote herauszufinden.»

Der Eifer und der Befehlston der Petersen erinnerten Spandorff an den letzten Mordfall. Sie hatte ihn wie ihren Assistenten behandelt, deshalb waren sie mehrfach aneinandergeraten. Er schob die Erinnerungen beiseite und betrachtete das Foto, das Chiara Lenhardt den Beamten überlassen hatte. Es war schwierig, die Frau auf dem Bild mit dem leblosen Körper am Wattensteg in Einklang zu bringen. Die Aufnahme war auf einem Segelboot entstanden. Nicola Sencker strahlte in die Kamera, ihr Gesicht wurde von blonden Locken umrahmt. Die Fassung ihrer großen Sonnenbrille hatte den gleichen blauen Farbton wie die Tasche, die sie in der rechten Hand hielt. Sie trug weiße Jeans, blaue Segelschuhe und einen roten Marken-Anorak.

«Sie war attraktiv», sagte er.

Die Petersen hob überrascht den Kopf, als irritierte es sie, dass er das überhaupt wahrnahm.

«Stimmt», sagte sie dann nachdenklich. «Wo finden wir Chiara Lenhardt?», fragte sie in Jureks Richtung.

«Im Institut für angewandte Ozeanologie», kam es so prompt, als hätte er bereits auf die Frage gewartet. «Das ist in Bremerhaven, direkt an der Weser», erläuterte er, als er ihren fragenden Blick bemerkte. Ein paar Klicks weiter erschien auf seinem Bildschirm eine Karte, und Jurek zeigte der Chefin die Adresse.

«Dann mal los!» Sie schnappte sich Mantel und Tasche. Spandorff griff sich das Notizbuch und nahm seine Jacke vom Haken. Na gut, Frau Hauptkommissarin, dachte er. Zweiter Fall, zweite Chance.

Wenn sie sich jedoch wieder so unmöglich verhalten sollte, würde er ihr eindeutig die Grenzen aufzeigen.

«Du bist spät dran, der Aufsichtsrat wartet!»

Magnus Steffens beobachtete, wie Clemens Unterlagen sortierte, sorgfältig Dokumente mit NHG-Logo in einem Ordner abheftete und ihm schließlich eine ausgedruckte Powerpoint-Präsentation auf den Schreibtisch legte.

Eigentlich schätzte er es, einen Assistenten zu haben, der sich um sämtliche administrativen Abläufe kümmerte. Manchmal wurde er jedoch das Gefühl nicht los, dass Clemens etwas zu bestimmend auftrat.

«Ohne die Geschäftsführung werden sie wohl kaum mit der Sitzung beginnen.»

Clemens klappte seinen Laptop zu. Sein rundes Gesicht sah besorgt aus, die grauen Augen zwinkerten nervös. Clemens war ein kompakter, untersetzter Typ, etwa eins achtzig groß, mit schmalen Schultern und kurzen Beinen, dem die Frauen wahrscheinlich nicht gerade reihenweise zu Füßen lagen. Dennoch legte er Wert auf sein Äußeres: Die aschblonden Haare waren stets gut geschnitten, seine Anzüge saßen wie maßgeschneidert, und die Schuhe trug er glänzend poliert. Clemens ließ den Computer in seiner Aktentasche verschwinden. «Natürlich nicht. Aber Mira ist schon da.»

Selbstverständlich war sie das. Seine ältere Schwester war immer schon da, völlig gleich, wie pünktlich er auf der Matte stand. Das war schon früher so gewesen. Egal, ob es um den Sportunterricht, eine Geburtstagsparty oder – wie jetzt – um eine Aufsichtsratssitzung ging, Mira war zur Stelle. Perfekt vorbereitet, damit sie die Schwachpunkte aufdecken und unbequeme Fragen stellen konnte.

Und das würde sie auch gleich tun, da war er sich sicher.

Magnus zog sein dunkelblaues Sakko an und band sich vor dem Spiegel den Schlips. Ihm gefiel, was er sah: dunkle Haare, graue Schläfen, ein wacher Blick aus grünen Augen. Die Narbe über der rechten Schläfe, die er früher so gehasst hatte, störte ihn mittlerweile nicht mehr. Sie verlieh seinem Gesicht etwas Kantiges. Auch mit seiner Statur hatte er seinen Frieden gemacht. Während er früher in der Schule oft wegen seiner schlaksigen Figur gehänselt worden war, kam es ihm heute zugute. Im Gegensatz zu vielen anderen Männern in den Vierzigern musste er nicht mit einem Bauchansatz kämpfen, sondern passte problemlos in seine Maßanzüge.

«Wie geht’s nach der Sitzung weiter?» Eigentlich interessierte es ihn gar nicht, er stellte die Frage lediglich, um noch etwas Zeit zu gewinnen. Dabei gönnte er sich einen kurzen Blick aus dem Panoramafenster. Im Hafen setzte ein Kran einen Container mit Frachtgut zentimetergenau auf dem Asphalt ab. Ein Gabelstapler fuhr blinkend vorbei, Männer in blauen Anzügen und signalgelben Helmen wuselten umher.

Clemens wischte über sein iPad. «Baubesprechung für die neue Halle um elf Uhr, um zwölf Uhr beginnt die Strategiesitzung und um dreizehn Uhr Mittagessen mit Dr. Schwager im Hotel am Markt. Nachmittags hast du bis fünfzehn Uhr Zeit für Außenbetriebsgespräche, bevor dein Zug nach Hamburg geht. Um siebzehn Uhr dreißig wirst du auf der Konferenz im Maritim erwartet.»

Magnus Steffens schloss die Manschettenknöpfe und beobachtete, wie sich das Rolltor einer Halle öffnete und ein Lastwagen mit massiven Baumstämmen das Hafenareal verließ.

«Übernachte ich dort?»

Clemens schüttelte den Kopf. «Die Vorstandssitzung beginnt morgen schon um neun Uhr, das macht also keinen Sinn.»

Schade, er hätte den Abend gerne mit einem Absacker auf der Reeperbahn beendet. Und vielleicht mit etwas mehr, wie in alten Zeiten.

Magnus Steffens blätterte die Präsentation durch, die er gleich vor dem Aufsichtsrat halten würde. Die Zahlen waren, wie erwartet, nicht gerade rosig. In ein paar Minuten würden die Aufsichtsräte mit sorgenvoller Miene die Gewinnentwicklung verfolgen, Mira würde seine Entscheidungen kritisieren und sich mit einem eloquenten Vortrag für die Position der alleinigen Geschäftsführerin empfehlen, und er würde auf die schwierige Konjunktur und die dringend notwendigen Investitionen verweisen.

Als Umschlagunternehmen bot die NHG Hafendienstleistungen von A bis Z an. Um erfolgreich zu sein, mussten jedoch erst mal genügend Güter produziert werden, um sie anschließend quer über den Erdball zum Kunden bringen zu können. Das bedeutete: Knickte die Industrie ein, dann strauchelte auch die NHG. Wenn man sich dann noch mit einigen zusätzlichen Investitionen verhoben hatte, so wie in seinem Fall, konnte das schnell zu ernsten Engpässen führen.

Bisher hatte Clemens es in den Büchern kaschieren können, und zwar ohne dass Mira darüber gestolpert wäre. Aber die Wirtschaft erholte sich seit der Krise nur langsam, die Akquise verlief weiterhin schleppend. Er brauchte frische Aufträge mit ordentlichen Gewinnspannen, und zwar bald. Magnus Steffens ließ den glatten Stoff der Krawatte durch seine Finger gleiten und zog sorgfältig den Knoten fest.

Noch vor kurzem hatte ihm allein der Gedanke an die nächste Aufsichtsratssitzung Schweißperlen auf die Stirn getrieben. Seitdem er wusste, dass sich die Situation in den nächsten Monaten stetig verbessern würde, war das anders. Und bis dahin würde er die Runde mit ein paar Marketingoffensiven hinhalten. Ein paar bunte Organigramme und ein schicker, moderner Stand auf der nächsten Logistikmesse – er würde die Herrenrunde gleich locker um den Finger wickeln.

«Frau Sencker ist übrigens noch nicht da», sagte Clemens.

Mit einem Ruck drehte Magnus Steffens sich zu seinem Assistenten um. «Sie ist heute noch gar nicht ins Büro gekommen?»

«Nein. Die Personalabteilung sagt, dass sie die ganze Woche nicht erschienen ist und sich auch nicht abgemeldet hat.»

«Warum erfahre ich denn davon nichts?», polterte er übertrieben laut.

Eine leichte Röte kroch über das Gesicht seines Assistenten. «Du bist erst gestern aus München zurückgekommen und hattest auch nicht nach ihr gefragt.» Sein Tonfall klang entschuldigend.

Auf Magnus’ Stirn bildete sich ein dünner Schweißfilm. Es entstand eine Pause, die beiden Männer sahen sich an.

«Soll ich sie noch mal anrufen?» Clemens’ Gesicht war immer noch gerötet. Er war ein fleißiger Kerl und war einen rauen Tonfall nicht gewohnt, da es in der Regel keinen Anlass für Kritik gab.

Magnus Steffens schüttelte den Kopf. «Sie wird schon auftauchen.»

Er schnappte sich seine Unterlagen und nickte Clemens zu, gemeinsam verließen sie das Büro.

Fast im Gleichschritt gingen sie durch den langen Gang zum Konferenzzimmer, aus dem das Geklapper von Kaffeetassen und gedämpftes Stimmengemurmel zu hören waren. Davor hingen Porträts der ehemaligen Geschäftsführer, die den Wohlstand der Nordenhamer Hafengesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten begründet hatten. Während des Booms der achtziger und neunziger Jahre war das auch kein großes Kunststück gewesen, dachte Magnus Steffens. Seit der Jahrtausendwende wurde die Konkurrenz jedoch immer stärker und der Kuchen kleiner, da musste man auch schon mal unkonventionelle Wege gehen, um Kurs zu halten.

Ganz am Ende der Galerie war noch Platz, hier würde einmal das Porträt des derzeitigen Firmenchefs hängen. Er hatte nicht vor, sich diesen Platz mit seiner Schwester zu teilen.

Clemens zog die Tür zu, während Magnus Steffens die Runde begrüßte und die Situation mit dem üblichen Small Talk auflockerte.

Lauernd sah Mira ihn an, die dunkelrot geschminkten Lippen fest aufeinandergepresst. «Wo bleibt denn Frau Sencker?», fragte sie so laut, dass es jeder mitbekommen haben musste.

«Ich gehe davon aus, dass sie gleich dazukommen wird.» Magnus Steffens rückte seinen Schlips zurecht und gab Clemens ein Zeichen, die Powerpoint-Präsentation zu starten. «In der Zwischenzeit werde ich einen kurzen Ausblick auf die anstehenden Entwicklungen geben.»

Während seines Vortrags, der so reserviert aufgenommen wurde wie erwartet, war er unkonzentrierter als gewöhnlich. Immer wieder fiel sein Blick auf den Platz, den Nicola in den vergangenen Monaten eingenommen hatte und der nun unbesetzt blieb.

Der leere Stuhl erinnerte ihn an etwas, das er eigentlich lieber vergessen wollte.

Konzentriert befestigte Chiara Lenhardt den Plastikschlauch, der das Glasgefäß blubbernd mit gefiltertem Nordseewasser versorgte, und schloss sorgfältig die Abdeckung. Wie schwerelos schwammen die dunklen Algen in der Flüssigkeit. Filigran und fast schön.

Sie verglich Größe und Struktur der Pflanzen in den verschiedenen Gläsern und notierte die Beobachtungen.