Seelenheimat Wangerooge - Andrea Mayer - E-Book

Seelenheimat Wangerooge E-Book

Andrea Mayer

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Beschreibung

Im Jahr 1980 zieht die Autorin mit ihrer Familie für zwei Jahre auf die Insel Wangerooge. Hier findet sie, gerade einmal zwölf Jahre alt, am Strand drei alte, bemalte Scherben und einen Ring aus Ton. Diese besonderen Fundstücke weisen ihr vierzig Jahre später, in einer fast schon mystischen Art und Weise, den Weg zurück auf die Insel, zurück zu sich selbst und zurück zu ihrer Seele. Wie ein roter Faden führen diese alten Strandfunde die Leser*innen durch diese außergewöhnliche Lebensgeschichte. Und so reisen Sie in diesem Buch gleich mehrmals auf die Insel Wangerooge. Sie reisen mit der Autorin, nicht nur in die touristische Gegenwart, sondern begleiten sie darüber hinaus auf ihrer ganz individuellen Seelenreise, die sie mit Hilfe von Krafttieren, ihren Ahnen aus dem alten Inseldorf und vielen schamanischen Ritualen, immer wieder zurück nach Wangerooge führt. Und sie tauchen ein in die Vergangenheit des alten, versunkenen Inseldorfes (1609-1638) und lernen dort, in drei historischen Geschichten, nicht nur den alten Seeturm, sondern auch die Weberin Aalke und ihren Sohn Jelde kennen. Hier schließt sich letztendlich der Kreis, indem auf magische Art und Weise, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verwoben werden. Genauso, wie es aus der alten nordischen Mythologie überliefert ist.

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Widmung

Dieses Buch widme ich meinem Vater, denn ohne ihn

wäre es nie entstanden

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Zurück nach`Wangerooge´

Mein erstes Tagebuch

Krafttier Spatz

Einmal Insel und zurück

Die Geschichte der Scherben

`Wangerooge´ im Sommer 2021

Zu Besuch bei Andreas Wesemann

Das traumatisierte kleine Mädchen

Die Beobachterin

Eine mögliche Erklärung zu den Scherben

Der Spinnwirtel

Weihnachten und Silvester auf `Wangerooge´

Die Heilerin

Die `Randdüne´ am ersten Weihnachtstag

Der Steinbock, stur und standhaft?

Die Chronik der Insel `Wangerooge´

Die Schreibende - Die Berichtende

Die Liebende

Die Fürsorgliche

Die Vertrauende

Silvester

Die Abreise

Das alte Westdorf, das neue Westdorf und die drei Türme

Das Feuerritual

Die Empfindsame und die Hochsensible

Die Schamanin

Krafttier Eule

Zwischenwelt – Eine Seelenreise ins Nichts

Ostara - Ein Frühlingsritual

Der Auftrag - Die Scherbe zurückgeben

In die Tiefe des Wassers blicken

`Wangerooge´ im Sommer 2022

Das Ritual - Die Scherbe zurückgeben

Die drei blauen Bänder

Die Begegnung mit einer Robbe

Die Robbe als Krafttier

Abschied und Rückreise

Die Weberin und der Brand im Seeturm, 1630

Die Weberin und der fremde Gast, 1609

Die Weberin und das Gewand des Lebens, 1638

Weihnachten und Silvester auf `Wangerooge´

Danksagung

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Die Autorin

„Das Hintergrundradio“- kurz vorgestellt

„Das Hintergrundradio“- die Einleitung

Einleitung

Mit zwölf Jahren, im Jahr 1980, betrete ich zum ersten Mal die Insel `Wangerooge´. Meine Seelenheimat, wie ich dieses kleine Fleckchen Erde in der Nordsee später liebevoll nennen werde. Das weiß ich damals natürlich noch nicht. Aber dass es sich hier um einen ganz besonderen Ort handelt, an dem ich mich sehr wohlfühlen werde, der so ganz anders ist als das kleine Dorf meiner Kindheit, das ahne ich irgendwie doch schon, als wir ein paar Monate vor unserem eigentlichen Umzug auf die Insel alles zum ersten Mal in Augenschein nehmen. Die Entscheidung meiner Familie steht fest. Wir werden am 21. Juli 1980 nach `Wangerooge´ ziehen. Im Nachhinein wundere ich mich oft darüber, dass mir der Abschied vom Ort meiner Kindheit so rein gar nichts ausmacht, während der Umzug weg von der Insel zwei Jahre später schier mein Herz zerreißt. Dieser Schmerz ist es dann auch, der mich mein Leben lang begleiteten wird, jeder Abschied, jeder Verlust ist immer wieder davon geprägt. Jahrelang meide ich später daher diese Insel, nur um genau diesem Schmerz zu entkommen. Aber was entgeht mir durch solch eine Vermeidungstaktik wohl sonst noch so alles in meinem Leben? Nirgendwo schaffe ich es, diese alte, tiefliegende Wunde zu heilen. Keine Therapie, keine Methode, ob Meditation, Selbsthilfegruppen, ob Kinesiologie oder Bachblüten oder Hypnose, nichts hilft mir wirklich. Und auch während einer Reha nach meinem Burnout mit Ende vierzig schaffe ich es nicht, wirkliche Heilung zu finden. Ja, mir ist zum Schluss nicht einmal mehr bewusst, dass ich diese tiefe Verletzung meiner Seele noch immer in mir trage.

Bis sich eines Tages im Mai 2019 alles für mich ändert. Am 29. Mai 2019 begegne ich Jochen. Uns verbindet eine tiefe Seelenliebe, die sofort beim ersten Zusammentreffen in einer Oldenburger Kneipe für beide spürbar ist und die weit über ein Leben hinausreicht. Darüber schreibe ich ausführlich in meinem ersten Buch:

„Das Hintergrundradio, eine Dualseelengeschichte“,

Es wird im September 2021 veröffentlicht. Die Begegnung mit Jochen hat sozusagen alles in mir freigelegt, was bis dahin noch im Verborgenen schlummerte. Durch ihn bin ich ohne Vorwarnung direkt wieder hineinkatapultiert worden in diesen unbeschreiblichen Schmerz. Er hat ihn für mich erlebbar und wieder spürbar gemacht. Auflösen muss ich ihn nun allein.

Deswegen schreibe ich dieses Buch. Man kann es vollkommen losgelöst vom „Hintergrundradio“ lesen. Man kann es aber auch als Fortsetzung betrachten oder als eine Entwicklung, die mit Jochen ihren Anfang nahm. Deswegen wird in diesem Buch immer mal wieder sein Name auftauchen. Jochen, meine Seelenliebe, mein Seelengefährte über etliche gelebte Leben, wie ich heute weiß. Auch Freerk, mein geliebter Mann, taucht in beiden Büchern auf. Und natürlich Andreas Wesemann, der Vollzeitschamane aus `Ritterhude´, der mich ein gutes Stück auf dem Weg meiner Seelenheilung begleitet hat.

Den Anstoß, überhaupt wieder nach `Wangerooge´ zurückzukehren, gab mir aber Uwe Feitisch in einem Zoom-Coaching zum Thema Dualseelen mit der Frage:

„Da ist doch noch etwas, Andrea? Irgendwo in deiner Kindheit oder im Jugendalter. Manchmal ist das gar nichts Großes. Was kann das denn sein?“

So in etwa hat er mich gefragt. Und sofort war `Wangerooge´ in meinem Kopf. Meine Jugendzeit auf der Insel und dieser Schmerz. Meine Intuition, die sich seit der Begegnung mit Jochen immer klarer und deutlicher in mir zeigt, hat mich sofort und ohne Umwege dorthin zurückgeführt. Damit war das Coaching für mich erst einmal beendet. Kurz darauf entstand die Geschichte „Einmal Insel und zurück“, die ich auch schon im „Hintergrundradio“ veröffentlicht habe.

Ich nehme sie wegen ihrer Schlüsselrolle in dieses Buch noch einmal mit auf. Den Umzug nach `Wangerooge´ selber konnte ich anhand von meinen allerersten Tagebucheinträgen aus dem Jahr 1980 bildhaft für mich rekonstruieren. Ich erinnere mich tatsächlich noch sehr gut an jedes einzelne Detail aus dieser Zeit. Und dann geht es los mit meinen Geschichten rund um diese wunderbare Insel.

Ich habe mit dreizehn Jahren dort am Strand drei Scherben und einen Ring aus Ton gefunden. Mit dreiundfünfzig Jahren komme ich wieder zurück auf die Insel, ich unternehme schamanische Reisen und entdecke mich und `Wangerooge´ ganz neu. Ich schaffe es, meine Seele hier zu heilen. Die einzelnen Schritte dorthin schreibe ich nun im Folgenden auf.

Ich lade Sie in diesem Buch herzlich dazu ein, mich auf mehrere, sehr unterschiedliche Reisen auf die Insel `Wangerooge´ zu begleiten. Es geht in meine eigene Vergangenheit, genauso aber auch in das alte, versunkene Westdorf der Insel, es geht zu einer Weberin in das Jahr 1630. Und es geht auf eine ganz besondere Reise in die Tiefe meiner Seele, begleitet von Krafttieren, meinen Ahnen aus dem alten `Wangerooge´ und natürlich begleitet von Andreas Wesemann, dem Vollzeitschamanen aus `Ritterhude´.

Um das fließende Lesen nicht zu unterbrechen, wird an vielen Stellen auf die gleichzeitige Verwendung männlicher, weiblicher und diverser Sprachformen verzichtet. Alle Personenbezeichnungen gelten aber gleichermaßen für alle heute bekannten Geschlechter. Es werden auch Hinweise auf Internetseiten, Bücher, Berater und Autoren gegeben. Für den Inhalt und die Richtigkeit dieser Seiten, Texte und Werke übernehme ich keine Verantwortung.

Andrea Mayer, 2023 ©Copyright 2023, Texte und Abbildungen in diesem Buch sind urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, einschließlich der Vervielfältigung, Veröffentlichung, Bearbeitung und Übersetzung bleiben der Autorin Andrea Mayer vorbehalten.

Zurück nach `Wangerooge´ (im Sommer 2021)

Die Inselbahn pfeift, als sie durch das Deichschart rollt. Das altbekannte Signal. Ich bin wieder hier. Wir schreiben heute den 16. August 2021, vierzig Jahre sind nun ziemlich genau vergangen seit ich im Alter von vierzehn Jahren diesen mir so wertvollen Ort verlassen musste. Ob wohl noch etwas so ist, wie es damals war? Das Haus, in dem wir gewohnt haben? Die Inselschule? Die Läden entlang der `Zedeliusstraße´? Ja, natürlich war ich hin und wieder noch mal auf der Insel. Am Anfang sogar immer in den Ferien. Später dann seltener, mal mit einer Freundin, mal mit meiner Mutter. Jahrzehntelang aber dann überhaupt nicht mehr. Der letzte Besuch hier war 2009 mit meinem Mann Freerk, nachdem mein Vater gestorben war und ich mich noch einmal bewusst mit dem Ort meiner Jugend beschäftigen wollte. Aber um mich zu erholen, um das Meer und die Weite der Nordsee zu genießen, bin ich dann doch lieber nach `Spiekeroog´ gefahren, um nicht immer wieder mit meiner schmerzhaften Vergangenheit konfrontiert zu werden.

Die neue Besucherlenkung am Bahnhof irritiert mich etwas, als ich aus der Inselbahn steige. Aber wir leben eben in den Zeiten einer Pandemie. Auch hier herrscht noch Maskenpflicht, genauso wie auf der Fähre und in den Wagons. Ich bin froh, dass ich überhaupt reisen kann, deswegen macht mir das alles nichts aus. Jetzt geht es erst einmal über den Bahnsteig, links ab bis zum Gemeindehaus, um den kleinen Park herum und zurück zum Bahnhofsvorplatz, wo die Koffer in den Containern schon auf die Urlauber warten. “Jedenfalls das gibt es noch.“, denke ich, während sich hier im Getümmel an- und abreisende Gäste erneut wieder vermischen. Alle suchen ihre Taschen, manche haben sich die Nummer des Containers nicht gemerkt, in dem ihr Gepäck verstaut ist. „Selber Schuld“, denke ich. Meine Tasche liegt in der Nummer neununddreißig, ganz oben. Obwohl ich sie in `Harlesiel´ extra ganz unten reingeschoben habe. Egal. Gepäck schnappen und zur anderen Seite des Platzes wieder raus. Besucherlenkung.

Und los geht es zum Haus `Randdüne´, keine fünfhundert Meter vom Bahnhof entfernt. Es ist gerade trocken. Den ganzen Vormittag über hat es so stark geregnet, dass ich auf der Fähre nicht einmal oben an Deck bleiben konnte, obwohl ich es dort draußen so sehr liebe. Das ist selten vorgekommen in all den Jahren, wenn ich mich so zurück erinnere. Meine kleine Ferienwohnung kann ich leider erst am Nachmittag ab vierzehn Uhr beziehen, also das Gepäck im Flur des Hauses abstellen, Regenhose überziehen und los geht’s. Die `Zedeliusstraße´ hoch, links am `Pudding´ vorbei und einen Blick auf die Strandpromenade Nummer fünfzehn werfen. Hier habe ich einmal gelebt. Damals, von 1980 bis 1982. Im Alter von zwölf Jahren bin ich hier zusammen mit meinen Eltern und Geschwistern eingezogen. Ich sehe mir das Haus von außen nun genauer an und kann verstehen, dass einige Menschen heute dafür sind, es abzureißen. Es ist in die Jahre gekommen und sieht wirklich schäbig aus. Genau wie das Haus `Monopol´ links daneben. Rechts, wo früher der Minigolfplatz war, steht dagegen ein schickes neues Apartmenthotel. Und so reiht sich hier alt und neu nebeneinander auf, die ganze Strandpromenade entlang.

Und wieder prasselt ein Regenschauer auf mich nieder, dieses Mal begleitet von heftigen Sturmböen. Wo soll ich nur hin? Ob es den alten Lesesaal in der Kurverwaltung noch gibt? Den überdachten Gang von der Nummer fünfzehn bis zum Bürogebäude gibt es, dank des neuen Apartmenthotels, jedenfalls jetzt nicht mehr. Und so flitze ich, um nicht allzu nass zu werden, schnell unter die Überdachung vor der Kurbeitragsstelle. „Ja, einige Gebäude stehen dort tatsächlich noch, zwar auch alles alt, aber immerhin noch da.“, denke ich. Der kleine Kursaal und - ein Glück, auch der Lesesaal sind noch da. Das Meerwasseraquarium in der Eingangshalle, das ich damals so sehr geliebt habe, gibt es leider nicht mehr. Das Foto meines Vaters hängt noch an der Wand, zeitlich eingereiht in die Fotogalerie aller Kurdirektor*innen und Bürgermeister*innen, die die Insel je gesehen hat. Ich bleibe kurz davor stehen, sehe ihm in die Augen und öffne dann leise die Tür zum Lesesaal.

Hier herrscht eine himmlische Ruhe, es gibt sogar ein gemütliches Sofa. Da haue ich mich erst mal hin. Puh, ich lebe noch. Seit ein Uhr bin ich auf den Beinen. So aufgeregt war ich in der letzten Nacht, dass ich kaum geschlafen habe. Nicht nur, dass ich seit über zwanzig Jahren wieder alleine hierher reisen wollte, nein, auch, dass ich nun all die alten Geschichten meiner Jugend mit zeitlichem Abstand aus einer ganz anderen Perspektive betrachten kann, kommt wohl dazu. Ein Mann sitzt am Tisch und liest in Ruhe seine Zeitung. Es ist ein unausgesprochenes Gesetz, dass hier Ruhe herrscht, war schon immer so. Schön, dass das heute noch so ist. Wer telefonieren will, geht raus.

Ich merke plötzlich, wie müde ich bin, sehe kurz auf mein Telefon und wähle mich in das freie WLAN der Kurverwaltung ein. Ich strecke mich etwas auf dem Sofa aus und schließe kurz die Augen…

…meine Gedanken wandern wie automatisch zurück in das Jahr 1980, meine Zeit damals hier auf der Insel. Der Umzug, die Inselschule, meine kleine Welt davor und nach der Zeit auf `Wangerooge´. Ich frage mich gerade, wo eigentlich das kleine braune Tagebuch abgeblieben ist…als, Peng, da knallt doch jemand die Tür zu. Ich muss wohl kurz eingedöst sein, denke ich, als ich auf meine Uhr sehe. Kurz ist gut. Eine ganze Stunde habe ich tief und fest geschlafen und ich habe geträumt. Kein richtiger Traum, nein, ein wildes Sammelsurium von Bildern, die wie Wolken im Sturm durcheinander fliegen….

Mein erstes Tagebuch (geschrieben im Sommer 1980)

Abbildung 1

Mein erstes Tagebuch ist ganz klein und es ist braun. Ein gemaltes Bild von einem kleinen Mädchen in einem gelben Kleid ist vorne drauf und ein Schriftzug „ Five-Year Diary“. Ich finde es in einem Stapel von alten Notizbüchern wieder, als ich später zu Hause danach suche. Erstaunlich ist, dass es nur Einträge über einen kurzen Zeitraum von ungefähr sechs Wochen gibt. Die Wochen rund um den Umzug zur Insel. Davor und danach, nichts. Nur leere Seiten.

Es hat vorgedruckte Spalten auf den einzelnen Blättern, die von einem erwarten, dass man über fünf Jahre jeden Tag ein paar Notizen niederschreibt. Man kann es mit einem winzig kleinen Schlüssel abschließen und das ist auch gut so. Im Sommer 1980 bekomme ich es von einer Schulfreundin zum Abschied geschenkt. Ein paar Wochen bevor ich mit meiner Familie auf die Insel `Wangerooge´ umziehe. Auf die erste Seite schreibt sie ein paar Zeilen für mich:

„Jeden Monat ein Brief, ab und zu ein Telefonanruf, Wiedersehen jedes Jahr am 06. September und am 11. Januar“

Das sind unsere Geburtstage. Faszinierend, so etwas hatte ich bis dahin noch nie. Ein Tagebuch. Einige Menschen machen das wohl: „Schreiben.“ Menschen, die etwas Besonderes erleben, die etwas zu berichten haben, aber ich? Was sollte ich da schon groß aufschreiben? Ich versuche es trotzdem. Und so bekomme ich zum ersten Mal im Leben ein vages Gefühl davon, was für eine Erleichterung es mit sich bringen kann, die unzähligen Gedanken aus meinem Kopf heraus auf Papier zu bringen. Dass dieses Büchlein ein Schloss und einen Schlüssel hat, ist wohl ausschlaggebend dafür, dass ich sehr vorsichtig und kleinschrittig überhaupt mit dem Schreiben anfange. Denn niemand darf zu diesem Zeitpunkt wissen oder erfahren, was in meinem Kopf wirklich vorgeht. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass es richtig und wichtig ist, die eigenen Gedanken und Gefühle wegzuschließen. Ich schreibe meine Gedanken auch damals noch gar nicht wirklich auf, sondern dokumentiere immer nur ein paar Tageserlebnisse.

Diese kleinen Sätze bringen mir aber glücklicherweise im Jahr 2022, beim Schreiben dieser Zeilen hier, meine Erinnerung an die besonderen Tage vor, während und nach dem Umzug zurück. Alles ist noch glasklar in meinem Kopf vorhanden. Und so wie der kleine Schlüssel das Büchlein öffnet, öffnen die Wörter darin eine Tür, durch die ich zurück in den Sommer 1980 reisen und alles noch einmal genau nachempfinden kann…

12.07.1980

Heute Abend gibt mein Bruder seine Abschiedsparty. Er hat vor der Garage ein großes Zelt aufgebaut. Mitfeiern soll ich nicht, was mich sehr ärgert. Ich verstehe einfach nicht, warum ich das mit zwölf Jahren nicht darf. Er hat aus unseren Gartentischen eine Theke aufgebaut, die Getränke sind schon da, auch Alkohol ist dabei. Warum er das jetzt auf einmal darf? Das möchte ich gerne verstehen, wo es sonst bei dem Thema doch immer riesigen Ärger gibt, weil er ja auch erst siebzehn ist. Er hat seine Musikanlage in der Garage aufgebaut und probiert nun gerade die Lichtorgel dazu aus. Endlich kann er das Ding mal zum Einsatz bringen. Es wird eine aufregende Sache. Es kommen auch Mädchen, die er kennt. Es wird wohl so ähnlich wie eine Disco werden, denke ich. Am liebsten möchte ich mich heute Abend rausschleichen und heimlich alles beobachten, wenn ich schon nicht mitfeiern darf. Ich bin mal wieder zu jung für so etwas, sagen sie. Wenn ich ein paar Jahre älter bin, kann ich das auch machen. Heute ist es seine Party. Opa regt sich jetzt schon auf, wegen der lauten Musik, obwohl die Party noch gar nicht angefangen hat. Das stört ihn, sagt er. Auch, dass so viele Jugendliche kommen und Alkohol trinken werden, warum eigentlich? Er könnte es meinem Bruder ja einfach gönnen, dass alle seine Freunde heute noch einmal zu Besuch kommen werden. Morgen wird er schließlich wegziehen, als erster aus unserer Familie. Oder besser gesagt, als Zweiter. Papa ist ja schon auf `Wangerooge´ und arbeitet dort als Kurdirektor. Er wohnt in einer kleinen Wohnung in der Kurverwaltung, bis wir kommen.

13.07.1980

Heute zieht mein Bruder nach `Wangerooge´. Weil er dort übermorgen schon seine neue Lehrstelle anfängt. Als Einzelhandelskaufmann in einem Inselladen an der `Zedeliusstraße´, wo es Strandspielzeug, Lenkdrachen, Zeitschriften und alles Mögliche gibt. Er schläft erst mal mit in der kleinen Wohnung bei Papa. Wenn wir dann da sind und auch die Möbel, werden wir alle wieder zusammen im Haus wohnen.

Die Party gestern war tatsächlich sehr laut. Es gab Riesenärger mit Opa. Papa ist irgendwann rüber zu denen und es gab richtig Streit. Aber sie durften weiterfeiern. Einige waren sogar besoffen. Aber niemand hat deswegen geschimpft. Nur Opa regt sich darüber auf. Nach dem Aufräumen sind Papa und mein Bruder dann losgefahren nach `Harlesiel´. Sie fliegen rüber auf die Insel. Unsere Fische aus den Aquarien haben sie schon mitgenommen. In Plastiktüten. Hoffentlich haben die genug Sauerstoff da drin. Im neuen Haus steht schon ein Aquarium, da kommen alle Fische sofort rein, wenn sie da sind.

Eben hat mein Bruder angerufen. Zwei sind totgegangen. Ich bin sehr traurig deswegen. Die Autofahrt, der Flug, das ist einfach zu viel für Zierfische, aber was soll man machen. Es geht nicht anders. Wir müssen alle da hin.

16.07.1980

Heute war die Abschiedsparty meiner Klasse bei Sandra im Partykeller. Das war sehr langweilig. Ich war nur vier von acht Stunden da. Vorgestern haben wir dort alles geschmückt, deswegen hatte ich mich sehr gefreut, weil es ja mein letzter Tag mit denen war. Aber niemand hat mir richtig Tschüs gesagt, als ich nach Hause wollte. Ich glaube, die haben einfach vergessen, dass wir wegziehen. Jetzt werden sie sich wundern, wenn ich nach den Sommerferien nicht mehr wieder komme.

18.07.1980

Ich habe gestern angefangen meine Spielsachen und Bücher in Umzugskartons zu packen. Aber nicht alles. Heute Morgen kam nämlich ein Container für den Müll und für alle Sachen, die wir nicht mitnehmen wollen. Der steht jetzt auf dem Feld gegenüber, wo die Jungs sonst Fußball spielen. Ich habe schon sehr viel hineingeworfen. Spielsachen für Kleinkinder und meine beiden alten Tornister mit den Schulbüchern und Heften aus der Grundschule. Die standen noch auf dem Dachboden. Das braucht doch keine Mensch mehr, was man da so geschrieben hat. Auf `Wangerooge´ kriege ich sowieso alles für die Schule neu.

Auch die Tonnen aus dem Spielzimmer haben wir da rein geworfen. Die großen mit den Holzklötzen und einige kleine mit alten Autos und Puppensachen. Mama sagt, wir haben viel zu viel. Das gelbe Planschbecken mit den fünf Ringen können wir auch nicht mitnehmen. Papa sagt, das brauchen wir nicht mehr, wir können im Meer schwimmen.

Am Anfang konnte man in den orangen Container reinlaufen und alles hinten hinlegen, später hat Mama die Tür vorn zugemacht und wir haben alles über die Seitenwand geschmissen. Jetzt ist er bis oben voll. Oma und Opa haben auch etwas von ihrem Dachboden dazugetan. Jetzt werfen die Nachbarn noch was rein. Dann kommt gleich der LKW und holt die Sachen ab. Ich verstehe nicht, warum Oma ständig weint.

19.07.1980

Die Umzugsfirma ist da. Sie packen alle zerbrechlichen Sachen sicher ein. Es ist sehr langweilig für mich, weil alles schon verpackt ist, was ich sonst so habe. Die Möbelpacker sitzen gerade in der Garage an den Gartentischen und essen etwas. Die Tische bekommen dann Oma und Opa. Jetzt kommen sie wieder rein und wollen noch das ganze Geschirr aus dem Wohnzimmer einpacken. Es ist jetzt sehr merkwürdig im ganzen Haus.

20.07.1980

Heute haben wir uns überall bei den Nachbarn hier verabschiedet, weil wir morgen ja umziehen müssen. Ein komisches Gefühl ist das.

21.07.1980

Endlich! Heute ist unser offizieller Umzug nach `Wangerooge´. Wir fliegen auch mit dem Flugzeug rüber. Papa ist gestern noch gekommen, damit wir zusammen nach Harlesiel fahren können. Oma weint wieder so doll, als wir losfahren. Sie steht mit Opa auf der Auffahrt und winkt, als wir im Auto sitzen und los müssen. Ich bin sehr aufgeregt und freue mich. Warum freut Oma sich nicht? Bald werden sie uns doch besuchen kommen. Das weiß ich.

22.07.1980

Die ersten Container mit unseren Sachen sind hier auf der Insel angekommen. Es wurde erst einmal alles wild durcheinander in das neue Haus gestellt, wegen dem schlechten Wetter. Wir schlafen jetzt alle erst einmal in der kleinen Wohnung, weil unsere Betten noch nicht im Haus sind. Die Küche ist aber schon eingebaut und wir konnten da frühstücken und Mittagessen. Die neuen Wohnzimmermöbel sind auch schon da.

23.07.1980

Heute wurden die restlichen Möbel endlich aufgebaut. Dann haben wir alles eingeräumt und das erste Mal hier geschlafen. Das rote Licht vom neuen Leuchtturm im Westen scheint alle fünf Sekunden in mein Zimmer. Das ist sehr ungewohnt. In meinem Zimmer hört man das Meer rauschen. Ich war auch schon draußen am Strand auf den Buhnen, aber noch nicht im Wasser zum Baden.

24.07.1980

Alle zukünftigen Nachbarn sind zu Besuch gekommen und haben einen Kranz zur Begrüßung vor unsere Tür gebunden. Es ist fast genauso wie in Kayhausen. Alle bekommen Schnaps und es wird gesungen, wenn sie besoffen sind. Einer kann sogar Ziehharmonika spielen. Seine Lieder gehen alle um alte Seefahrer und Piraten. Das finde ich sehr schön. Die Texte kann ich jetzt schon mitsingen.

25.07.1980

Jetzt habe ich endlich mein Aquarium hier aufgebaut, morgen können dann die Fische rein. Am Nachmittag waren mein Bruder und ich im Meer Schwimmen. Die Badezone ist ja direkt vor unserem Haus am Strand. Wir brauchen nur die Treppe zur unteren Strandpromenade runter zu gehen. Dort steht auch unser Strandkorb. Er ist weiß und gehört dem Kurdirektor.

26.07.1980

Ich muss jetzt neun Briefe an meine Brieffreundinnen schreiben. Heute habe ich schon vier geschafft. Es ist ja wichtig, dass sie wissen, was ich hier so mache. Morgen schreibe ich die anderen fünf und dann bringe ich sie alle zur Post. Man kann hier überall zu Fuß hingehen, wenn man etwas kaufen möchte. Die Post ist nur zwei Straßen weiter. Das neue Briefpapier von Oma ist sehr schön.

28.07.1980

Heute habe ich einen fast zahmen Spatzen in unserem Garten gefunden und ihm Futter und Wasser hinter einen Busch gestellt. Er ist sofort dorthin gehüpft und hat alles aufgefressen. Ich habe dann noch lange mit ihm geredet und er hat mir zugehört. Ich habe ihm alles über den Umzug erzählt, über die langweilige Party und dass Oma so viel geweint hat. Er hat das alles verstanden und er möchte nun erst einmal mein Freund sein. Jedenfalls solange, bis ich welche in der neuen Schule gefunden habe.

Krafttier Spatz

Von Krafttieren und deren Bedeutung als Seelenbegleiter ahne ich natürlich mit zwölf Jahren, gerade auf `Wangerooge´ angekommen, noch gar nichts. Aber wie man sieht, sie kommen und helfen, auch ohne dass man etwas darüber weiß. Als ich nun heute im Jahr 2022 diese Zeilen über den Spatzen aus dem alten Tagebuch abschreibe, sehe ich ihn in einem ganz anderen Licht und in ganz anderen Zusammenhängen. Ich erinnere mich beim Schreiben noch genau an das geborgene Gefühl, das er damals in mir ausgelöst hat. Ich brauchte unbedingt einen Freund, einen, mit dem ich all das, was da passierte, besprechen konnte. Und er war da, einfach da und er hörte mir zu. In mir beruhigte sich etwas durch dieses Tier. Heute, wo ich mich ein wenig besser mit Seelenhelfern, auch in Form von Tieren auskenne, bedeutet der Spatz für mich folgendes:

Der Spatz symbolisiert Antriebskraft, Genauigkeit, aber auch Freiheit im Innen und Außen. Licht und Helligkeit macht sich breit, überall dort, wo er auftaucht. Tore werden geöffnet, die schon lange darauf warten, geöffnet zu werden. Der Vogel ist ein Symbol für Freundschaft und Schutz, Einfachheit und Gemeinschaft. Spatzen fühlen sich in großen Gruppen sicher, so beschützen sie ihre Jungen. Das Verhalten eines Spatzen kann das Verhalten in der eigenen Familie darstellen. Er ist Symbol für die Selbstliebe, aber auch für harte Arbeit an sich selbst. Ein Spatz bedeutet, dass man sehr intensiv für seine Ziele arbeiten muss. (Internetfund: Krafttier Spatz: PLATZ für das Unbekannte - Kathrin Sieder)

Auch als Zeichen für Kreativität ist er wohlbekannt. Man braucht keine großen Dinge um glücklich zu sein im Leben, das zeigt dieser kleine Vogel. Es reicht, Austausch, Kommunikation, Lebensfreude und Wohlbefinden zu erlangen. Der Spatz schützt dich vor dem Alleinsein. Die Geselligkeit wird durch ihn gefördert. Geheimnisse können bei ihm ausgesprochen werden. Bei ihm ist alles sicher aufgehoben.

In der griechischen Mythologie ist er ein Wesen, das das Rätsel des Lebens kennt und den Menschen aus dem Reich des Lebens in das Reich des Todes begleitet.

Für mich war dieser kleine Vogel damals nur ein wichtiger Freund. Er brachte aber meiner Seele bestimmt schon wichtige Botschaften, die mein Leben, meinen Weg zur Insel, von dort weg und den Weg zurück in meine Seelenheimat widerspiegeln, wie ich heute in der Rückschau finde. Sind doch Kreativität, Einfachheit, Fragen nach Leben und Tod, aber auch Gemeinschaft und Familienthemen immer in meinem Leben präsent gewesen. …und weiter im Tagebuch…

29.07.1980

Zwischen unserem Haus, der `Oberen Strandpromenade´ fünfzehn und der Kurverwaltung ist ein Minigolfplatz. Heute war ich das erste Mal dort. Hundertfünfunddreißig Versuche auf achtzehn Bahnen. Die letzte habe ich ausgelassen, zu schwer.

02.08.1980

Ich finde es gemein, dass meine Sommerferien so kurz sind. Nur drei Wochen. Hier hat man vier Wochen Sommer- und vier Wochen Herbstferien. Ganz anders als bei uns. Das wusste ich vorher nicht. Mama sagt, die Leute arbeiten hier alle in der Saison und können dann im Herbst selber in den Urlaub fahren.

05.08.1980

Beim Baden waren sehr hohe Wellen, aber es war auch ganz schön kalter Wind. Mir macht das nichts aus, es ist toll. Wir haben schon eine Radtour gemacht, zum Westen und zum Osten. Wenn ich mich langweile, spiele ich Minigolf oder gehe ins Freibad. Es gibt auch eine Tischtennishalle. Wir kommen überall mit der Ehrenkurkarte des Kurdirektors umsonst rein.

09.08.1980

Morgen ist der letzte Ferientag. Ich habe etwas Angst vor der neuen Schule. Wir treffen uns heute mit einer Familie zum Strandspaziergang. Die Tochter von denen ist in meiner neuen Klasse.

11.08.1980

Mein erster Schultag auf `Wangerooge´. Die Mädchen meiner Klasse sind alle ganz nett. Von außen habe ich die Schule schon vorher gesehen. Ein alter Klinkerbau, einer von den Kasernenhäusern in der `Charlottenstraße´. Mama ist mitgekommen, heute Morgen. Zuerst mussten wir in das Sekretariat, zum Anmelden. Da war auch Frau Dreisel, meine neue Klassenlehrerin. Als wir wieder raus kamen, stand da ein Mädchen im Flur, die Klassensprecherin. Die wollte mich abholen. Sie scheint ganz nett zu sein. In meiner Klasse sind vierzehn Schüler, Realschüler und Gymnasiasten zusammen. Der Unterricht ist für alle gleich. Aber die Noten sind für die Gymnasiasten strenger. Die müssen auch Latein und Französisch machen. Ich mache nur Französisch.

12.08.1980

Ich hatte heute meine erste Französischstunde. Wenn die anderen Latein haben, haben wir Freistunden. In der Zeit kann ich mit dem Rad nach Hause fahren. Es dauert nur fünf Minuten von uns bis zur Schule. Der Hinweg ist noch schneller, weil es nur bergab geht.

20.08.1980

Heute habe ich, wie jeden Montag, Nachmittagsunterricht und viel Schularbeiten auf. Nach dem Mittagessen muss ich dann sofort wieder los und zur Sporthalle beim Flugplatz fahren. Da müssen wir immer nur Handball spielen, weil die Tochter vom Sportlehrer Profi werden soll und in einer Liga am Festland mitspielt. Ich kann gar kein Handball. Das hatten wir nie, deswegen nervt es mich ziemlich. Heute mussten wir aber auf den Sportplatz an der `Straße zum Osten´, wegen Leichtathletik. Noch schlimmer als Handball. Zum Glück kam Seenebel auf. Der Nebel wird dann so dicht, dass der Sportlehrer uns am anderen Ende vom Platz nicht mehr sehen kann. Die Flugzeuge dürfen auch nicht mehr fliegen, zu gefährlich.

Mittwoch habe ich auch am Nachmittag Unterricht. Die Musik-AG. Der Musiklehrer wirkt wie ein alter, zerstreuter Professor. Ständig vergisst er alles. Der Unterricht beginnt erst um siebzehn Uhr ganz oben in der alten Aula im Dachgeschoss der Schule. Ich spiele da Blockflöte. Es ist mein erstes Instrument. Alle spielen verschiedene Instrumente. Singen müssen aber alle. Mittwoch ist hier hausaufgabenfreier Tag, weil wir ja auch Nachmittagsunterricht haben.

21.08.1980