Das Hintergrundradio - Andrea Mayer - E-Book

Das Hintergrundradio E-Book

Andrea Mayer

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Beschreibung

Im Mai 2019 treffen Jochen und Anna "zufällig" in einer Kneipe aufeinander. Zwei hochsensible, alte Seelen, die sehr schnell ihre tiefe Seelenverbundenheit zueinander erkennen. Durch tiefgreifend schöne, aber auch sehr schmerzvolle Momente werden sie daraufhin schonungslos mit all ihren ungelösten Lebensthemen konfrontiert. Aus einer Eingebung heraus schreibt Anna ihre Geschichte chronologisch anhand des WhatsApp Chats der Beiden nieder. In Zeitsprüngen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die weit über ein Leben hinausreichen, erfährt man neben der Geschichte als solche, Vieles über Hochsensibilität, Dualseelen, Traumdeutung, Heilkunde und über Erd- und Naturverbundenheit im weitesten Sinne. Abgerundet durch Annas Träume und Visionen, Rückblicke in ihr bisheriges Leben und ihre gedankliche Aufarbeitung in Form eines Tagebuchs, formt sich für den Leser und die Leserin ein Bild dessen, wie Anna das erste gemeinsame Jahr mit Jochen erlebt und verarbeitet hat.

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Widmung

dieses Buch widme ich Jochen, denn ohne ihn wäre es nie entstanden

Es gab Dinge, die ich nicht sagen,

sondern nur schreiben konnte.

Denn wenn ich redete, dann dachte ich

und wenn ich schrieb,

dann fühlte ich.

(Benedict Wells)

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Das Ende zuerst

Mai 2019

Anna und Jochen, die erste Begegnung

Die gemeinsame Reise beginnt

Juni 2019

Die Todesanzeige, ein Traum vom Tod

Das Treffen am Hafen

Die Magie der Nachtkerze

Umzug und Schulwechsel

Die Bachblütentherapie

Juli 2019

Auf der Insel Poel

Ich liebe dich

Der Rutengänger

Umzug nach Hause

Jochens erster Besuch

Rückschau: Die Todesstrafe

August 2019

Die Trauerfeier

Verbunden im Schlaf

Jochens zweiter Besuch

September 2019

Dualseelen, Wachstum und Liebe

Die Geschichte der Heilerin

Ein Spaziergang im Schlosspark

Rückzug und Annäherung, Dualität beginnt

Oktober 2019

Farbe in den Tag bringen: Die Traumdeutung der Senoi

Einmal Insel und zurück

Rückzug und Annäherung, so geht es weiter

Ein Tag an der Küste

Der Schamane

Rückzug und Annäherung, die Fortsetzung

Die Party der alten Freunde

Die Schwimmerin

Rückzug und Annäherung, im Kreis drehen

November 2019

Jochens letzter Besuch

Die Abwärtsspirale

Dezember 2019

Am Tiefpunkt

Ein Rückblick: Der Behinderte

Januar 2020

Die Reise

Ein magischer Moment

Der Anfang vom Ende

Februar 2020

Traumruf

Herzschmerz

Ich werde immer da sein

Die Englandreise

März 2020

Traumblick in die Zukunft

Das Ende

Nachwort

Danksagung

Literaturverzeichnis

Die Autorin

Einleitung

Dies ist die Geschichte von Jochen und Anna. Die beiden sind Dualseelen, und die beiden sind hochsensible Personen (HSP). Als sie im Mai 2019 vollkommen unerwartet, ungebremst und mit voller Wucht aufeinander treffen, ahnt niemand, was diese wunderbare Begegnung in der Zukunft für beide bewegen und verändern wird.

Offen und ehrlich erzählt Anna hier ihre Geschichte. Es geht um ihre Sichtweise der Dinge, um ihr Erleben und um ihre Gefühle. Alles, was man dabei über Jochen erfährt, ist entstanden aus ihrem Blickwinkel. Wie er diese Zeit erlebt, kann man als Leser oder Leserin nur erahnen. Vielleicht genauso? Wahrscheinlich aber ganz anders. Ist er doch Annas Dualseele und damit komplett gegensätzlich in der Realität eingebettet als sie.

Wenn mich heute jemand fragt, was eine Dualseele ist, lautet die Antwort: „Stelle es dir vor wie ein Hintergrundradio. Es wird eingeschaltet, du kannst es aber nie wieder ausschalten. Du kannst lernen, es lauter oder leiser zu drehen, das ist aber nicht ganz einfach. Manchmal stehst du davor, es laufen tolle Songs und du tanzt vor Freude. Und manchmal könntest du das Ding an die Wand pfeffern, weil es nur Mist von sich gibt. Das machst du in solchen Momenten auch, aber es geht nie kaputt. Es läuft immer weiter. Es bleibt da. Für immer. Und es sind immer genau die Themen im Programm, mit denen du eigentlich gar nichts zu tun haben möchtest. Du hörst sie dir an und wenn du schlau bist, setzt du dich mit ihnen auseinander. Sonst wird dieses Radio sie solange wiederholen bis du verstanden hast, um was es geht.“

Es geht in dieser Geschichte um Liebe, aber wer jetzt hier eine romantische Lovestory erwartet, liegt falsch. Wenn Dualseelen aufeinander treffen, geht es zwar immer um sehr tiefe Emotionen füreinander, es geht aber hauptsächlich darum, dass jeder der beiden dem anderen den Spiegel vor die Nase hält.

Der eine ist genau das, was der andere nicht ist. Ohne Vorwarnung werden Jochen und Anna mit all ihren ungelösten Lebensthemen konfrontiert, die bisher noch irgendwo unter der Oberfläche verborgen liegen. Eine nicht ganz einfache aber extrem lehrreiche Reise beginnt.

Um das fließende Lesen nicht zu unterbrechen, wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher, weiblicher und diverser Sprachformen verzichtet. Alle Personenbezeichnungen gelten aber gleichermaßen für alle heute bekannten Geschlechter.

In diesem Buch werden der Vollständigkeit halber in einigen Kapiteln alternative Heilmethoden von mir beschrieben. Die Informationen darüber spiegeln mein persönliches Wissen wieder. Nichts davon erhebt den Anspruch auf Allgemeingültigkeit, Richtigkeit oder Vollständigkeit. Keine der vorgestellten Methoden ersetzt daher den Besuch bei einem Arzt, Heilpraktiker oder Psychologen.

Es werden auch Hinweise auf Internetseiten, Bücher und Autoren gegeben. Für den Inhalt und die Richtigkeit dieser Seiten, Texte und Werke übernehme ich keine Verantwortung.

Andrea Mayer, 2022

©Copyright 2022, dieser Text ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte, einschließlich der Vervielfältigung, Veröffentlichung, Bearbeitung und Übersetzung bleiben der Autorin Andrea Mayer vorbehalten.

Das Ende zuerst, 14.03.2020

Hallo Anna,

ich möchte dich bitten, unsere Geschichte nicht mit meiner Familie zu verbinden. Unsere Kinder sollten sich darin nicht wiederfinden. Ebenso die Orte des Geschehens oder unsere Berufe. Ich sehe viele Gemeinsamkeiten unserer Lebensgeschichten, aber ich glaube nicht, dass wir Seelenpartner sind. Ich möchte den Kontakt jetzt zu dir abbrechen. Ich werde nach dieser Nachricht deinen WhatsApp Kontakt löschen. Es tut mir leid, dass es so kommen musste, aber ich möchte auch keine weiteren Nachrichten von dir erhalten. Wir leben in dieser Welt jeder für sich selber. Wir müssen lernen mit unseren Verletzungen, Gedanken und Gefühlen umzugehen. Sich selber anzunehmen ist dabei der erste Schritt. Diesen habe ich, bevor ich dich kennengelernt habe, nicht getan. Ich habe mit dir meine Vergangenheit gespiegelt. Es war nicht richtig. Es war auch keine richtige Freundschaft. Daher bitte ich dich nochmals, unsere Geschichte nicht zu veröffentlichen, oder zumindest so, dass meine Familie sich darin nicht wiederfindet.

Viele Grüße,

Jochen 10:23

Anna und Jochen, die erste Begegnung, 29.05.2019

Ich habe keine Ahnung, ob es richtig ist heute zum HSP Stammtisch zu gehen. Ich möchte Kontakt zu anderen hochsensiblen Menschen finden. Aber meine Erfahrung zeigt, dass zu diesem Treffen häufig Menschen kommen, die keine hochsensiblen Personen sind. Das macht es schwierig für mich, mit Gleichgesinnten in Kontakt zu kommen. Woran das liegt?

Die traumatisierte Vergangenheit eines Menschen kann zu einer überhöhten Wahrnehmung führen, die aber nicht angeboren und somit keine Hochsensibilität im herkömmlichen Sinne darstellt. Dieses Phänomen nennt man Hypervigilanz, die oft in Begleitung einer posttraumatischen Belastungsstörung auftritt. „Hochsensibel“ ist mittlerweile zu einen Modebegriff geworden, oft genutzt von Menschen mit psychischen Problemen aller Art, die bei ihren Internetrecherchen auf das Thema HSP stoßen und sich darin wiederfinden. Ihre erworbene Empfindlichkeit wird dort genau beschrieben und sie bestehen jeden der vielen HSP Tests im Netz. Es gibt aber einen gravierenden Unterschied zwischen ihnen und den echten HSP, die, so wie sie sind, geboren werden und deren Fähigkeiten in der Regel von Generation zu Generation vererbt werden. So, wie es bei mir ist.

Man unterscheidet Hochsensible Personen in zwei Gruppen: die introvertierten und die kleinere Gruppe der extrovertierten Menschen. Mittlerweile glaube ich, dass zu einem Stammtisch in einer Kneipe hauptsächlich die extrovertierten Vertreter dieser Spezies auftauchen. Während die eher in sich gekehrten Menschen in Ruhe zu Hause bleiben. Vielleicht ist auch das der Grund, dass ich hier so selten auf echte Gleichgesinnte treffe. Ich selber bezeichne mich eher als introvertiert. Ich empfinde so einen Kneipenbesuch als sehr anstrengend, gehe aber immer mal wieder hin, um Menschen zu treffen, die ähnlich ticken wie ich.

Hochsensibilität ist eine angeborene Disposition des Nervensystems und führt zu einer erhöhten Aufnahmefähigkeit von Reizen und einer längeren, aber auch gründlicheren Verarbeitungszeit derselben im Gehirn. Von Hochsensibilität spricht man, wenn es um den Einfluss äußerer Reize geht, wie z.B. Geräusche, Gerüche, Licht, Temperatur und Berührung. Geht es um die erhöhte Wahrnehmung von inneren Reizen, wie Stimmungen, Gefühle, Erinnerungen und Ahnungen bei Anderen, aber auch bei sich selber, spricht man von Hochsensitivität. Durch diese Wahrnehmung entsteht ein sehr feines Gespür für die psychische und physische Verfassung anderer Menschen, was man wiederum als Empathie bezeichnet. Bei mir sind alle drei Eigenschaften überdurchschnittlich gut ausgeprägt. Ich habe mich damit oft anders gefühlt als andere Menschen und lange nicht verstanden, warum nicht alle so ticken wie ich. Es war mir aber auch schon immer bewusst, dass ich dadurch eine besondere innere Stärke besitze, die mein Leben insgesamt viel ausgefüllter und intensiver werden lässt als das von Normalsensiblen. Dieses Wissen war schon lange in mir, lange bevor ich überhaupt das erste Mal von HSP gehört habe.

HSP sind nicht krank, sie haben kein Problem, sie sind kein Problem, sie sind einfach wie sie sind und brauchen daher auch keine ärztliche Diagnose. Sie leben und reagieren so, wie es für sie selber richtig ist. Sie haben ein großes Ruhebedürfnis, um zu verarbeiten und gehen diesem auch gerne nach. Sie meiden nach Möglichkeit belastende Situationen oder sorgen für Ausgleich. Sie sind gern allein, mit sich und der Natur, auch schon als Kind. Um zu erkennen, ob eine Person wirklich zu den hochsensiblen Menschen gehört, müssen im Prinzip diverse psychische Erkrankungen und Traumata erst einmal aufgelöst werden, um danach zu sehen, was von der erhöhten Sensibilität und Sensitivität tatsächlich noch übrig bleibt. Menschen mit Hypervigilanz versuchen der Überlastung durch Reizüberflutung eher mit erhöhter Aktivität oder mit Betäubung durch Sucht zu begegnen, was natürlich vollkommen kontraproduktiv ist.

Ein echter HSP dagegen spürt instinktiv genau, was für ihn gut und richtig ist und würde nie seine Gesundheit, die von Natur aus sehr robust ist, durch ungesundes Handeln auf's Spiel setzen.

Egal, wie es auch immer ist, heute Abend kommt Gesa zum Stammtisch und das reicht mir. Ich muss es nur hinbekommen, auch neben ihr zu sitzen, sonst kann es anstrengend für mich werden. So wie beim letzten Mal, als diese eine Frau mich den ganzen Abend mit ihren, in meinen Augen, unwichtigen Themen belästigt hat und ich den Absprung nicht geschafft habe. Auch sie war keine HSP im herkömmlichen Sinne. Gesa hat das gespürt und den Monolog einfach unterbrochen. Das war meine Rettung.

Ich stelle mein Rad vor der Kneipe ab und sie kommt auch gerade um die Ecke geradelt, heute ganz in Rot. Begrüßung, Hallo, Umarmung und sofort sind wir in ein Thema vertieft, ohne Smalltalk am Anfang, ohne das Wetter zu besprechen, ohne verbale Aufwärmphase geht es sofort zum Wesentlichen und ab in die Tiefe. Es geht darum wie es uns wirklich geht, was wirklich anliegt. Egal wie lange wir uns nicht gesehen oder geschrieben haben, wir steigen sofort tief in ein Thema ein. Das ist super, ich liebe solche Menschen, ich hasse Smalltalk. Im Prinzip ist das sogar ein essentielles Merkmal von echten HSP. So kann man die unechten ganz schnell von den echten unterscheiden. Wir gehen rein, eine typische Studentenkneipe dieser norddeutschen Kleinstadt, in der ich seit über dreißig Jahren lebe. Aber in dem für uns reservierten Raum werden gerade Musikinstrumente und Verstärker aufgebaut. Hier soll wohl ein Konzert stattfinden. Morgen ist ja Feiertag. Andere Stammtischleute sind weit und breit nicht zu sehen.

„Hallo, seid ihr die Hochsensiblen?“, fragt da auf einmal jemand von hinten. „Ja, sind wir“, sage ich. „Wieso, sieht man das?“, fragt Gesa. „Ja, das sieht man euch irgendwie an“, antwortet Jochen. „Auch kein großer Vorspann“, denke ich, „ der ist wohl echt“. Er sieht sehr nett aus, ein warmes Gefühl breitet sich in mir aus.

Der reservierte Tisch ist nicht da, also setzen wir uns nach draußen, an diesem warmen Frühlingsabend. Ich sitze auf einer Bank, sehr unbequem, Gesa und Jochen mir gegenüber. Jetzt sehe ich ihn zum ersten Mal richtig an. Die Augen, seine Augen kommen mir bekannt vor. Wie kann das sein? Gesa fragt nach unserer Wohnung. Ja, das Haus haben wir, zum Glück, denn da wo Freerk und ich jetzt wohnen ist es die Hölle auf Erden. Es geht aber nur kurz um mein Thema. Es wird bestellt, Getränke kommen, dann lenkt Gesa zu Jochen. Sie hat so eine geniale Art die Menschen auszufragen, ohne dabei von sich zu erzählen. Man hat die ganze Zeit das Gefühl, dass sie ein Gespräch mit einem führt, aber am Ende stellt man fest, dass man gar nichts über sie weiß. Möchte sie auch nicht, sie möchte etwas vom Gegenüber erfahren. Ich kenne das schon, nehme mich zurück und lausche, was Jochen so von sich erzählt:

Er kommt aus einem Dorf nahe der Küste und ist heute mit dem Zug hier. Zusammen mit seiner Tochter, die in der Stadt unterwegs ist. Er hat drei Kinder, zwei Söhne und eine Tochter. Genauso wie bei meiner eigenen Geschwisterkonstellation ist die Tochter in der Mitte, Sandwichkind, ein Sohn ist fünf Jahre älter, der andere acht Jahre jünger. Jochen arbeitet als Controller in einer Rehaklinik und ist verheiratet, aber nicht wirklich glücklich. Er hat Probleme mit seiner Frau, sie haben sich gerade getrennt. Es sprudelt nur so aus ihm heraus, Gesa braucht nicht viel zu fragen, aber sie lenkt, weil sie bestimmte Infos haben will. Zehn Jahre lang hat er sich um Haushalt und Kinder gekümmert, damit seine Frau Karriere machen konnte. Jetzt leitet sie die Klinik, in der beide arbeiten. Für mich sieht es so aus, wie ein klassischer Fall von Ehekrise, der oft vorkommt, wenn die Kinder erwachsen werden. Jahrelang hetzten solche Paare durch ihr Leben, organisieren die Familie und ihren Alltag und wenn diese sich langsam auflöst und die Kinder aus dem Haus gehen, stellen sie fest, dass nichts mehr übrig ist von dem, was sie einst verbunden hat. Nur, dass er als Mann hier die typische Rolle einer Frau einnimmt.

Im Laufe des Gesprächs stellen Jochen und ich immer mehr Ähnlichkeiten zwischen uns fest. Wir waren beide in einer psychosomatischen Reha. Für ihn der Auslöser dafür, sich überhaupt einmal mit sich selber auseinanderzusetzen. Für mich die Regeneration nach einem beruflichen Zusammenbruch. Wir sprechen über Ängste, sein Hauptthema. Um den Stress loszuwerden läuft er viel, genauso wie ich. Er kann sogar während seiner Arbeitszeit laufen gehen, darum beneide ich ihn. Er kann echte von unechten HSPs unterscheiden und spürt sofort, wenn jemand lügt. Im Laufe des Gesprächs klatschen wir immer mal wieder mit den Händen ab, weil ständig Parallelen in unseren Lebenswegen auftauchen. Es wird schon fast etwas unheimlich. Viele Erlebnisse sind haargenau gleich. Gefühle, die er beschreibt, kenne ich wie meine eigenen und es kommt mir vor, als wäre da zeitgleich zu meinem Leben eine ganz ähnliche Geschichte passiert. Zwei Schulwechsel in der Kindheit, absolut traumatisch für ihn.

In der dritten Klasse kommt Jochen in eine neue katholische Grundschule. Der Wechsel ist für ihn ein Schock, ein Kulturschock, wie er es nennt. Er erzählt, dass dort am ersten Schultag nach dem Sportunterricht alle Kinder zusammen duschen mussten. Ihn trifft das vollkommen unvorbereitet. Verängstigt und irritiert fügt er sich ein. Jemand von den Mitschülern leiht ihm ein Handtuch. Sonst hilft ihm niemand, keine Lehrer, keine Eltern. Er ist mit seinen Ängsten vollkommen allein. Er erzählt, dass er nie wirklich gesehen wurde, dass es egal war, was er gemacht hat als Kind, ihn sieht niemand, ihn nimmt niemand wirklich wahr. Mir fällt meine letzte Fortbildung wieder ein: „Alles Verhalten von Kindern begründet sich darauf, dazu zu gehören und beachtet zu werden, im Positiven genauso wie im Negativen. Auch durch negatives Verhalten bekommen Kinder Aufmerksamkeit und das ist oftmals besser als gar nichts zu bekommen. Man konnte nachweisen, dass Kinderseelen den größten Schaden nehmen, wenn sie gar keine Beachtung bekommen. Das ist noch schlimmer als Missbrauch und Gewalt“.

Ich sehe ihm in die Augen und ich sehe Tränen, die aufsteigen, aber nicht rauskommen wollen, er unterdrückt sie. Ich habe den Nagel wohl auf den Kopf getroffen, eine ganz tiefe Wunde erwischt und offen gelegt. Im selben Moment bereue ich das schon. Ich bin oft zu direkt und das dann schonungslos und schnell. Wir reden weiter. Viele Geschichten, die ich kenne und nachspüren kann. Grundschule, Dusche… es kommt mir alles so bekannt vor. Ich überlege die ganze Zeit: „Woher kenne ich den bloß“? Es liegt mir auf der Zunge, zum Greifen nahe aber es fällt mir einfach nicht ein. Es fällt mir noch nicht ein…

Ich lausche seinen Worten, erzähle von mir, sogar Gesa erzählt etwas von sich….dann der Break. Oh Gott, was soll das denn jetzt? Eine Frau setzt sich zu uns an den Tisch. Sie sucht den Stammtisch für Hochsensible. Ja, das sind wir im Prinzip, aber eigentlich sind wir Drei schon auf einer ganz anderen Ebene unterwegs. Sie redet irgendwas von YouTube Filmen, die man unbedingt gesehen haben sollte, über Narzissten und deren ungesunde Beziehungen. Sie redet über Co-Abhängigkeit und über einen Bauernhof, wo sie am Nachmittag war. Sie redet und redet, aber noch schlimmer…sie versucht über banale, blöde Anmache mit Jochen Kontakt aufzunehmen. Was passiert da gerade mit mir? Ich werde innerlich sauer, das ist meiner, so geht das nicht. Aber es passiert trotzdem. Ich ziehe mich zurück, von ihm, von der Ebene, auf der wir gerade noch waren. Die Frau ist anstrengend. Sie ist nicht echt. Sie ist keine echte HSP. Jochen springt aber nicht auf sie an und dann geht sie. Sie spürt, dass da etwas Besonderes im Gange ist, wo sie gerade keine Chance hat reinzukommen. Dann ist sie weg, zum Glück.

Sofort geht es wieder zurück in unsere besondere Parallelwelt. Nichts ist verloren. Wir reden viel über HSP und obwohl Jochen sich noch nicht allzu lange mit diesen Dingen beschäftigt, hat er Gedankengänge, die meine sein könnten. Ich folge ihm mühelos in die Tiefe. Es ist unglaublich schön, so wie irgendwo ankommen.

Jahrelang schon laufe ich mit dem Gefühl durch die Welt, nicht verstanden zu werden. Selbst im Umgang mit sehr reflektierten Menschen oder auch HSP, die mir ja im Denken sehr ähnlich sind, habe ich das oft. Hier nicht, bei ihm nicht. Nur ein tiefes Verstehen.

Was sind HSP? Und warum sind sie? Sie waren in früheren Zeiten Heilerinnen und Schamanen. Sie waren Berater und Wegweiserinnen für Menschen, für Gruppen, für Dörfer oder Lebensgemeinschaften. Sie waren Geschichtenerzählerinnen, die das Leben für alle verständlicher gemacht haben. Dafür wurden sie geachtet und sie waren angesehen in der Gesellschaft. Ihr Lebensunterhalt war durch dieses Tun gesichert. Dadurch waren sie frei, frei im Denken, frei, sich ihrer Gedankenwelt hinzugeben und diese der Welt mitzuteilen, so dass ein geordnetes, harmonisches Leben aller stattfinden konnte. Davon sind wir heute natürlich weit entfernt. Es geht ständig darum, die eigene Existenz zu sichern und die Kräfte dafür einzuteilen. Die Grenzen auszuloten, schnell sein, alles aufnehmen, analysieren, reagieren und am Ende oft nicht die Möglichkeit zum Verarbeiten und zum Regenerieren zu haben, es fehlt die Zeit, alle gesammelten Informationen abzuspeichern. Die üblichen Probleme der HSP. Hören, sehen, spüren, schmecken, riechen, alles verstärkt, alles extrem, im Positiven genauso wie im Negativen. Ich bin Heilpraktikerin und suche immer noch meinen Platz. Jochen glaubt, dass er so etwas wie ein Schamane ist oder war, aber auch er weiß nicht, wie und wo er diese Aufgabe im Hier und Heute erfüllen soll. Gesa spürt die ganze Zeit schon diese besondere Parallelwelt zwischen uns, hält sich aber zurück. Als Jochen mit dem Schamanen anfängt, kann sie nicht mehr. Ich habe davon ja auch schon öfter gesprochen. Genau so, genau wie er. „Ich bin jetzt raus aus der Nummer. Das ist deiner“, sagt sie. „Meiner?“, denke ich, was soll das denn jetzt? Ich bin noch weit entfernt vom Verstehen. Ich bekomme gerade das erste Teil vom großen Puzzle in die Hand, ohne eine Vorstellung vom fertigen Bild zu haben.

Es ist spät geworden, so spät, dass Jochen zum letzten Zug los muss. Er geht in die Kneipe zum Bezahlen. „Was war das denn?“, fragt Gesa perplex. „Ich kenne den, irgendwoher kenne ich den. Er ist ein Schamane. Ich muss unbedingt seine Telefonnummer haben. Den kann ich jetzt nicht einfach so gehen lassen“. Er kommt wieder nach draußen, wir tauschen Handynummern aus und er läuft los.

Ich sehe ihm nach, so wie ich ihm schon oft nachgesehen habe und so wie ich ihm noch oft hinterhersehen werde, wenn er immer wieder geht. Aber davon weiß ich jetzt bewusst noch nichts.

An diesem Abend sitzen wir noch lange zu zweit vor der Kneipe zusammen und reden über diese sonderbare und zugleich wunderbare Begegnung. Was wir noch nicht wissen; heute wurde der Stecker in die Steckdose gesteckt. Das Hintergrundradio ist an und ab heute läuft es ohne Pause, mal laut, mal leise, es ist immer da.

Die gemeinsame Reise beginnt, 30.05.2019

Wie fange ich so einen neuen Kontakt jetzt am besten an? Immer die gleichen Schwierigkeiten bei mir. Ich bin nicht so spontan wie andere Menschen, ich überlege sehr viel, oft zu viel. Typisch HSP eben. Ich denke hin, ich denke her, ich wäge jedes einzelne Für und Wider gegeneinander ab. Und oft genug war es in meinem Leben schon so, dass ich am Ende gar nichts gemacht habe. Ich möchte aber eigentlich immer alles und zwar jetzt und sofort. Warum soll ich mich mit einer vorsichtigen Kennlernphase aufhalten, wenn ich auch gleich durchstarten könnte? Geduld war noch nie meine Stärke. Ich weiß zwar noch nicht genau, wer Jochen ist und warum er mir so vertraut erscheint, aber eins steht fest. Er ist ein Mann und da kann ich nicht einfach so mit der Tür ins Haus fallen. Klar, WhatsApp, damit kommuniziert er, wie ich sehe. Einfach losschreiben und ab in die Offensive. Aber was schreibe ich? Nicht zu viel, nicht zu wenig. Das Wesentliche sollte drin sein. Die Tiefe der Begegnung, die Besonderheit, die es für mich ist. Auf gar keinen Fall Smalltalk. Er ist ja auch HSP, sagt er. Nicht zu aufdringlich, aber ehrliches, tiefes Interesse von mir muss erkennbar sein. Oh Gott ist das schwer. War sein Name Jochen? Ich würde ihn unter tausenden von Menschen sofort wiedererkennen, aber Namen merken ist nicht so meine Stärke. Das Gefühl ist heute immer noch genauso intensiv da wie gestern Abend. Was ist das? Wer ist er? Ich möchte es herausfinden. Also los:

Hallo Jochen,

Begegnungen wie unsere sind, selbst bei HSP-Treffen, schon sehr besonders. Bisher habe ich das nur mit Gesa erlebt. Ich würde mich freuen, wenn wir in Kontakt bleiben, damit die Seele hin und wieder den Input bekommt, den sie so dringend braucht. Ich wünsche Dir viel Kraft und Energie für den Weg, den Du jetzt gehst.

LG, Anna 16:02

Hallo Anna,

schön, von dir zu hören. Ich würde mich freuen, mit euch in Kontakt zu bleiben. Die Idee mit dem Spaziergang finde ich gut . Das Gespräch zeigt mir, wie wichtig es ist, sich auszutauschen.

LG, Jochen 18:13

Aha, schon zwei Stunden später ist eine Antwort da. Das beruhigt mich, einerseits, und wühlt mich unglaublich auf, andererseits. Unsere Begegnung ist ihm also nicht gleichgültig. Aber was bedeutet das „euch“ in seiner Nachricht? Bin ich wichtig? Oder ist Gesa wichtig? Oder beide? Ist er einfach froh ein paar Gleichgesinnte getroffen zu haben? Spaziergang? Ach ja, das hatte ich schon fast wieder vergessen. Ich habe gestern Abend darüber gesprochen, dass ich einen monatlichen, meditativen Spaziergang für HSP anbieten möchte. Es gibt viele Introvertierte, denen ist es in der Kneipe zu laut. Und es gibt viele, so wie ich, die brauchen am Abend danach noch lange, um wieder runterzufahren und das Erlebte vor dem Schlafen zu sortieren und abzuspeichern, damit das Schlafen auch funktioniert. Da ist es schwierig am Abend noch unterwegs zu sein und neuen Input zu bekommen, wenn man am nächsten Morgen ausgeruht in den neuen Tag starten möchte. Ich mache das nur noch selten und nur dann, wenn ich am nächsten Tag frei habe, so wie heute. Der Austausch ist ihm wichtig. Das lässt hoffen, dass es weitergehen könnte.

Und jetzt? Was mache ich jetzt? Er stellt keine Frage, auf die ich antworten könnte. Es gibt nichts, worauf ich reagieren könnte. Ich spüre aber, dass da etwas Wichtiges drinsteckt, etwas, dass er nicht aufschreibt. Es ist schwer greifbar für mich. Ich weiß, dass ich eine gewisse Hellfühligkeit besitze, die oft so weit geht, dass ich Dinge über das Internet erspüren kann.

Das ist im Grunde nichts Ungewöhnliches, wenn man sehr feinfühlig ist. Handelt es sich beim Internet doch um Energiekanäle, um Wellen und Frequenzen, die durch die Gegend gesendet werden, ja einfach gesprochen, es sind Kanäle, die ich mitbenutzen kann, auf die ich aufspringen kann. Ich kann das nicht unbedingt steuern, es passiert einfach.

Dieser Mensch, dieser Mann beschäftigt mich ab jetzt Tag und Nacht. Ich denke über ihn nach, über unsere Begegnung, über den Schamanen in ihm, über mich und… ich komme nicht weiter. Ich könnte ja mal recherchieren. Vorname, Klinik, das ist doch schon mal was. Aha, es gibt sogar Bilder. Wenn man sich die Infos im Netz so ansieht würde man nie so eine alte Seele hinter dieser Person vermuten. Gesa bringt mich per WhatsApp auf die Idee doch auch mal die Ehefrau zu googeln. Die kann ich mir aber schon jetzt nicht mehr unvoreingenommen ansehen. Es gibt Bilder, es gibt einen Lebenslauf, es passt alles zu dem, was Jochen über sie erzählt hat. Irgendwie tut es mir sehr leid, dass er mit dieser Gefühlskälte leben und klar kommen muss. Muss er das? Er könnte ja gehen. Ich spüre, dass das eine andere Welt ist, in der er da lebt, die mir unheimlich ist und der ich mich nicht wirklich gewachsen fühle. Es sind diffuse Gefühle in mir, im Vordergrund steht aber im Moment noch die magische Anziehungskraft, die Jochen auf mich ausstrahlt, und der ich mich nicht entziehen kann.

Vier Tage halte ich das so aus, dann schreibe ich ihm wieder. Ich komme nur im Kontakt weiter. Ich suche einen Grund um zu schreiben. Freerk, mein Mann, und ich waren im Museum. Das ist doch ein Aufhänger. „Die Stille im Lärm der Zeit“ heißt die Ausstellung. Der Titel hat mich regelrecht angezogen. Stille ist lebenswichtig für mich. Ohne absolute Ruhe und Stille kann ich mich nicht regenerieren. Ich habe sie schon lange nicht mehr und meine Kraftreserven gehen so langsam zu Ende. Die vorige Wohnung haben wir nach eineinhalb Jahren verlassen, weil sie mir zu laut war und in der jetzigen ist es noch schlimmer. Es ist die Hölle auf Erden.

Jeden Tag Lärm, laute Musik von Leuten mit denen kein Austausch, keine Ebene der Kommunikation möglich ist. Aber das ist bald zu Ende. Wir haben ein Haus gefunden. Es ist wie für uns gemacht und es fühlt sich richtig an, endlich, nach zwei Jahren, in denen wir kein wirkliches Zuhause hatten. Aber wird es das jetzt sein? Wie sind da die Nachbarn? Wie laut ist es dort? Wie fühle ich mich da? Ist diese Entscheidung jetzt richtig? Die beiden letzten Wohnungen waren nicht richtig. Und wenn ich ehrlich bin, traue ich meiner Intuition nicht mehr wirklich. Wie konnte es mich so täuschen? Geht es jetzt endlich nach Hause?

03.06.2019

Hallo Jochen,

wir waren am Wochenende in einer Ausstellung. „Stille im Lärm der Zeit“. Das Thema ist genau das richtige für mein lärmgeplagtes Nervenkostüm. Vielleicht ein Tipp für dich? LG, Anna 16:03

Hallo Anna,

vielen Dank für den Hinweis. Ich habe sogar eine Dauerkarte für das Museum.

LG, Jochen 18:26

Und wieder sofort nach zwei Stunden eine Antwort von ihm. Es ist genauso, wie beim ersten Mal. Ich schreibe etwas und er reagiert. Aber es kommt nichts Eigenes von ihm zurück. Nichts, worauf ich Bezug nehmen könnte. Kein Aufhänger, um wieder zurück zu schreiben. Sehr merkwürdig. Mich verunsichert das, weil ich nicht weiß, wie ich so einen Kontakt und eine Kommunikation führen soll, wenn ich die Person dahinter noch gar nicht kenne. Oder kenne ich ihn schon? Und ich spüre, dass ich alle offenen Fragen, die im Raum stehen, nur im Kontakt klären kann, aber dieser Kontakt wird schwer, sehr schwer.

Das ist mir jetzt schon klar. Es ist nicht offen, nicht frei und unkompliziert, es ist schwierig und schleppend. Aber im Moment überwiegt noch das Schöne, die Freude, die Freude darüber ihn getroffen zu haben, die Freude darüber, dass es da einen Menschen gibt, der mir so ähnlich ist, der so viele meiner Gefühlslagen versteht, weil sie bei ihm genauso sind. Das ist schon phänomenal und das Ganze nach so kurzer Zeit. Ich weiß nicht, was ich ihm schreiben könnte, also schreibe ich gar nicht.

Mit jedem Tag ohne Kontakt rückt Jochen etwas weiter in den Hintergrund. Da ist er aber irgendwie immer. Das Hintergrundradio summt leise vor sich hin. Mich beschäftigt mein Alltag. Die extrem belastende Wohnsituation, meine tägliche Arbeit als Pädagogin an einer Schule. Auch hier gibt es Probleme, die mich auslaugen und dazu führen, dass ich oft nachts wach liege und mein Geist nicht zur Ruhe kommt. Es sind immer die Menschen, die mir das Leben schwer machen. Ich brauche einen Arbeitsplatz, an dem die zwischenmenschlichen Kontakte stimmen, harmonisch sind und funktionieren. Wenn das so ist, ist es im Grunde vollkommen egal, wo und was ich arbeite. Wie viele HSP bin ich Generalistin, in vielen Bereichen belesen, kompetent und durch mehrere Ausbildungen und berufliche Tätigkeiten vielseitig einsetzbar. Ich verfüge über ein breit gefächertes Wissen, das sich ohne große Probleme punktuell relativ schnell vertiefen lässt. Multiple Intelligenz ist der Fachbegriff dafür, wie ich mittlerweile weiß. Der heutige Arbeitsmarkt sucht aber Spezialisten und Fachkräfte, um nicht zu sagen, Fachidioten. Damit kann ich leider nicht dienen. Obwohl ich mich natürlich in einigen Bereichen spezialisiert habe. Oft sind das aber Themen, die die Welt nicht unbedingt braucht und zur Existenzsicherung eignen sie sich schon gar nicht. Nun gibt es wieder eine Person am Arbeitsplatz, die mir das Leben zur Hölle macht. Im Grunde sind es zwei Menschen, die sich zusammengetan haben und mich nicht dabei haben wollen. Ich habe die Versetzung beantragt.

Die Todesanzeige, ein Traum vom Tod, 10.06.2019

So, mein Kaffee ist fertig, jetzt noch die Tageszeitung dazu und wieder zurück in mein noch warmes Bett und gemütlich lesen. Es gibt nichts Schöneres für mich, als so in den Tag zu starten. Noch kurz auf den Balkon und den frühen, noch ruhigen Morgen genießen, und dann schmökern und blättern. Ich lese Aktuelles vom Tage. Besonders die regionalen Nachrichten und Anzeigen interessieren mich. Was passiert in dieser Stadt, ist etwas bei den Veranstaltungstipps dabei, wo ich hin möchte? Wann hat die Bücherei auf, wann ist der nächste Flohmarkt, und dann natürlich die Todesanzeigen. Auf jeden Fall die Namen überfliegen. Ist jemand dabei, den ich kannte? Ich habe es ja schon oft erlebt, dass ich mit denen in Verbindung trete, oder besser gesagt, die mit mir. Entweder vorher, dann weiß ich, dass jemand sterben wird, oder auch hinterher. Meistens zwei bis drei Monate nach dem Tod einer Person bekomme ich dann eine Botschaft. Bis jetzt war der Inhalt immer so, dass ich genau wusste, dass es den verstorbenen Seelen, da wo sie sind, gut geht. Sie nutzen mich als Medium, damit sich hier niemand Sorgen macht. Da…da steht ein Name… Oh Gott, die kenne ich…die ist tot? Das kann ich nicht glauben. Warum? Was ist mit ihr passiert? Wie kann das denn sein? Und dann….

“Hallo, aufwachen.“ sagt Freerk. „Es ist sechs Uhr, willst du gar nicht aufstehen? Sonst bist du doch immer um fünf Uhr wach. Hast du verschlafen?“ Oh Gott, es war ein Traum. Aber wieder einmal so echt und intensiv, dass ich jetzt erst merke, wo die Realität wirklich ist. Nämlich hier in meinem Bett. Gerade aufgewacht, kein Kaffee, keine Zeitung. Alles so real. Ein Wahrtraum, oder eine Vision? Ich möchte alles festhalten, aber es entschwindet. Ich versuche den Namen zu fixieren. Er stand ganz deutlich und klar in der Todesanzeige im Traum. Aber ich schaffe es nicht. So weiß ich nur, dass demnächst jemand sterben wird, aber nicht wer. Vielleicht auch gut so, wer weiß?

Das Treffen am Hafen, 17.06.2019

Hallo Anna,

ich würde mich gerne diese Woche mit euch treffen. Wie sieht es mit Donnerstag aus?

LG, Jochen 19:21

Wie aus dem Nichts kommt die Anfrage zu einem Treffen. Wie schön ist das denn? Wenn ich ehrlich bin, ich hatte gar nicht mehr an Jochen gedacht, oder besser gesagt nicht mehr so oft an ihn gedacht. Ich bin einfach davon ausgegangen, dass er sich nicht mehr melden wird, dass sich das, wie so oft bei neuen Kontakten, im Sande verlaufen wird. Jetzt ist natürlich sofort wieder alles da. Ich bin total aufgeregt:

Hallo Jochen,

schön, von dir zu hören. Donnerstag am Nachmittag . Ich frage mal bei Gesa an.

LG, Anna 19:41

also... Gesa hat auch Zeit. Wo wollen wir uns denn treffen? 20:12

Ich würde um 15:30 mit dem Auto hier losfahren. Den Ort könnt ihr auswählen, ich kenne mich in eurer Stadt nicht aus.

LG, Jochen 20:41

Ich schlage ein Hafenbistro vor und eine Stunde später steht das Treffen. Ich habe die Vorstellung im Kopf, dass wir draußen an der Hafenmauer in der Sonne sitzen und tiefsinnige Gespräche führen, so wie beim Stammtisch. Am besten wäre es natürlich, ich wäre mit ihm alleine. Aber es ist eben ein dreier HSP Treffen. So wollte ich es. Mit genau diesen Leuten in den Austausch gehen. Ich bin gespannt, wie es wird und ich freue mich wie wahnsinnig.

19.06.2019

Jetzt hat Gesa abgesagt. Ich finde das einerseits gut, denn ich werde mit Jochen allein reden können. Aber auf der anderen Seite…ich kenne ihn doch gar nicht. Nur die paar Stunden in der Kneipe und jetzt treffe ich mich im Grunde mit einem wildfremden Mann? Aber es fühlt sich nicht fremd an, sondern richtig und vertraut.

Hallo Jochen,

Gesa hat gerade abgesagt. Kommst du trotzdem? Ich würde mich freuen.

LG, Anna 17:06

Hallo Anna, ich komme.

Liebe Grüße, Jochen 17:08

Ich spreche mit Freerk darüber, aber er weiß zu diesem Zeitpunkt von dieser tiefen, vertrauten Ebene noch nichts. Ich kann sie ja selber kaum fassen und schon gar nicht mit Worten beschreiben. Aus Spaß sagt Freerk zu mir: „Frage ihn doch mal, wieviel er verdient. Vielleicht hat er ja gute Chancen bei dir.“ Als ob mir Geld wichtig wäre. Aber vielleicht spürt Freerk jetzt schon intuitiv, dass genau das am Ende doch sehr wichtig wird…

20.06.2019

OK, jetzt ist es soweit. Heute ist der Tag, an dem ich Jochen wiedersehen werde. Ich bin aufgeregt und ich freue mich. Gleichzeitig habe ich auch Angst, bin verunsichert, so als würde ich schon etwas von dem spüren, was mit ihm auf mich zukommen wird. So, als ob eine ganz leise Stimme irgendwo im Hintergrundradio flüstert: „Überlege dir das gut, noch kannst du zurück“. Aber kann ich noch zurück? Nein, ich glaube nicht. Es sind auch keine bewussten Gedanken, sondern diffuse Gefühle und Ahnungen, die ich nicht vordergründig wahrnehme. Die Tiefenentspannung, in die ich mich jeden Mittag begebe, will sich einfach nicht richtig einstellen. Am Nachmittag ziehen pechschwarze Wolken auf, ein Gewitter ist im Anzug. Ich fühle, wie so oft bei Naturphänomenen, eine unerträgliche Spannung in der Luft, die sich aufstaut und nur darauf wartet, sich endlich durch Blitz und Donner entladen zu können. Sobald ein Unwetter sich beruhigt geht es mir, wie von Zauberhand, wieder gut. So schlimm wird es heute nicht, aber Regen und Sturm sind schon heftig. Trotz intensiver Wahrnehmung der Extreme genieße ich normalerweise Wetterkapriolen, wie Orkan und Gewitter. Heute aber denke ich nur darüber nach, wie ich am besten trocken zum Hafen komme. Mit dem Fahrrad? Wenn es so schüttet? Auto? Aber wo parken? Schon bin ich wieder in einer Gedankenspirale angekommen, die normalsensible Menschen gar nicht kennen. Die würden einfach losfahren und es würde sich irgendwo eine Parkmöglichkeit finden. Bei mir geht das so einfach nicht. Es wird alles vorher durchdacht, geplant, alle Eventualitäten, die auftreten könnten, werden gegeneinander abgewogen. Dann, am Ende, kann ich eine Entscheidung treffen oder auch nicht. Dieses Problem erledigt sich heute insofern von selber, dass es genau in dem Moment aufhört zu regnen, wo ich mit dem Rad los müsste, um rechtzeitig da zu sein. Die Sonne scheint und ich radel durch die Felder in die Stadt hinein. An der alten Brennerei vorbei, durch den Industriehafen und zuletzt die Hafenpromenade entlang bis zum Bistro. Es ist schön hier, direkt am Wasser.

Die Sonne scheint, die Holzbänke sind schon wieder trocken und ich suche mir einen Platz direkt an der Hafenmauer aus, genauso wie ich es mir vorgestellt und gewünscht hatte.

Ich stehe im Stau, es kann ein paar Minuten länger dauern. 16:15

und ich sitze am Hafen und trinke schon mal Kaffee. 16:31

Er kommt etwas gehetzt um die Ecke gelaufen. Wieder eine blaue Jacke, aber eine andere als beim letzten Mal. Steht ihm gut, die Farbe. Es scheint ihm unangenehm zu sein, dass er zu spät kommt. Wir umarmen uns zur Begrüßung, er fühlt sich sehr vertraut an. Er muss noch einen Parkplatz für sein Auto suchen, weil er einfach erst mal vor der Bank geparkt hat, um schnell Hallo zu sagen. „Wo kann man denn hier gut parken?“ „Da fragst du die Richtige. Ich fahre normalerweise nie mit dem Auto in die Stadt. Irgendwo im Bahnhofsviertel, denke ich.“ Und dann ist er wieder weg. Etwas Zeit für mich, um mich von der ersten Begegnung zu erholen und mich zu sammeln. Ich bin innerlich in absolutem Aufruhr, Aufregung steigt in mir hoch. Gleichzeitig breitet sich eine gewisse Ruhe und Sicherheit in mir aus, die Angst ist weg, die Anspannung bleibt. Sie sitzt in jeder Muskelfaser meines Körpers. Diese Begegnung verunsichert mich. Er kommt wieder, wir wechseln den Tisch, weil er gern in der Sonne sitzen möchte, ich lieber im Schatten, so finden wir einen Tisch und sitzen uns gegenüber. Das Gespräch beginnt, genauso wie in der Kneipe. Kein Smalltalk vorweg. Wir sind sofort wieder mittendrin, in der Tiefe der Themen, die uns verbinden. Wir reden über das Autofahren und die Ängste, die für uns beide damit verbunden sind, über die Arbeit und die Probleme, die HSP, und damit auch wir beide, damit haben, über Vergangenheit und Kindheit.

Wir reden über meine katastrophale Wohnsituation und wie wichtig es für uns ist, einen ruhigen Rückzugsort zum Regenerieren zu haben. Und es tauchen wieder viele Ähnlichkeiten und Parallelen in unser beider Leben auf, so dass wir, wie auch beim ersten Treffen, immer wieder abklatschen, beide verwundert darüber, wie das überhaupt möglich ist. So viele Gemeinsamkeiten? Zwischendurch sehe ich ihm in die Augen und sehe da etwas tief Vertrautes, etwas, das ich nicht verstehe, etwas, dass ich nicht einordnen kann.

Jochen redet viel über seine Frau. Seine Ehe funktioniert überhaupt nicht. Sie haben sich getrennt, sagt er, wie schon beim letzten Mal. „Bist du ausgezogen?“ frage ich. „Nein, wir haben uns erst mal nur räumlich getrennt. Jeder hat eine Etage im Haus. Meine Frau schläft unten und ich lebe in der oberen Etage“. Ich finde das merkwürdig. Das ist doch keine Trennung, oder? Sie reden phasenweise gar nicht miteinander, er kann aber jederzeit zu ihr hingehen, zum Kuscheln, wie er es ausdrückt. So ganz verstehe ich das nicht. Was bedeutet Kuscheln und was bedeutet Trennung in dieser Geschichte?

Wir reden über Beziehungen. Über die vielen, kurzen, anstrengenden und aufreibenden Männergeschichten, die ich hatte, bevor ich Freerk kennen gelernt habe. „Na ja, so kannst du aber, aufgrund deiner Erfahrung, vieles besser einordnen.“ Sagt Jochen. „Einordnen, wie meinst du das?“ „Ich meine, dass du aufgrund deiner Erfahrung sehr abgeklärt bist und eine neue Bekanntschaft viel besser einordnen kannst. Und das ist doch gut.“ So habe ich das noch nie gesehen. Kann ich dadurch auch einordnen, was er für mich ist? Nein kann ich nicht. Oder besser gesagt, noch nicht.

Jochens Frau wirft ihm vor, dass er lügt. Was genau? Ich weiß es nicht und komme so schnell auch nicht dazu, nachzufragen. Dazu eine generelle Schuld. Sie gibt ihm die Schuld. „Schuld an was?“ frage ich. „Zum Beispiel daran, dass unser Sohn klaut“. Jochen hat die Erziehung übernommen, also hat er auch die Schuld an dem, was mit den Kindern schief läuft, meint sie.

Sehr einfach und egoistisch von ihr, sich so aus der Affäre zu ziehen, finde ich. Jochen hat vor Kurzem eine psychosomatische Reha gemacht, genau wie ich und sehr viel mit Ängsten zu kämpfen. Generalisierte Angststörung, so lautet die Diagnose bei uns beiden. Angst vor diesem, Angst vor jenem und zu guter Letzt Angst vor der Angst und die ganze Zeit dieses gegenseitige Verstehen, weil wir das beide haben. Einiges ist aber auch unklar für mich. Er wirkt vertraut und gleichzeitig sehr distanziert. So viel ist gleich, aber trotzdem habe ich das Gefühl, in eine komplett andere Welt einzutauchen. Angst, Schuld? Ich frage ihn: „Kennst du Bachblüten?“ Eine feinstoffliche, alternative Therapieform, mit der ich mich schon seit über fünfundzwanzig Jahren befasse und die ich mir für ihn, gerade bei seinen Themen, sehr gut vorstellen kann. „Nein, kenne ich nicht.“ Das wundert mich etwas und ich biete ihm meine Hilfe an. „Das Angebot nehme ich gern an. Ich probiere alles aus, was mir helfen könnte, mit meinen Ängsten fertig zu werden.“

Wie immer bei so einem Treffen prasseln zu viele Informationen auf mich ein, so dass Verarbeiten erst viel später stattfinden kann. Andere Menschen hätten an dieser Stelle wohl sofort nachgehakt und versucht einige Unklarheiten zu verstehen. Ich höre aber immer erst zu, verarbeite später und sitze dann da mit meinen offenen Fragen. In diesem Fall mit tausenden offenen Fragen.

So sitzen wir ein paar Stunden zusammen, da an der Hafenmauer und ich genieße, trotz absoluter innerer Anspannung, die Zeit mit ihm. Es sollte nie zu Ende gehen. Es wird kühl draußen und wir suchen uns einen Platz im Wintergarten. Dann meldet sich seine Tochter auf dem Handy. Sie ist mit einer Freundin in der Stadt zum Shoppen. Die beiden kommen ins Bistro, er stellt mich vor. Es ist das einzige Mal, dass ich jemanden aus seiner Familie treffe. Sie ist auch HSP und ein sehr angenehmes Wesen. Kurz reden wir noch über den Urlaub, der bei uns ansteht und über Schwimmen und Wasser als Lebenselixier, auch eine unserer Gemeinsamkeiten. Es wird bezahlt und wir gehen nach draußen. Abschied. Nein, ich will das nicht.

Wir sind uns einig, dass wir in Kontakt bleiben und dass wir so ein Treffen wiederholen werden. Ehe ich noch etwas sagen kann, verschwindet er mit den Mädchen ins Bahnhofsviertel.

Ich sehe ihm nach, so wie ich ihm schon oft nachgesehen habe und so wie ich ihm noch oft hinterhersehen werde, wenn er immer wieder geht. Aber davon weiß ich jetzt bewusst noch nichts.

Die Magie der Nachtkerze, 22.06.2019

Hallo Jochen,

ich schicke dir per Mail ein paar Infos über die Bachblüten. Ich hoffe die Rückfahrt war für dich nicht allzu stressig Mir hat der Nachmittag mit dir sehr gut getan und ich freue mich schon auf das nächste Treffen.

LG, Anna 13:04

Hallo Anna, mir auch und ich kann mit dir Energie auftanken.

LG, Jochen 13:08

Wie schön, sonst hat man es als HSP ja leider viel zu oft mit Energieräubern zu tun…13:11

...und dann wieder Funkstille im Radiosender. Ich möchte die Unterhaltung weiterführen, aber es kommt nichts wirklich Greifbares zurück. Hat er meine Infos über Bachblüten überhaupt gelesen? Es kommt kein Feedback und das verunsichert mich. Meine Gedanken kreisen zu oft um ihn, auch nachts, wenn ich nicht schlafen kann. Meinen unruhigen Schlaf und dieses ständige Aufwachen in der Nacht führe ich allerdings noch auf die schwierige Wohn- und Arbeitssituation zurück. Wenn ich nachts wach werde, kann ich nur wieder einschlafen, wenn mein Kopf leer und der Geist frei ist. Gibt es Themen, die mich negativ oder positiv beschäftigen, springt sofort das Gedankenkarussell an und an Schlaf ist nicht mehr zu denken. So geht es mir oft, zu oft. Es sind zu viele Baustellen in meinem Leben, die weg müssen.

Die Wohnsituation wird sich hoffentlich bald bessern, aber wie wird es mit der Arbeit? Fast täglich tauchen neue, ungeklärte Situationen auf, die mich zu sehr beschäftigen, die ich aber auch nicht lösen kann. Manchmal glaube ich, diese Schlafstörungen sind der letzte Rest, der von dem Zusammenbruch vor zwei Jahren übrig geblieben ist. Aber das kann ja so auch nicht bleiben. Da muss sich etwas ändern. Wenn ich jetzt nachts aufwache, gehe ich oft raus auf den Balkon und sehe mir den Sternenhimmel an. Dabei schieben sich immer häufiger Gedanken an Jochen in den Vordergrund. Ich befürchte schon manchmal, dass mein Geist ihn benutzt, um mich von den gerade unlösbaren Problemen abzulenken. Es laufen ganze Phantasiegeschichten im Kopf ab, wie ich sie aus meiner Kindheit kenne. Er kommt darin vor. Und? Was soll`s, wenn die Ablenkung funktioniert. Dann habe ich eine Übergangslösung, die mir vielleicht hilft, diese schwere Zeit zu überstehen.

In manchen Nächten schlafe ich nur zwei bis drei Stunden, was natürlich nicht reicht. Der Tag wird für mich dadurch zur Hölle. Zum Glück bin ich nur bis dreizehn Uhr in der Schule, und kann nachmittags schlafen. Schlaf ist essentiell wichtig für HSP. Genauso wie Bewegung oder jede Form der Entspannung, um den oft zu hohen Blutspiegel des Stresshormons Cortisol wieder abzubauen. Reizüberflutung erzeugt Stress und Stress bedeutet Adrenalin- und Cortisolausschüttung in der Nebennierenrinde. Durch diese Botenstoffe wird der Körper, als natürliche Reaktion auf Stress, in die Lage versetzt zu kämpfen oder zu flüchten. So war es ja auch zu früheren Zeiten durchaus sinnvoll, wenn ein Feind im Anmarsch war. Durch Flucht oder Kampf wurden diese Stoffe wieder abgebaut. Die Aktivität und der Abbau der Hormone fehlen heute im modernen Alltag aber leider oft. Adrenalin wird relativ schnell vom Körper verbraucht. Für Cortisol braucht es da schon etwas länger. Für HSP, die oft die Stressschwelle überschreiten, ist es schwer, Cortisol zu regulieren, da oft schon wieder nachproduziert wird, obwohl der Abbau noch gar nicht erledigt ist.

So laufen die meisten HSP mit ständig erhöhtem Cortisolspiegel durch die Gegend und sind dauergestresst. Dagegen hilft Bewegung, Entspannung, ausreichend Schlaf und viel trinken. Ich laufe, ich trinke Wasser, ich meditiere, nur schlafen klappt gerade nicht wirklich und das nervt mich.

25.06.2019

…und wieder kaum Schlaf. Wir haben jetzt die kürzesten Nächte des Sommers. Es ist vier Uhr morgens und es dämmert schon leicht. Ich sitze auf dem Balkon, es ist angenehm warm und trotz Schlafmangel und Müdigkeit genieße ich diese Stimmung, die Stille und Frieden vermittelt. Früher war ich Langschläferin, da hätte ich so einen lauen, warmen Sommermorgen gar nicht mitbekommen. Diese Ruhe, wenn alle noch schlafen. Niemand macht Krach. So still und friedlich müsste es immer sein, nur die Vögel, die vereinzelt anfangen zu singen. Was für eine beruhigende Atmosphäre. Auf einmal ein Knistern, was ist das? Ach so, die Nachtkerzen. Normalerweise gehen die Blüten abends auf und verströmen einen ganz besonderen Duft, der Nachtfalter anlockt. Jetzt, wo ich hier sitze, entfaltet eine ihre Blüte. Wie schön, so etwas zu beobachten. Ich nehme mein Handy und fotografiere die gerade frisch erblühten, zitronengelben Blütenblätter. Noch einmal daran schnuppern, dann wieder mit dem frischen Kaffee zurück ins Bett. Das Foto könnte ich doch eigentlich Jochen schicken. Mal sehen, wie er auf so etwas reagiert, ob er überhaupt reagiert? Es ist schon wieder drei Tage her, dass der letzte Kontakt da war. Schon drei Tage. Bei niemand anderem würde ich nach drei Tagen alles in Frage stellen. Drei Tage nicht zu schreiben ist normal. Aber bei ihm irgendwie nicht. Es ist anders. Ich brauche den Kontakt. Aber warum? Ich finde ihn toll, ja. Aber es ist ja auch nicht so, dass ich mich in ihn verliebt hätte. Es ist schon ein sehr tiefes Gefühl für ihn da, kann ich das überhaupt sagen oder einordnen nach diesen zwei Treffen? Es ist so wie es ist. Alles sehr unklar, aber das Hintergrundradio läuft durchgehend weiter und bestimmt meine Gedanken.

…hier blüht die erste Nachtkerze. Vielleicht gelingt es mir etwas von der Energie per Foto zu transportieren. Ich wünsche dir einen schönen Tag.

LG, Anna 05:29

Ich habe die Energie empfangen, vielen Dank.

LG, Jochen und einen entspannten Tag für dich. 06:30

Oh, er antwortet ja gleich morgens. Das hätte ich jetzt nicht gedacht. Also, er scheint ja für so energetische Dinge offen zu sein. Er sprach davon, dass er sich an Bäume stellt, um sich zu erden. Tief in ihm drin steckt ja auch ein Schamane. Warum habe ich ihm eigentlich ausgerechnet die Nachtkerze geschickt? Es blühen ja noch diverse andere Gewächse auf dem Balkon. Das ist doch eine kalifornische Blütenessenz, oder? Ja, ist sie. Erfahrungsgemäß fühle ich mich immer zu den Pflanzen oder Bäumen hingezogen, deren Thematik im Augenblick gerade aktuell ist. Oder anders gesagt: „Der Mensch sucht sich oft unbewusst genau die Pflanze für seine Umgebung aus, deren Heilenergie er auch gerade braucht.“ Um welches Thema geht es denn nun hier? Ich schaue sofort im Internet nach und finde einen sehr interessanten Artikel. Aha, wie passend:

„Evening-Primerose, die Nachtkerze, unterstützt einen Neubeginn auf der emotionalen Beziehungsebene. Sie hilft dabei, sich auf Bindungen einzulassen und selbst die Verantwortung für Beziehungen zu übernehmen“. Und weiter finde ich noch: „Der Evenig-Primerose Typ fühlt sich als Kind unerwünscht oder schlecht behandelt und wurde im schlimmsten Fall geschlagen oder sogar missbraucht. Später weigert sich dieser Mensch, tiefere emotionale Bindungen einzugehen, aus Angst vor erneuter Verletzung oder Enttäuschung. Er ist unfähig, Wärme und Liebe zu schenken oder zu empfangen und sperrt sich gegenüber jeder Form von emotionaler Abhängigkeit im zwischenmenschlichen Bereich. Die Ursachen für diese Lebenseinstellung können auch vor der eigenen Geburt liegen“. (Der Essenzenladen, 9/2020)

„Aha, es geht also um Beziehung, um Bindung. Klar es geht um Jochen. Aber ist es jetzt mein Thema, was mich da anspringt? Oder seins? Oder das von uns beiden? Da wir ja sowieso fast alles gleich erlebt haben, habe ich da wohl ein Thema von uns beiden erwischt.“ Denke ich so bei mir. Und was hat es mit dem Vorgeburtlichen dabei auf sich? Eine interessante Frage, auf die es jetzt noch keine Antwort gibt. Ich ahne aber schon latent, dass hier etwas sehr Wichtiges verborgen liegt, was gerade dabei ist, sich an die Oberfläche vorzuarbeiten.

Umzug und Schulwechsel, 27.06.2019

Ich laufe. Laufen ist mein Ventil, sowohl körperlich, als auch psychisch. Manchmal joggen, manchmal Nordic Walking. Ich laufe durch die Felder zum See und wieder zurück. Natur und Ruhe sind für mich die wichtigsten Regenerationsquellen. So kann ich meine Gedanken fließen lassen. Durch die gleichförmigen, immer wiederkehrenden Bewegungen ist das Gehirn in der Lage, Informationen besser abzuspeichern. Ich stelle mir immer einen Riesenberg Zettel und Notizen vor, die nach und nach in die richtigen Ordner abgeheftet und dann in das richtige Regal geschoben werden müssen. Diesen Vorgang der Verarbeitung, der bei HSP ja sowieso nochmal länger dauert und intensiver abläuft, kann ich so mit dem Laufen wunderbar unter-stützen. Heute rattern meine Gedanken nur so. Ich hatte ein paar anstrengende Gespräche mit Vorgesetzten in der Schule. Dabei habe ich immer wieder signalisiert, dass ich wechseln möchte, dass ich so nicht mehr weiterarbeiten möchte. Heute kam dann endlich die rettende Mail von meiner Chefin. Nach den Sommerferien geht es für mich in einer anderen Schule weiter. Was für ein Erfolg. Eine neue Wohnung, eine neue Arbeitsstelle, alle meine Baustellen lösen sich so langsam auf. Nur noch ein paar Tage, dann geht es in den Urlaub, an die Ostsee. Danach ziehen wir um. Ein Ende der Durststrecke ist in Sicht.

Und plötzlich überfällt mich, wie aus dem Nichts, eine unerklärliche Angst. Ich laufe gerade auf dem alten Bahndamm, der wie ein Tunnel aus Bäumen und Sträuchern durch die Landschaft führt, wunderschön. Die aufsteigende Angst wird zur Panik, mein Herz rast und ich bekomme kaum noch Luft. Ich bin nassgeschwitzt und das nicht nur vom Laufen. Ich muss stehenbleiben und versuche mich zu beruhigen. Zuerst weiß ich nicht, woher diese Gefühle kommen, dann schieben sich Gedanken und Bilder aus meiner Vergangenheit in den Vordergrund:

Ich: 12 Jahre alt. Eine behütete Kindheit, das habe ich zumindest bis zu dem Zeitpunkt noch geglaubt. Es ist, genau wie heute, kurz vor den Sommerferien und ein Umzug steht mir bevor. Wir verlassen das kleine gemütliche Dorf, in dem ich groß geworden bin und ziehen auf eine ostfriesische Insel. Mein Vater wird dort Kurdirektor. Für mich bedeutet das Umzug und Schulwechsel. Ein Abenteuer, einerseits, aber Angst und Panik, andererseits. Was kommt da auf mich zu? Ich kenne dort niemanden, aber ich liebe das Meer. Wie werde ich in der Inselschule klarkommen? Ich habe mit meinem eigenartigen Wesen sowieso immer Stress mit anderen Kindern. Wie soll ich da Freunde finden? Aber hier habe ich ja auch keine wirklichen Freunde. So kommen gerade Erinnerungen und Ängste in mir hoch und ich spüre, dass die aktuelle Situation alte, verschüttete Gefühle freilegt. Damals war ich dem Geschehen hilflos ausgeliefert, heute entscheide ich selber und gehe meinen Weg aktiv. Aber den Ängsten ist das wohl egal, die Synapsen in meinem Gehirn registrieren bestimmte Informationen und beschließen daraufhin mit den altbekannten Signalen zurück zu feuern: „Wie ist die neue Schule? Werde ich mich da wohl fühlen? Wie sind die Leute? Was ist, wenn sie nicht nett zu mir sind? Schaffe ich den Schulstoff?“ Dazu der Umzug, der mit genau den gleichen Ängsten verbunden ist. Und das Herz hämmert und hämmert im verzweifelten Versuch, der Panik Herr zu werden.

Mir fällt Jochens Erzählung aus der Kneipe wieder ein. Warum habe ich denn, wo er vom Umzug und Schulwechsel sprach, nicht gleich reagiert und wieder mit ihm abgeklatscht? Ich habe meine eigene Geschichte komplett verdrängt. Meine Erinnerung war in dem Moment nicht zugänglich, wie weggeblasen. Es war an dem Abend zu emotional für mich. Ich habe mir Jochens Geschichte angehört und hatte keine Verknüpfung zu meiner Erinnerung. Ich bin erschüttert und überwältigt von den Gefühlen und den Zusammenhängen, die sich mir da offenbaren, als ich nach meiner Laufrunde zu Hause ankomme. Oder besser gesagt dort, wo wir gerade übernachten und unsere Möbel untergestellt haben. Und wieder diese Parallele zu Jochens Lebensgeschichte….Ich beschließe, ihm zu schreiben.

Hallo Jochen,

jetzt müssten wir noch einmal abklatschen . Umzug mit Schulwechsel habe ich in meiner Kindheit auch erlebt. Als du davon erzählt hast, habe ich es verdrängt. Zu dem Umzug kommt nach den Ferien für mich nun ein Schulwechsel dazu. Beim Laufen ist alles wieder hochgekommen und ich verstehe jetzt, warum ich seit Tagen mit dem altbekannten Herzrasen herumlaufe . Noch eine Woche, dann sind wir am Meer und ich hoffe, dass ich endlich meine innere Ruhe wieder finde. Wie geht es dir? Kannst Du dir Bachblüten für dich vorstellen?

LG, Anna 17:58

Hallo Anna, ich kann mir die Notfalltropfen sehr gut für mich vorstellen. Hast du sonst noch eine Empfehlung für mich? Ich hatte in den letzten Tagen einen Tiefpunkt und bin sehr unkonzentriert und ausgelaugt. Insgesamt geht es mir aber gut. Ich merke, ich muss auf mein Selbstbewusstsein aufpassen, sonst komme ich wieder in's Grübeln .

LG, Jochen 18:47

…mir fällt schon auf, dass er überhaupt nicht auf mich und meine Ängste eingeht, und irgendwo unterschwellig merke ich jetzt schon, dass mich das nervt, dass ich etwas von ihm haben möchte. Verständnis, Zuwendung, Verstehen. Er, der genau das auch erlebt hat, muss das doch verstehen und was dazu sagen oder schreiben, oder? Aber so deutlich formuliert es sich zu diesem Zeitpunkt in meinem Kopf noch nicht.

Wir kennen uns ja auch kaum. Vielleicht ist es auch zu früh und emotional zu viel von meiner Seite aus? Aber so bin ich nun einmal. Den Wiederspruch in seinem Text finde ich merkwürdig. Es geht ihm schlecht, aber insgesamt gut? Das verstehe ich nicht. Die Kommunikation per WhatsApp ist an diesen Stellen ja oft missverständlich und offene Fragen fallen unter den Tisch. Ob das jetzt gut ist oder schlecht? Ohne dieses Medium wären wir nicht im Kontakt. Also erst mal gut. Jedenfalls stellt er jetzt mal eine Frage, auf die ich antworten kann. Ich empfehle ihm einige Bachblüten und Bezugsmöglichkeiten…

Vielen Dank 19:44

…wir schreiben noch etwas hin und her…

Na, dann, noch einen schönen Abend und einen entspannten Schlaf. 20:10

Das wünsche ich dir auch…und danke für das nette Gespräch. 20:12

Die Bachblütentherapie, 29.06.2019

„Bei der Bachblütentherapie handelt es sich um ein naturheilkundliches Therapiesystem, das auf achtunddreißig verschiedenen Einzelmitteln, den sogenannten Bachblüten und einer Mischung davon, den Notfalltropfen, basiert. Entdeckt und entwickelt wurde sie in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts von dem englischen Arzt Dr. Edward Bach. Daher auch die Bezeichnung „Bach“-Blütentherapie. Als natürliche Behandlungsmethode werden die pflanzenbasierten Essenzen bei seelisch unausgeglichenen Verhaltensmustern und Gemütsverfassungen sowie zur präventiven Seelenpflege eingesetzt. Die Bachblüten enthalten die Energien der Natur in einer reinen Form, mit deren Hilfe wir uns wieder besser auf unser Leben einstimmen können. Doch beschränkt sich ihre Wirkung nicht darauf, die Turbulenzen in unserer Persönlichkeit lediglich zu beruhigen und zu glätten. Durch die Wirkung spezifischer Energien helfen sie uns, ganz individuelle Probleme zu meistern.“ (www.bach-blueten-portal.de)

Bei den Bachblüten ist es ja so, dass es bestimmte Mittel für bestimmte Probleme oder Themen gibt. Es gibt aber auch sogenannte Typenmittel, die einem Charakter zugeordnet werden. Für mich ist das die Zitterpappel, oder auch Espe, im englischen: Aspen. Diese Blüten-energie beschreibt nicht nur mich, sondern das Wesen von HSP besonders gut und kann hier helfen, die Eigenarten in positive Bahnen zu lenken und das empfindliche Nervensystem zu stärken. Auf jeden Fall ist es das Mittel der Wahl bei unbestimmten Ängsten und deswegen für mich schon immer sehr wichtig.

„Aspen ist das Blütenmittel bei unerklärlichen Ängsten und Sorgen. Der negative Aspenzustand äußert sich in einer Angst, deren Ursache man nicht benennen kann und für die es scheinbar keine logische Begründung gibt. Der Mensch in einem solchen Zustand kann sich nicht erklären, warum sein Gemüt so von Angst erfüllt ist.

Die Angst kann generell im Leben präsent sein als allgemeine Lebens- oder Zukunftsangst, oder auch als undefinierbares, ängstliches Gefühl speziell in Bezug auf bestimmte Personen, Orte oder Situationen auftreten, in denen er sich unwohl fühlt. Oftmals ist es insbesondere Ungewohntes oder Unbekanntes, was die Angst ins Bewusstsein ruft.

Die Bandbreite der Gefühle und Emotionen reicht von einem unguten Gefühl in der Magengegend bis hin zu Höllenqualen, die den ganzen Körper durchdringen und Herzklopfen und Schweißausbrüche verursachen. Auffällig ist in diesem Zusammenhang die Symbolik der Espe oder Zitterpappel, wie sie in der Redensart: „Wie Espenlaub zittern“ zum Ausdruck kommt. Nicht selten zittert der Mensch mit einer Aspen Blockade nämlich genau so. Bei dieser Bachblüte spiegelt sich ihre Wirkung also in der Natur. Die Emotionen, die der Mensch dabei erleidet, können so tiefgreifend sein, dass daraus eine Angst vor der Angst entsteht, die sich somit als Dauerzustand manifestiert.

Der Aspen Charakter ist in der Regel eher dünnhäutig, zartbesaitet und leicht verletzlich. Er ist sehr empfänglich für die Schwingungen seiner Umwelt. Dies ist ein zunehmendes Phänomen, da die Menschen immer feinere Antennen entwickeln. Spirituelle Menschen erklären dies mit der Schwingungserhöhung auf dem Planeten, durch die die inneren Sinne (wieder-)erwachen. Auch die Tatsache, dass wir uns in der modernen Zivilisation in einem gigantischen Meer aus elektromagnetischen und anderen künstlich erzeugten Strahlenfeldern bewegen, die auf das menschliche Energiefeld einwirken, spielt dabei eine Rolle. Diese Qualitäten der heutigen Zeit spiegeln sich deutlich in der Vernetzung auf digitaler Ebene: In Sekundenschnelle kann man Informationen vom anderen Teil der Welt empfangen und alles spielt sich in einem virtuellen bzw. mit normalen Sinnen nicht erfassbaren Bereich ab. Die geistige Wahrheit der All-Verbundenheit wird durch das Internet auf dreidimensionaler Ebene im Äußeren sichtbar.

Viele Menschen können die energie-informativen Impulse aufnehmen, aber nicht bewusst zuordnen oder gezielt interpretieren. Eine häufige Auswirkung dieser Entwicklung ist die unerklärbare Angst.“ (Bach-Blüten-Portal, 5/2020)

Wie ich aus eigener Erfahrung weiß, kann es sich dabei auch um Ereignisse auf der anderen Seite des Planeten handeln, mit denen man persönlich überhaupt nicht zu tun hat. So konnte ich es hier in Norddeutschland deutlich spüren, als 2011 in New York die Flugzeuge in das World Trade Center rasten. Während eines Seminars in meiner damaligen Firma flog mir plötzlich und aus unerklärlichem Grund die Kaffeetasse aus der Hand, und das nicht nur einmal, sondern zweimal. Es ging mir schlagartig schlecht. Schwindel, Rauschen im Ohr und Kreislaufprobleme machten mir zu schaffen. Kollegen beäugten mich komisch. Später, nachdem ich die Zeiten der Einschläge mit der Zeitverschiebung berechnet habe, hatte ich für mich und meine Reaktion die Erklärung gefunden.

01.07.2019

Dank Jochen bin ich wieder voll in die Bachblütenthematik eingestiegen. Ich habe diese tolle Homepage gefunden und wieder viel zum Thema gelesen. Ich habe ja den kompletten Satz der Blütenmittel zu Hause und kann mit meinem Biotensor genau austesten, was ich brauche. In so schwierigen Zeiten ein wunderbares Hilfsmittel. Leider vergesse ich oft, was ich da alles so für Möglichkeiten habe, besonders wenn es um mich selber geht. Jetzt habe ich seit langem mal wieder eine Blütenmischung für mich hergestellt und hoffe, dass ich mit meinen Ängsten und den Schlafproblemen besser klar komme.