Sehnsucht nach Sodbrennen - Julia Niewöhner - E-Book

Sehnsucht nach Sodbrennen E-Book

Julia Niewöhner

0,0

Beschreibung

»Mein liebes Köpfchen, jetzt bist du schon so groß wie ein Überraschungsei...« Eine ungeplante Schwangerschaft, ein unerwünschter Heiratsantrag und ein unglaublich charmanter Frauenarzt wirbeln Klaras Leben völlig durcheinander. Romy, ihre diätsüchtige Arbeitskollegin bei der Bielefelder Sexualberatungsstelle »Höhepunkt«, steht ihr in dieser chaotischen Zeit bei. Alles scheint sich zu fügen, bis ihr ein plötzlicher Todesfall in ihrer Familie die Augen öffnet und ihr zeigt, was im Leben wirklich zählt. Berührend, witzig und voller Mutterliebe!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 267

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über die Autorin

Julia Niewöhner war als Diplom-Pädagogin und Heilpraktikerin für Psychotherapie tätig, bis sie ihr erstes Kind bekam. Während ihr Sohn in seinen ersten neun Lebensmonaten ausschließlich mit Körperkontakt und vorzugsweise auf ihrem Arm schlief, schrieb sie diesen Roman einhändig auf ihrem Handy. Sie lebt mit ihrer kleinen Familie in der Nähe von Bielefeld. Besuchen Sie die Autorin unter www.julianiewoehner.de im Internet.

Für Tobi und Titus.

Durch euch bin ich ganz.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel - 8. bis 10. SSW

Kapitel - 11. SSW bis 13. SSW

Kapitel - 14. bis 20. SSW

Kapitel - 21. bis 25. SSW

Kapitel - 26. bis 30. SSW

Kapitel - 20. Juli - 31. SSW

Kapitel - 31. bis 35. SSW

Kapitel - 35. SSW bis ET

Kapitel - ET bis Geburt

Epilog

Prolog

Klara schaute mit gemischten Gefühlen an sich hinab. Da sie seit zwei Monaten ihre Füße nicht mehr sehen konnte, blieb ihr Blick an ihrer runden Babykugel hängen, die sie in ein schwarzes Kleid mit Stretcheinsatz in der Körpermitte gehüllt hatte. Das kleine Schwarze mit den dunklen Ballerinas und der glänzenden Clutch aus ebenfalls schwarzem Lack hätte auch ein sehr schickes Bürooutfit sein können. Oder ein cooler After-Work-Party-Look, der sich mit einem angesagten, aber alkoholfreien Cocktail in der Hand gut gemacht hätte. War es aber nicht. Klara war auf einer Beerdigung. Und zwar nicht auf einer, zu deren Erscheinen man sich verpflichtet fühlt, weil man irgendwie um ein paar Ecken mit den Angehörigen zu tun hat. Hier war sie selbst die Angehörige. Die vom Weinen geröteten Gesichter um sie herum gehörten zu ihrer Familie. Die Fassungslosigkeit über die jüngsten Ereignisse und das plötzliche Bewusstsein über die Endgültigkeit hatten sich in ihre versteinerten Mienen gegraben und hingen wie dichter Nebel über ihren Köpfen in der kleinen Kapelle. Der Pfarrer sprach mit einfühlsamer Stimme über diesen Menschen, der ihr so vertraut ist - oder war - und gleichzeitig klangen seine Worte, als meinte er jemand anderes.

Es ist so unwirklich, dachte Klara immer wieder. Das kann einfach nicht sein. Wie die meisten Menschen ging sie nicht gerne auf Beerdigungen. Ihr kamen immer schon die Tränen, so bald sie die tragende Musik hörte, sogar, wenn sie den verstorbenen Menschen kaum kannte. Hatte die Familie dann noch ein Foto desjenigen neben dem Sarg aufgestellt, brachen bei Klara alle Dämme. Und jetzt, hochschwanger und so nah dran zu sein, überstieg ihre emotionalen Kräfte bei Weitem.

Am Ende der Trauerfeier waberte die Menschenmenge wie Honig aus einem umgefallenen Glas langsam aus der Kapelle hinaus auf den ruhigen, von hohen Bäumen beschatteten Friedhof. Der Sommer zeigte sich frecherweise von seiner schönsten Seite, dabei hätten Nieselregen und ein grauer Himmel so viel besser zu diesem düsteren Tag gepasst. Nach der nicht enden wollenden Kondolenzschlange wollte Klara nichts lieber, als einen Moment für sich zu sein. Bloß weg von Sprüchen à la 'Die Zeit heilt alle Wunden', weg von fremden Armen, die Trost spenden wollten, weg von unsensiblen Menschen, die mit Blick auf ihren Bauch allen Ernstes sagten: 'Ein Mensch geht, ein neuer kommt.' Als trüge sie mit ihrer Schwangerschaft die Verantwortung für diesen Anlass.

»Klara, meine Liebe!« Onkel Alfred, familienintern auch Ekel Alfred genannt, nicht grundlos übrigens, fing sie auf dem Weg zur Toilette ab und redete munter drauflos, als befänden sie sich auf einer stinknormalen Familienfeier. »Was für eine stilvolle Predigt!« Er musterte sie unverhohlen. »Du hast dich ja ganz schön verändert, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben. Wann war das nochmal? Weihnachten?«

»Ja, schon möglich…« Ich ertrage jetzt keinen Smalltalk, dachte sie gereizt. Vor allem nicht mit dir.

»Und in welchem Monat bist du jetzt? Die Schwangerschaft steht dir super!« Sein Blick huschte über ihr ausgefülltes Dekolleté und er lächelte anzüglich. Sollte er ihr über den Bauch streicheln wollen, würde sie ihn zurechtweisen, nahm sich Klara fest vor, obwohl sie keine Ahnung hatte, woher sie dazu die Energie nehmen sollte.

»Ähm, im achten Monat...und danke... ich würde jetzt gerne…«

»Ach, dann hat es wohl an Silvester bei euch ordentlich geknallt, was?« Wieder dieser zweideutige Unterton. Einen lüsternen Onkel fand sie schlimmer als zehn lästernde Tanten.

»E - Onkel Alfred, ich möchte jetzt wirklich gerne…« Warum lasse ich ihn nicht einfach stehen, schimpfte sie sich innerlich wegen ihrer unangemessenen Höflichkeit aus.

»Und weißt du schon, was es wird?«

»Ja. Es wird ein…« Klara stockte. Sie hatte Lorenz entdeckt, wie er abseits der Menge mit dem Handy am Ohr lässig über eine Grünfläche schlenderte. Einfach nur von ihm gehalten zu werden wäre jetzt genau das Richtige, ging ihr durch den Kopf. »Bitte entschuldige, Onkel Alfred, aber wir sehen uns ja gleich noch bei Kaffee und Kuchen.«

Klara näherte sich Lorenz' Rückseite und bekam mit, dass er mit seinem Vater telefonierte, den sie ähnlich unausstehlich fand wie Ekel Alfred. Sie wollte sich gerade bemerkbar machen, als Lorenz etwas sagte, das wohl nicht für ihre Ohren bestimmt gewesen war.

1. Kapitel - 8. bis 10. SSW

Mein liebes ungeborenes Kind,

meine Güte, klingt das steif! Bis zum nächsten Brief überlege ich mir einen Projektnamen oder Arbeitstitel für dich – so, wie es diese Schwangerschafts-App empfohlen hat.

Seit ein paar Stunden weiß ich, dass du es dir in meinem Bauch gemütlich gemacht hast. Jedenfalls sagen das der positive Test und meine nicht nur unzuverlässige, sondern gänzlich streikende Periode. Meine spannenden Brüste und die ständige Müdigkeit - auch jetzt gerade gähne ich herzhaft vor mich hin - stimmen in diesen Chor mit ein. Wir zwei werden also ziemlich sicher die nächsten Monate - genau genommen werden es einige Jahre - ganz eng miteinander verbringen. Ich frage mich allerdings, ob du dir das gut überlegt hast. Falls du dir nämlich eine hippe Mama gewünscht hast, wirst du vermutlich enttäuscht sein. Ich bin leider gar nicht Bleistiftrock, Mandelmus und In-Kneipe, sondern viel mehr Jogginghose, Nutella und Grey's Anatomy. Statt in meinem Leben straight einem Plan zu folgen, passiert alles einfach so. Ich bin zum Beispiel Sozialpädagogin geworden, weil Pädagogik mein bestes Abifach war. Eine bestimmte Vision hatte ich damit aber nicht. Und auch du bist entstanden, weil ich mit der Pille zu ungenau war. Dein Papa und ich haben uns also nicht beim ersten verhütungslosen Sex vielsagend in die Augen geguckt, sondern wussten schlichtweg nichts von dessen Unsicherheit. Bisher weiß er noch nichts von seiner bevorstehenden Vaterschaft und ich kann es kaum erwarten, ihn einzuweihen.

Wenn ich richtig gerechnet habe - mit einem Mathelehrer als Vater gehe ich mal davon aus - bin ich jetzt in der sechsten Schwangerschaftswoche. Dein winziges Herzchen müsste also schon schlagen. Das finde ich unglaublich, weil du angeblich erst vier Millimeter groß sein sollst.

Für die kommenden Wochen und Monate habe ich mir vorgenommen, dir mehr von solchen Briefen wie diesem hier zu schreiben. Vielleicht freust du dich ja irgendwann einmal darüber, sie zu lesen. Im Gegenzug wird es kein peinliches Video deiner Geburt geben, das ich an deinem dreizehnten Geburtstag vor all deinen Freunden abspiele - versprochen.

Auch wenn du ungeplant in mein Leben gepurzelt bist, freue ich mich sehr darauf, dich kennenzulernen - nach deiner Geburt und schon bald beim ersten Ultraschall.

Alles Gute bis dahin, deine Mama

PS: Purzelchen? Bauchzwerg? Mini-me? Ach ja, kreativ bin ich übrigens nicht.

Lorenz kam wie immer gegen 18 Uhr aus dem Büro und hängte seine dunkle Winterjacke an die Garderobe im Flur. Ihre Wohnung befand sich im Westen von Bielefeld - dem Szeneviertel der Stadt, die es angeblich nicht gab. Von dort aus waren sie schnell in der Innenstadt und erreichten auch die umliegenden Orte von Ostwestfalen-Lippe zügig, was ihnen neben den großen, hellen Räumen mit den hohen Altbaudecken von Anfang an gut gefallen hatte. Der Duft von frisch gebackenem Kuchen, den die Bäckerei im Erdgeschoss im gesamten Gebäude verströmte, verlieh ihrem Nest außerdem die nötige Gemütlichkeit, um sich geborgen zu fühlen und gerne nach Hause zu kommen.

Lorenz' kastanienbraune Haare waren vom frischen Schneefall etwas feucht geworden und kräuselten sich zu seinem Ärger. Deshalb besuchte er regelmäßig seinen Stammfriseur, um seine Haarpracht im Zaum zu halten. Der Winter war immer noch nasskalt und zog einem durch Mark und Bein. Klara empfing ihn in eine Sofadecke gehüllt im Wohnzimmer und sah wie so oft in den letzten Wochen ziemlich blass um die Nase aus.

»Geht’s dir nicht gut?« Lorenz bemühte sich um Mitgefühl, hatte aber eigentlich keine Lust auf ihre Erzählungen. Vor allem für Frauenleiden hatte er jetzt kein Ohr, falls sie deshalb so käsig wirkte. Sein Tag war lang und ätzend gewesen und alles, was er jetzt brauchte, war seine Ruhe.

In Klaras Kopf stimmte die Herzblatt-Melodie an. Seitdem sie mit Anfang zwanzig als Kandidatin an der Show teilgenommen hatte - was machte man als klamme Studentin nicht alles für ein kleines Taschengeld? -, wurde sie von deren Konzept regelrecht verfolgt.

»Ich komme nach einem anstrengenden Tag im Büro nach Hause. Kandidatin 1, was tust du, damit ich mich entspannen kann?«

Klara atmete tief durch und stellte sich ein Pflaster vor. Einfach abreißen. Kurz und...

»Ich bin schwanger.« In ihrer Fantasie würde er ihr gleich um den Hals fallen, ihr tief in die Augen schauen und liebevoll ihren natürlich noch superflachen Bauch küssen. Sie hatte wie jede gebärfähige Frau mit Kinderwunsch eine verträumte Vorstellung davon, wie ihr Partner auf eine Schwangerschaft optimalerweise reagieren sollte.

»Du bist - was?!« Lorenz guckte entsetzt. Er kannte ihr Drehbuch offensichtlich nicht.

»Ich bin…«, setzte sie an.

»Ich habe gehört, was du gesagt hast. Schwanger? Echt jetzt?«

Was war daran so schwer zu verstehen?

»Sieht so aus, ja.« Tief durchatmen, ermahnte sie sich stumm. Männer haben doch immer Probleme damit, ihre Gefühle zu zeigen und Lorenz’ Freude tarnt sich eben als Überraschung, versuchte sie sich innerlich zu besänftigen. Oder als Schock.

»Aber du nimmst doch die Pille!« Er war auf hundertachzig, tigerte aufgeregt vor dem Sofa auf und ab und bekam einen roten Kopf.

»Ja, aber auch die Pille schützt nicht zu einhundert Prozent…« Klara musste ihm ja nicht direkt auf die Nase binden, dass sie sie vielleicht zwei oder drei Mal vergessen hatte.

»Und wann soll das passiert sein? In den letzten Wochen waren wir ja nicht gerade oft in der Stimmung und...warst du schon bei deiner Ärztin?«

»Also, an Silvester waren wir zum Beispiel in der Stimmung, wie du es so schön nennst.« So langsam spürte sie Ärger in sich hochsteigen. Freute er sich denn wirklich nicht? »Und bei meiner Ärztin habe ich heute angerufen. Die ist seit meiner letzten Routineuntersuchung weggezogen, aber wir können morgen früh um acht Uhr zu Dr. Dubois kommen, der ihre Praxis übernommen hat.«

»Jetzt sprichst du schon von 'wir'? Der…«, er suchte nach dem passenden Begriff, »…Zellhaufen ist noch mikroskopisch klein und du tust so, als ob ihr zwei morgen einen Arzttermin hättet?« Lorenz lächelte sie spöttisch an. Ihm war deutlich anzusehen, dass er sie absichtlich falsch verstehen wollte und im Augenblick kein Interesse an ihrem Gefühlsleben hatte.

Klara schossen die Tränen in die Augen. »Mit 'wir' meinte ich dich und mich. Aber anscheinend kommt es dir gar nicht in den Sinn, mit zum Arzt zu kommen.«

»Ach Klara, zum einen bin ich ein Mann und habe doch bei einem Frauenarzt nichts verloren. Und zum anderen ist doch in den ersten zwölf Wochen das Risiko wahnsinnig hoch, dass...naja...wir sollten die Sache nicht überromantisieren, okay?« Er atmete tief durch. »Ich brauche jetzt erstmal Luft und gehe eine Runde Laufen.«

Klara starrte ihm hinterher und hoffte, dass das Kind mehr von ihren Genen erbte. Diese Situation hatte sie sich bisher ganz anders vorgestellt. Vielleicht hätte sie sich etwas Romantischeres einfallen lassen sollen, wie zum Beispiel, den positiven Test hübsch eingepackt auf einem Teller mit Teelichtern zu servieren oder einen kleinen Body mit der Aufschrift »Mein Vater ist mein Held« zu kaufen oder...vielleicht hätte er dann liebevoller reagiert, zweifelte sie wieder einmal an sich selbst.

»Listen Sie gedanklich auf, welche positiven Aspekte Sie aus unerfreulichen Situationen trotz allem schöpfen können«, erinnerte sie sich an einen küchenpsychologischen Text aus einer Frauenzeitschrift.

Immerhin weiß ich, dass ich schwanger werden kann, ging ihr durch den Kopf. Bei ihrer Schludrigkeit in Sachen Verhütung hatte sie schon mehrfach an ihrer Fruchtbarkeit gezweifelt. Immerhin habe ich einen Partner, auch wenn er nicht so reagiert hat, wie ich es mir gewünscht habe. Auch wenn mich seine Reaktion verletzt hat - immerhin kann ich meine Gefühle wahrnehmen. Immerhin hat er mir keinen Schwangerschaftsabbruch vorgeschlagen - denn solche Männer gibt es doch bestimmt auch und somit kann ich mich mit Lorenz sogar glücklich schätzen, reimte sie sich weiter zusammen, auch wenn es nur kurzfristig half.

Von Müdigkeit und Enttäuschung überwältigt fielen ihr am frühen Abend die Augen zu. Als Lorenz von seiner ausgedehnten Joggingrunde nach Hause und ins Bett gekrabbelt kam, tat sie so, als würde sie schlafen. Sie fühlte sich noch zu verletzt für ein normales Gespräch mit ihm. Auch am nächsten Morgen schlichen sie umeinander herum und sagten nur das Nötigste, als ob jeder von ihnen kindergartenmäßig auf eine Entschuldigung des anderen wartete. Immerhin schickte er ihr eine SMS: »Sorry wegen gestern Abend. Du hast mich überrumpelt und ich war ein Idiot. Viel Spaß bei deiner Ärztin! Kuss, Lorenz«

Anscheinend hatte er ihr im Eifer des Gefechts nicht richtig zugehört, trotzdem freute sie sich über seinen Annäherungsversuch. Schon etwas beschwingter machte sie sich auf den Weg zur Arztpraxis.

Lorenz und Klara hatten sich vor vier Jahren auf der Geburtstagsparty einer Studienkollegin kennengelernt. Sie standen zeitgleich vor den Käsepieksern, erzählten sich gegenseitig, woher sie die Gastgeberin kannten und vertieften ihr Gespräch im Laufe des Abends. Lorenz war zwar nicht völlig begeistert von Klara, aber er brauchte ein bisschen Balsam für sein angekratztes Ego, weil er gerade erst von seiner Saskia verlassen wurde. Klara war ebenfalls nicht hin und weg von Lorenz, allerdings war sie froh, nicht mehr alleine auf dieser Feier herumzustehen. Allein zu sein fiel ihr sehr schwer. So schwer, dass sie niemals einen einzelnen Dominostein in der Packung zurücklassen oder Sockenpaare getrennt voneinander zum Trocknen aufhängen könnte. Ihre Mutter, pensionierte Psychotherapeutin, sah darin den Beweis, dass Klara ursprünglich ein Zwillingskind war. Klara hingegen dachte während ihrer Beziehungskrisen, dass ihre Allergie gegen das Alleinsein der Grund war, weshalb sie immer noch mit Lorenz zusammen war. Krisen hatten sie in diesen vier Jahren bereits einige bewältigt. Manchmal ging es um Lappalien wie Urlaubsziele oder den Wocheneinkauf, aber viel zu oft stritten sie um Eingemachtes. Wie viele Grundsatzdiskussionen sie schon über eine mögliche Ehe, Kinder, einen Hauskauf, über seine Familie, ihre Familie und vieles mehr geführt hatten, konnte sie kaum noch zählen. Vor zwei Jahren hätten sie sich beinahe getrennt, nachdem Lorenz peinlicherweise damit gedroht hatte, seinen sexuellen Trieb bei seiner Ex-Freundin auszuleben, wenn Klara während ihrer Periode keine Lust auf ihn hätte. Peinlich deshalb, weil Klara dank Facebook wusste, dass Saskia gerade ultra-romantisch auf Mauritius geheiratet hatte und dabei wahnsinnig glücklich aussah. Wie Lorenz sie nach dieser Schote dazu gebracht hatte, sich wieder zu versöhnen, war ihr bis heute ein Rätsel. Der Dominosteineffekt war vermutlich Schuld.

»Frau Neumann!«, rief die Ruppige der beiden Arzthelferinnen Klara auf. »Behandlungsraum drei.«

Klara legte die abgegriffene Zeitschrift zur Seite, begab sich in den ihr zugewiesenen Raum und setzte sich an den kleinen Besprechungstisch. Der neue Arzt hatte das schlichte, aber freundlich wirkende Mobiliar anscheinend eins zu eins übernommen.

»Bonjour Madame!«, begrüßte Dr. Dubois sie nach ein paar Minuten Wartezeit. »Darf isch misch vorstellen? Pierre Dubois, Ihr neuer Gynäkologe. Sehr erfreut!«

Klara verschlug es kurz die Sprache. Das sollte ihr neuer Frauenarzt sein? Durfte ein Gynäkologe so dermaßen attraktiv aussehen? Eine männlich-herbe Duftwolke aus Desinfektionsmittel, Hugo Boss und frischem Kaffee umgab ihn und ließ Klara das Wasser im Mund und auch überall sonst zusammen laufen. Die kurzen Ärmel seines weißen Poloshirts umspannten seinen definierten Bizeps und gaben den Blick auf seine braungebrannten Unterarme frei. Mit seinen blauen Augen schaute er sie genauso aufgeschlossen wie warmherzig an.

»Ähm, hallo! Ja, ich bin auch sehr erfreut. Herzlich willkommen in Deutschland!« Was faselte sie denn da?

Dr. Dubois lachte laut auf und wirkte dadurch noch heißer. »Isch lebe schon seit fünf Jahren in Deutschland, aber trotzdem vielen Dank! Meinen Akzent werde isch einfach nischt los. Was führt Sie denn nun 'eute zu mir?«

»Ich hatte gestern einen positiven Schwangerschaftstest.« Sie spürte das Blut, wie es durch ihre Ohren rauschte und diese zum Glühen brachte. Unauffällig zog sie ihre hellblonde Mähne darüber.

»Oh, formidable! Ürin und Blut wurden von meinen Assistentinnen schon entgegengenommen?«

»Ja.« Zum Glück von der Zärtlichen. Klara hätte nicht gedacht, dass sie sich mal mit solch einem Traummann über ihre Körperflüssigkeiten unterhalten würde und wurde sich schlagartig dessen bewusst, dass er gleich noch viel mehr von ihr kennenlernen würde.

»Bien. 'Andelt es sisch um eine geplante Schwangerschaft?«

»Ähm, nee, nicht so richtig.« In ihren immer noch knallheißen Ohren klang das nach naivem Teenager oder unstetem Flittchen, weshalb sie schnell hinzufügte: »Aber ich befinde mich in einer festen Partnerschaft.« Auch wenn sich dieser Partner manchmal unmöglich benimmt und rein optisch gegen Sie den Kürzeren zieht, setzte sie gedanklich hinzu.

»Trés bien. Dann machen wir mal einen Ültraschall und besprechen danach alles Weitere.«

Das Herzchen schlug tatsächlich. Wild und gleichmäßig. Sie konnte es sehen und hören und hatte darüber ein paar Tränen der Rührung verdrückt. Dr. Dubois hatte ihr mitfühlend das Knie getätschelt, ihr strahlend gratuliert und den voraussichtlichen Entbindungstermin festgelegt: 22.9. Mit den Worten »Bis in vier Wochen, Chérie!« hatte er Klara in ihren Arbeitstag verabschiedet und beglückte nun vermutlich die nächste Patientin mit seiner hinreißenden Art. Vielleicht war Lorenz' Frauenarztphobie gar nicht so sehr von Nachteil, wie sie gedacht hatte. Und dass er immer noch von einer Ärztin ausging, auch nicht.

Der Geruch von gekochten Eiern ließ sie schneller würgen, als dass sie es noch zur Toilette geschafft hätte. Klara übergab sich direkt in den Mülleimer ihrer Kollegin und besten Freundin Romy, die ihr angewidert ein Tuch reichte, womit sie sich den Mund abwischen konnte.

»Ich mache seit heute die Hollywood-Diät. Neben gekochtem Schinken und Ananas gibt es innerhalb einer Woche vierundzwanzig Eier. Du solltest dich also besser an den Geruch gewöhnen. Seit wann kannst du die eigentlich nicht mehr riechen?«, bohrte Romy neugierig nach.

Klara ließ sich auf ihren Drehstuhl plumpsen, schaute sich vorsichtig um und raunte zurück: »Seitdem ich schwanger bin.«

»Was?! Das ist ja mal eine Neuigkeit!«, quiekte Romy entzückt. »Ich wusste ja gar nicht, dass du und Lorenz…«

»Pssssst! Es ist noch viel zu früh, um es laut rauszuposaunen!«, zischte Klara nervös.

»Ich bin sicher, dass der Gummibaum und die Kaffeemaschine dicht halten werden. Keine Sorge, wir sind alleine. Ich will Einzelheiten wissen!«

»Ich bin in der achten Schwangerschaftswoche, der errechnete Entbindungstermin ist der 22.9. und das Herzchen schlägt.« Die Berechnung der korrekten Woche war anscheinend doch komplizierter, als Klara vermutet hatte. Sie spürte wieder aufkommende Freudentränen. »Ich bin so aufgeregt!«

»Oh, wie schön!« Romy fiel ihrer Freundin um den Hals.

»Und nochwas: mein neuer Frauenarzt ist heiß.« Klaras Wangen brannten wie Feuer. »Darf ich meinen Frauenarzt heiß finden?«

Romy horchte interessiert auf. »Erstens: Du klingst wie eine meiner Kundinnen. Zweitens: Definiere heiß. Lohnt es sich, zu ihm zu wechseln? Meiner hat nämlich eher ein Radiogesicht, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Heiß wie Brad Pitt vor zwanzig Jahren. Heiß wie McDreamy und McSexy zusammen. Heiß wie... ich hatte das Gefühl, als bräuchte er gar kein Ultraschallgerät, weil ich ihm auch so mein Innerstes gezeigt hätte.«

Romy quietschte erneut. Klara kam sich zwar vor, wie ein klischeehaftes, verknalltes Schulmädchen, aber gleichzeitig tat es mal wieder so gut, sich zu einem Mann derart hingezogen zu fühlen. Dieses aufgeregte Kribbeln, das sie in der Vergangenheit beim Flirten oder vor den ersten Küssen mit einem neuen Freund empfunden hatte, das sie nächtelang wie ein Adrenalinrausch wach hielt und ihr Herz laut und wild klopfen ließ, hatte sie in den letzten Jahren an Lorenz' Seite scheinbar mehr vermisst, als sie gedacht hatte.

»Und wie hast du dich bei der Untersuchung gefühlt? War es dir unangenehm?«

»Am Anfang war ich kurz gehemmt, allerdings geht mir das immer so, wenn ich auf den Stuhl klettere. Tiefenentspannt bin ich dabei sowieso nie. Und dann habe ich mir gedacht, dass ich zum einen schon mit wesentlich unattraktiveren Typen im Bett und zum anderen oft wesentlich schlechter darauf vorbereitet war.«

Klara und Romy kicherten noch eine Weile und malten sich Klaras nächsten Arztbesuch aus, als ihre Chefin zur Arbeit kam.

»Ich nehme fröhliche Schwingungen und Herzlichkeit wahr, meine Lieben! So gefällt mir der Start in den Tag. Was habe ich verpasst?« Waltraud Hempel, die Leiterin der Sexualberatungsstelle »Höhepunkt«, hatte ein Faible für Esoterik und ein Herz aus Gold.

»Ach, eigentlich nichts…«, log Klara.

»Ihr wisst ja, dass ich auf der energetischen Ebene viel mehr erfahre, als ihr denkt. Ich komme schon noch dahinter.« Schmunzelnd zwinkerte Waltraud ihren beiden Mitarbeiterinnen zu. »Was sagen denn die Karten für heute?« Waltraud hatte es zum festen Ritual gemacht, jeden Morgen eine Tarotkarte zu ziehen. So sei man auf die Chancen des Tages besser vorbereitet, meinte sie.

»Damit haben wir extra auf dich gewartet«, flunkerte diesmal Romy.

»Na, dann wollen wir mal!«

Klara und Romy waren die einzigen Mitarbeiterinnen bei »Höhepunkt« und wurden dort bei der Gründung der Beratungsstelle vor drei Jahren eingestellt. Romy war für den Bereich "Ü18" zuständig und beriet hauptsächlich per E-mail und in Einzelgesprächen Erwachsene bei intimen Fragen. Klara kümmerte sich um alle Kunden unter 18. Sie beantwortete online Fragen von Jugendlichen, gab hilflosen Eltern Tipps für die Aufklärung ihrer Kinder und führte Projekttage an Schulen zum Thema Verhütung durch. Aus aktuellem Anlass war sie allerdings nicht gerade eine Gallionsfigur für effektive Verhütungsmethoden. Der Job gefiel Klara sehr gut. Schon als Teenie las sie - wie alle anderen in ihrem Alter - in der BRAVO am liebsten die Seiten von Dr. Sommer und fühlte sich durch ihren jetzigen Alltag ihrem damaligen Idol etwas näher. Lorenz hingegen schämte sich dafür, dass Klara berufsbedingt Kondome auspackte und über Bananen rollte. Und das auch noch vor Publikum. Sein Vater, Konrad Weber, ein unsympathischer, berenteter Personalleiter, hatte sie mal beim Sonntagskaffee abschätzig gefragt, wo sie sich denn beruflich in zehn Jahren sehe und sie hatte scherzhaft gekontert: »Als Leiterin eines florierenden Fetisch-Clubs für Männer in leitenden Positionen.« Seitdem gehörte sie in Lorenz' Familie nicht mehr zu den Lieblingsgästen.

»Wie hat Lorenz eigentlich auf die frohe Botschaft reagiert?«, fragte Romy über ihre Bildschirme hinweg.

»Ach…« Klara rührte nachdenklich in ihrem Tee. Ihr war immer noch etwas flau im Magen und der Nachmittag drückte auf ihre Augenlider. »Er fand die Botschaft weniger froh.«

Romy hätte sich gerne direkt über verantwortungslose Männer im Allgemeinen und über Lorenz im Besonderen aufgeregt, wusste aber, dass sie Klara damit keine Hilfe wäre. »Und wie geht's dir damit?«

»Stellst du mir gerade ernsthaft die ultimative Pädagogenfrage?«

»Ja«, gestand Romy, »und danach frage ich dich, was du brauchst.«

Klara schnaubte, freute sich aber insgeheim über die emotionale Zuwendung ihrer Freundin. »Also, gestern Abend ging es mir nicht gut, aber ich habe Lorenz auch ganz schön mit den Babynews überfallen. Ich bin sicher, dass er sich auch bald auf unser Kind freuen kann, wenn ich ihm etwas Zeit lasse.« Sie lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück und legte ihre Hände auf ihren noch sehr flachen Bauch. »Und ich brauche von dir, dass du mir im Laufe der Schwangerschaft Bescheid sagst, wenn ich vor lauter Hormonen bescheuertes Zeug rede.«

»Hm…hm…« Romy neigte den Kopf leicht zur Seite und machte die Geräusche, die professionelle Zuhörer so machten.

»Romy, ich erkenne soziales Grunzen, wenn ich es höre. Ich beherrsche das auch!« Klara fühlte sich nicht ganz ernst genommen.

»Sorry, du hast recht. Dann gebe ich dir mal dein gewünschtes Feedback bezüglich hormoneller Verwirrung: wenn dein Lorenz Zeit braucht, um dich, seine schwangere Freundin, in den Arm zu nehmen und sich mit dir über eure Vermehrung zu freuen, dann ist er freundlich formuliert ein Blödmann.«

Klara schnappte nach Luft. »Das sagst du doch nur, weil du noch nie ein Fan von Lorenz warst. Und außerdem bist du mal wieder gereizt, weil dir etwas Vernünftiges im Magen fehlt.«

»Du wolltest meine ehrliche Meinung hören«, rechtfertigte Romy sich. »Und du hast recht. Du verdienst einen Mann, der dich über alles liebt und dich glücklich macht und dich nicht nach einem positiven Schwangerschaftstest weinend alleine lässt. Deshalb bin ich von Lorenz nicht begeistert. Und ja, ich habe riesigen Hunger, weil ich meine Eierration für den ganzen Tag schon um elf Uhr alle hatte und die halbe Ananas zum Mittagessen auch schon durchgerutscht ist.«

Klara wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.

Romy hatte das Gefühl, dass sie nicht noch mehr sagen sollte.

»Gehen wir zum Bäcker?«, fragte Klara.

»Liebend gern.«

Nichts konnte die beiden besser versöhnen als ein Stück Käsekuchen.

Die kommenden Tage und Wochen vergingen für Klara wie in Zeitlupe. Obwohl Romy nach drei Tagen grüne Smoothies statt Eier mit zur Arbeit brachte - Romy machte jetzt Meal Replacement -, ließ Klaras Übelkeit nicht nach. Sie war weinerlich, ständig müde und zwischen ihr und Lorenz lag eine undefinierbare Grundspannung. Sie war froh, dass sie regelmäßig E-mails von unsicheren Jugendlichen bekam, deren Fragen ihre Laune aufhellten.

»Hey Frau Neumann, ich habe mal eine Frage. Ich möchte bald mit meinem Freund (Adrian, sechzehn, voll süß) mein erstes Mal erleben. Ich bin vierzehndreiviertel und noch Jungfrau...echt peinlich. Meine Frage: geht das Jungfernhäutchen mit einem Knall kaputt, der meine Eltern wecken könnte? Das wär nämlich oberpeinlich. Die erfahrene Nicki aus der 8a hat das behauptet. Wär echt cool, wenn Sie antworten würden. Danke und YOLO! Jackie«

»Liebe Jackie, danke für deine E-mail und für dein Vertrauen. Zunächst einmal kann ich dich beruhigen: das Jungfernhäutchen macht beim Einreißen keinerlei Geräusche und schon gar keinen Knall. Nicki hat also vielleicht nicht ganz so viel Erfahrung, wie sie behauptet. Ich finde dich allerdings noch ganz schön jung für Sex! Wenn du dir aber absolut sicher bist, dass du das schon erleben möchtest, dann denk an die Verhütung. Alles Liebe, Klara Neumann

PS: Was heißt YOLO?«

»You only live once. Das weiß doch jeder, Frau Neumann!«

Ein weises Motto, dachte Klara. Die nächste E-mail brachte sie ebenfalls zum Lachen.

»Na, wieder mal was Lustiges?«, fragte Romy.

»Ja«, gluckste Klara. »Ich weiß jetzt endlich, warum du ständig neue Diäten ausprobierst.«

»Und zwar?« Romy guckte teils gespannt, teils unsicher.

»Um was anderes zu kompensieren.« Klara las die E-mail laut vor. »Liebe Frau Neumann, meine Oma hat gesagt, dass man von Selbstbefriedigung dick wird.« Sie lachte und war froh, dass ihre Oma sich nie in solche Themen eingemischt hatte.

Romy lachte mit und bewarf Klara dabei mit Papierkügelchen. »Ha ha.«

»Aber jetzt mal ernsthaft. Warum machst du andauernd Diäten? Nötig hast du das nämlich nicht.« Klara fand Romy mit ihrem schwarzen Bob, den grünen Augen, der blassen Haut und der kurvigen Figur ausgesprochen hübsch.

»Ach«, Romy wurde nachdenklich. »So richtig unwohl fühle ich mich in meinem Körper nicht, aber in meiner Familie und Verwandtschaft war es einfach immer normal, dass die Frauen Diäten machten.« Sie schien sich bewusst innerlich aufzurichten. »Und irgendwie ist das für mich so eine Art Lifestyle. Wenn ich Promidiäten nachmache, bin ich schon etwas mehr wie die Jennifer Anistons dieser Welt.«

Klara versuchte zu verstehen und nickte, auch wenn sie froh darüber war, dass Romy Romy war und nicht irgendeine Hollywoodgrazie.

»Außerdem kann ich mich erinnern, dass mein Patenonkel mir in mein Poesiealbum geschrieben hat: »Wo die Kilos sinnlos walten, kann kein Knopf die Hose halten.«« Romy schluckte schwer und atmete durch. »Aber das ist lange her. Möchtest du eine Reiswaffel abhaben?«

In der zehnten Schwangerschaftswoche stand der nächste Termin bei Dr. Womanizer Dubois an. Klara zählte schon seit der Terminvereinbarung die Stunden und war unendlich darauf gespannt, ihr Kind wiederzusehen. Lorenz hatte sie diesmal gar nicht erst gefragt, ob er mitkommen möchte, nachdem er sie am Abend vor vier Wochen mit den Worten begrüßt hatte: »Wie war es bei deiner Gyn? Wird es ein Junge?«

Romy hatte ihr hingegen - vermutlich nicht ganz uneigennützig - angeboten, sie zu begleiten, aber Klara zog es vor, mit ihrem Kind und ihrem neuen Lieblingsarzt alleine zu sein.

»Salut Chérie, wie geht es Ihnen und Ihrem kleinen Bauchbewohner?«, begrüßte Dr. Dubois sie herzlich. Vermutlich war das einfach seine Art, mit Frauen umzugehen und hatte nichts mit ihr persönlich zu tun, versuchte sie sich einzureden. Trotzdem fühlte sie sich extrem geschmeichelt und gab sich hin und wieder der Fantasie hin, Dr. Dubois stehe tatsächlich nur auf sie.

»Sehr gut, danke!« Statt ihrem üblichen Frauenarztoutfit, das seit Jahren aus einem unförmigen, fast knielangen Herrenhemd und schwarzer Leggins bestand, trug sie heute ein figurbetontes, marineblaues Strickkleid zu ihren braunen Lederstiefeln.

»Na dann wollen wir uns das Kleine mal anschauen.« Dr. Dubois betätigte das Ultraschallgerät. »Salut, mon ami!«, begrüßte er das zappelnde Gummibärchen auf dem Monitor. »Ihr Kind strampelt schon ganz kräftisch! Se’en Sie das?«

»Ja.« Klara kämpfte schon wieder mit den Tränen. »Kaum zu glauben, dass da schon Beinchen und Ärmchen dran sind!«

»Mais oui! Da wohnt ein süßer kleiner Knopf in Ihrem Bäuschlein - ein neuer Mensch, an dem schon fast alles dran ist. Weinen Sie ruhig, Mademoiselle«, bekräftigte Dr. Dubois sie und hielt ihr ein Papiertuch entgegen, womit er eigentlich das Gel vom Bauch wischte. »Eine so 'übsche Frau wie Sie kann keine Träne entstellen.«

»Danke.« Klara schnäuzte sich geräuschvoll und glücklich. Jetzt weiß ich endlich, wie ich dich in den Briefen nennen werde, dachte sie selig.

Nachdem Romy ihr eingeschärft hatte, dass sie unbedingt eine Hebamme brauche und sich so bald wie möglich um eine bemühen müsse, hatte Klara sich die Finger wund gewählt und letztendlich einen Termin mit der sympathisch klingenden Hebamme Frau Bergmann vereinbart. »Die Vor- und Nachsorge, die die Hebammen leisten, kannst du von keinem Frauenarzt erwarten - nicht mal von deinem Monsieur Charmebolzen«, hatte Romy eindringlich erklärt. »Meine Cousine ist Hebamme in Düsseldorf und unterhält uns auf Familienfesten immer mit den spannendsten Storys aus dem Kreißsaal.«

Dass man sich so früh eine Hebamme suchen musste, damit hatte Klara nicht gerechnet. Dass es gerade so viele Schwangere in Bielefeld gab, aber auch nicht. Entweder hatten die Bielefelder die letzten Monate intensiv genutzt, um sich wie die Karnickel zu vermehren oder ihr Gehirn spielte ihr mit selektiver Wahrnehmung einen Streich. In der Innenstadt schien es vor zart angedeuteten bis kugelrunden Babybäuchen an jeder Ecke nur so zu wimmeln. Am liebsten hätte Klara jede einzelne mit einem wissenden Kopfnicken begrüßt, so wie es Motorradfahrer auf der Straße untereinander tun, aber: ihr Bauch war noch flach wie ein Bügelbrett. Sie war noch inkognito schwanger.

Immerhin kann ich mir schon mal abgucken, was man in Sachen Mode als Schwangere so trägt, dachte sie gut gelaunt.

Als sie in der Buchhandlung einen Schwangerschaftsratgeber und ein Schwangerschaftstagebuch erstand, musste sie ihr Glück einfach teilen. Sie konnte es kaum erwarten, ihre Familie endlich einzuweihen - auf die von Lorenz hätte sie dabei gut verzichten können - allerdings wollten sie warten, bis sie die ersten zwölf Wochen geschafft hatten.

»Die sind für mich«, kommentierte Klara strahlend ihren Einkauf, während die Verkäuferin die Bücher scannte.

»Aha.« Die Dame konzentrierte sich auf ihre Arbeit und nannte Klara den Betrag, den sie bezahlen sollte.

»Ich bin nämlich schwanger.« Meine Güte, war das ein tolles Gefühl, diesen Satz sagen zu dürfen!

»Herzlichen Glückwunsch.« Höflich lächelnd nahm sie Klaras EC-Karte entgegen.

»In der zehnten Woche.«

Die Verkäuferin wurde langsam aufmerksamer. »Das ist aber noch ganz schön früh.«

»Ja, ich weiß.« Klara legte eine Hand auf ihren Bauch. »Aber es ist alles gut.«

»Das war es bei der Nachbarin meiner Mutter auch«, begann sie zu erzählen, während sie die Bücher in eine Tüte packte. Klara registrierte den unheilvollen Tonfall der Frau. »In der zehnten Woche sah alles gut aus, aber als sie vier Wochen später zum Arzt kam, konnte er keinen Herzschlag mehr feststellen.«

Klara wurde etwas mulmig. »Und sie hat nichts davon bemerkt?«

»Nein.« Die Verkäuferin schüttelte den Kopf und ergänzte dramatisch: »Keine Schmerzen, keine Blutungen, kein einziges Anzeichen.«

Sowas war seit neustem ihr absoluter Alptraum. »Wie schrecklich. Die Arme.« Sie schluckte schwer und befürchtete, dass ihre weichgewordenen Knie jeden Augenblick nachgeben könnten.