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Jens Kaltenbacher hat sein Leben satt: Familie weg, Job weg, Wohnung weg. Als er sich von einem Baugerüst stürzen will, kommt er dem Einbrecher Karl Aumann in die Quere. Eine Partie Schach soll über Leben und Tod entscheiden. Kann Karl den lebensmüden Jens retten? Was beide nicht ahnen: Es ist nicht das erste Mal, dass sich die Wege ihrer Familien kreuzen. In fünf spannenden Rückblicken erzählt Eckart zur Nieden vom Schicksal der Familienmitglieder im Laufe der Geschichte: Angefangen bei den Pestseuchen im 14. Jahrhundert über die Reformation und den 30-jährigen Krieg bis in die Gegenwart.
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Seitenzahl: 212
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Eckart zur Nieden
Sein letzter Zug
Roman
Cover
Titel
Impressum
DER LEBENSMUT …
Um 1348 Ein Dorf zwischen Straßburg und Köln zur Zeit der großen Pestseuche
Um 1538 Eine Kleinstadt zur Zeit der Reformation
Um 1631 Magdeburg zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges
Um 1732 Eine Kleinstadt zur Zeit der Aufklärung
Um 1849 Eschenbach/Hessen zur Zeit der Deutschen Revolution
In der Gegenwart
Weitere Bücher
Da es in dieser Erzählung um die Generationenfolge geht, widme ich sie meinen vier Enkeln:
Marilena, Samuel, Anastasia und Nathanael.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-86506-822-4
© 2015 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers
Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers
Titelfotos: fotolia: Thomas Otto, Bertold Werkmann, steven, vik_y
shutterstock: Donna Beeler
Satz: Brendow Web & Print, Moers
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015
www.brendow-verlag.de
DER LEBENSMUT verließ Jens Kaltenbacher am zwölften Mai gegen elf Uhr dreißig.
Das Datum ist bemerkenswert, weil ein solches Ereignis, wenn es sich überhaupt auf Tag und Stunde festlegen lässt, eher an einem grauen Novembertag eintritt, und nicht im sonnigen Frühling. Wenn rundum die Natur zum Leben erwacht, erscheinen Gedanken an den Tod eher unpassend.
Der Anlass war bei Jens Kaltenbacher auch fast banal, verglichen mit all den anderen Schicksalsschlägen, die er bisher schon hatte hinnehmen müssen: Der Vermieter hatte ihm gekündigt. Der Brief war mit der Post gekommen.
Der Verlust der Wohnung war ja nicht schlimmer als der Verlust seiner Ehefrau, die ihn vor Jahren samt seinem Kind verlassen hatte, und der Verlust seiner Arbeit. Und der Verlust seines Selbstwertgefühls. Die Kündigung war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
Ach nein, diese Redewendung malt ein falsches Bild. Besser sollte man sagen: Es war der letzte Tropfen, der aus dem Fass sickerte. Nun war Jens Kaltenbacher leer.
Stundenlang hockte er in dem alten Korbsessel und brütete vor sich hin. Ach nein, auch das Wort »brüten« zeigt ein falsches Bild. Beim Brüten helfen die Vögel ja bei der Entstehung neuen Lebens, indem sie etwas von ihrer Körperwärme abgeben. Aber Jens ging es weder um neues Leben noch war Wärme in ihm. Im Gegenteil – je länger er da saß und seinen Gedanken und Gefühlen nachhing, desto kälter wurde es in ihm.
Als er schon seit Stunden da saß – es war inzwischen dunkel geworden – durchzuckte ihn auf einmal ein Gedanke: Warum sitze ich schon wieder nur tatenlos da, kämpfe mit meiner Trauer und mit der Erinnerung an alle Niederlagen, statt endlich damit Schluss zu machen?
Er stand auf mit einer Entschlossenheit, die er schon seit langem nicht mehr gezeigt hatte.
Er fasste den Entschluss, im Industriegebiet von der Brücke auf die Eisenbahngleise zu springen. Das war ein Plan mit doppelter Sicherheit: Sollte er den Sturz überleben, würde ihn der nächste Zug überfahren. Nun wurde er seltsam ruhig.
Jahrelang hatte er gekämpft – um seine Ehe, um seine Ehre, um seinen Wert in der Gesellschaft und in den eigenen Augen. Nun ja, auch das Wort »kämpfen« mochte nicht ganz passend sein. Eher hatte er etwas ersehnt, aber seine Mühe darum war halbherzig geblieben, weil ernsthafter Streit seine Sache nicht war.
Jetzt war er müde und konnte nicht mehr. Jahrelang hatte er festhalten wollen, was nicht zu halten war, weil es ihm wie Sand durch die Finger rann. Jetzt ließ er los, und das empfand er als Erleichterung.
Jens verließ die Wohnung, die ihm nun sowieso kein Zuhause mehr sein konnte. Er schloss ab und legte den Schlüssel unter die Fußmatte. Dafür gab es freilich keinen einleuchtenden Grund, aber er konnte sich in dieser besonderen Situation unmöglich über jeden kleinen Schritt Rechenschaft abgeben.
Einen Abschiedsbrief schrieb er nicht. Davon hielt er nichts.
Was bezweckt denn ein Selbstmörder mit einem Abschiedsbrief? Sollen den Hinterbliebenen Schuldgefühle bereitet werden? Nach dem Motto: Seht nur, wie schlecht es mir ging, und niemand hat mich verstanden und sich um mich gekümmert! Oder: Nun seht ihr, dass es mir ernst war! Oder soll ein Abschiedsbrief eine Erklärung sein, wo der Schreiber geblieben ist – wenigstens solange, bis man seinen Leichnam gefunden hat?
All das konnte für Jens Kaltenbacher kein Grund sein. Es gab niemanden, der nach ihm fragen oder sich seinetwegen Sorgen machen würde.
Und sollte doch jemand von den neugierigen Nachbarn fragen, wo denn dieser verschlossene Mann geblieben ist, mittelgroß, mittelalt, und seiner nachlässigen Kleidung nach zu urteilen wohl auch mittellos, dann interessierte ihn das nicht. Er fand keinerlei Befriedigung darin, sich auszumalen, wie er von fremden Menschen im Nachhinein bedauert würde. Die einzige Befriedigung für ihn war, dass er jetzt mit dem Kämpfen aufhören konnte. Einfach nichts mehr tun, nicht festhalten wollen, was nicht zu halten war, nichts erhoffen müssen, was doch nie kam.
Er schlurfte zur Treppe. Beim Hinuntersteigen wäre er fast gefallen, weil er mit seinen Gedanken ganz woanders war, und konnte sich gerade noch am Geländer festhalten. Nein, das durfte jetzt nicht passieren! Verletzung, Poltern, jemand riefe den Krankenwagen, Ärzte, Untersuchungen … Und wieder müsste er sich dem Lebenskampf stellen, statt endlich das alles zu beenden.
Niemand war auf der Straße. Wie auch? Es musste so gegen Mitternacht sein, vielleicht auch erst elf. Da schliefen hier im Wohngebiet die Leute. Gut so!
Er trottete die Straße hinunter. Es ging leicht bergab. So wie es in seinem Leben immer bergab gegangen war, Schritt für Schritt. Es ging ihm durch den Kopf: Aber irgendwann ist man unten. Das hat dann den Vorteil, dass es nicht mehr weiter hinuntergeht. Bald bin ich auch ganz unten. Gut, wenn ich nach meinem Sturz von der Brücke nicht weiter abstürzen kann!
Dann ist vielleicht mancher zufrieden, dass ich aus dem Weg bin. Weggeräumt. Sogar von mir selbst. Mancher wird sogar klammheimliche Freude empfinden. Egal! Was andere fühlen könnten, ist mir egal! Es war ihnen ja auch egal, was ich empfunden habe. Niemand wird um mich trauern, und ich trauere um niemanden.
Nein, das stimmt nicht ganz. Mit Arno verbindet mich vielleicht doch noch etwas. Immerhin ist er mein Sohn. Er ist jetzt … Moment … elf Jahre alt. Ob er trauert, wenn er es erfährt? Vielleicht ein wenig, eine begrenzte Zeit. Ehrlich gesagt – wenn er nicht länger trauert, liegt es wohl auch an mir. Ich hätte mehr um ihn kämpfen sollen, statt um meine Selbstbehauptung zu kämpfen.
Was grübele ich denn da!, ermahnte Jens Kaltenbacher sich selbst. Eben war es mir noch gleichgültig, was andere über mich denken. Warum soll mir mein Sohn nicht auch gleichgültig sein? Es ist doch Unsinn, wenn manche Leute sagen, sie lebten in den Kindern weiter. Nein, die Kinder sind eigene Persönlichkeiten mit ihrem eigenen Leben. Wenn ich nicht mehr lebe, ist nichts mehr von mir da. Auch nicht im Leben meines Kindes. Wahrscheinlich noch nicht einmal in seiner Erinnerung.
Ich wäre vielleicht lebendiger in seiner Erinnerung geblieben, wenn mir das wichtig gewesen wäre. Wenn er, Arno, mir wichtig gewesen wäre. Wichtiger vielleicht sogar als ich mir selbst. Wenn ich zum Beispiel an seinem Geburtstag … oh, der war ja vorgestern! Habe ich in meinen Sorgen auch vergessen.
Jens wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als er irgendwo gegen rannte. Ein Schmerz am Kopf durchzuckte ihn. Da sah er es im schwachen Licht der Straßenlaternen: Vor dem großen Gebäude rechts war ein Gerüst aufgebaut. Anscheinend sollte die Fassade gestrichen oder neu verputzt werden. Dass die Leute keine Warnung … ach, da hing ja eine Laterne! Er hatte sie nicht bemerkt, weil sein Blick nach innen gerichtet gewesen war.
Kaltenbacher sah an dem Gerüst hoch. Ein Gedanke kam ihm: Ich könnte auch da herunterspringen! Von ganz oben, fünfter Stock, hinunter auf die Straße. Da erspare ich mir den Weg zur Brücke. Man würde mich auch schneller finden.
Verrückt, dass mir jetzt der Gedanke unangenehm ist, dass ich im Industrieviertel unter Umständen tagelang unentdeckt liegen könnte. Ist doch eigentlich egal, was mit den Resten von mir passiert.
Trotzdem sah er sich um, ob es eine Möglichkeit gab, auf das Gerüst zu kommen. Weiter oben gab es Leitern von einer Arbeitsebene zur nächsten. Hier unten aber nicht. Natürlich – Unbefugte sollten nicht hinaufsteigen können, weder Selbstmörder noch Einbrecher noch spielende, abenteuerlustige Kinder.
Da hing ein großes Schild, das er in dem schwachen Licht nur mit Mühe lesen konnte: »Betreten der Baustelle verboten. Eltern haften für ihre Kinder.« Also, sollte mein Junge da raufklettern, müsste ich haften. Umgekehrt aber muss er nicht haften, wenn ich klettere. Für mich haftet niemand. Ich bin ganz allein für meine Handlungen verantwortlich.
Kaltenbacher war zweiundvierzig und nicht unsportlich. Dass er anderen so erschien, lag wohl mehr an seelischen als an körperlichen Mängeln. Also umfasste er einen der Ständer und zog sich hoch, sein Fuß fand Halt auf einem schrägen Holm, und dann konnte er sich auf eine schmutzige Bohle wälzen, etwa zweieinhalb Meter über dem Bürgersteig.
Dass seine Hose dabei einen Riss bekam, war kein Verlust. Es würden bald noch mehr Risse und Blutflecke dazukommen. Nun kletterte er auf den Leitern weiter nach oben, immer höher, bis es nicht mehr weiterging.
Jens setzte sich auf die Bohle, um zu Atem zu kommen. Nun, eigentlich brauchte er keinen Atem, um zu springen. Aber … aber … was aber? Es gab kein Aber. Trotzdem saß er eine Weile da.
Wenn ich da unten angekommen bin – was dann? Ich habe dem Leben ein Schnippchen geschlagen, diesem Leben, das eigentlich keines mehr war. Und all den Kämpfen und Enttäuschungen und Niederlagen. Und all den Menschen, die mich hassen oder verachten oder denen ich gleichgültig bin. Dann kann mir keiner mehr was! Keiner kann mich beleidigen und verletzen, keiner mehr Ansprüche an mich stellen.
Kaltenbacher stand langsam auf.
»He! Du!«
Ein Schreck durchzuckte ihn. Was war das? Wer redete da? War er denn nicht allein hier oben? Konnten die Leute ihn denn nicht mal hier in Ruhe lassen, nicht mal in den letzten Augenblicken seines Lebens?
Knarrende Geräusche, dann spürte er das Vibrieren des Brettes unter seinen Füßen. Er sah sich nach rechts und links um. Nach vorn war ja wohl nicht nötig, und hinter ihm war die Wand, darüber begann die Dachschräge.
Von links kam eine Gestalt auf ihn zu. Etwa fünf Schritte entfernt blieb sie stehen. Ein Mann offenbar.
»Was machst du hier?«
Einige Augenblicke hing die Frage in der Luft. Dann murmelte Jens: »Das könnte ich auch fragen.«
»Ich rate mal«, sagte der andere. »Entweder hast du mich beobachtet, wie ich hier rauf geklettert bin, und bist dadurch auf die Idee gekommen, auch einzubrechen. Oder du hast selbst von unten das schräg gestellte Fenster gesehen.«
»Was für ein Fenster?«
»Frag nicht so doof! Dieses Fenster hier. Ein schneller Griff, und es ist offen. Und ich bin im Nu drin. Der Chef hätte seinen Angestellten in diesem Bürohaus sagen sollen, dass man kein Fenster über Nacht schräg gestellt lässt, wenn ein Gerüst vor dem Haus steht.«
»Sie wollen wohl einbrechen?« Das war natürlich erst recht eine dumme Frage, aber Kaltenbacher wusste nichts Sinnvolleres zu sagen.
»Oh – wir sind per Sie! Wie vornehm! Würde der Herr so freundlich sein und mir den Zweck seines Besuches hier in luftiger Höhe verraten? Hatte der Herr etwa nicht die Absicht, dieses Haus durch ein Fenster zu betreten?«
»Nein.«
»Nein? Und welche Absicht hatte der Herr sonst? Die schöne Aussicht kann wohl kaum der Grund gewesen sein bei dieser Dunkelheit. Was … oder …« Der Mann vergaß alle Ironie. Jens hörte es an der Stimme. »Oder wolltest du etwa …?« Er deutete nur mit der linken Hand zur Straße hinunter.
»Das geht dich nichts an!«, murmelte Kaltenbacher.
»Stimmt. Geht mich nichts an. Abgesehen davon, dass es sein könnte, dass ich ein schlechtes Gewissen kriege. Hinterher, wenn ich keinen Versuch gemacht habe, dich davon abzuhalten.«
»Im Gegenteil. Du kannst ein ruhiges Gewissen haben, wenn du mir nichts in den Weg legst. Ich will ja da runter. Ich sehne mich danach.«
Eine Weile schwieg der andere. Dann murmelte er: »Scheiße!«
»Verschwinde! Meinetwegen da in das Fenster, aber verschwinde!«
»So einfach geht das nicht! Meinst du, ich kann dir einfach gelassen den Rücken zukehren, wenn ich weiß, dass du im nächsten Moment da runterspringst?«
»Warum nicht?«
»Mann, ich habe keine Erfahrung mit so was! Was sagt man da?«
»Halt einfach die Klappe und sag nichts! Alles, was du sagen könntest, habe ich mir schon selbst gesagt.«
»Und? Hörst du nicht darauf?«
»Sehr witzig! Aber mir ist nicht nach Witzen zumute. Auch nicht nach psychologischen Ratschlägen, falls dir noch einer einfallen sollte. Und nicht nach vernünftigen Überlegungen und nicht nach warmen Worten. Ich will nur Schluss machen.«
»Schluss. Aha. Und du bist sicher, dass dann Schluss ist?«
»Was denn sonst? Du kommst mir doch jetzt nicht mit Himmel und Hölle und so was?«
»Mir fällt gerade noch ein Grund ein, weshalb ich dich davon abhalten sollte.«
»Du kannst mich nicht davon abhalten.«
»Der Grund ist: Das gibt vielleicht Lärm. Oder jemand sieht dich, oder entdeckt deine … also entdeckt dich kurz danach. Dann wimmelt es hier bald von Polizei. Und was mache ich dann? Ich kann mir meinen Einbruch abschminken!«
»Du tust mir unendlich leid!«
»Oder noch schlimmer: Jemand entdeckt mich hier oben und ich werde beschuldigt, dich runtergestoßen zu haben.«
»Ist mir egal. Oder soll ich dir eine schriftliche Bescheinigung geben, dass du nichts damit zu tun hast? Hast du Stift und Papier und eine Taschenlampe?«
»Würde mir auch nichts nützen. Denn dann würde jeder fragen, was ich hier oben zu suchen hatte.«
»War nur ironisch gemeint, du Idiot!«
»Ich denke, dir ist nicht nach Scherzen zumute.«
Kaltenbacher bückte sich unter der Stange durch, die als Schutzgeländer diente, richtete sich auf der anderen Seite über dem Abgrund auf, und hielt sich an der Stange fest. »Ich warte nicht ewig. Wenn du zugucken willst, kann ich dich nicht daran hindern.«
»Dann warte bitte noch ein paar Minuten, damit ich vorher verschwinden kann!« Der Mann wandte sich zur Leiter. »Schade drum! Sehr schade!«
»Um mich ist es nicht schade.«
»Mag sein, das kann ich nicht beurteilen, weil ich dich nicht kenne. Ich meinte aber: Schade um die gute Gelegenheit für einen Einbruch. Aber vielleicht auch nicht schade, wenn ich an Carola denke …«
Jens Kaltenbacher tauchte wieder unter der Stange durch zurück. »Meinst du, es wäre schade um mich, wenn du mich kennenlernen würdest?«
»Keine Ahnung. Kommt drauf an, was ich da finden würde, wenn ich in deinem Leben und deinem Wesen nachforsche. Aber so ganz allgemein denke ich, es ist um jeden schade, der sein Leben wegwirft. Es sei denn, er ist ein total fieser Typ – egoistisch, rücksichtslos, einer, der gewissenlos seinen Vorteil durchsetzt auf Kosten anderer. Bist du so einer? Dann wäre es nicht schade um dich.«
»So einer bin ich nicht. Im Gegenteil, ich bin das Opfer solcher Leute.«
»Dann wäre es auf jeden Fall schade um dich. Aber du hast mich falsch verstanden. Ich meinte eben, dass mir die Chance entgeht, einen kleinen Raubzug durch dieses Gebäude zu machen. Oh – da fällt mir was ein, was uns beiden nützen könnte. Eine Win-Win-Situation sozusagen.«
»Ach ja?«
»Wir steigen gemeinsam ein. Wenn wir nichts finden, oder nicht viel, kannst du ja immer noch springen. Aber vielleicht finden wir etwas sehr Wertvolles. Unten ist, glaube ich, ein Uhrengeschäft, oder ein Juwelier. Dann teilen wir die Beute. Ich habe den Vorteil, dass ich zum Zug komme und nicht von der Polizei gestört werde. Und du hast den Vorteil, na ja, dass du vielleicht mit deiner Beute dich von einem Teil deiner Sorgen loskaufen kannst.«
»Du hast wirklich originelle Ideen!«
»Komm, mach mit! Auf ‘ne halbe Stunde kommt es doch nicht an, wenn du Schluss machen willst.«
»Meine Sorgen kann man nicht mit Geld loswerden.«
»Sag das nicht! Du ahnst ja nicht, was man mit Geld alles kann!«
»Besonders, wenn es unrechtmäßig erworben ist.«
»Jetzt werde mir nicht moralisch! Was du gerade tun wolltest, ist auch nicht die edelste Handlung.«
Während er das sagte, machte der Mann sich an dem Fenster zu schaffen. In weniger als einer Minute war es offen.
Kaltenbacher staunte. »Du hast anscheinend Übung.«
»Kann man sagen. Bitte, der Herr!« Er verbeugte sich und machte eine einladende Bewegung mit der Hand. »Darf ich bitten, näherzutreten?«
Jens Kaltenbacher schüttelte nur den Kopf. Er lehnte sich über das Geländer und blickte in die dunkle Tiefe.
Der andere wandte sich vom Fenster ab und kam auf ihn zu. Es war offensichtlich, dass er den Selbstmord des traurigen Mannes verhindern wollte, aber er wusste nicht wie. Er setzte sich auf die Bohle, die Beine hingen über dem Abgrund. Daraufhin setzte Jens sich auch.
»Ich heiße übrigens Karl. Karl Aumann. Das kann ich bedenkenlos sagen, weil du entweder da runterspringen wirst – dann wird es kaum noch möglich sein, mich zu verraten. Oder du gehst mit mir da rein und teilst mit mir die Beute. Dann wirst du sicher auch nichts verraten, weil du beteiligt bist.«
Kaltenbacher antwortete nicht.
»Und wie heißt du, wenn ich fragen darf?«
»Jens Kaltenbacher.«
»Angenehm. Und?«
»Was – und?«
»Ich meine, was ist dein Problem? Sag‘s mir! Gut, einen Rat werde ich dir kaum geben können. Schade, dass meine Carola nicht hier ist, die wüsste wahrscheinlich, was man da … Na ja, wenn sie hier wäre, wäre ich wohl nicht hier.«
»Was quasselst du da für einen Unsinn?«
»Schon gut. Erzähle mir, was dich bedrückt! Es soll ganz nützlich sein, wenn man mal über seine Probleme redet. Habe ich gehört. Oder sogar gelesen.«
Als Jens nicht antwortete, fügte er hinzu: »Wenn man mal spricht mit einem vertrauenswürdigen Menschen.«
»Ach, das bist du wohl? Ein vertrauenswürdiger Einbrecher?«
»Gut, ich gebe zu, ich bin nicht das, was man sich landläufig unter einem ehrbaren Bürger vorstellt. Aber ich würde mich, glaube ich, trotzdem gut eignen als … als Mülleimer, bei dem du den ganzen Mist abladen kannst. Wenn du verstehst, was ich meine.«
Sie schwiegen beide einige Zeit. Unten fuhr ein einzelnes Auto vorbei. Irgendwo in der Stadt schlug eine Uhr, aber keiner von beiden machte sich die Mühe, die Schläge mitzuzählen.
Dann fing Kaltenbacher auf einmal an: »Sie haben mir die Wohnung gekündigt. Heute. Aber das alleine ist es nicht. Erst hat mich meine Frau verlassen.«
»Hatte sie einen anderen?«
»Weiß nicht. Ich glaube nicht. Es war einfach … wahrscheinlich war ich auch schuld.«
»Hattest du eine andere?«
»Nein. Ich habe mich wohl nicht so richtig um die Familie gekümmert und dafür eingesetzt. Aber sie war auch zu … Nein, ich will es nicht auf sie schieben.«
»Eine sehr edle Einstellung, wo sie nun nicht da ist, um sich zu verteidigen. Kinder?«
»Mein Sohn ist jetzt elf. Er ist bei ihr.«
»Seht ihr euch?«
»Nein.«
»Dann hast du dich nicht darum bemüht, ihn sehen zu dürfen?«
Kaltenbacher schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«
»Ja – warum nicht? Weißt du, ich wäre wohl gern so ein Typ wie du. Abgesehen natürlich von deiner verbrecherischen Tätigkeit, die finde ich schlecht. Aber sonst – du gehst auf die Dinge zu, du packst ohne Scheu heiße Eisen an, wenn ich dich richtig einschätze. Ich kann das nicht. Vielleicht war ich meiner Frau auch darum nicht männlich genug. Jedenfalls war das aber auch ein Grund, weshalb ich meine Arbeit verloren habe. Mein Chef meinte, für die Stellung, die ich hatte, würde es mir an Initiative fehlen. Er hat meiner Meinung nach insgesamt Unrecht, denn da spielt auch Mobbing eine Rolle. Aber es ist wohl auch etwas Wahres dran. Versteh mich recht, gekämpft habe ich schon. Für meine Begriffe auch heftig. Aber absolut gesehen, war es wohl nicht genug. Für mich ist es ein großer Schritt, dass ich Schluss machen will.«
»Es ist sicher ein Schritt in die falsche Richtung.«
»Mag sein. Aber einen anderen Schritt weiß ich nicht.«
Darauf hatte Karl Aumann keine Antwort.
»So, nun weißt du es. Wenigstens das Wichtigste. Und? Fühle ich mich erleichtert, dass ich es dir erzählt habe? Nein!«
»Hm. Und die Kündigung deiner Wohnung war der unmittelbare Anlass, dass du nun die Sache beenden willst? Ich meine, dein Leben?«
Jens nickte.
»Wie heißt denn dein Vermieter?«
»Larsen. Der hat hier in dem Viertel mehrere Häuser. Warum fragst du?«
»Larsen? Oh, dann ist das wohl der, dem das Geschäft hier unten gehört?«
»Was für ein Geschäft?«
»Inneneinrichtungen. Hier unter uns, in diesem Haus.«
»Hieß das nicht … äh …«
»Ja, es heißt anders. Irgendetwas mit Heim- oder Wohn- oder so. Aber es steht dabei: Inhaber Larsen. Mit Vornamen, aber den habe ich vergessen.«
»Na ja, ist ja auch egal.«
»Nein, das ist nicht egal! Mensch, Jens! Wenn du mit mir da runtergehst und wir beklauen ihn ordentlich, dann hast du dich wenigstens gerächt. Ist das nichts? Würde dir das nicht eine gewisse Befriedigung verschaffen?«
»Ich weiß nicht …«
»Mann, wenn du schon sagst, dass du gern so aktiv wärst wie ich, dann sei es doch auch! Steck doch nicht immer nur ein! Du hast schon genug eingesteckt! Tu was! Du brauchst es ja noch nicht einmal alleine zu tun, ich bin doch dabei!«
Jens reagierte nicht.
Karl stand auf. »Komm!« Er packte den anderen am Arm und zog ihn hoch. Der wehrte sich auch nicht.
Sie gingen zu dem offenen Fenster. Karl stieg als Erster hinein. Dann reichte er Jens die Hand, um ihm zu helfen. Der verschmähte die Hilfe und stieg allein über die Fensterbank.
Sie fanden sich in einem schlichten Büro wieder. Licht wollte Karl sicherheitshalber nicht machen. Aber als sie ins Treppenhaus kamen, brannte da eine schwache Notbeleuchtung.
Jens musterte den anderen. Der war jünger als er. Als sie unter einer der spärlichen Lichtquellen hindurchkamen, blickte er erstaunt dem Mann, der sich Karl Aumann nannte, ins Gesicht. Hatte er ihn schon einmal gesehen? Wohl kaum. Wo könnte das gewesen sein? Aber irgendetwas an ihm kam ihm bekannt vor.
Hatte er nicht das Gefühl, er sähe in sein eigenes Spiegelbild in jungen Jahren? Besonders das spitze Kinn!
»Ich muss dir etwas gestehen«, sagte Karl Aumann auf der Treppe zwischen dem dritten und dem zweiten Stock, »ich habe dich belogen.«
»Du hast was?«
»Reg dich nicht auf! Das Geschäft hat keinen Eigentümer namens Larsen, soweit ich weiß.
Ich hab das nur gesagt, damit du mitkommst.«
»Ein Einbrecher und ein Lügner! Worauf habe ich mich da eingelassen!«
»Immer noch besser, als aus zwanzig Metern Höhe auf die Straße zu springen!«
Kaltenbacher sagte nichts. In irgendeinem Winkel seines Denkens regte sich die Ahnung, dass der andere vielleicht Recht haben könnte.
Karl blieb, als sie im Erdgeschoss angekommen waren, vor einer Tür stehen, die im Gegensatz zu allen anderen Türen hier aus Metall zu sein schien. Er untersuchte das Schloss und den Rahmen genau.
»Scheiße! Das hier ist das Juweliergeschäft. Ich hatte gehofft, es wäre nur von außen gesichert, die Eingangstür und die Schaufenster. Und von innen käme ich rein.« Er klopfte an die Tür, um durch den Klang die Stärke einzuschätzen.
»Das hat keinen Zweck! Wahrscheinlich gibt es drinnen auch Bewegungsmelder!«, sagte Jens, und kam sich dabei schon wie ein Profieinbrecher vor. »Komm, wir steigen wieder nach oben!«
»Warte! Das da ist sicher die Tür zu dem Geschäft mit Inneneinrichtungen. Das nicht dem Larsen gehört. Da finden wir sicher auch was Wertvolles.«
Sie standen beide vor der verschlossenen Tür und sahen sich an.
»Pass auf!«, sagte Karl Aumann. »Ich trete die Tür ein und sehe mich schnell um. Sollte ich irgendwo einen Bewegungsmelder sehen, egal ob er hörbar Alarm gibt, oder nur für uns unbemerkt auf der Polizeiwache oder bei einem Sicherheitsdienst, dann rennen wir die Treppe wieder rauf. Bis jemand kommt, haben wir genug Zeit, abzuhauen. Wenn ich nichts finde, gibt es keine Anlage. Das halte ich auch für wahrscheinlicher.«
Er trat einen Schritt zurück, hielt sich an seinem Partner fest, um sicher auf einem Bein zu stehen, und trat gegen die Tür. Es geschah zunächst nichts. Aber er versuchte es weiter, und beim vierten Tritt flog die Tür auf.
Beide blickten sich in dem schwachen Licht, das durch die Schaufenster von der Straße herein fiel, nach Überwachungsanlagen um. Sie fanden nichts dergleichen.
Karl zog sein Hemd aus und knotete daraus eine Art Sack. Er ging langsam an den Regalen entlang und steckte Gegenstände ein, die ihm wertvoll erschienen und die nicht zu sperrig waren: Einige Vasen, zwei kleine Originalgemälde, einen kleinen orientalischen Wandteppich aus Seide, eine Wanduhr aus Holz und Perlmutt, eine Schale aus Keramik.
»Ich komme mir schäbig vor!«, murmelte Jens, als Karl auch sein Hemd beanspruchte. »Komm, lass uns aufhören! Ich jedenfalls will nichts davon.«
Als Karl gerade noch ein Schachspiel einstecken wollte, mit wundervoll geschnitzten Figuren aus Elfenbein und Ebenholz, fiel ihm etwas ein.
»Spielst du Schach?«
»Nicht meisterlich, aber es geht so.«
Karl stellte das Schachspiel – vorsichtig, damit die schon aufgestellten Figuren nicht verrutschten – auf ein kleines Tischchen in einer hinteren Ecke des Ladens. Die Sitzecke war durch die Schaufensterscheibe nicht zu sehen. Er zog eine der kostbaren Stehlampen heran und schaltete sie ein.
»Komm, wir spielen!«
»Wie? Jetzt? Hier?«
»Warum nicht? Wir haben noch Zeit, es ist noch lange dunkel.«
»Du bist ein komischer Typ! Dreist! Oder abenteuerlustig. Oder … Nein, ich weiß: Du willst mich hier lange genug festhalten, damit ich von meinem Vorsatz abkomme!«
»Ich schlage vor, wir machen einen Preis aus. Wenn ich gewinne, bestimme ich, was weiter geschieht. Ich nehme die Sachen mit und du versprichst, nicht zu springen.
Wenn du gewinnst, bestimmst du. Ich lasse alle Wertsachen da und du springst meinetwegen, wenn du dann noch willst. Setz dich doch!«
Und Jens setzte sich wortlos.
Es kam ihm wie eine Erleichterung vor, dem Plan zuzustimmen. Er wusste sowieso nicht, was er tun sollte. Hin und her gerissen zwischen seinem ursprünglichen Vorhaben auf der einen Seite und dem Gemisch aus Furcht, nüchternen Überlegungen und dem Zureden dieses Mannes auf der anderen Seite, konnte er sich nicht entscheiden. Mit diesem Spiel wurde ihm die Entscheidung abgenommen. Fast war er Karl dankbar.
Der hielt ihm zwei Fäuste hin. Jens tippte auf eine und hatte damit weiß gewählt. Er eröffnete das Spiel zaghaft mit dem rechten Bauern.
***
Bist du auch ein Schutzengel?
Nein. Musiker vor dem Thron des Allerhöchsten.
Komm mal, und guck dir das an!
Zwei Männer spielen Schach. Na und?
Die Situation ist doch sehr merkwürdig, findest du nicht? Zwei Einbrecher, von denen der eine eben noch sein irdisches Leben mit Hilfe der Gravitation beenden wollte …
Hm, ja. Die Menschen sind eben manchmal seltsam.
Aber das besonders Interessante daran hast du noch gar nicht gesehen.
Was?
Gehen wir mal einige Zeit zurück.
Zurück?
Du weißt doch: Für die Menschen ist Zeit eindimensional. Es geht nur von der Vergangenheit in die Zukunft. Beziehungsweise die Zeit fließt von der Zukunft in die Vergangenheit.
Ja, ich weiß. Es muss schrecklich sein, so eingesperrt zu sein. Geschehenes nicht zurückholen zu können und die Zukunft nicht zu kennen. Gut, dass wir nicht diesen Zwängen unterworfen sind!
Darum können wir, was sie nicht können. Schau dir mal mit mir diese Situation an: Das war etwa sechshundertsiebzig Jahre vor diesen beiden.
Nur sechshundertsiebzig Jahre? Ein Jahr nennen sie eine Umkreisung ihrer Erdkugel um die Sonne, nicht wahr?
Ja. Was für uns jederzeit jetzt ist, ist für die beiden lange her. Schau!
Ah – die spielen auch Schach. Ein Mann und ein Mädchen. Und sieh mal, der junge Mann bei den Pferden, der hat eine gewisse Ähnlichkeit mit den beiden Einbrechern.
Rein optisch meine ich. Mit dem einen hat er die roten Haare gemeinsam, und mit dem anderen das spitze Kinn.
Lass uns mal sehen, was passiert!
Sag mal, wie kommst du denn darauf, die zu beobachten? Ich meine die von – wie heißt es bei denen? – von heute?
Aus demselben Grund, aus dem du vor dem Thron Posaune spielst.
Ach, es ist deine Aufgabe? Er ist dir zugewiesen?
Stimmt.
Verstehe. Und wenn er gesprungen wäre? Hättest du dann – wie heißt es in der Heiligen Schrift – ihn auf Händen getragen, damit er seinen Fuß nicht an einen Stein stößt?
Solche spektakulären Aktionen sollen nur sehr selten angewendet werden. Du kennst doch die Order: Wir sollen uns immer im Hintergrund halten.
Verstehe. Und darum hast du einen anderen Weg gesucht.
Und gefunden.
Hast diesen Dieb eingespannt. Hm. Gute Arbeit!
Danke! Und jetzt schau her!