Selbstlernen mit einem Online-Sprachlernprogramm - Thanh Hien Bui Thi - E-Book

Selbstlernen mit einem Online-Sprachlernprogramm E-Book

Thanh Hien Bui Thi

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Beschreibung

In diesem Buch steht eine qualitative Studie im Mittelpunkt, die den Umgang von vietnamesischen DaF-Lernenden auf Niveaustufe A1 mit dem Online-Sprachlernprogramm Duolingo zum selbstständigen Erwerb der deutschen Sprache im grammatischen, lexikalischen und phonetischen Bereich untersucht. Dabei wurden ihr Erstkontakt mit dem Programm, ihre Nutzungsweisen und ihre Lernhandlungen sowie ihr Lernverhalten beobachtet. Anhand der Auswertungsmethode der qualitativen Inhaltsanalyse mithilfe der Software MAXQDA wurden Daten aus Interviews, Fragebögen und Bildschirmaufzeichnungen analysiert. Danach wurden Ergebnisse zu verschiedenen Aspekten wie z. B. zum Lernverhalten bei der ersten Begegnung mit Duolingo, zum Umgang mit Duolingo beim DaF-Erwerb, zu Einflussfaktoren auf die Unterbrechung sowie das Weiterlernen und fünf Typen bei der Nutzung von Duolingo ermittelt.

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Thi Thanh Hien Bui

Selbstlernen mit einem Online-Sprachlernprogramm

Eine empirische Untersuchung zum Lernverhalten von DaF-Lernenden auf Niveaustufe A1 beim Umgang mit Duolingo

DOI: https://doi.org/10.24053/9783823395300

 

© 2022 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 0175-7776

ISBN 978-3-8233-9530-0 (Print)

ISBN 978-3-8233-0345-9 (ePub)

Inhalt

DanksagungAbkürzungsverzeichnis1 Einleitung2 Selbstlernen von Fremdsprachen mit digitalen Medien2.1 Selbstlernen von Fremdsprachen2.1.1 Der Begriff Selbstlernen2.1.2 Motivation2.1.3 Lernstile2.1.4 Lernstrategien2.1.5 Lerntypen2.2 Digitale Medien für das Selbstlernen2.3 Potenziale und Grenzen des Selbstlernens mit digitalen Medien2.4 Zusammenfassung3 Online-Sprachlernprogramme im Bereich DaF3.1 Zum Begriff Online-Sprachlernprogramme3.2 Konzeption von Online-Sprachlernprogrammen3.2.1 Lerntheoretische Grundlagen3.2.2 Anforderungen an Online-Sprachlernprogramme3.3 Online-Sprachlernprogramme für DaF-Lernende3.4 Duolingo3.4.1 Benutzer*innenfreundlichkeit3.4.2 Lernmethode3.4.3 Aufbau der Lerneinheiten3.4.4 Fremdsprachvermittlung und Übungen3.4.5 Feedback3.4.6 Zusätzliche Funktionen3.5 Zusammenfassung4 Methodisches Vorgehen4.1 Forschungsmethoden4.1.1 Qualitative Forschung4.1.2 Usability-Evaluation4.1.3 Rezeptionsforschung4.2 Methoden der Datenerhebung4.2.1 Fragebogen4.2.2 Interview4.2.3 Videographie4.2.4 Lautes Denken4.2.5 Weitere Formen der Datenerhebung4.3 Untersuchungsteilnehmende4.3.1 Beteiligte der Pilotstudie4.3.2 Beteiligte der Hauptstudie4.3.3 Vietnamesische Lernkultur4.3.4 Fremdsprachenlernen in Vietnam4.4 Ablauf der Untersuchung4.4.1 Pilotstudie4.4.2 Hauptstudie4.4.3 Forschungsethische Aspekte4.4.4 Rolle der Forscherin4.5 Datenaufbereitung und -auswertung4.5.1 Triangulation4.5.2 Transkription der Daten4.5.3 Qualitative Inhaltsanalyse4.5.4 Typenbildung4.6 Zusammenfassung5 Erste Reaktion auf Duolingo5.1 Lernwege5.1.1 Lernweg „Übung-Übung“5.1.2 Lernweg „Übung-Grammatik“5.1.3 Lernweg „Übung-Programm“5.1.4 Lernweg „Übung-Grammatik-Programm“5.1.5 Zusammenfassung5.2 Probleme5.2.1 Probleme mit dem Programm5.2.2 Probleme im sprachlichen Bereich5.2.3 Zusammenfassung5.3 Emotionen5.3.1 Positive Emotionen5.3.2 Negative Emotionen5.3.3 Zusammenfassung6 Umgang mit Duolingo zum DaF-Erwerb6.1 Nutzung des Programms6.1.1 Nutzung von Programmübungen6.1.2 Suche nach Erklärungstexten im Programm6.1.3 Nutzung des Skip- und Discuss-Sentence-Buttons6.1.4 Nutzung anderer Programm-Funktionen6.2 Suche nach Hilfe im Internet6.2.1 Suche nach anderen Webseiten6.2.2 Suche nach Videos6.3 Nutzung von Englisch als Brückensprache6.3.1 Englisch beim Verständnis6.3.2 Englisch beim Vergleich6.3.3 Englisch beim Notieren und Lautdenken6.4 Erfahrenen Personen Fragen stellen6.5 Verwendung des Online-Wörterbuchs6.6 Verwendung anderer Apps6.7 Suche nach Kontakt6.8 Zusammenfassung7 Lernverhalten beim Selbstlernen mit Duolingo7.1 Länge und Intensität7.2 Einflussfaktoren auf Unterbrechung und Weiterlernen7.2.1 Didaktische Faktoren7.2.2 Technische Faktoren7.2.3 Soziale und kontextuelle Faktoren7.2.4 Personale Faktoren8 Zusammenfassung der Ergebnisse8.1 Zur ersten Begegnung mit Sprachlernprogramm8.2 Zur Rolle der ersten Reaktion für den Lernprozess8.3 Zum Umgang mit Duolingo beim DaF-Erwerb8.4 Zu Einflussfaktoren für Unterbrechung bzw. Abbruch und Weiterlernen8.5 Zur Nutzungsweise eines Sprachlernprogramms9 Reflexion und AusblickLiteraturverzeichnisAnhangAnhang 1: Anmeldeformular in der PilotstudieAnhang 2: Interviewfragen der PilotstudieAnhang 3: Hinweise für Online-Deutschlernen (Pilotstudie)Anhang 4: Hinweise für Anmeldung bei der Gruppe (Pilotstudie)Anhang 5: Anmeldeformular in der Hauptstudie (Der erste Fragebogen)Anhang 6: Bestätigungs-E-Mail zur Annahme der Proband*innen (Hauptstudie)Anhang 7: E-Mail zur Terminvereinbarung zum ersten Treffen (Hauptstudie)Anhang 8: EinverständniserklärungAnhang 9: Interviewfragen vor der ersten Aufnahme (Hauptstudie)Anhang 10: Interviewfragen nach der ersten Aufnahme (Hauptstudie)Anhang 11: Hinweise für das DaF-Selbstlernen (Hauptstudie)Anhang 12: Interviewfragen während der HauptstudieAnhang 13: Der zweite Fragebogen am Ende der HauptstudieAnhang 14: Beispiele der Lernprotokolle von Duolingo for SchoolAnhang 15: Datenaufbereitung der Pilot- und HauptstudieAnhang 16: Merkmale beim Umgang der Teilnehmenden mit Duolingo

Danksagung

An dieser Stelle möchte ich meinen besonderen Dank nachstehenden Personen entgegenbringen, ohne deren Mithilfe die Anfertigung der vorliegenden Arbeit niemals zustande gekommen wäre:

Mein erster Dank gilt Herrn Prof. Dr. Dietmar Rösler, meinem Doktorvater, der mich während aller Phasen der Erstellung der Arbeit einfühlsam betreut hat. Seine hervorragende Unterstützung und die zahlreichen Gespräche auf fachlicher und persönlicher Ebene habe ich als Ermutigung und Motivation empfunden.

Tief verbunden und dankbar bin ich Herrn Prof. Dr. Michael Legutke für die hilfsbereite und wissenschaftliche Betreuung als Zweitgutachter. Seine fachlichen Hinweise und wertvollen Rückmeldungen waren für mich von großer Bedeutung.

Den TechAG- und GCSC-Kolloquium-Mitgliedern, besonders Frau Prof.Dr. Heléne Martinez, Frau Prof. Dr. Eva Burwitz-Melzer, Herrn Prof. Dr. Jürgen Kurtz und Frau Prof. Dr. Sandra Götz-Lehmann, bin ich für ihren kritischen Diskurs und ihr hilfreiches Feedback in verschiedenen Phasen meines Projekts sehr dankbar.

Des Weiteren bedanke ich mich bei der Deutschen Gesellschaft für Fremdsprachenforschung, die mir die Möglichkeit gegeben hat, an der DGFF-Sommerschule 2017 teilzunehmen. Dabei danke ich Frau Prof. Dr. Eva Wilden, Herrn Prof. Dr. Henning Rossa, Frau Prof. Dr. Julia Settinieri und anderen Teilnehmenden für den bereichernden und konstruktiven Austausch und interessante Anregungen zu meiner Arbeit.

Auch bei meinem ehemaligen Betreuer meiner Masterarbeit, Herrn Michael Koenig, und meinen Doktorschwestern, Frau Dr. Tamara Zeyer und Frau Selmin Hayircil, möchte ich mich herzlich für ihre unglaublich hilfreiche Unterstützung bei der Anfertigung dieser Doktorarbeit bedanken.

Mein ganz besonderer Dank gilt Frau Annette Becker, Frau Vanessa Welp, Herrn Anton Stengl, Herrn Michael Stanzel, meinem ehemaligen DAAD-Lektor, Herrn Jörg Tiedemann, und meiner ehemaligen Abteilungsleiterin, Frau Thi Viet Thang Duong, für ihr sorgfältiges Korrekturlesen.

Mein außerordentlicher Dank gilt dem vietnamesischen Ministerium für Erziehung und Ausbildung (MOET) und der Universität Hanoi für das vierjährige Promotionsstipendium, das mir sehr bei der Forschung geholfen hat.

Mein weiterer Dank gebührt allen Untersuchungsteilnehmenden, meinen Kolleg*innen und meinen Freunden, besonders Frau Dr. Thu Huong Nguyen, Herrn Dr. Ba Hoang Tang, Frau Dr. Dieu Cuc Nguyen, Frau Bao Trang Nguyen, Frau Thu Phuong Pham, Frau Bao Ngoc Cao und Frau Xiang Li für ihre liebevolle Unterstützung und persönliche Hilfe.

Mein ausdrücklicher und tief empfundener Dank geht an meine Familie, meine Schwiegermutter Thi Hoan Bui, meinen Mann Viet Hung Le, meinen Sohn Duc Minh Le, meine Tochter Ngoc Bao Le, meinen Bruder Manh Hung Bui und meinen Onkel Xuan Sinh Dinh, die mir viel Kraft und Mut zur Vollendung meiner Dissertation gegeben haben.

Meine Arbeit widme ich meinen Eltern im Himmel, meiner Mutter Thi Dan Nguyen und meinem Vater Dinh Dien Bui, die mich immer seelisch unterstützten.

Hanoi, 02.04.2022

Abkürzungsverzeichnis

Abb.

Abbildung

CALL

Computer Assisted Language Learning

DAAD

Deutscher Akademischer Austauschdienst

DaF

Deutsch als Fremdsprache

EH

E-Mail der Proband*innen der Hauptstudie

EP

E-Mail der Proband*innen der Pilotstudie

FEH

Fragebogen am Ende der Hauptstudie

FH1

Fragebogen am Anfang der Hauptstudie

GER

Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen

GIZ

Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit

GP

Gruppendiskussion der Pilotstudie

I

Interviewer (hier: die Forscherin)

ICALL

Intelligent Computer Assisted Language Learning

IEH

Interview am Ende der Hauptstudie

IEP

Interview am Ende der Pilotstudie

INH

Interview nach der ersten Videoaufnahme in der Hauptstudie

INP

Interview nach der ersten Videoaufnahme in der Pilotstudie

IVH

Interview vor der ersten Videoaufnahme in der Hauptstudie

IWH

Interview während der Hauptstudie

Kap.

Kapitel

LTBH

Lerntagebuch in der Hauptstudie

MOET

Ministry of Education and Training

s.

siehe

S-O-S

Sammel-Ordnen-Systematisieren

Tab.

Tabelle

UP

Unterhaltung mit Proband*innen auf Facebook in der Pilotstudie

VH1

Erste Videoaufnahme der Hauptstudie

VP1

Erste Videoaufnahme der Pilotstudie

VWH

Videoaufnahme der Proband*innen während der Hauptstudie

Z.

Zeile

1Einleitung

Dank der technologischen Entwicklung, die heutzutage eine wichtige Rolle beim Fremdsprachenlernen spielt und besondere Auswirkungen auf die Lernenden hat, werden aktuell immer mehr kostenlose oder teilweise kostenlose Online-Sprachlernprogramme angeboten. Durch Digitalisierung und multimediale Interaktivität wecken Online-Sprachlernprogramme das Interesse vieler internationaler Lernender und bieten ihnen die Möglichkeit, etwa die deutsche Sprache eigenständig zu erlernen, ohne einen Präsenz-Sprachkurs besuchen zu müssen, sondern ausschließlich im Internet oder über Apps zu lernen und individuell passende Lernzeiten und -orte zu bestimmen. Als Deutschdozentin mit langjähriger universitärer Unterrichtspraxis in Vietnam und großem Interesse an neuen Technologien und am Einsatz digitaler Medien im Lehr- und Lernprozess, stellt sich mir dabei die Frage, ob Lernende sich tatsächlich ohne die Unterstützung von Lehrenden mit einem Sprachlernprogramm eine Fremdsprache aneignen können, wie es die Werbung suggeriert. Mein Forschungsinteresse gilt hierbei vorrangig dem Erlernen von Deutsch als Fremdsprache (DaF). In meinem Dissertationsprojekt untersuche ich aus diesem Grund, wie vietnamesische Lernende mit einem ausgewählten Online-Sprachlernprogramm umgehen, um die deutsche Sprache im grammatischen, lexikalischen und phonetischen Bereich selbstständig zu erwerben.

Erkenntnisinteresse

Fremdsprachen spielen eine wichtige Rolle in der Gesellschaft und im Leben aller Menschen. Dies gilt weltweit, sowohl in Vietnam als auch in Europa. Im Jahr 2008 fasste der vietnamesische Präsident einen Beschluss zur Durchführung des Projekts „Lehren und Lernen von Fremdsprachen im nationalen Bildungssystem im Zeitraum 2008–2020“ von MOET (Ministry of Education and Training), der das langfristige Ziel formuliert, dass Absolvent*innen vietnamesischer Bildungsinstitutionen mehrheitlich über auch in globalen Kontexten ausreichende Fremdsprachenkenntnisse verfügen sollten:

Đổi mới toàn diện việc dạy và học ngoại ngữ trong hệ thống giáo dục quốc dân, triển khai chương trình dạy và học ngoại ngữ mới ở các cấp học, trình độ đào tạo, nhằm đến năm 2015 đạt được một bước tiến rõ rệt về trình độ, năng lực sử dụng ngoại ngữ của nguồn nhân lực, nhất là đối với một số lĩnh vực ưu tiên; đến năm 2020 đa số thanh niên Việt Nam tốt nghiệp trung cấp, cao đẳng và đại học có đủ năng lực ngoại ngữ sử dụng độc lập, tự tin trong giao tiếp, học tập, làm việc trong môi trường hội nhập, đa ngôn ngữ, đa văn hóa; biến ngoại ngữ trở thành thế mạnh của người dân Việt Nam, phục vụ sự nghiệp công nghiệp hoá, hiện đại hoá đất nước. (Quyết định số 1400/QĐ-TTg 2008, 1)

Die Reform des Fremdsprachenlehrens und -lernens im Bildungssystem und der Einsatz neuer Lehr- und Lernmethoden auf allen Niveaus und Bildungsstufen setzen sich das Ziel, dass die Arbeitskräfte in bevorzugten Bereichen bis 2015 über eine deutliche Entwicklung in ihren Fähigkeiten bei der Anwendung von Fremdsprachen verfügen. Bis 2020 haben die meisten vietnamesischen Absolventen der Berufsschulen, Fachhochschulen und Universitäten ausreichende Fremdsprachenkenntnisse, um selbstständig und selbstsicher bei fremdsprachlicher Kommunikation in einer globalen, multisprachlichen und multikulturellen Welt zu sein. Fremdsprachenkenntnisse werden die Stärke von Vietnamesen werden, die einen Beitrag zur Industrialisierung und Modernisierung des Landes leisten. (Quyết định số 1400/QĐ-TTg 2008, 1, eigene Übersetzung)

In Europa bestätigte 1995 die Europäische Kommission im Weißbuch zur allgemeinen und beruflichen Bildung Lehren und Lernen auf dem Weg zur kognitiven Gesellschaft auch, dass alle Bürger*innen der Union mehrere Gemeinschaftssprachen beherrschen sollten:

Das Beherrschen mehrerer Gemeinschaftssprachen ist zu einer unabdingbaren Voraussetzung dafür geworden, daß1 die Bürger der Union die beruflichen und persönlichen Möglichkeiten nutzen können, die sich ihnen mit der Vollendung des Binnenmarktes ohne Grenzen bieten. Diese Sprachkenntnisse müssen einhergehen mit der Fähigkeit zur Anpassung an von unterschiedlichen Kulturen geprägte Arbeits- und Lebensverhältnisse. […] Die Beherrschung von Fremdsprachen darf nicht mehr einer Elite oder Menschen, die geographisch mobil sind, vorbehalten bleiben. (Europäische Kommission 1995, 72)

Im heutigen Zeitalter der Globalisierung zählen Fremdsprachenkenntnisse zu den wichtigen Voraussetzungen für den individuellen beruflichen Aufstieg (vgl. Klippel 2007, 9). Darüber hinaus dienen sie auch zur persönlichen Befriedigung und zur besseren Verständigung der Menschen aus anderen Kulturen, wie die Ergebnisse bei der Befragung nach den Gründen für das Fremdsprachenlernen zeigen (vgl. European Commission 2007). Dank der Weiterentwicklung der Technologien werden digitale Medien im Fremdsprachenunterricht neben anderen Medien regelmäßig zum Einsatz gebracht (vgl. Grünewald 2016, 463f.). Formen und Wege individuellen Lernens werden auch durch die rasante Entwicklung der digitalen Medien verändert, da für den Erwerb von Fremdsprachenkompetenz medienbasierte Lernsituationen und Vermittlungskontexte gestaltet werden können (vgl. Klippel 2007, 9). Ausgehend davon, dass die Anzahl der Internetnutzer*innen von 2000 bis 2016 um 40 % auf 46,1 % der Weltbevölkerung gestiegen war (vgl. Stats Internet Live 2016a) und sich darunter knapp 50 das Internet nutzende Länder mit mehr als 80 % der Gesamtbevölkerung befanden (vgl. Stats Internet Live 2016b), wurden zahlreiche Online-Sprachlernprogramme entwickelt, die sich zu günstigen Preisen an Nutzer*innen aus aller Welt richten. Aufgrund dieser Tatsache besteht für die Lernenden die Möglichkeit, mit Online-Sprachlernprogrammen zu Hause oder an einem beliebigen Ort Fremdsprachen eigenständig zu lernen.

Auf dem Markt tritt das Online-Sprachlernprogramm Duolingo weltweit besonders prominent in Erscheinung. Das Programm wurde bereits mehrfach ausgezeichnet, z.B. als iPhone-App des Jahres (vgl. Hockenson 2013), erhielt den Crunchie-Award in der Kategorie Best Education Startup (vgl. Empson 2014) und ist die bei Google Play am häufigsten heruntergeladene App der Rubrik Bildung und Erziehung bei Google Play (vgl. Ghoshal 2014). Mit seinem umfangreichen Sprachangebot und der hohen Zahl von bis 2020 mehr als 300 Millionen Nutzer*innen (vgl. Duolingo o.J. a), erreicht Duolingo zahlreiche Lernende aus verschiedenen Ländern, darunter auch in Vietnam, wo die Anzahl der Internetnutzer*innen mit 70 % der Bevölkerung im Jahr 2020 von Jahr zu Jahr gestiegen2 ist und 6,5 Stunden pro Tag für die Internetnutzung aufgewendet werden (vgl. We Are Social & Hootsuite 2020).

Dank der kostenlosen englischsprachigen Version von Duolingo und guter Internetverbindungen (vgl. VOV2020)3 haben über Englischkenntnisse verfügende Vietnames*innen die Chance, verschiedene Fremdsprachen im Allgemeinen und die deutsche Sprache im Besonderen zu erlernen. Viele möchten Deutsch lernen, um in Deutschland zu studieren, zu arbeiten oder einen Beruf zu erlernen. Dies liegt unter anderem daran, dass Vietnam dank 45-jähriger diplomatischer Beziehungen ein strategischer Partner der Bundesrepublik Deutschland in politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, sozial- und bildungspolitischen Bereichen geworden ist (vgl. Vietnamesische Botschaft 2020) und die Bundesrepublik Deutschland aufgrund der guten Ausbildungsqualität, geringer Studiengebühren und ihrer Eigenschaft als starker Wirtschaftsstandort im Vergleich zu anderen Ländern einen besonders guten Ruf genießt (vgl. DAAD2017, 8). Die Anzahl der Vietnames*innen, die zum Studium, zur Berufsausbildung und zur Arbeit nach Deutschland fahren, steigt kontinuierlich an (vgl. GIZ2015, 11f.). Entsprechend steigt auch das Interesse an Deutsch als Zweit- oder Drittsprache oder als Schlüsselqualifikation (vgl. DAAD2017, 30). Sprachinteressierte, die wegen ihrer Arbeit oder ihres Studiums über keine Zeit für einen Präsenz-Sprachkurs verfügen oder sich bezüglich des Deutschen und seiner Besonderheiten zunächst orientieren möchten, können Online-Sprachlernprogramme wie Duolingo benutzen, um die deutsche Sprache kennenzulernen. Qualitative Forschung über den Umgang der Selbstlernenden damit zum Erwerb der deutschen Sprache erscheint sinnvoll, da in der einschlägigen Literatur noch keine vergleichbaren Studien über Duolingo vorliegen und es sich in den anderen Forschungsarbeiten um verschiedene Bereiche handelt (s. Kap. 3.5). Dadurch leistet die vorliegende Studie einen Beitrag zur Forschungsliteratur im Bereich des Lernens mit digitalen Medien.

Forschungsfragen

In der vorliegenden Forschungsarbeit wird die folgende Frage als zentrale Forschungsfrage gestellt:

Wie gehen die vietnamesischen Selbstlernenden mit Duolingo um, um Deutsch als Fremdsprache über Englisch als Brückensprache zu lernen?

Wegen der Komplexität dieser Ausgangsfrage wird sie um die folgenden Teilfragen ergänzt:

Welche Reaktion lässt sich bei der ersten Begegnung der Selbstlernenden mit Duolingo beobachten?

Wie war das Lernverhalten der Lernenden beim Lernen mit Duolingo zum DaF-Erwerb im grammatischen, lexikalischen und phonetischen Bereich?

Wie lange und wie intensiv lernten sie während des Projekts?

Welche Ursachen führen dazu, dass Lernende das Programm abbrechen, unterbrechen oder damit weiter lernen?

Die vorliegende Arbeit verfolgt das Ziel, die vietnamesischen Selbstlernenden auf der Niveaustufe A1 mit Duolingo im Bereich DaF genauer zu betrachten.

Aufbau der Arbeit

Im Rahmen dieser Arbeit steht das Selbstlernen der vietnamesischen Lernenden im Mittelpunkt. Ihr Lernverhalten mit Duolingo wird von drei Seiten aus betrachtet: Erstens werden das Selbstlernen und die Anforderungen an Online-Sprachlernprogramme aus theoretischer Perspektive betrachtet. Zweitens werden ein Überblick von Duolingo im Vergleich mit aktuellen Lernprogrammen im Bereich DaF und eine Analyse von Duolingo im Zusammenhang mit den Anforderungen in Bezug auf digitale Lernmaterialien für Selbstlerner dargestellt. Drittens wird der Umgang von Lernenden in Bezug auf das Selbstlernen mit Duolingo untersucht.

Im einleitenden Kapitel werden zuerst der Ausgangskontext der vorliegenden Untersuchung und das Erkenntnisinteresse dargestellt. Daraufhin werden die Forschungsfragen und der Aufbau der Arbeit geschildert.

Kapitel 2 widmet sich der theoretischen Grundlage des Selbstlernens von Fremdsprachen mit digitalen Medien. Zunächst wird das Thema Selbstlernen von Fremdsprachen näher betrachtet (Kap. 2.1), indem der Begriff Selbstlernen (Kap. 2.1.1) und seine Merkmale wie Motivation (Kap. 2.1.2), Lernstile (Kap. 2.1.3), Lernstrategien (Kap. 2.1.4) und Lerntypen (Kap. 2.1.5) verdeutlicht werden. Anschließend werden in Kapitel 2.2 der Begriff, die Entwicklung und Formen digitaler Medien fürs Selbstlernen auseinandergesetzt, bevor die Potenziale und Grenzen des Selbstlernens mit digitalen Medien (Kap. 2.3) geschildert werden.

Kapitel 3 beschäftigt sich mit der Darstellung von Online-Sprachlernprogrammen im Fachbereich DaF. Dabei stehen zunächst die Auseinandersetzung mit dem Begriff Online-Sprachlernprogramme (Kap. 3.1) und die Konzeption von Online-Sprachlernprogrammen (Kap. 3.2) im Mittelpunkt, indem lerntheoretische Grundlagen (Kap. 3.2.1) und Anforderungen an Online-Sprachlernprogramme (Kap. 3.2.2) präsentiert werden. Daraufhin gibt Kapitel 3.3 einen Überblick über einige Online-Sprachlernprogramme für DaF-Lernende, bevor Duolingo im Vergleich mit anderen Sprachlernprogrammen (Kap. 3.4) anhand der Benutzer*innenfreundlichkeit (Kap. 3.4.1), der Lernmethode (Kap. 3.4.2), des Aufbaus der Lerneinheiten (Kap. 3.4.3), der Fremdsprachvermittlung und Übungen in Bezug auf Grammatik, Wortschatz und Phonetik (Kap. 3.4.4), des Feedbacks (Kap. 3.4.5) und zusätzlicher Funktionen wie z.B. Chatbot, Sprach-Community usw. (Kap. 3.4.6) detailliert beschrieben und analysiert wird.

In Kapitel 4 wird das methodische Vorgehen erläutert, indem die Forschungsmethoden (Kap. 4.1) und Methoden der Datenerhebung (Kap. 4.2) dargelegt werden. Im Anschluss werden die Untersuchungsteilnehmenden in der Pilotstudie (Kap. 4.3.1) und in der Hauptstudie (Kap. 4.3.2) bezüglich der vietnamesischen Lernkultur (Kap. 4.3.3) und der Situation des Fremdsprachenlernens in Vietnam (Kap. 4.3.4) vorgestellt. Des Weiteren werden der Ablauf der Untersuchung (Kap. 4.4) und die Datenaufbereitung und -auswertung (Kap. 4.5) behandelt.

Nach der Beschreibung der in der vorliegenden Studie angewendeten Forschungs- bzw. Auswertungsmethoden erfolgt in Kapitel 5, 6 und 7 die Auswertung der Daten. Dabei umfasst Kapitel 5 die erste Reaktion der Teilnehmenden auf Duolingo, wobei ihre Lernwege (Kap. 5.1), ihre ersten Probleme mit dem Programm und der Sprache (Kap. 5.2) und ihre Emotionen bei der ersten Begegnung mit Duolingo (Kap. 5.3) betrachtet werden. In Kapitel 6 wird der Umgang der Teilnehmenden mit Duolingo im Laufe der Projektzeit beschrieben, in der verschiedene Lernhandlungen durchgeführt und in Kapitel 6.1 bis 6.7 dargestellt werden. Daran schließt sich in Kapitel 7 das Lernverhalten aller Teilnehmenden in Bezug auf Länge und Intensität ihrer Nutzung von Duolingo beim Selbstlernen (Kap. 7.1). Anschließend werden in Kapitel 7.2 Einflussfaktoren auf Unterbrechung und Weiterlernen genauer betrachtet. Dabei stehen didaktische Faktoren (Kap. 7.2.1), technische Faktoren (Kap. 7.2.2), soziale und kontextuelle Faktoren (Kap. 7.2.3) und personale Faktoren (Kap. 7.2.4) im Fokus.

Kapitel 8 beinhaltet die gesamten Ergebnisse der Studie, bevor abschließend eine Schlussfolgerung gezogen wird, gefolgt von einem abschließenden Ausblick auf weitere mögliche Untersuchungen.

2Selbstlernen von Fremdsprachen mit digitalen Medien

In diesem Kapitel wird zunächst ein Überblick über die theoretische Basis zur Auseinandersetzung mit dem Begriff Selbstlernen im Zusammenhang mit anderen Begriffen gegeben. Anschließend werden einige Merkmale beim Selbstlernen von Fremdsprachen in Bezug auf die vorliegende Untersuchung bei vietnamesischen Selbstlernenden im Umgang mit Duolingo diskutiert. Im zweiten Teil des Kapitels werden digitale Medien für das Selbstlernen näher betrachtet, indem verschiedene Werkzeuge zur Unterstützung des selbstgesteuerten Lernens vorgestellt werden. Zuletzt werden Potenziale und Grenzen des Selbstlernens mit digitalen Medien in verschiedenen Aspekten dargestellt.

2.1Selbstlernen von Fremdsprachen

In Vietnam wird das Selbstlernen von Fremdsprachen mit einer bekannten Persönlichkeit – dem Präsidenten Ho Chi Minh – verbunden. Während seiner Auslandsaufenthalte versuchte er immer, selbst Fremdsprachen zu lernen (vgl. Doan 2018). Dass das Selbstlernen von Fremdsprachen keine neue Lernform ist, bestätigt auch Nandorf (2003, 36). Allerdings wird es in der Tat oft mit anderen Begriffen gleichgesetzt. Demzufolge wird im Folgenden der Begriff Selbstlernen im Vergleich mit synonymen Begriffen genauer betrachtet. Darüber hinaus werden verschiedene den Selbstlernprozess beeinflussende Merkmale wie Motivation, Lernstile, Lernstrategien und Lerntypen dargestellt.

2.1.1Der Begriff Selbstlernen

Da es in der vorliegenden Arbeit um das Selbstlernen mit einem Online-Sprachlernprogramm namens Duolingo geht, ist es äußerst wichtig, den Begriff Selbstlernen zu verdeutlichen. In der Literatur wird der Begriff Selbstlernen mit den zwei Begriffen selbstgesteuertes Lernen und Lernerautonomie in Verbindung gebracht. Aus diesem Grund wird der Begriff Selbstlernen im Folgenden genauer definiert, indem die Unterschiede zwischen diesen drei Begriffen erläutert werden.

Dickinson (1987) betrachtet self-instruction (Selbstlernen) als einen neutralen Oberbegriff für Situationen, in denen die Lernenden ohne direkte Kontrolle der Lehrenden lernen: „This is a neutral term referring generally to situations in which learners are working without the direct control of the teacher“ (ebd., 11). Diese Definition bleibt sehr offen für unterschiedliche Lernformen und Deutungen. Lahaie (1995) definiert den Begriff Selbstlernen auch ähnlich als „eine Form der Wissensvermittlung, die ohne Lehrer […] und ohne Direktunterricht stattfindet“ (ebd., 13).

Eine umfassende Definition dieses Begriffs wird von Rösler (1998, 4; 2007, 32; 2012, 116) erläutert, indem er darlegt, dass Selbstlernen im Bereich Fremdsprachenlernen Bezug auf die Organisationsform nimmt: „(E)ntweder der gesamte Lernprozess oder zumindest größere Teile davon finden unabhängig von Lehrern und Institutionen statt“ (Rösler 2012, 116). Das Selbstlernen kann seiner Auffassung nach wie folgt fremdgesteuert oder selbstgesteuert sein:

Selbstlernen kann sehr stark fremdgesteuert stattfinden, wenn z.B. ein Lernender strikt den Vorgaben auf einer CD oder in einem gedruckten Selbstlehrwerk folgt. Alternativ dazu würde ein stärker selbstgesteuerter Lernender sich über seinen Lernweg Gedanken machen, er würde sogenannte metakognitive Strategien, mit denen er seinen Lernfortschritt und Lernprozess reflektiert und plant, einsetzen und dem Lernmaterial gegenüber eine eigene Position einnehmen. In seiner Beschreibung der Art der Organisation des Lernens ist Selbstlernen also neutral im Hinblick auf die Art der Steuerung. (Rösler 2007, 32)

In diesen Definitionen wird deutlich, dass Selbstlernen als eine Form der Organisation des Lernens, die nicht in Abhängigkeit von Lehrenden und Institutionen stattfindet, betrachtet wird. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit trifft dies in hohem Maße zu, da die Teilnehmenden Deutsch freiwillig selbst lernten, ohne an eine Institution gebunden zu sein. Daher ist dies ein wichtiger Aspekt bei der Abgrenzung von anderen Begriffen. Allerdings hat diese Form des Lernens auch Elemente der „Selbststeuerung“ (Rösler 2007, 33), die durch die Eigenverantwortung für den Lernprozess zu einem möglichst erfolgreichen Selbstlernen führt (vgl. ebd.). Dies scheint der Grund zu sein, warum der Begriff Selbstlernen auch selbstgesteuertes Lernen genannt wird, da eine enge Beziehung zwischen selbstgesteuertem Lernen und erfolgreichem Selbstlernen besteht (vgl. ebd.). Laut Kraft (1999) können verschiedene Formen des selbstgesteuerten Lernens differenziert werden, nämlich Lernorganisation, Lernkoordination, Lernzielbestimmung, Lern(erfolgs)kontrolle und subjektive Interpretation der Lernsituation:

Lernorganisation: Der Lernende trifft Entscheidungen über Lernorte, Zeitpunkte, Lerntempo, Ressourcen, Verteilung und Gliederung des Lernstoffs, Lernpartner.

Lernkoordination: Der Lernende übernimmt die Abstimmung des Lernens mit anderen Tätigkeiten/Anforderungen in Beruf und Familie.

Lernzielbestimmung: Der Lernende wählt die Lerninhalte selbst aus und legt die Lernziele fest.

Lern(erfolgs)kontrolle: Der Lernende kontrolliert selbst den Fortschritt seines Lernens und seinen Lernerfolg.

Subjektive Interpretation der Lernsituation: Der Lernende sieht, definiert und empfindet sich als selbständig im Lernprozeß1. (Kraft 1999, 835)

In Bezug auf die vorliegende Studie sind diese Formen auch relevant, da sie bei den Teilnehmenden im Selbstlernprozess zu beobachten sind. Beispielsweise entschieden sie sich bei der Lernorganisation für ihr Lerntempo (s. Kap. 7.2.1.5) oder ihre Ressourcen (s. Kap. 6.2) und bei der Lernkoordination übernahmen sie die Abstimmung mit anderen Tätigkeiten wie z.B. Arbeit, Studium und sozialen Aktivitäten (s. Kap. 7.2.3, 7.2.4.1).

Durch verschiedene Definitionen können die beiden Begriffe unterschieden werden, da selbstgesteuertes Lernen „kein einheitlich und präzise definierter wissenschaftlicher Begriff“ ist (Lahaie 1995, 22) und „in der Fachliteratur sehr unterschiedlich definiert“ wird (ebd.).

Dickinson (1987) definiert self-direction(Selbststeuerung) als Einstellung zum Lernen, wobei „the learner accepts responsibility for his learning, but he does not necessarily carry out courses of action independently in connection with it“ (ebd., 11).

In diesem Sinne ist der Begriff nach Lahaie (1995) die Bereitschaft der Lernenden, in unterschiedlichem Umfang Eigenverantwortung für ihr Lernen zu übernehmen, auch wenn sie die Hilfestellung einer Lehrperson brauchen (vgl. ebd., 23).

Im Kontext des Selbstlernens mit Lernsoftware versteht Nandorf (2004) selbstgesteuertes Lernen als eine Lernform, bei der sich die Lernenden selbst für ihre Lernorganisation und ihren Lernprozess entscheiden und Verantwortung für ihren eigenen Lernprozess übernehmen, aber nicht unbedingt über eine bewusste Beziehung dazu und kritische Reflexionsfähigkeit verfügen (vgl. ebd., 17).

Rösler (2007) erwähnt in seiner Definition auch den Aspekt der Eigenverantwortung und betont, dass die Lernenden in der Lage sind, unabhängig von Zeit und Raum zu sein und selbstbestimmt mit dem Lernstoff umzugehen. Die notwendigen Eigenschaften der Lernenden dafür sind Disziplin, Selbstverantwortung und Organisationsfähigkeit (vgl. ebd., 34).

Nach Schmenk (2016) wird unter Selbststeuerung „nicht mehr nur das individuell gesteuerte und strategiegeleitete (Selbst-)Lernen verstanden, sondern auch das gemeinsame Lernen in virtuellen oder realen Lernumgebungen, das gemeinsame Planungs-, Durchführungs- sowie Evaluationsprozesse erfordert“ (ebd., 370).

Durch die oben genannten Definitionen wird der Unterschied zwischen Selbstlernen und selbstgesteuertem Lernen angedeutet, indem unter Selbstlernen eine Organisationsform des Lernens und unter selbstgesteuertem Lernen die Einstellung zum Lernen und Eigenverantwortung für den eigenen Lernprozess verstanden wird. Da es in dieser Arbeit um den Umgang der Selbstlernenden mit einem Online-Sprachlernprogramm geht, treffen die von Dickinson (1987), Lahaie (1995) und Schmenk (2016) eingeführten Definitionen nicht auf die in dieser Arbeit analysierte Lernsituation zu, weil die Lernenden in dieser Studie eigenständig Handlungsoptionen durchführen konnten und keine Lehrperson bzw. keine Lernpartner*innen zur Verfügung hatten. Jedoch werden die Merkmale des selbstgesteuerten Lernens, die von Nandorf (2004) und Rösler (2007) genannt werden, als wichtig bei der Bestimmung des Begriffs Selbstlernen im Rahmen dieser Arbeit gesehen.

Im Zusammenhang mit Selbstlernen wird auch der Begriff Autonomie erwähnt, indem Selbstlernen nach Holec (1979) mit Halbautonomie verglichen wird (vgl. Lahaie 2007, 413). Aufgrund dessen ist es äußerst wichtig, den Begriff Lernerautonomie genauer zu betrachten. Dickinson (1987) definiert Lernerautonomie wie folgt:

This term describes the situation in which the learner is totally responsible for all the decisions concerned with his learning and the implementation of those decisions. In full autonomy there is no involvement of a teacher or an institution. And the learner is also independent of specially prepared materials. (Dickinson 1987, 11)

Während Dickinson betont, dass es bei der Vollautonomie keine Mitwirkung von Lehrenden oder Institutionen gibt, behauptet Little (1991, 4), dass Autonomie nicht auf das selbstgesteuerte Lernen bezogen ist, sondern auf das schulische unterrichtliche Lernen. Er versteht Autonomie auch als eine Fähigkeit „for detachment, critical reflection, decision-making, and independent action“ (ebd.).

Der Begriff Lernerautonomie nimmt der Auffassung Röslers (2007) nach auch Bezug „auf das Verhältnis des Lernenden zu seinem eigenen Lernprozess“ und „ist eine Eigenschaft der Lernenden und nicht etwa von Materialien oder gar institutionellen Vorgaben“ (ebd., 34). Hinsichtlich dieser Arbeit ist dieser Aspekt der Lernerautonomie von einiger Relevanz, da diese Fähigkeit und diese Eigenschaft der Lernenden sich beim Selbstlernen auch durch kritische Reflexion, eigene Entscheidungsfindung und unabhängiges Handeln zeigt (s. Kap. 7.2).

Im Alltag des Fremdsprachenunterrichts wird der Begriff selbstgesteuertes Lernen häufig als synonym mit Lernerautonomie betrachtet, was ein Missverständnis (vgl. Little 1991, 4) und problematisch ist, „da das Konstrukt der Lernerautonomie mehr umfasst, als die Begriffe des selbstgesteuerten bzw. autonomen Lernens nahelegen“ (Schmenk 2016, 367). Der Grund, warum beide Begriffe Lernerautonomie und selbstgesteuertes Lernen oft als Synonyme aufgefasst werden, ist, dass die verkürzte Version von Holecs (1980) Definition – die Fähigkeit, das eigene Lernen selbst in die Hand zu nehmen bzw. zu steuern – auf alle Bereiche fremdsprachlichen Lernens ausgeweitet wird (vgl. Schmenk 2016, 368). Wolff (2007) bestätigt auch, dass es beim Begriffsverständnis wegen unterschiedlicher Definitionen Schwankungen zwischen Lernerautonomie und selbstgesteuertem Lernen gibt. Dazu zählen ein allgemeines Erziehungsziel, ein didaktisch-methodischer Ansatz, eine Fähigkeit der Lernenden und ein Prozess, den die Lehrenden fördern können. Im Hinblick auf ihre Entwicklungsgeschichte existiert seit 1960er Jahren selbstgesteuertes Lernen, bevor das Konzept Lernerautonomie in den 1970er Jahren unabhängig von Bezugswissenschaften in der institutionalisierten Unterrichtspraxis entwickelt wurde (vgl. ebd., 322). Um den Unterschied zwischen diesen Begriffen zu erläutern, betont auch Rösler (2012), dass Lernerautonomie nicht mit Selbstlernen oder selbstgesteuertem Lernen gleichgesetzt werden kann, da dies ein tradiertes Konzept ist, das sowohl in der politischen Bildung als auch in der Fremdsprachendidaktik große Bedeutung hat (vgl. ebd., 117). Diese Unterscheidung wird auch in dieser Arbeit aufgenommen, denn nur in Kapiteln 4.3.3 und 4.3.4 wird der Begriff Lernerautonomie verwendet, um die Ergebnisse von bei Studierenden in verschiedenen Universitäten durchgeführten Studien in Vietnam darzustellen. Der Grund dafür ist, dass das Wort Lernerautonomie in den meisten Untersuchungen vorkommt und es darum geht, wie die Studierenden zu Hause ohne Dozent*innen selbst studieren. In Bezug auf die Fähigkeit der Lernenden scheint dieser Aspekt der Lernerautonomie ein wichtiger Faktor bei der Analyse des Lernverhaltens der Teilnehmenden an der vorliegenden Studie zu sein.

Zusammenfassend wird Selbstlernen in dieser Arbeit als eine Lernform ohne Lehrende wie in der Definition von Rösler (2012) verstanden und enthält zugleich die von Kraft (1999) genannten Formen und die von Nandorf (2004) und Rösler (2007) erwähnten Merkmale des selbstgesteuerten Lernens. Beim Selbstlernen können Lernende Beziehung „zum Lerninhalt und zum Lernprozess herstellen“ bzw. „eine tiefe und breite Informations- und Sprachdatenverarbeitung bevorzugen und initiieren und tieforientierte Lernstrategien erfolgreich anwenden“ (Martinez 2008, 305). Dabei übernimmt der Selbstlernende als „individueller Lerner“ (Rösler 2018, 18) die Eigenverantwortung für sein Lernen mit Duolingo und kann die Zeit, den Ort und die Lernmethoden selbst bestimmen. Außerdem hat er auch die Möglichkeit, mit anderen in virtuellen oder realen Umgebungen gemeinsam zu lernen oder Online-Hilfestellungen in Anspruch zu nehmen.

Für das Selbstlernen einer Fremdsprache ist weiterhin äußerst wichtig, dass der Lernende über eine Menge von Lernstrategien und Lernmotivation verfügt (vgl. Tönshoff 2007, 332f.). Lahaie (1995) betont auch, dass das Erlernen einer Fremdsprache mit genau definierten Zielen von den Lernenden fordert, Erfahrungen im Fremdsprachenlernen mitzubringen und genug Lernstrategien zu besitzen (vgl. ebd., 12). Dabei ist auch zu beachten, dass die Lernenden unterschiedliche Lernstile und Lerntypen aufweisen. Im Folgenden werden die Einflussfaktoren auf das Selbstlernen vorgestellt, nämlich Motivation, Lernstile, Lernstrategien und Lerntypen.

2.1.2Motivation

Motivation hat beim Selbstlernen eine große Bedeutung und beinhaltet zum Teil eine Anfangsmotivation für Lernende, mit dem Selbstlernen überhaupt anzufangen (vgl. Nalezinski/Raaf 2007, 65). Von übergeordneter Relevanz für diese Arbeit ist Motivation als Ausgangslage, die vom Anfang bis zum Ende der vorliegenden Untersuchung durchgängig betrachtet wurde. Als Erstes wurde die Lernmotivation als ein wichtiger Punkt im Fragebogen bei der Anmeldung genannt (vgl. Kap. 4.2.1), damit die für das Forschungsprojekt geeigneten Proband*innen ausgewählt werden konnten. Nach der ersten Begegnung der Lernenden mit Duolingo wurde ihre Motivation im Laufe des ganzen Projekts durch verschiedene Forschungsinstrumente (s. Kap. 4.2) erhoben. Am Ende des Projekts wurde Lernmotivation als ein Grund für das Weiterlernen und die Unterbrechung beim Selbstlernen mit Duolingo genannt (s. Kap. 7.2.4.2). Auf Grund dessen wird der Begriff Motivation in diesem Kapitel behandelt. Darüber hinaus werden auch ihre verschiedenen Formen, Konzepte und einschlägige Forschungen erläutert.

Motivation ist ein affektiver Faktor, der in der Fremdsprachendidaktik am meisten beachtet wird und neben dem kognitiven Faktor die größte Kraft hat, die Unterschiede in der individuellen Sprachlerneignung beim Fremdsprachenlernen zu erklären (vgl. Riemer 2016a, 267). Internationale Motivationsforschungen zeigen im Allgemeinen die Regel, „dass Lernende motivierter handeln, je stärker das Motiv und je wertvoller das angestrebte Ziel erscheint und je größer die Wahrscheinlichkeit ist, das Ziel auch zu erreichen“ (Riemer 2010, 169; 2011, 328f). Deci und Ryan (1993) bestätigen auch, dass Menschen motiviert sind, wenn sie den Wunsch haben, etwas zu erreichen. Sie sind bereit, ein Mittel einzusetzen, um das gewünschte Ziel zu verfolgen. Motivierte Handlungen gehen von ihnen aus und in die Richtung einer befriedigenden Erfahrung oder eines längerfristigen Handlungsergebnisses (vgl. ebd., 224).

Nach Rösler (2012) ist es äußerst schwierig, eine Definition für den Motivationsbegriff zu formulieren. Terminologisch ist dieser Begriff nicht „präzise zu fassen, ohne den jeweiligen Untersuchungsgegenstand genau festzulegen“ (ebd., 9). Im Bereich der Psychologie ist Motivation definiert als „aktivierende Ausrichtung des momentanen Lebensvollzuges auf einen positiv bewerteten Zielzustand“ (Rheinberg 2004, 15) oder als „allgemeiner Begriff für alle Prozesse, die der Initiierung, der Richtungsgebung und der Aufrechterhaltung physischer und psychischer Aktivitäten dienen“ (Zimbardo/Gerrig 2004, 503). Währenddessen wird dieser Begriff beim Fremdsprachenlernen als ein individueller Faktor, der das erfolgreiche Fremdsprachenlernen stark beeinflusst, wie folgt verstanden:

Motivation ist ein affektiver Faktor, der aus unterschiedlichen, sich überlappenden, komplementären und interdependenten Komponenten gespeist wird, die in der Persönlichkeit und Biografie des Lernenden, in seinen Einstellungen und Orientierungen gegenüber der zu erlernenden Fremdsprache und der damit verbundenen Kultur sowie in den Ausgestaltungen seiner Lernumgebung und seines soziokulturellen Milieus bedingt sind. Motivation kann sich im Laufe der Zeit ändern, manchmal die Ursache, manchmal aber auch die Folge von erfolgreichem Fremdsprachenlernen sein. Motivation ist also multidimensional und dynamisch – und kann nicht direkt beobachtet werden. (Riemer 2010, 168)

Für diese Arbeit ist dieser Begriff besonders geeignet, da die Motivation jeder Person unterschiedlich war und unter verschiedenen Faktoren lag. Nur der Aspekt Erfolg wurde in der vorliegenden Untersuchung nicht erforscht, sondern es wurde gezeigt, dass Motivation als Ursache für das Weiterlernen oder den Abbruch mit dem Lernprozess gesehen wird (s. Kap. 7.2.4.2). Aus diesem Ausgangspunkt gewinnt für die Selbstlernenden dieser individuelle Faktor große Bedeutung, da sie ohne begleitende Lehrende Fremdsprachen selbst lernen (s. Kap. 2.1.1).

Bereits aus den 1930er Jahren stammt von Lewin (1936) und Murray (1938) die Annahme, dass Motivationsphänomene lediglich eine Wechselbeziehung zwischen Person und Situation seien (vgl. Niegemann et al.2008, 360). Seit den späten 1950er Jahren werden theoretische und empirische Forschungen durchgeführt, in denen zwei Hauptstränge für die Fremdsprachendidaktik relevant sind. Sie sind Inhaltstheorien, die die Beweggründe (Motive) für das Erlernen von Fremd- und Zweitsprachen untersuchen, und Prozesstheorien, die forschen, wie motivierte Handlungen entstehen (vgl. Riemer 2010, 169).

Zu Inhaltstheorien gehören Forschungen über integrative und instrumentelle Motivation, extrinsische und intrinsische Motivation und Motivation durch Erfolgserlebnisse (vgl. ebd.). Integrative und instrumentelle Motivation wurde von Gardner und Lambert (1972) unterschieden, indem bei integrativer Motivation das Bestreben nach der Integration in die Zielsprachengemeinschaft und bei instrumenteller Motivation funktionale Ziele wie z.B. berufliche Karriere als Antrieb für das Fremdsprachenlernen gesehen werden. In ihren ersten Untersuchungen stellen sie fest, dass integrative Motivation zu besserem Lernerfolg führt als instrumentelle Motivation (vgl. Rost-Roth 2010, 877f.). Zwar wurde dieser bis zu Beginn der 1990er Jahre dominante sozialpsychologische Ansatz aufgrund seiner Einseitigkeit von pädagogischen und psychologischen Konzepten und Modellen1 abgelöst (vgl. Riemer 2003, 73), dennoch werden diese Motivationsformen in der vorliegenden Arbeit erwähnt, da sie bei an vorliegenden Studien teilnehmenden Selbstlernenden, die in Vietnam leben und keinen Kontakt mit Deutschland haben, zu erkennen sind. Dabei zeigt sich die integrative Motivation durch Interesse an deutscher Kultur und Lebensweise (vgl. Kap. 7.2.4.5), während instrumentelle Motivation z.B. für ein Austauschstipendium oder für eine Reise in Deutschland erwähnt wird (vgl. Kap. 7.2.4.2).

Anschließend wurden die Konzepte „extrinsische und intrinsische Motivation“ miteinbezogen, deren Begriffe aus dem Englischen abgeleitet werden und Bezug auf „innen“ (intrinsic) und „außen“ (extrinsic) nehmen (vgl. Niegemann et al.2008, 366). Im Bereich Psychologie werden diese zwei Motivationsformen in der Theorie der Selbstbestimmung von Deci und Ryan (1993)2 behandelt, deren Grundlage sich auf das selbstgesteuerte Lernen richtet. Darüber hinaus ist das Bedürfnis nach Autonomie und Selbstbestimmung eines von drei angeborenen psychologischen Bedürfnissen, die für die Entstehung von Lernmotivation von großer Bedeutung sind (vgl. ebd., 229)3. Daher kann festgestellt werden, dass Lernmotivation und Lernerautonomie bzw. das selbstgesteuerte Lernen oder Selbstlernen in einer festen Verbindung stehen. Nach Decis und Ryans (1993) Auffassung wird intrinsische Motivation als Neigung zu interessenbestimmten Handlungen definiert, während extrinsische Motivation als Neigung zu mit instrumenteller Absicht durchgeführten Handlungen verstanden wird, die in der Regel nicht spontan auftreten, sondern durch Aufforderung in Gang gesetzt werden. Die intrinsische Motivation ist selbstbestimmt, was dazu führt, dass die Handlung einer Person intern wahrgenommen wird. Bei der extrinsischen Motivation ist die Selbstbestimmtheit niedrig, da die Auslöser außerhalb einer Handlung liegen (vgl. ebd., 225f.). Diese Theorie spielt eine wichtige Rolle für Motivationsforschungen im Bereich des Fremdsprachenlernens. Riemer (2010) vertritt die Auffassung, dass intrinsisch motivierte Lernende aus ihren eigenen Bedürfnissen und Interessen heraus und zu ihrem Vergnügen eine Fremdsprache lernen, während extrinsisch motivierte Lernende Anreize benötigen, die sich außerhalb der Lernaufgabe befinden, z.B. Belohnungen oder gute Noten (vgl. ebd., 170). Dabei unterscheidet Riemer (2010) vier durch zunehmende Selbstbestimmtheit charakterisierte Formen extrinsischer Verhaltensregulation:

externale Regulation (Konflikte sollen vermieden und Lob/Anerkennung gewonnen werden)

introjizierte Regulation (Handeln folgt äußerem Druck und wird aus Pflichtgefühl erledigt)

identifizierte Regulation (der Wert einer Lernaktivität wird erkannt und zum eigenen Nutzen erledigt)

integrierte Regulation (die Lernaktivität ist als Teil der eigenen Persönlichkeit und als Ausdruck eines individuellen Bedürfnisses akzeptiert) (Riemer 2010, 170)

Nach Prenzel (1993) lassen sich diese Ebenen so erläutern, „daß Autonomie erst dann unterstellt werden kann, wenn eine Person sich mit Lernerfordernissen identifiziert oder diese in ihr Zielsystem integriert hat“ (ebd., 244). Daraus lässt sich folgern, dass ein nicht auf einem vorhandenen Interesse an der Sache beruhendes Lernen autonom ist, „wenn die Person das Ziel des Lernens als eigenes Ziel betrachtet“ (ebd.). Für Rösler (2012) bestehen die Unterschiede darin, dass intrinsisch motivierte Lernende „freiwillig und ohne äußeren Druck“ (ebd., 10) handeln und sich „eher auf die Tätigkeit oder den Gegenstand“ beziehen (ebd.), während extrinsisch Motivierte „eher zweck- bzw. ergebnisorientiert“ sind (ebd.). Dabei sind intrinsische und extrinsische Motivation kein Gegensatzpaar, sondern werden als Pole eines Kontinuums gesehen (vgl. Niegemann et al.2008, 366). Darüber hinaus schließen integrative, instrumentelle und intrinsische Motivation sich nicht gegenseitig aus, sondern können sich ergänzen und wechselseitig beeinflussen (vgl. Huneke/Steinig 2013, 19). Diese Motivationsformen spielen eine wichtige Rolle bei der Datenauswertung, da sie bei allen Teilnehmenden der vorliegenden Studien deutlich zutage treten, indem sich die intrinsische Motivation durch das Interesse an der Verständigung mit der deutschen Sprache (vgl. Kap. 7.2.4.2) und an der deutschen Kultur oder Eigenschaften der deutschen Menschen (vgl. Kap. 7.2.4.5) zeigt, während extrinsische Motivation durch die Schilderung unterschiedlicher Lernzwecke deutlich wird, z.B. ein Austauschstipendium, eine Auslandsreise bzw. ein Studium in Deutschland (vgl. Kap. 7.2.4.2). Beim Selbstlernen mit Duolingo können die Anreize durch Belohnungssysteme oder positives Feedback auch als extrinsische Faktoren gesehen werden, die die Lernenden beim Lernen motivieren (vgl. Kap. 7.2.1.1).

Zu den Inhaltstheorien zählen auch Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen Motivation und Lernerfolg. In früheren Untersuchungen wurde festgestellt, „dass in höherer Motivation die Ursache für größeren Lernerfolg zu sehen sei“ (Rost-Roth 2010, 878). Danach wurde zur Kenntnis genommen, dass es eine Wechselbeziehung zwischen den beiden gibt, in der eine hohe Motivation positiv auf den Lernprozess wirkt (Kausalhypothese) und der Lernerfolg umgekehrt zur Aufrechthaltung der Motivation und zur Schaffung neuer Motivationsarten führt (Resultativhypothese) (vgl. ebd.). Riemer (2003) bestätigt ebenfalls, dass Erfolgserlebnisse dazu führen, dass Lernende beim Lernen motivierter sind, und Misserfolgserlebnisse ihre Lernmotivation behindern (vgl. Riemer 2010, 169). In der vorliegenden Studie wird nicht versucht, den Zusammenhang zwischen Motivation und Lernerfolg zu verdeutlichen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass Motivation einen Einfluss auf den Lernprozess nehmen und mangelnde Lernmotivation zur Unterbrechung bzw. zum Abbruch führen kann (vgl. Kap. 7.2.4.2).

Nach Edmondson und House (2011) besteht Motivation nicht nur aus dem Wunsch und der Anstrengung zum Erreichen eines Ziels, sondern auch aus unterschiedlichen Einstellungen. Motivation gilt außerdem als „ein Sammelbegriff für verschiedene Faktoren“ (ebd., 204). Am Motivationsmodell von Dörnyei (1994) lässt sich die Motivation beim Fremdsprachenlernen in drei Ebenen sowie weitere Unterkomponenten gliedern: die Ebene der Fremdsprache (L2), der Lernenden und der Lernsituation (vgl. ebd. 280). Riemer (2004) entwirft auch ein Motivationskonstrukt, in dem allgemeine personale Voraussetzungen, zielsprachenspezifische Einstellungen, Lernziele und Vorerfahrungen sowie die Einschätzung der Erfolgsaussichten und Kontakte zur Zielsprache berücksichtigt werden (vgl. ebd., 42ff.).

Im Kontext von Prozesstheorien zeigt das Motivationsprozessmodell von Riemer (2010) weiterhin, wie Zielsetzungen und Motive in Handlungsabsichten umgewandelt werden.

Abb. 2.1:

Motivationsprozess beim Fremdsprachenlernen (Riemer 2010, 171)

In diesem Modell wird gezeigt, wie der Motivationsprozess innerhalb eines soziokulturellen Milieus mit sozialen bzw. kontextuellen sowie personalen Faktoren und Motivationsaufbau im Lernprozess interagiert. Dieser Prozess wird zwar im Kontext des Fremdsprachenunterrichts dargestellt, aber in dieser Arbeit wird er auf den Selbstlernprozess mit Duolingo übertragen, indem dieses Online-Sprachlernprogramm als Ersatz für formelle Lernmöglichkeiten und Faktoren des Fremdsprachenunterrichts gesehen wird. In der durchgeführten Untersuchung sind soziale und kontextuelle Faktoren (z.B. Arbeit, Studium, Familie usw.) bzw. personale Faktoren (z.B. Zeitmanagement, Selbstdisziplin usw.) bei vielen an den Studien beteiligten Selbstlernenden als Gründe für die Unterbrechung oder das Weiterlernen zu sehen (vgl. Kap. 7.2.3 und 7.2.4). Darüber hinaus kann Duolingo mit seiner eigenen Lehrmethode sowohl eine wichtige Rolle im Lernkontext spielen als auch Einfluss auf die Lernenden nehmen, wie z.B. die Aufmerksamkeit der Lernenden wecken und ihre Lernmotivation fördern (vgl. Kap. 7.2.1.1).

Bezüglich des Zusammenhangs zwischen Lernsoftware und Motivation beim Selbstlernen erwähnt Nandorf (2004), dass sich in der Literatur häufig Hinweise darauf finden, „multimediale Lernsoftware habe das Potenzial, die Motivation der Lernenden zu erhöhen“ (ebd., 89). Kerres (2018) nimmt ebenfalls an, „dass das Lernen mit den neuen digitalen Medien besonders motivierend sei“ (Kerres 2018, 95). Allerdings ist es noch umstritten und „problematisch, wenn die Einführung medialer Lernangebote (alleine) mit Motivationseffekten begründet wird“ (ebd.). In einigen Forschungen wird nur bewiesen, dass beim Lernen mit einem neuen digitalen Medium ein „Neuigkeitseffekt“ (Weidenmann 2002, 58; Kerres 2018, 95) entsteht, der kurze Zeit dauert (vgl. Kerres 2018, 95) und nach längerer Zeit verschwinden kann (vgl. Weidenmann 2002, 58). Dies wird auch bei Teilnehmenden dieser Studie deutlich, in der einige am Anfang bei der ersten Begegnung mit Duolingo sehr motiviert waren und nach einiger Zeit ihre Lernmotivation verloren (s. Kap. 7.2.1.4).

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Motivation im Kontext der vorliegenden Arbeit von hoher Bedeutung zu sein scheint. Bei der Datenanalyse kommt sie in allen Phasen der Untersuchung vor, z.B. in Interviews vor, während oder nach der Projektteilnahme und in Videoaufzeichnungen beim ersten Kontakt bzw. während des Projekts. Überdies spielt sie eine wichtige Rolle nicht nur beim Selbstlernen im Allgemeinen, sondern auch beim Lernen mit einem Online-Sprachlernprogramm im Besonderen. In dieser Studie wird gezeigt, dass Lernende sich nur bei hoher Motivation über lange Zeit mit Duolingo, einem noch nicht über alle innovativen Elemente verfügenden Lernprogramm (s. Kap. 3.4), beschäftigen können.

Motivation ist der wichtige Faktor, der die Arbeit mit dem Selbstlernprogramm beeinflusst. Zu weiteren Faktoren bzw. Lernervariablen gehören Sprachlerneignung und Lernstil (s. auch Abb. 2.1). Daher ist es sinnvoll, den Begriff Lernstil im nächsten Kapitel (Kap. 2.1.3) genauer zu betrachten und darauffolgend unterschiedliche Lernstile darzustellen.

2.1.3Lernstile

Beim Fremdsprachenlernen im Allgemeinen und beim Selbstlernen im Besonderen sind Lernstile von großer Bedeutung, denn „learning style mismatches are at the root of many learning difficulties“ (Ehrman 1996, 50). In dieser Arbeit ist dies auch zu beobachten, da die Teilnehmenden über unterschiedliche Lernstile verfügten und demzufolge verschiedene Schwierigkeiten beim Selbstlernen mit Duolingo hatten. Infolgedessen wird das Konzept Lernstil in diesem Kapitel behandelt, indem der Begriff und seine verschiedenen Dimensionen im Zusammenhang mit den Selbstlernenden in der vorliegenden Studie dargestellt werden.

Nach Aguado (2016) ist keine konsensfähige Definition des Konstrukts Lernstil vorhanden. Dies führt zur inkonsistenten Verwendung des Terminus (vgl. ebd., 262). In der Vergangenheit wurden die Begriffe Lernstil und kognitiver Stil oft synonym gebraucht (vgl. ebd.; Aguado/Riemer 2010, 851; Grotjahn 2007b, 326). Wild (2000) sieht die beiden Begriffe als stabile kognitive und affektive Verhaltensweisen an, die widerspiegeln, wie die Lernenden ihre Lernumgebung wahrnehmen und auf diese reagieren (vgl. ebd., 7). Während Lernstil in der Vergangenheit bei einigen Autoren als Unterbegriff von kognitivem Stil galt, betrachten in der Gegenwart andere Autoren wie z.B. Leaver, Ehrman, und Shekhtman (2005), Dörnyei (2005) und Roche (2006) Lernstil als den Oberbegriff, der nicht nur kognitiven Stil, sondern auch sensorische Präferenzen und Persönlichkeitstypen umfasst (vgl. Grotjahn 2007b, 326f.; Viebrock 2017a, 218). Das Verhältnis zwischen kognitivem Stil und Lernstil hängt davon ab, aus welcher Perspektive man die Konstrukte betrachtet, z.B. aus der Perspektive der Kognition oder aus der Perspektive des Lernens. Während der kognitive Stil ursprünglich aus der Psychologie stammt und durch Tests operationalisiert wurde (vgl. Edmondson/House 2011, 199) bzw. als biologisch determinierte Umgangsart mit Informationen und Situationen gesehen wird, bezieht sich Lernstil auf einen Lernkontext mit affektiven, physiologischen und verhaltensbezogenen Faktoren (vgl. Aguado/Riemer 2010, 851). In dieser Arbeit wird Lernstil in diesem Sinne verstanden, zumal die Lernstile der Untersuchungsteilnehmenden beim Selbstlernen mit Duolingo eine Beziehung mit verschiedenen Faktoren eingehen, wie z.B. Motivation (s. Kap. 7.2.4.2), Einstellung zu Duolingo im didaktischen Bereich (s. Kap. 7.2.1), Emotionen (s. Kap. 5.3) und verschiedenen Lernwegen bei der ersten Begegnung mit Duolingo (s. Kap. 5.1).

Nach Grotjahn (2007b) bezeichnet der Terminus Lernstil:

[…] intraindividuell relativ stabile, zumeist situations- und aufgabenunspezifische Präferenzen (Dispositionen, Gewohnheiten) von Lernern sowohl bei der Verarbeitung von Informationen als auch bei der sozialen Interaktion. Der Terminus bezieht sich damit nicht nur auf im engeren Sinne kognitive, sondern auch auf motivationale und affektive Aspekte menschlichen Verhaltens und Handelns. Lernstile sind als Konstrukte nicht direkt beobachtbar, sondern können lediglich anhand von Indikatoren, wie z.B. bestimmten beobachtbaren Verhaltensweisen, erschlossen werden. Zudem sind sie dem Lerner zumeist nicht bewusst. (Grotjahn 2007b, 326)

Niegemann et al. (2008) definieren Lernstil auch als „eine überdauernde Tendenz von Personen, bestimmte Lerntechniken (wie z.B. Mindmapping zur Visualisierung komplexer Sachverhalte) zu bevorzugen“ (ebd., 644). Lernstile sind wertneutral und verfügen über keine besseren oder schlechteren Eigenschaften, sondern in einigen Situationen nur über effizientere. Darüber hinaus lassen sie sich sehr schwer verändern und nehmen Bezug auf Persönlichkeitsmerkmale wie z.B. Introversion/Extraversion. Aus diesem Grund sind sie in den meisten Fällen bipolar charakterisiert (z.B. visuell vs. verbal; extravertiert vs. introvertiert) (vgl. Grotjahn 2007b, 327–330). Laut Krapp (1993) werden Lernstile auch als generalisierte und invariante Persönlichkeitsmerkmale gesehen (vgl. ebd., 292). Vor dem Hintergrund dieser Definitionen ist es klar, dass die Lernstile der Lernenden in dieser Studie durch Lernhandlungen beim Umgang mit Duolingo zum DaF-Erwerb im grammatischen, lexikalischen und phonetischen Bereich sichtbar werden.

In der Literatur ist eine Vielzahl von Lernstildimensionen vorhanden (vgl. Grotjahn 2007b, 330). Im Bildungskontext sind Lernstilmodelle von Kolb (1981; 1984)1 und Dunn und Dunn (1979)2 bekannt. Beim Fremdsprachenlernen gehen Oxford/Anderson (1995) von mehr als zwanzig Lernstildimensionen aus, wobei sich kognitive, exekutive, affektive, soziale und physiologische Aspekte unterscheiden lassen. Währenddessen besteht das Learning Style-Modell von Ehrman und Leaver (2003) aus zehn Skalen. In Bezug auf die vorliegende Studie werden im Folgenden die wichtigsten Lernstildimensionen beim Fremdsprachenlernen in Anlehnung von Aguado (2016) und Grotjahn (2007b) dargelegt und darauffolgend im Zusammenhang mit den Charakteristika der an der durchgeführten Untersuchung teilnehmenden Selbstlernenden mit Duolingo betrachtet:

Feldabhängigkeit – Feldunabhängigkeit: Diese Lernstildimension gilt als die bekannteste. Feldabhängige Personen tendieren zu ganzheitlicher Wahrnehmung, starker Außenorientierung und zur Bevorzugung interpersonaler Beziehungen. Bei der Informationsverarbeitung sind sie intuitiv und haben dabei Schwierigkeiten mit Einzelheiten. Im Unterschied dazu nehmen feldunabhängige Lernende analytisch wahr, sind stark nach innen orientiert, und es bereitet ihnen keine Schwierigkeiten, Details aus dem Kontext herauszunehmen. Deshalb ist für sie das Fremdsprachenlernen in einem gesteuerten Erwerbskontext vorteilhaft, während feldabhängige Lernende mehr Vorteile in ungesteuerten Erwerbssituationen haben (vgl. Aguado 2016, 263). Im Rahmen der vorliegenden Studie bereitete den zwei feldabhängigen Lernenden, die z.B. gerne eine neue Sprache in Gesprächen lernen und sich Lernpartner*innen wünschten, der Mangel an Erwerbssituationen und menschlichen Kontakten viele Schwierigkeiten beim Selbstlernen mit Duolingo. Währenddessen hatte eine feldunabhängige Lernende, die z.B. durch Lesen und Analyse längerer Texte und selbst Lernmaterialien finden wollte, wenig Probleme beim Lernen mit Duolingo (vgl. Kap. 7.2.1.1 und 7.2.1.2).

Analytisch – global: Zusammen mit der oben genannten Stildimension wird dieses Begriffspaar von einigen Autor*innen benutzt. Einige trennen die beiden Dimensionen und gehen davon aus, dass dieser Stil mit Neurologie verbunden wird, nämlich analytischer Stil mit der Linkshemisphäre des menschlichen Gehirns und globaler Stil mit der Rechtshemisphäre (vgl. Grotjahn 2007b, 328). Bei der Verarbeitung von Informationen erfassen Lernende mit einem globalen Lernstil den gesamten Kontext, während sich Lernende mit einem analytischen Lernstil auf Einzelheiten konzentrieren und sie dann mit einem Ganzen verbinden. Das führt dazu, dass globale Lernende als „intuitiv, assoziativ und stärker kommunikations- und gruppenbezogen“ gelten (Aguado 2016, 263), während analytische Lernende als „systematisch, kognitiv und damit eher formorientiert“ (ebd.) bezeichnet werden. In der vorliegenden Untersuchung konnte beobachtet werden, dass einige Lernende über analytische Lernstile verfügten, indem sie grammatische und phonetische Phänomene genau analysierten, wie z.B. Akkusativ, Nominativpronomina,Possessivpronomina usw. und die Ausspracheschwierigkeiten bei Vokalen mit Umlaut oder bei Konsonanten wie g, r, s usw. hatten, während die globalen Lernenden sich nicht darauf konzentrierten und sich für Lernpartner*innen zur Verbesserung ihrer kommunikativen Sprachkompetenz interessierten (vgl. Kap. 6.1, 6.2 und 6.7).

Ambiguitätstoleranz – Ambiguitätsintoleranz: Diese Dimension nimmt Bezug auf die Fähigkeit von Lernenden, unvollständige oder widersprüchliche Informationen wahrzunehmen und zu ertragen. Ambiguitätsintolerante Lernende haben zumeist eine Neigung zu Eindeutigkeit, Erklärungen und Regelformulierungen. Aus diesem Grund bevorzugen sie Lernsituationen, die gesteuert werden und angepasste und strukturierte Lerninhalte sowie entsprechende Übungen und Erklärungen bereitstellen, während ambiguitätstolerante Lernende mit dem natürlichen, ungesteuerten Erwerb gut zurechtkommen, da sie ohne Probleme mit unbekanntem Wortschatz, neuen Strukturen und unerwarteten Situationen umgehen können (vgl. Aguado 2016, 263). Als Folge daraus haben ambiguitätsintolerante Lernende beim Lesen eines Textes die Tendenz, unbekannte Wörter nachzuschlagen und daher über geringe Bereitschaft zum autonomen Fremdsprachenlernen zu verfügen (vgl. Grotjahn 2007b, 328). Dieses Merkmal der ambiguitätsintoleranten Lernenden konnte bei einem Teilnehmer in der vorliegenden Studie betrachtet werden, wobei er jedes neue Wort mithilfe eines Hilfsbrowsers nachschlug (vgl. Abb. 6.4). Aufgrund dessen schien es für ihn schwieriger zu sein, alleine mit dem Lerninhalt in Duolingo umzugehen, und demzufolge brach er das Selbstlernen schnell ab (vgl. Kap. 7.1).

Extraversion – Introversion: Diese Stildimension kann in allen wichtigen Persönlichkeitsmodellen erkannt werden. Sie gehört zu wenigen (neuro)physiologisch messbaren und objektiv nachweisbaren Lernstildimensionen. Extrovertierte Lernende weisen Risikobereitschafft auf, handeln spontan und erreichen häufig keine korrekten Ergebnisse, während introvertierte Lernende eher planvoll und fokussiert handeln, um richtige Ergebnisse zu erzielen. Daher ist es für sie vorteilhaft, Fertigkeiten zu erwerben, die keinen Kontakt mit anderen Personen benötigen, wie z.B. Schreiben. Im Gegensatz dazu haben extrovertierte Lernende Vorteile beim Erwerb sprachlicher Fertigkeiten, wie z.B. Sprechen, da sie sozial aufgeschlossen, kontaktfreudig und anpassungsfähig sind (vgl. Aguado 2016, 263f.). Diese zwei Lernstile sind in der vorliegenden Studie deutlich erkennbar, indem sich introvertierte Lernende sehr auf die Nutzung von Duolingo und die Suche nach anderen Webseiten zur Vermittlung der Grammatik, des Wortschatzes oder der Phonetik konzentrierten (vgl. Kap. 6.1 und 6.2). Dagegen versuchte eine extrovertierte Lernende trotz ihrer geringen Deutschkenntnisse, mit anderen auf Deutsch zu kommunizieren (vgl. Auszug 180).

Reflexivität – Impulsivität: Bei dieser Dimension handelt es sich um das Entscheidungsverhalten von Lernenden, also darum, wie spontan sie Aufgaben bearbeiten. Impulsive Lernende gehen eher spontan bei Lösungen komplexer Probleme vor, während reflexive Lernende dazu tendieren, einen Plan zu machen. Aus diesem Grund handeln sie überlegter und haben Vorteile bei Zeit benötigenden Fertigkeiten wie z.B. Lesen oder Schreiben. Allerdings führt es wegen ihrer starken Selbstkontrolle auch zu Ängsten bei der Sprachverwendung und folglich zum negativen Einfluss auf den Lernprozess. Demgegenüber wirkt sich die Impulsivität von Individuen positiver auf schnelles Handeln erfordernde Fertigkeiten wie z.B. Hören und Sprechen aus (vgl. Aguado 2016, 264). Infolgedessen unterlaufen ihnen jedoch mehr Fehler als reflexiven Lernenden mit gleichen Fertigkeiten, indem sie „eine Strategie des wilden Ratens“ verwenden (Grotjahn 2007b, 328), während reflexive Lernende „eine Strategie des kontrollierten Hypothesenbildens“ vorziehen (ebd.). Beim Selbstlernen mit Duolingo sind diese Handlungen der Teilnehmenden bei der Interaktion in Übungen zu beobachten, wobei reflexive Lernende mehr Zeit zu Überlegung und Entscheidung zu brauchen scheinen. Beispielsweise erwog eine Teilnehmerin vor dem Tippen der Lösung einer Aufgabe verschiedene Wörter wie Funge und Jungle, die ähnlich wie das Lösungswort Junge klangen (vgl. Auszug 152). Im Unterschied dazu tippte eine impulsive Teilnehmerin ohne lange Überlegung ihr falsches Lösungswort und klickte mehrmals auf den Skip-Button, um schnell die Lösung zu sehen (vgl. Tab. 5.7).

Individuelle Bevorzugung verschiedener Wahrnehmungskanäle: Darunter zählen auditive, visuelle, kinästhetische und taktile bzw. haptische Perzeptionsstile. Auditive Lernende lernen beim Zuhören am besten, während visuelle Lernende Informationen bei optischer Darbietung am effizientesten wahrnehmen. Zum Lernen ziehen kinästhetische Lernende demgegenüber körperliche Bewegung vor und taktile Lernende bevorzugen das Anfassen der Lerngegenstände (vgl. Aguado 2016, 264). Darüber hinaus benötigen kinästhetisch-taktile Lernende körperliche Bewegungen, wie z.B. in Form von Lernspielen, die die Motorik ansprechen (vgl. Grotjahn 2007b, 328). Theoretisch können alle Präferenzen von diesen Lernstilen in Online-Sprachlernprogrammen befriedigt werden (mehr dazu in Kap. 2.3). Bemerkenswert ist, dass für kinästhetisch-taktile Lernende virtuelle Sprachlernspiele in Programmen statt Bewegungsspielen angeboten werden. In der durchgeführten Untersuchung wird die individuelle Bevorzugung verschiedener Wahrnehmungskanäle bei den Teilnehmenden beim Selbstlernen mit Duolingo deutlich erkannt. Beispielsweise lernten einige gerne Deutsch durch Lieder hören oder Videos sehen, während andere lieber spielten oder lange Texte lasen (vgl. Kap. 6 und 7).

Kulturspezifische interindividuelle Differenzen: Zur Kulturspezifik von Lernstilen sind zahlreiche Hinweise vorhanden (vgl. Oxford/Anderson 1995; Reid 1995). In der Forschung von Reid (1987) beispielsweise zeigen koreanische Fremdsprachenlernende Tendenzen zu einem visuellen Lernstil, während arabische und chinesische Fremdsprachenlernende die auditive Modalität vorziehen. Darüber hinaus zeigt Hyland (1993), dass japanische Lernende gerne auditiv und taktil lernen. In den Studien von Rossi-Le (1995) tendieren spanische Lernende dazu, auditiv Fremdsprachen zu lernen, während Vietnames*innen einen visuellen Lernstil bevorzugen (vgl. Nel 2008, 51). Diese Auffassung stimmt mit den Studien über Fremdsprachenunterricht im Allgemeinen in Vietnam überein, da die Vietnamesen Fremdsprachen meistens für Prüfungen lernen und deswegen Probleme beim Hören haben (s. Kap. 4.3.4). Beim Umgang mit Duolingo, einem Sprachlernprogramm mit vielen auditiven Elementen, zeigt die vorliegende Studie allerdings ein anderes Ergebnis, da hier viele Teilnehmende beim Selbstlernen auditiv und taktil lernten (s. Kap. 6.1 und 6.2).

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Lernstile eine wichtige Rolle beim Selbstlernen spielen, da sie als Entscheidungsfaktor für unterschiedliche Lernhandlungen der Lernenden gelten, die z.B. verschiedene Programme bzw. Apps nutzen oder Hilfe und Kontakt suchen (s. Kap. 6.1.–6.7). Außerdem sind die oben genannten Lernstildimensionen dadurch deutlich zu erkennen, dass Projektteilnehmende mit unterschiedlichen Lernstilen bei ihrem Selbstlernen mit Duolingo verschiedene Lernstrategien zur Anwendung brachten. Im nächsten Kapitel (Kap. 2.1.4) werden Definitionen des Begriffs Lernstrategien einschließlich der Klassifikationen dargestellt, die im Zusammenhang mit Selbstlernen mit Sprachlernprogrammen stehen.

2.1.4Lernstrategien

Bei der Betrachtung des autonomen Lernens im Sinne individuellen Selbstlernens betont Tönshoff (2007):

Neben psychologischen Voraussetzungen auf Seiten des Lernsubjekts (u.a. Lernmotivation, Einstellungen) wird vor allem der Verfügbarkeit eines Arsenals adäquater Lernstrategien eine Schlüsselrolle für erfolgreiches Selbstlernen zugeschrieben. (Tönshoff 2007, 332f.)

Rösler (2012) ist zudem der Ansicht, dass bei der Diskussion um Lernstrategien keine neuen Aktivitäten erwähnt werden, sondern lediglich vertraute, „die aber gebündelt unter dem Gesichtspunkt der Förderung der Autonomie betrachtet werden“ (ebd., 122). Hinzu kommt, dass Überlegungen zur Förderung der lernstrategischen Kompetenz eine wichtige Rolle im Diskurs zum Thema Lernerautonomie spielen (vgl. Bimmel 2010, 844; Würffel 2018, 36). Bei der Datenanalyse kommen in Kapitel 5, 6 und 7 dieser vorliegenden Arbeit verschiedene Lernstrategien vor, die die Selbstlernenden beim Umgang mit Duolingo zur Anwendung brachten. Aufgrund dessen ist es sinnvoll, den Begriff Lernstrategien im Zusammenhang mit anderen Begriffen zu erläutern und unterschiedliche Strategien bezüglich des Lernens mit Sprachlernprogrammen zu schildern.

Laut Viebrock (2017b) beziehen sich Lernerstrategien als Synonym von Lernstrategien stark auf die Persönlichkeit der Lernenden und beinhalten sowohl „kognitive Strategien beim Sprachenlernen“ als auch „kommunikative und soziale Strategien bei der Sprachverwendung“ (ebd., 222). Aus diesem Grund wird der Begriff Lernstrategien in der Literatur oft mit Lerntechniken, Lernerstrategien und Kommunikationsstrategien verbunden. In Hinblick auf Definition und Verwendung dieser Begriffe gibt es keine Einheitlichkeit (vgl. Martinez 2016, 372; Zimmermann 1997, 98). Im Allgemeinen wird der Begriff Lernerstrategien als Oberbegriff verwendet, der Lernstrategien und Sprachverwendungsstrategien (Kommunikationsstrategien) beinhaltet (vgl. ebd.; Tönshoff 2007, 332). Die Gemeinsamkeit der Begriffe Kommunikationsstrategien und Lernstrategien besteht darin, dass „sie beide einen mentalen Plan darstellen; diese mit der Absicht, Kommunikation zustande kommen zu lassen, jene, um Lernen stattfinden zu lassen“ (Rampillon 1996, 20). Trotz der fließenden Grenze zwischen Lern- und Kommunikationsstrategien liegt der aktuelle Primärfokus des menschlichen Informationsverarbeitungssystems, der durch situative Anforderungen und durch Lernerintentionen bestimmt wird, „jeweils entweder stark auf dem Lernaspekt oder auf dem Gebrauchsaspekt“ (Tönshoff 2007, 332). Im Kontext dieser Arbeit scheint der Begriff Lernstrategien mit dem Lernaspekt besser für das Selbstlernen mit Duolingo geeignet zu sein, da die Testpersonen durch den Umgang mit dem Programm zuerst die deutsche Sprache im Bereich Wortschatz, Grammatik und Aussprache erwarben (vgl. Kap. 6.1–6.6). Erst danach konnten Kommunikationsstrategien eingesetzt werden, wenn sie Deutsch beim Umgang mit anderen Personen trainierten, was nur bei einigen Teilnehmenden beobachtet wurde (vgl. Kap. 6.7).

Zwischen Lernstrategien und Lerntechniken besteht auch eine Gemeinsamkeit, da sie im Allgemeinen als Verfahren bezeichnet werden, „mit denen Lernende den Aufbau, die Speicherung, den Abruf und den Einsatz von Informationen steuern und kontrollieren“ (Martinez 2016, 372). Der Unterschied zwischen beiden Begriffen wird festgestellt, indem Lerntechniken als „Einzelmaßnahmen“ (Rampillon 2007, 340) verstanden werden und Verfahren sind, die von Lernenden mit Absicht und planvoll zur Vorbereitung, zur Steuerung und zur Kontrolle ihres fremdsprachlichen Lernens benutzt werden (vgl. Rampillon 1996, 17), während Lernstrategien wie im Folgenden verdeutlicht werden:

Setzt der Lernende bei seinen Versuchen, Lerntechniken anzuwenden, bewußt und absichtlich einen solchen Plan ein, dann spreche ich von einer Lernstrategie. Demnach verstehe ich darunter einen allgemein formulierten Plan für die Realisierung komplexerer Lernprozesse. Aus dieser vorläufigen Definition wird deutlich, daß eine Lernstrategie eine systematische Bündelung von Einzelmaßnahmen darstellt, die bei umfassenderen Lernabsichten angewandt werden können. […] Eine Lernstrategie ist somit ein (mentaler) Plan, der verschiedene Lernschritte und Lerntechniken enthält und der sich von Fall zu Fall ändern kann. (Rampillon 1996, 20)

Ferner betrachtet Wolff (1997) Lernstrategien wie folgt als Verhaltensweisen:

Lernstrategien sind strategische Verhaltensweisen, die der Lernende u.a. beim Gebrauch und beim Erwerb der fremden Sprache einsetzt; als komplexe Pläne steuern sie sowohl das Verhalten der Lernenden beim Lernen und in der Interaktion mit anderen, als operationalisierte Fertigkeiten steuern sie den Erwerb sprachlicher Mittel und die Verarbeitung anderer nicht sprachlicher Informationen. (Wolff 1997, 72)

Darüber hinaus werden Lernstrategien als Handlungen bezeichnet, so genannte Pläne „(mentalen) Handelns, um ein Lernziel zu erreichen“ (Bimmel 1993, 5). Um diese Definition zu verdeutlichen, werden die folgenden Implikationen genannt:

Eine Lernstrategie ist ein Plan der Lernenden.

Der Plan der Lernenden beinhaltet, welche (mentalen) Handlungen sie jeweils ausführen wollen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.

Um sich eine geeignete Lernstrategie zurechtzulegen, müssen sich die Lernenden über ihr eigenes Lernziel im Klaren sein. (Bimmel/Rampillon 2000, 53)

Durch die oben genannten Definitionen wird der Begriff Lernstrategien deutlich dargestellt. In Bezug auf das Selbstlernen mit Duolingo werden Lernstrategien wie von Rampillon (1996) und Wolff (1997) als Verhaltensweise und Handlungen der Teilnehmenden verstanden, indem verschiedene Lernschritte und Lerntechniken zum Erreichen eines bestimmten Zieles, wie z.B. dem Erwerb neuen Wortschatzes, zum Einsatz gebracht wurden. Bemerkenswert ist, dass die Lernzielsetzung und Generierung von passenden Lernstrategien auch zu den benötigten Fähigkeiten der autonomen Lernenden gehören (vgl. Bimmel 2010, 845). In der vorliegenden Studie wurden diese Fähigkeiten bei einigen aktiven Teilnehmenden deutlich beobachtet, indem sie entsprechende Lernstrategien zum Beherrschen neuer grammatischer Phänomene, z.B. Suche nach Erklärung in Webseiten (s. Kap. 6.2