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Selbstzeugnisse: Curriculum Vitae, Reisetagebücher, Aufzeichnungen, Protokolle zu Drogenversuchen. Aus Walter Benjamins >Gesammelte Schriften<; Band IV - 2; Revidierte Taschenbuch-Ausgabe: Bände I-VII (in 14 Bänden gebunden); Frankfurt am Main; Suhrkamp Verlag; 1991. Inhalt: Curriculum Vitae Dr. Walter Benjamin Reisetagebücher Tagebuch vom siebenten August neunzehnhunderteinunddreißig bis zum Todestag Aufzeichnungen 1933-1939 Protokolle zu Drogenversuchen (mit 3 Illustrationen)
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Seitenzahl: 526
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Ich bin am 15. Juli 1892 als Sohn des Kaufmanns Emil Benjamin in Berlin geboren. Meinen Unterricht erhielt ich auf einem humanistischen Gymnasium, das ich im Jahre 1912 mit dem Abschlußexamen verließ. Ich studierte an den Universitäten Freiburg i. B., München, Berlin Philosophie, daneben deutsche Literatur und Psychologie. Das Jahr 1917 führte mich in die Schweiz, wo ich meine Studien an der Universität Bern fortsetzte.
Entscheidende Anregungen kamen mir in meiner Studienzeit von einer Reihe von Schriften, die zum Teil meinem engeren Studiengebiet fern lagen. Ich nenne Alois Riegls »Spätrömische Kunstindustrie«, Rudolf Borchardts »Villa«, Emil Petzolds Analyse von Hölderlins »Brod und Wein«. Einen nachhaltigen Eindruck hinterließen mir die Vorlesungen des Münchener Philosophen Moritz Geiger sowie des Berliner Privatdozenten für finnisch-ugrische Sprachen, Ernst Lewy. Die Übungen, die der letztere über Humboldts Schrift »Über den Sprachbau der Völker« abhielt sowie die Gedanken, die er in seiner Schrift »Zur Sprache des alten Goethe« entwickelte, erweckten meine sprachphilosophischen Interessen. Im Jahre 1919 bestand ich an der Universität Bern mit dem Prädikat summa cum laude meine Doktorprüfung. Meine Dissertation ist als Buch unter dem Titel »Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik« (Bern 1920) erschienen.
Nach meiner Rückkehr nach Deutschland erschien als erste Buch-Publikation daselbst eine Übertragung der »Tableaux Parisiens« von Baudelaire (Heidelberg 1923). Das Buch enthält eine Vorrede über »Die Aufgabe des Übersetzers«, die den ersten Niederschlag meiner sprachtheoretischen Reflexionen darstellte. Von vornherein ist das Interesse für die Philosophie der Sprache neben dem Kunsttheoretischen vorherrschend bei mir gewesen. Es veranlaßte mich während meiner Studienzeit an der Universität München der Mexikanistik mich zuzuwenden – ein Entschluß, dem ich die Bekanntschaft mit Rilke verdanke, der 1915 ebenfalls die mexikanische Sprache studierte. Das sprachphilosophische Interesse hatte auch an meinem zunehmenden Interesse für das französische Schrifttum Anteil. Hier fesselte mich zunächst die Theorie der Sprache wie sie aus den Werken von Stephane Mallarmé hervorgeht.
In den ersten Jahren nach dem Friedensschluß war meine Beschäftigung mit der deutschen Literatur noch vorwaltend. Als erste der einschlägigen Arbeiten erschien mein Essay »Goethes Wahlverwandtschaften« (München 1924/25). Diese Arbeit trug mir die Freundschaft von Hugo von Hofmannsthal ein, der sie in seinen »Neuen Deutschen Beiträgen« publizierte. Hofmannsthal hat seinen lebhaftesten Anteil auch meinem nächsten Werk geschenkt, dem »Ursprung des deutschen Trauerspiels« (Berlin 1928). Dieses Buch unternahm, eine neue Anschauung vom deutschen Drama des siebzehnten Jahrhunderts zu geben. Es macht sich zur Aufgabe, dessen Form als »Trauerspiel« gegen die Tragödie abzuheben und bemüht sich, die Verwandtschaft aufzuzeigen, die zwischen der literarischen Form des Trauerspiels und der Kunstform der Allegorie besteht.
Im Jahre 1927 trat ein deutscher Verlag mit dem Antrag an mich heran, das große Romanwerk von Marcel Proust zu übersetzen. Ich hatte die ersten Bände dieses Werkes im Jahre 1919 in der Schweiz mit leidenschaftlichem Interesse gelesen und ich nahm diesen Antrag an. Die Arbeit gab den Anstoß zu mehrfachem ausgedehnten Aufenthalt in Frankreich. Mein erster Aufenthalt in Paris fällt in das Jahr 1913; ich war 1923 dorthin zurückgekehrt; von 1927 bis 1933 verging kein Jahr, während dessen ich nicht mehrere Monate in Paris verbracht hätte. Im Laufe der Zeit trat ich zu einer Anzahl der führenden französischen Schriftsteller in Beziehung; so zu André Gide, Jules Romains, Pierre Jean Jouve, Julien Green, Jean Cassou, Marcel Jouhandeau, Louis Aragon. In Paris stieß ich auf die Spuren Rilkes und gewann Fühlung mit dem Kreis um Maurice Betz, seinen Übersetzer. Gleichzeitig unternahm ich es, das deutsche Publikum durch regelmäßige Berichte, die in der »Frankfurter Zeitung« und in der »Literarischen Welt« erschienen sind, über das französische Geistesleben zu unterrichten. Von meiner Übersetzung Prousts konnten vor dem Machtantritt Hitlers drei Bände erscheinen (Berlin 1927 und München 1930).
Die Epoche zwischen zwei Kriegen zerfällt für mich naturgemäß in die beiden Perioden vor und nach 1933. Während der ersten Periode lernte ich auf längeren Reisen Italien, die skandinavischen Länder, Rußland und Spanien kennen. Der Arbeitsertrag dieser Periode liegt, abgesehen von den erwähnten Schriften in einer Reihe von Charakteristiken der Werke bedeutender Dichter und Schriftsteller unserer Zeit vor. Hierher gehören umfangreiche Studien über Karl Kraus, Franz Kafka, Bertolt Brecht sowie über Marcel Proust, Julien Green und die Surrealisten. Der gleichen Periode gehört ein aphoristischer Sammelband »Einbahnstraße« (Berlin 1928) an. Nebenher beschäftigten mich bibliographische Arbeiten. Im Auftrage verfaßte ich eine vollständige Bibliographie des Schrifttums von und über G.Chr. Lichtenberg, die nicht mehr im Druck erschienen ist.
Ich verließ Deutschland im März 1933. Seither sind meine größeren Studien sämtlich in der Zeitschrift des »Institute for Social Research« erschienen. Mein Aufsatz »Probleme der Sprachsoziologie« (»Zeitschrift für Sozialforschung«, Jg. 1935) gibt einen kritischen Überblick über den gegenwärtigen Stand der sprachphilosophischen Theorien. Der Essay »Carl Gustav Jochmann« (a.a.O., Jg. 1939) stellt einen Nachklang meiner Untersuchungen zur Geschichte der deutschen Literatur dar. (In den gleichen Zusammenhang gehört eine Sammlung deutscher Briefe aus dem neunzehnten Jahrhundert, die ich 1937 in Luzern publiziert habe.) Einen Niederschlag von Studien zur neuen französischen Literatur gibt meine Arbeit »Zum gegenwärtigen gesellschaftlichen Standort des französischen Schriftstellers« (a.a.O., Jg. 1934). Die Arbeiten über »Eduard Fuchs, den Sammler und den Historiker« (a. a. O., Jg. 1937) sowie über »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« (a.a.O., Jg. 1936) stellen Beiträge zur Soziologie der bildenden Kunst dar. Die letztgenannte Arbeit sucht bestimmte Kunstformen, insbesondere den Film, aus dem Funktionswechsel zu verstehen, dem die Kunst insgesamt im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung unterworfen ist. (Einer analogen Problemstellung auf literarischem Gebiet geht mein Aufsatz »Der Erzähler« nach, der 1936 in einer schweizer Zeitschrift erschienen ist.) Meine letzte Arbeit »Über einige Motive bei Baudelaire« (a.a.O., Jg. 1939) ist ein Bruchstück aus einer Folge von Untersuchungen, die sich die Aufgabe stellen, die Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts zum Medium seiner kritischen Erkenntnis zu machen.
BRIEF:
Skovsbostrand per Svendborg, den 4.7.34 per Adr. Brecht
An das Danske Komité til Støtte for landsflygtige Aansarbejdere z. Hd. des Herrn Prof. Aage Friis Kopenhagen, Solsortvej 62
Sehr geehrter Herr!
Zur Unterstützung und Begründung der Bitte, die ich am Schlusse dieses Briefes an Sie zu richten mir erlaube, gestatte ich mir, Ihnen die folgenden Mitteilungen über mich zu machen:
Im März 1933 habe ich, deutscher Staatsbürger, im 41. Lebensjahr stehend, Deutschland verlassen müssen. Durch die politische Umwälzung war ich als unabhängiger Forscher und Schriftsteller nicht nur mit einem Schlage meiner Existenzgrundlage beraubt, vielmehr auch – obwohl Dissident und keiner politischen Partei angehörig – meiner persönlichen Freiheit nicht mehr sicher. Mein Bruder ist im gleichen Monat schweren Mißhandlungen ausgesetzt und bis Weihnachten in einem Konzentrationslager festgehalten worden.
Von Deutschland habe ich mich nach Frankreich begeben, da ich dort auf Grund meiner vorhergehenden wissenschaftlichen Arbeiten ein Wirkungsfeld zu finden hoffte.
Im folgenden verzeichne ich die wichtigsten Daten meiner Ausbildung und meiner wissenschaftlichen Tätigkeit: Nach Absolvierung des humanistischen Gymnasiums habe ich in Deutschland und in der Schweiz Literaturwissenschaft und Philosophie studiert und im Jahr 1919 in Bern den Doktor der Philosophie mit dem Prädikat summa cum laude gemacht. Nach meiner Rückkehr nach Deutschland wandte ich mich literaturwissenschaftlichen Arbeiten auf dem Gebiet des deutschen und französischen Schrifttums zu. Um mir für diese Forscherarbeit die nötigen wirtschaftlichen Grundlagen zu sichern, habe ich nebenher eine regelmäßige Tätigkeit als literarischer Referent für wissenschaftliche Publikationen an der Frankfurter Zeitung sowie am Südwestdeutschen Rundfunk in Frankfurt versehen. Außerdem bin ich gelegentlich Mitarbeiter einiger weniger angesehener Zeitschriften gewesen, die im deutschen Sprachgebiet zwischen 1920 und 1930 erschienen sind. Ich nenne vor allem die Neue Schweizer Rundschau und die Neuen Deutschen Beiträge.
Der Herausgeber der letztgenannten Zeitschrift war Hugo von Hofmannsthal, dem ich in den letzten sieben Jahren seines Lebens freundschaftlich verbunden war und der meinen Arbeiten eine ganz besondere Schätzung entgegengebracht hat. Von meiner Beschäftigung mit dem französischen Schrifttum legt neben kritischen Arbeiten meine Übersetzung des Werkes von Marcel Proust – von der in Deutschland vor dem Umsturz noch zwei Bände (Verlag R. Pieper, München) erscheinen konnten – Zeugnis ab. Daneben habe ich eine Übersetzung der Tableaux Parisiens von Baudelaire (Verlag Richard Weißbach, Heidelberg) erscheinen lassen, die als Einleitung eine umfangreiche Theorie der Übersetzung enthält.
Meine selbständigen wissenschaftlichen Publikationen sind:
Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (Verlag A. Francke, Bern, 1920)
Ursprung des deutschen Trauerspiels (Verlag Ernst Rowohlt, Berlin, 1928)
Goethes Wahlverwandtschaften (Verlag der Bremer Presse, München, 1924/25)
Daneben nenne ich einen Band philosophischer Reflexionen
Einbahnstraße (Verlag Ernst Rowohlt, Berlin, 1928)
sowie meinen Artikel »Goethe« in der großen russischen Sowjet-Enzyklopädie.
Über einen Sammelband meiner Abhandlungen zur Literaturwissenschaft bestand mit meinem Verleger Ernst Rowohlt ein Vertrag, der in Folge der politischen Umstände nicht mehr zur Ausführung kommen konnte.
In Folge meines eiligen Aufbruchs aus Deutschland ist meine Sammlung der über meine Schriften erschienenen Rezensionen in Berlin zurückgeblieben; eine umfangreiche zusammenhängende Darstellung meiner Schriften, die in der Frankfurter Zeitung erschienen ist, hoffe ich mir noch zu verschaffen und werde ich mir gestatten, Ihnen nachzureichen.
Meine Hoffnung auf Gründung einer selbständigen Existenz in Paris ist leider nicht in Erfüllung gegangen. Nichtsdestoweniger habe ich mir die nötigsten Mittel durch pseudonyme Arbeiten in der Frankfurter Zeitung (gezeichnet Detlef Holz oder K.A.Stempflinger ) eine Zeitlang beschaffen können. Mit dem Ende des Frühjahrs hat sich auch diese Möglichkeit mir verschlossen. Ich habe Frankreich verlassen müssen, da der Aufenthalt für mich dort zu teuer war. In Paris bin ich mit dem, ebenfalls flüchtigen, großen Sammler und Kulturhistoriker Eduard Fuchs übereingekommen, die Grundlinien seiner Lebensarbeit, deren dokumentarisches Material von der Berliner Polizei beschlagnahmt und zum großen Teil vernichtet worden ist, in einer zusammenfassenden und abschließenden Darstellung festzuhalten. Diese Darstellung beschäftigt mich gegenwärtig.
In Dänemark habe ich bei der mir befreundeten Familie Brecht ein provisorisches Unterkommen gefunden. Ich kann aber die Gastfreundschaft der Familie Brecht nur auf kurze Zeit in Anspruch nehmen. Auf der anderen Seite bin ich vollkommen vermögenslos; mein einziger Besitz ist eine kleine Arbeitsbibliothek, die im Hause von Herrn Brecht Aufstellung gefunden hat.
Ich habe mir erlaubt, Ihrem Hilfskomité diese Tatsachen in der Hoffnung zu unterbreiten, daß es Ihnen möglich ist, meine gegenwärtige Lage in etwas zu erleichtern.
Zu jeder weiteren Auskunft stehe ich Ihnen zur Verfügung.
Mit vorzüglicher Hochachtung ergebenst Walter Benjamin
11.4.11. Überall in Deutschland werden jetzt die Äcker bestellt. – Man sollte auf der Reise doch nicht seinen schlechtesten Anzug anziehen, denn das Reisen ist ein internationaler Kulturakt: man tritt aus seiner Privatexistenz in die Öffentlichkeit. – Ich las während der Fahrt Anna Karenina: Reisen und Lesen – ein Dasein zwischen zwei neuen aufschluß- und wunderreichen Wirklichkeiten. – Ein Thema: Religion und Natur (Naturreligion). Der Bauer muß religiös sein. Alljährlich erlebt er das Wunder, daß er aussäet und erntet. Dem Großstädter geht mit der Natur vielleicht auch die Religion verloren; an ihre Stelle tritt das Sozialgefühl. –
Das sind einige Gedanken, die ich während der Fahrt dachte. Von Halle bis Großheringen genießt man das Saaletal; dann aber nur Äcker, Äcker, die sich schneiden, heben und senken und dazwischen Dörfer mit der breiten Chaussee.
In Fröttstädt hat man plötzlich das Gebirge vor sich. Es lag in durchsichtigen Nebeln in ganz verschiedenen Höhenabstufungen. Von Waltershausen aus geht die Bahn durch schönen Wald.
Steinfeld überraschte mich schon in Reinhardsbrunn. Von da gingen wir eine viertel Stunde bis zu unserer Pension (Koffer). Der Wirt ist anscheinend ein freundlicher, gemütlicher Mann. Er abboniert die »Jugend« und das »Israelitische Familienblatt«. Im Annoncenteil herrschen Solomonsche u. Fäkeles und Würste und Sederschüsseln. [Diese verwendet man zum Passahfest und sie haben verschiedene Abteilungen für Verschiedenes. So sagt Steinfeld.] Nachmittags gingen wir den Herzogsweg – an der Mühle vorbei zum Wasserfall, zurück an Dorothea-Waldemar-Lottchen-August-Ruheplätzen vorbei durchs Dorf. Immer nach Spittelers Rat: nicht die Natur anglotzend, sondern redend, über Berlin, Theater, Sprachverhunzung. Jetzt mache ich Schluß, um den Plan für morgen mit Steinfeld zu entwerfen.
Das Objekt war friedlich.
Vorpostengefechte mit dem 2 ten Backenzahn oben. Ich hoffe…!
12.4.11. Heute ist Jontew. Eben habe ich in der Hagadda gelesen. – Beim Essen sagt Herr Chariz immer: »Ja, was soll man an Jontew machen« (d. h. kochen) Man sagt nicht: guten Tag, sondern: gut Jontew. Beim Abendbrot stand ein dreiarmiger Leuchter auf dem Tisch. Gott sei Dank wurde nicht Seder gemacht. Es wäre wohl sehr interessant gewesen und es hätte mich vielleicht auch ergriffen aber es wäre mir für mich wie unheiliges Theater vorgekommen. –
Immerhin, heute Abend bin ich in der Weltgeschichte wohl an 500 Jahre zurückgereist.
Regen und Sturm leiteten den Festabend ein. Wir besuchten Salomon und gingen mit ihm spazieren. Wie genießbar die Menschen allein sind. Und draußen, steht man ihnen auch so selbstständig, überlegen und gleichgestellt gegenüber. (Denn eben wo die Worte fehlen, da stellt ein Paradox … u.s.w.)
Heute vormittag schleifte ich meinen Körper über die Seebachsfelsen zum Spießberghaus. Dann war er brav und wir stiegen mitsammt dem Gottlob auf sein bemoostes Haupt. Unten liegt Friedrichroda, gegenüber ein koketter Berg, der seine Spitze schief aufgesetzt hat (novarum rerum cupidus) und die Ebene mit Dörfern u. Höhenbahn. – Als wir nach Friedrichroda hinuntergingen fröhnte St. seinem Hauptvergnügen, Psychologie an harmlosen Objekten zu treiben. Diesmal wars eine Bauernfrau. In der Riege trug sie leider Käse.
Am Nachmittag fand eine Revolte des Objekts statt. Drei Bananen, die sich auf dem Luftwege zu St. begaben, der im Bett lag, zerschlugen seinen Kneifer. Mein Taschenmesser begab sich auf ähnliche Weise unters Bett, wo es am dunkelsten ist.
Der Zahn erließ Amnestie für ein paar Bonbons. Auch sonst führte er sich lobenswert.
13.4.11. Heute war der Abend die Krone des Tages. Morgen fand nicht statt, da wir uns mit Aufgebot aller Kräfte des Willens und des Intellekts von der Notwendigkeit des Aufstehens erst um 9 ¼ Uhr überzeugten. Zum Kaffee gabs Matze und so wird bleiben. Denn gestern war Jontew und wir leben in der Passahwoche. Dann gings zum Abtsberg. Unten lag die Ebene mit Sonne und Wolkenschatten. Bis zu einer Bank marschierten wir; dann zurück und rechts den Wald hinauf zur Schauenburg. Nichtsahnend vorbei an der Alexandrinenruh und der Gänsekuppe. Es handelte sich um den Novellenschluß des Romans, darin um die Landschaft in der Dichtung. Wenn Steinfeld und ich zusammen sind entsteht eine philosophisch-literarische Spannung. – Statt einer Beschreibung, Charakteristik und Statistik des Mittagsbrots (»Was soll man am Jontew machen«) folgt eine solche des Herren des Hauses:
Ein Spießer, der 9 Jahre in Berlin verlebt hat, nicht soviel Takt besitzt mit seinen Gästen ein Gespräch zu beginnen, sondern seine lange Weile durch leise Pfiffe und Räckeln manifestiert. Gutmütig und, was die Umgebung Friedrichrodas anbetrifft, aufschlußreich. – Nachmittags fanden häusliche Szenen im Bett statt; draußen herrliche große Schneeflocken, drinnen wurde Graphologie gesimpelt. Ich sah Briefe von Steinfelds Eltern.
Dann gingen wir, erstanden den Simplizissimus (auf dem Rückweg eine Kokusnuß) in der Richtung des Bahnhofs über Friedrichroda hinaus. Wege und Wiesen waren naß, alles wundervoll frisch. Ein Stück Chaussee durch so eine sanfte Hügellandschaft, die ich sehr liebe, weil Haubinda da lag, dann einen Waldweg hinauf an einem Bergrücken entlang. Da lag eine Schonung: ganz kleine Tannen und größere Sprößlinge voll welker Blätter. Nach dem Regen war ein wundervoller Sonnenuntergang. Friedrichroda lag in Sonnendunst; der Wald war rot überstrahlt und einzelne Zweige und Stämme am Wege glühten.
Aus Wolkengluten erhebt sich neu
Eine junge Welt;
Purpur umsäumte Nebelberge,
Wollen Riesenleiber gebären
die goldenen Ströme brechen sich Bahn,
Fließen aus dichtem Wolkenhimmel
Durch die abendklaren Lüfte
Nieder zu der stillen Erde.
Senken sich in Fels und Äcker,
Glühnde Goldesadern ziehen
Durch der Erde schwere Tiefen.
Morgen wird Herbert kommen.
14.4.11. Heute kam Blumenthal. Das Bild ist geändert. Wir gingen mit ihm spazieren, es gab eine vorübergehende Mißstimmung zwischen Steinfeld und mir; der ganze Weg litt, da wir vorher ziemlich intim verkehrt hatten, unter der Gegenwart eines Dritten. Später, zu Hause, sprach ich mit Steinfeld darüber und hoffentlich gleicht sich alles aus.
Von heute vormittag datiert der bis jetzt stärkste landschaftliche Eindruck der Reise. Wir kletterten an einem Bergmassiv herum, kamen zu mehreren Felsen mit schöner Aussicht und auch zu einem, auf den die Sonne sehr heiß schien, der freie Aussicht auf den Inselsberg und in ein schönes Waldtal ließ. Vorher hatten wir uns immer noch losgerissen, aber hier konnten wir nicht gehen. Wir legten uns hin und blieben eine viertel Stunde. Es war 2¼ Uhr, als wir gingen, um ½ Uhr wurde schon gegessen, Blumenthal kam um 3½». Auf dem Rückweg, der durch den »ungeheuren Grund« führte und unerwartet lang wurde, ging ich schließlich voraus und erreichte Herbert an der Post. –
Am Abend sahen wir wieder, in derselben Gegend wie gestern, einen sehr schönen Sonnenuntergang. Folgende Unterhaltung:
Ich: Gestern abend waren wir spazieren und haben auch Dings gesehen.
Herbert: Was, Dings?
Ich: Na, Sonnenuntergang.
15.4.11. Durch nächtliche Gespräche und morgendlichen Schlaf gehen die Vormittagsstunden verloren. Um 11 Uhr gingen wir heute los und gelangten nach längeren Streitigkeiten auf einen Stein am schroffen Abhange eines Tales. Wir stiegen hinunter und kamen durch ziemlich eiligen Marsch noch zu rechter Zeit zum Essen. Nachmittags Bummel in der Umgegend. Schluß: früh zu Bett. Denn morgen gehts auf den Inselberg.
Ich lege das Tagebuch in Rückblicken an, teils, weil ich erfahrungsgemäß nicht jeden einzelnen Tag zum Schreiben Zeit finde, teils weil der Rückblick schon manches klärt. Also ich beginne mit dem Rückblick auf Weggis. Ort: der Schreibsalon des Hotel Belvédère in Wengen. Links in der Ecke zwei Backfische mit einem etwas albernen Herrn in meinem Alter; sie schreiben eine Karte an ihren Konfirmationspfarrer; draußen im Vestibül ein gespanntes Publikum, worunter sehr viel Kinder, die auf die Vorführungen der musikalischen Medien Prof. Matteo u. Frau Tuoselli (zu verwechseln mit Tosulli!) harren.
Wir reisten über Basel. Um 10 Uhr abends stiegen wir in den italienischen Expreß um, der in einer sehr weiten, einsamen Bahnhofshalle stand. Ein ganz leeres Coupe II schloß der Schaffner für uns auf. Nach ¼ Stunde verließ der Zug die Halle und fuhr in die regnerische, von großen Gaslaternen aufgehellte Nacht hinaus, zwischen Mauern mit Reklameaufschriften. Die Fahrt war schön: Wie von Zeit zu Zeit runde waldige Berge in ganz verschwommenen Umrissen auftauchten. Hier und da Lichter und vor allen Dingen die weißen Landstraßen.
Am nächsten Morgen ein ganz kurzer Aufenthalt an der Luzerner Kurpromenade bei der Musik. Dann im Dampfer nach Weggis. Am Nachmittag ein Spaziergang nach Hertenstein. Papa und ich alleine, denn Crzellitzers und die anderen ruderten. Je heißer die Straße für Papa wurde, um so schöner wurde sie für mich. Man hat, sowie man sich umdreht, den Rigi vor sich. Der schönste Teil der Straße liegt nicht am See, sondern im Hinterland, wo der Weg um einen Hügel biegt.
– Jetzt kommt ein sehr interessantes Intermezzo, da hinter mir Frau Tuoselli, wie ich vermute, (eine Dame in seidener, schwarzer Flitterrobe, genaueres steht noch nicht fest) hereingetreten ist, und ab und zu auf einem Klavier bekannte und wenig berückende Weisen spielt. Hinter das genauere werde ich noch zu kommen suchen. Augenblicklich steht die Dame an der geöffneten Tür (wenn sie es ist?)
Jetzt wieder Weggis: In Hertenstein entdeckte ich »limonade gazeuse«, die mir von da aus auf vielen Spaziergängen als lockende Belohnung vorschwebte. Georg und Crzellitzers fuhren trotz drohenden Gewitters mit dem Boote nach Weggis. Als sie unterwegs waren, brach das Gewitter aus. Sehr beängstigend, mit außerordentlich starken Blitzen. Gelb graue Wolken senkten sich schnell tief an den Bergen und der See bekam Schaumkämme. Der Rückweg war wenig angenehm, da wir große Angst ausstanden; und obwohl wir wesentlich kürzer gingen, kam er mir viel länger vor. Am Sonnabend ging mein Geburtstag ziemlich sang-und klanglos vorüber, da ich die Geschenke schon in Berlin erhalten hatte und Mama auch nicht einmal, wie ich heimlich vermutet hatte, ein kleines Reservegeschenk (einen Füllfederhalter hatte ich mir gewünscht und nicht bekommen) zurückbehalten hatte. Nur Onkel Fritz hatte eine Bonbonniere gestiftet.
Nachmittags waren wir auf dem Bürgenstock. Eine Bergbahn, Hotels, ein langsam steigender Weg am Felsen entlang und dann ein 120 m hoher Fahrstuhl bis auf die Piazza. Anfangs in den Felsen hineingebaut, dann aber ganz frei neben dem Felsen sich erhebend. Von unten sieht die Anlage schwindelnd aus; ist man jedoch drinnen, so fühlt man sich vollkommen sicher; denn erstens bewegt sich der Fahrstuhl in einem starken Eisengerüst und außerdem kann man nicht in die Tiefe sehen. Aber auch oben, auf der Brücke, die vom Ende des Fahrstuhls auf den Felsen führt, fühlte ich mich ganz schwindelfrei. Abstieg. Und der Abend beschwor bei zwei Flaschen Asti eine leise Feierlichkeit herauf.
Sonntag wurde ruhig bei Tolstoi, Burckhardt und lateinischer Formenlehre verbracht. Am Vormittag stieg ich heldenhaft einen heißen Hügel hinan um unter einem Baume einsam ein Buch zu genießen. Und es war schön, wenn das Buch auch nur die lateinische Formenlehre war.
Montag vormittag erblickte ich die Mythen, an deren einen ich noch eine ganz blasse Erinnerung von meinem ersten Aufenthalt in Brunnen her (5 Jahre) bewahrt hatte. Mit anderen hatten wir ein Motorboot gemietet, mit der Absicht zur Felsplatte zu fahren und ein Stück der Axenstraße zu gehen. Es wurde zu spät; und Mama, Georg und ich führten die Absicht am nächsten Tage aus. (Es ist die Dame)
Wir hatten Glück. Wundervoll klar war alles am Nachmittag und auf dem zweiten Platz des Schiffes wurden Jungen und Mädchen von der Volksschule befördert. Ich stand vorn und hörte zu; sehr schön begeistert von den Liedern die sie sangen. Mir fiel ein: Im Volkslied kommt das Volk zum Bewußtsein seiner selbst. Das macht seine mächtige, allgemeine Wirkung aus; das macht es so unsympathisch und falsch, wenn anstatt selbstverständlicher Einfachheit (das einzig durchaus originelle wird wohl meist nur Sprache oder Dialekt sein), ein nationales Protzen sich breit macht.
Am Rütli stiegen die Kinder aus; es war ein Geistlicher (die man überhaupt dort viel sieht) unter ihnen, dessen imposante Dummheit sich unverhüllt in seinem Lächeln offenbarte.
Und an der Teilsplatte stiegen wir aus. Der epische Fluß der Erzählung muß hier unterbrochen werden, durch einen wissenschaftlich getreuen, doch feuilletonistisch erheiternden Modenbericht. So ungefähr stelle ich mir einen Zweig der Familie Eckel vor, die ihre berühmte Alpenfahrt macht. Mann, Frau, Tochter. Das Familienmerkmal – sozusagen – des Mannes war ein Monokel. Im Knopfloch eine Georgine von imposanter Größe. Die Gattin – die Signalstange der Familie, die »Achtung« rief. »Achtung« rief der Hut. Von ganz normalen Dimensionen. Verhältnismäßig normal auch die Labz-Spitzengarnitur. Normal, weil in Mode. Über den Spitzen, auf der angenehmen Wölbung des Hutes jedoch befand sich das Auffallende. Zunächst weiß und seltsam zwischen hell und dunkelrot. Bei näherer Beachtung ein Vogel, ein vollständiger Vogel, der als Bekleidungsstück am Kopf und an den Flügelenden in besagtem merkwürdigen Rot erglänzte. Alles übrige weiß mit Spitzen. Der Ausdruck eines beleidigten Dienstmädchens krönte das ganze. Die Tochter war charakterisiert durch die Mutter. Ebenso dienstmädchenhaft vornehm, ebenso dick, nur noch mit einer fast tragischen Note in einem naiven Lächeln. Dieselbige Familie saß auch auf dem Dampfer, mit dem wir von Flüelen zurückfuhren.
Also zunächst zur Teilsplatte. Was die Platte betrifft, so ist sie von einem Gitter umgeben und von den Füßen 1000der patriotisch oder poetisch durchglühter Waller wohl noch ebener gemacht als Tell sie vorfand. Den Hintergrund schmückt ein Raubtierkäfig, der aber statt Löwen oder Tigern fromme Altarlichter und sterbensblasse Wandgemälde (deren Zeichnung nicht schlecht ist) in seinem schauerlich nüchternen Innern birgt. Hinauf zur Axenstraße. Ein ziemlich steiler Aufstieg brachte mich durch große Anstrengung in meinen gewohnten Wanderzustand, so daß ich nunmehr schnell und leicht die große Straße, die teils eben geht, später sich senkt, verfolgte. Die üblichen großen Bogen der Bergstraßen, vorwiegend einer nach innen. Links die ganz steilen Felswände, die oben an einen tiefblauen Himmel zu stoßen scheinen. Und deutlich sieht man in der größten Höhe schwankendes Gehölz, Laubbäume, leise wehen oder in der großen Schwüle unbewegt stehen. Unten geht, am Rande des Sees, oft durch Tunnel die Gotthardbahn … nach Italien. Über ein halbes Jahr? Der See, den von drüben hohe, zum Teil schneebedeckte Berge einfassen, in leisem, windgekräuseltem Farbenspiel. Wo der Wald sich spiegelt ein märchengoldnes grün, wo die Sonne das Wasser trifft, seegrün, wie von Tang gefärbt. Und den Bergen drüben sieht man geradezu ins Gesicht, d. h. man sieht ihre schroffen Abstürze und Schluchten. Über ihnen erscheinen Wolken, die sich bis Flüelen recht stark verdichten. Die Axenstraße führt durch Tunnel, in denen arme Ansichtskartenverkäufer ihren »Bazar« aufgeschlagen haben. Drei große Fenster sind in den längsten dieser Tunnel gesprengt; unerwartet öffnet sich der See.
Eine ganz starke Wanderstimmung überkommt mich. Als ob ich schon den ganzen Tag gehe, Morgen und Mittag der Sonne erblickt habe. Das machen die Berge; der Himmel über ihnen, der so blau ist und vor allem ihr gewaltiger Linienrhytmus. Sie scheinen wie ewige Weltwanderer, die dahinziehen und wenn man mit ihnen wandert, so glaubt man selber aus Fernen zu kommen.
Bis sich das beruhigt und mäßigt; die ersten Häuser von Flüelen; ein alkoholfreies Restaurant weckt Kulturgedanken; und ein normales Bewußtsein erwacht bei einer Flasche »Limonade gazeuse«. Leider ist sie abgestanden.
Am Mittwoch früh ein entzückender, wenn auch gänzlich rührungsloser Abschied von Franz, Robert und Jete. Franz hat etwas Gravitätisches, Robert ist für sein Alter erstaunlich schelmisch; mehr wohl im Ausdruck als sonst; aber sehr lieb. Jete ist 2 Jahre. Mehr kann man zum Lobe eines Menschen wohl kaum sagen.
Mit dem Dampfboot nach Alpnachstad über den Teil des Sees, den wir noch nicht befahren hatten. Am Bahnhof ein erstes »Abenteuer der Seele«. (Und damit hier ein erstes schüchternes Bekenntnis) Vom Warteraum aus besah ich mir im Korridor Reklamebilder, dabei sah ich ein Mädchen an einer Tür zum Stationsraum lesend, ganz flüchtig, ein rosa Kleid mit schwarzem, glänzendem Gürtel. Sie schien mir sehr hübsch. Wahrscheinlich die Tochter des Stationsvorstehers. Ich streifte sie nur sehr schnell mit dem Blick; denn im gleichen Korridor saßen auf einer Bank zwei ältere Tanten in schwarz. Daher ging ich. Noch zwei Mal besichtigte ich eingehend und aufmerksam die bunten Plakate. Das Mädchen stand noch da, aber ich konnte es nicht ansehen.
Nachher, als der Zug die Station verließ, sah ich sie. Es war ein kurzes Abenteuer der Seele und fand mit diesem Anblick seinen Schluß. Sie war nicht besonders hübsch.
Die Brünigbahn ist schön. Ich genoß die Fahrt mit 2 Schweizer Knaben und mehreren Herrn auf der Plattform des Wagens. Vom Brünig nach Meiringen – Brienz. Mit dem Schiff nach Interlaken. Mit zwei Franzosen (ein älterer Herr und eine junge Dame), deren Gespräch ich zu meiner Genugtuung verstehen konnte, mit der herrlichen Bergbahn von Lauterbrunnen nach Wengen. Was da Erinnerung, was vorübergehender Verdruß oder Genuß sein wird, und gewesen sein wird, weiß ich nicht.
Für den folgenden, am 25 ten hier in Wengen begonnenen Teil dieses Pseudotagebuches trage ich schwere Bedenken. Nur die beständig im einzelnen wechselnden und doch im Grunde sehr ähnlichen Stimmungen der Hochgebirgsnatur sind festzuhalten; noch dazu unter möglichster Ausschaltung der pragmatischen, unwichtigen Begleitumstände. Und diese feinsten Gründe verschiedener Natureindrücke festzuhalten ist schwer und manchmal und für manchen unmöglich. Und vielleicht wird da doch wieder an einzelnen Stellen im pragmatischen, im gewöhnlichen, begleitenden Erlebnis, der einzige Schlüssel und Ausdruck liegen.
Mit leichterem und gleich reizendem kann ich beginnen. Mit dem eindrucksvollen Merkmal des Tages als ich mit meinen Geschwistern 10 Minuten in dem bestrickend kunstgewerblichen Vestibül des Hotels zubrachte und eine Entscheidung der Eltern über die Wohnung erwartete (die imponierenden Blätter der Times und des Matin musternd) und mit dem zweiten Genrebild: Einem tagebuchbeflissenen Jüngling in dem allmählich sich leerenden Schreibzimmer (nur ein vornehmer Herr mit lang ausgezogenem Bart legt seine abendliche Patience) während im erleuchteten Vestibül ein Zauberer seine scharf accentuirten Reden vor dem Publikum hält und bis in meine stille Ecke sendet.
Danach wohnte ich dieser Vorstellung bei, ohne weitere tiefere oder denkwürdige Gefühle, Gedanken oder Erinnerungen daran zu bewahren.
Ein harmlos angelegter Spaziergang des folgenden Vormittags entwickelte sich zu einem etwas längeren Gang, der mit einer Bergtour wenigstens das Ziel und die Anstrengung gemein hat. Man erklomm auf heißen, steilen Hügelrücken und zuletzt auf kurzem braunen, mit Wurzeln durchquertem Waldweg das Lauberhorn, das diese Bemühungen mit einem Ausblick auf Interlaken lohnt.
Es wechselte nun mit ziemlicher Regelmäßigkeit eine Reihe von Tagen der Beschaulichkeit mit solchen, die von mehr oder weniger langen, harmlosen Touren ausgefüllt werden; während die Lektüre der »Anna Karenina«, der »Kultur der Renaissance«, einiger Zeitungsfeuilletons und Vormittage, die in mehr oder weniger bequemer Lage auf dem Waldboden verbracht werden die beschaulichen Tage darstellen. Nicht zu vergessen ein bandwurmartig anwachsender Briefwechsel mit Herbert, so wie auch im übrigen ein mit der Intelligenz von Berlin-W geführter leider reger Briefwechsel, der dadurch nicht interessanter wird, daß die Umstände Veranlassung zu mehrfach wiederholten Schilderungen identischer Urbilder geben. Ferner bringt jeder Tag eine Stunde der Göttin des Examens zum Opfer. Desgleichen jede Nacht ihr einen Traum.
Und nun erst gelangen wir in medias res, wobei die Sache die Alpenwelt darstellt. Da Sinn und Verstand weder für noch gegen eine chronologische Aufzeichnung sprechen, so wähle ich sie. Oder trotzdem. Auch das bleibt dahin gestellt. Denn die Niederschrift eines Tagebuches kostet schon an sich genug geistige Arbeit.
Ich muß also beginnen mit Ausflug und Fahrt in den Jungfrautunnel. Leider ist der Schreibtisch nicht besetzt und am 28 d.M. des Abends setzte ich mein Werk fort.
Die Bahn (eine Bergbahn mit offenen Wagen) geht nach Wengen-Scheidegg und wieder sendet dem rückwärts sitzenden die Bergwelt nur kurze, blendende Grüße. In einer langen, ausgedehnten Menschenkolonne geht’s zu Fuß von Scheidegg nach dem Eigergletscher. 250 m Steigung. Ich berechne immer eifrig Höhengewinnste und Verluste; kann mich geruhsam darüber ärgern daß erworbene 30 m in 1 Min. in einem kleinen Abstieg wieder geraubt werden, bleibe weit hinter den Eltern und dann hinter Nachfolgenden zurück und gelange schließlich recht erschöpft auf die Höhe. Mühsam muß ich eine Übelkeit unterdrücken. Merkwürdig, wie gereizt die Anstrengung mich macht. Auf eine Frage nach meinem Befinden antworte ich fast frech. Die errungene Höhe, die Nähe der Gletscher läßt Mama endlich den zurückgedämmten Wunsch nach einer Fahrt mit der Jungfraubahn wach werden. Sogar Papa wird ergriffen und eine Fahrt nach Station Eismeer beschlossen. Wobei ich ein Opfer meines etwas aufrührerischen Herzens zurückbleiben soll. Sofort stand bei mir fest mit Aufwand aller Diplomatik wenigstens etwas zu erreichen. Und nach ganz kurzem Kampf setzte ich eine Fahrt nach Eigerwand durch. Dora sollte dort mit mir bleiben und der nächste Zug sollte uns zurückbringen.
Noch ist Zeit bis zur Abfahrt des Zuges. Wir verlassen das festungsmäßig düster gebaute Bahnhofs-und Restaurationsgebäude und auf Schuttabhängen hinab zum Eigergletscher. Bald haben wir Schnee unter den Füßen und vor uns Eis und Schneemassen, den Gletscher und eine ziemlich schneefreie braun-schwarze Felswand. Man ist mitten in der Gletscherwelt. Aber das Kulturbewußtsein wird wach erhalten durch zahlreiche Bewunderer am selben Orte, durch eine Eisgrotte mit Eintritt nach Belieben, durch Männer, die angelegentlichst eine Rodelfahrt in Schlitten empfehlen, die gegen eine Gebühr auszuleihen sie gern bereit sind. Rückweg und Fahrt in der Jungfraubahn. Leis, ganz leise enttäuschend. Nur vage Ahnungen der Gletscherwelt stehen dem Fahrgast in einer endlosen, vom elektrischen Licht der Coupees erhellten Tunnelfahrt frei. Und dann der kühle Tunnel, mit etwas satterer Belichtung, wo der Zug hält: Station Eigerwand in bunten Glühbirnen oben an der Wölbung zu lesen. Überrascht und erfreut, doch etwas zu entdecken laufe ich zu, auf den Fleck, wo Tageslicht grüßt. Ein Ausblick, wie viele Ausblicke. Ein Stück Felsenwand, Dunkelheit und 5 m entfernt, noch so ein Loch im Felsen mit eisernem Gitter davor. Ebenso zur anderen Seite. Die Fahrgäste verlaufen sich allmählich; kehren in ihre Coupees zurück. Nicht genug damit: das Schicksal hatte mir noch eine kleine Liebesgabe zugedacht, die ich aber sogleich als solche erkannte und die mich daher nicht sehr ärgern konnte. Zwei junge Damen, die auch auf der Station bleiben wollten, aber durch lockende Schilderungen des Eismeers von dem Bahnbeamten bewogen wurden, im letzten Augenblick einzusteigen. Der Zug fährt ab. Meine Schwester, ich ein Fernrohr … und nach einiger Zeit der Bahnbeamte die einzigen. Wir entwickeln unser Lunch. Der Bahnbeamte schenkt Dora einen Glimmerstein; dann nähert es sich und wir bewundern entflammt nach seinen Weisungen im Fernrohr in plötzlicher Deutlichkeit die Umgegend. Tandlhorn, Schyn Platte, Grindelwald u.s.w. Ich fühle mich zu einer Erkenntlichkeit bewogen; habe aber kein Kleingeld bei mir und helfe mir, indem ich eine Karte kaufe. Hoffentlich gehörte ihm der Stand und wahrscheinlich, da er doch Dora etwas vom Bestande geschenkt hatte. Unter spärlichem Unterhalten mit Dora vergehen die letzten 10 Minuten kalter Einsamkeit, das Lunch geht aus, die letzten Augenblicke; soeben fährt der Zug ein, Abfahrt und Ankunft wieder im Eigergletscher.
Ich will hier nachträglich einiges herausheben und aufheben, da mancherlei und nicht zum wenigsten auch die Schwierigkeit der Aufgabe, eine leise, liebevolle Schilderung auch des Alltages einer Reise, und des gemäßigten, schön bewegten Schwankens und Träumens in Erwartung und befriedigtem Genuß verhindert hat.
Am reichsten an unverhüllten inneren Freuden und beinahe andächtigen Festen war der Aufenthalt am Genfer See. Die erste Berührung aus der Ferne von einem Hochplateau, in dem sich nähernden niedersteigenden Eisenbahnzug. Unten gewahre ich eine leere Tiefe. Wohl wenige oder keine Landschaften im Gebirge gibt es, die eine gleich ruhige, befreite Spannung gewähren, wie der erste weite Ausblick auf die See oder eine große Wasserfläche. Die Eltern orientierten sich und uns an den Aufenthaltsorten ihrer früheren Reise am See. Schloß Chillon, deutlich in der Vorstellung durch bürgerliche Mondscheindrucke suchen wir noch vergebens. Ein farbenvoller Sonnenuntergang spielt schon am Himmel. Wir fahren durch Weinpflanzungen, halten an kleinen Orten mit französischen, zusammengesetzten Namen; die rätselvolle Ferne des Sees ist verdrängt durch das imposante Bild der Badestadt Montreux-Vevey-Territet in der Tiefe. Die Bahn immer zwischen Weinhügeln und ab und zu eine niedrige Mauer oder ein Schloßturm. Bis die Einfahrt mit schamlosen Hotel-Rücken in prassenden Aufschriften das Bild bestauben, aber nicht verdrängen.
Von einem Zimmer-Balkon des Eisenbahnhotels genieße ich in jener durchaus selbstbefriedigten Ruhe nach einer längeren Reise Fortgang und Ende des Sonnenuntergangs. Mir noch unbewußt läßt eine Musikkapelle auf der nüchternen Hotel-Terrasse nach dem Bahnhof hinaus italienische Stimmung entstehen und wachsen.
½ Stunde später gehe ich nach dem Abendbrot auf der Terrasse ein paar Schritt hin und her – nur wenige Schritt, (dann gleich zu Bett) und die Stimmung ist schon da, stark gegenwärtig. Die sehr nüchterne Bahnhofs-Terrasse muß nach dem See zu abfallen und mit Palmen bestanden sein. Die Musik ist durch eine längere Pause unterbrochen und die Luft sehr lind. An den See will ich nicht mehr gehen. Morgen. Ich bin müde und weiß alles, habe ja diese Landschaft schon erfaßt und genieße sie ganz. Und so schließt der Tag. Mit der Aussicht auf morgen, den Überfluß, der kommt ohne ersehnt zu werden.
Dieses »Morgen« stand im Zeichen der Sonne. Ein Gang durch die heiße, helle Stadt. Zuerst hinunter zum See, der liegt unbewegt, blau – die hohe Lage des gegenüberliegen Ufers deckt ein leichter Dunst. Dunst überall, er verwehrt den deutlichen Blick in die Ferne und gibt See und Land eine ebene weite Ruhe. Doch die Sonne vertreibt uns vom Ufer mit der Brüstung und dem Eisengeländer vor dem See und Bäumen, deren Schatten recht tief sich von alle dem Licht absetzt. Zurück zur Stadt. Gegenständlicher wirds in Farbe und Form. 10 Uhr. In der Vormittagshitze formen sich alle Gebäude hell und kantig; das weiße oder gelbe Pflaster sogar strahlt Licht aus. Und doch wieder, gerade durch dies Licht, gerade in dieser Klarheit, märchenhaft seltsam … märchenhaft hell. Ganz verlassene Hotelfassaden, schimmernde Juweliersläden an der Straße … vornehm luxuriös erscheinen sie, als wären sie für sich da. Denn Badepublikum gibt es nicht. Ein dicker Schlächter steht in Hemdsärmeln vor der Tür und ein paar Einheimische beleben die Straßen – oder heben gerade um so deutlicher die Einsamkeit hervor. Die Weinberge, kahle Felsenpartien oberhalb der Stadt erscheinen als die gegenständliche Atmosphäre. Die Straße hat eine Brüstung; darunter sieht man das Geleise der Simplonbahn und manchmal fauchen und poltern Züge drüber hin. Der Weg hat ein Ziel … das Ziel ist Schloß Chillon. Im Burggraben … im früheren Burggraben liegt der Schienenstrang der Simplonbahn. Ich war mißtrauisch diesem Schloß gegenüber … wie allen Schlössern gegenüber seit ich die Wartburg sah … und noch ganz besonders in manchen unklaren Erinnerungen an Mondschein-Romantik. Doch meine Enttäuschung war groß und angenehm. Überall interessant … stellenweise, in den tiefen Felsgemächern ist der Eindruck stark und würdig. Ganz besonders fiel mir in drei Zimmern die neuerdings freigelegte durchaus modern, im geschmacklosen und schönen Sinne wirkende Bemalung auf.
Auf dem Vorderperron der Tram stehend, hoffte ich die Fahrt nach Vevey recht zu erschöpfen. Doch nur bis zu einer Schokoladenfabrik an der Landstraße blieb der Blick frei. Fabrikschluß … ich stand gedrängt in einem Haufen von Arbeitern und Arbeiterinnen, die einen angenehmen, intensiven Schokoladengeruch aus der Fabrik mitbringen. Die Straße geht am See entlang. In bestaubten Gärten, oft hinter grauen Steinmauern, liegen Landhäuser. Auf dem See liegt Dunst. Auf alles drückt die Hitze ihre schwer und hell machende, und in der Ferne lichtdämpfende Hand. Unvermittelt liegt das Aristokratenviertel hinter mir. Jetzt – so denke ich mir die Straßen einer italienischen Landstadt. Eng, mit wenig verlockenden) Blicken ins Innere der Häuser, unsauberen Auslagen, Menschen aus demselben Milieu. Unangenehm sind mir solche Straßen als Kultureuropäer. Sehr interessant, noch mehr, fesselnd, sind sie mir aus individuelleren Gründen. So ganz unvermittelt aus all dem Schatten taucht plötzlich ein Lichterreich auf, blendend wie eine nahe Sonne … der Markt von Vevey. Der weiße, helle Platz mit flüchtig aufgerichteten, braunen, gelben und farblosen Buden strahlt sein Licht zurück auf die umgebenden Häuser, alle ohne bestimmte Färbung, in den feinsten Nuancen von weiß zu leuchtenderem und verwaschenem gelb. Buntes schmutziges Papier liegt massenhaft am Boden. Aus dieser ganzen Lichtfülle aber hebt sich hinten abschließend und beherrschend der fein sanft gebogene, mäßig hohe Mont Pelerin. Dunkle Waldflächen wechseln mit hellen, angebauten Saatfeldern, graue Flecke, Häuser, stellenweise vielleicht kleine Dörfer heben sich heraus. Und in diesem gleichen weißen Ton, der alles beherrscht und alle Farbenpracht, die das Leid wohl sonst entwickeln mag, mildert, spannt sich der Himmel.
Am Nachmittag bringt eine Fahrt auf dem See mir wieder diese seine seltsam ruhige, fast wesenlose und tief beruhigende Erscheinung vor Augen. Gewitterwolken stehen am Himmel, ganz gelb erstrahlt das Wasser an einer Stelle von ihrer Spiegelung, einige bewegtere Schaumwellen erheben sich, aber vergebens erhoffe ich ein kleines stürmisches Abenteuer. Die Ufer liegen klarer zu beiden Seiten. Weiter entfernt von der hochgebirgsartigen französischen Seite, fahren wir an dem hügeligen Lande vorbei, das Schweizer Gebiet ist. Keine bewegte, sondern im wesentlichen eine langsam aufsteigende Linie stellt es dar … die Dörfer am Bergrücken ganz gedrängt in der Entfernung, nehmen bisweilen die sonderbarsten, farbenstärksten Gestalten an.
Auf dem Dampfer sind zwei ungefähr 20jährige Schwestern. Die eine sehe ich am Schiffsende stehen … mit anmutigem, weitem Schwung wirft sie Brot ins Wasser, das die Möwen, die dem Dampfer folgen, schnappen. Darin ist sie ganz vertieft und sichtlich dadurch erfreut. Von allem anderen abgesehen … ein seltenes und liebenswürdiges Schauspiel, selten leider auch auf Reisen, in so natürlicher Beschäftigung einen Erwachsenen eifrig handelnd zu sehen. … O! aber ein sehr feines, ein fein-schönes Gesicht … es läßt sich nicht sagen … um Gotteswillen kein rundweg schönes Gesicht… man denkt an Würde und Hermelin. Sondern bei allem Ernst erscheint die Fähigkeit fein zu lachen, bei aller Gründlichkeit erscheint verborgen glühendes Feuer. Alles lebendig und gar nicht »interessant«. Denn sie hatte sich umgedreht und ich sah nun auch eine schöne Eigentümlichkeit der Kleidung: über einer einfachen weißen Bluse ein dunkler Sammetschlips, groß, frei herunterhängend … wie farbig-stark das wirkt! Das alles die Entdeckung wohl kaum einer Sekunde. Ich wende mich und begegne nach wenigen Schritten ihrer Schwester. Gleich gekleidet, die gleichen hellblonden Locken zu Seiten der Schläfen eng gewunden, gleich große dunkle Augen und dieselbe süße Farbe des Gesichts. Das alles macht mich sehr vergnügt … froh.
Ouchy … das ist die Hafenstadt von Lausanne. Ich ärgere mich, daß ich erst einige Zeit nach ihnen ans Land komme … ich sehe … ein junger Mann, wohl der Bruder, begleitet sie. Ich folge ihnen mit den Augen … sie gehen, wir zögern, bald habe ich sie verloren. Dann folgen auch wir dem Trott, die gepflasterte Allee hinunter… wir sind an der Bahn, die hinauf fährt nach Lausanne. Gott sei Dank: sie sind noch da. Wie überall betrachte ich die Plakate und werfe ab und zu einen vergnügten Blick auf sie. – Ob sie wohl in mein Coupee kommen … Bitte sehr, wozu weißt du das, verweise ich eine Regung der Vernunft, es kann alles sein. Es war aber nicht …
Lausanne hat … glaube ich gegen 60 000 Einwohner. Doch ist es eine richtige Großstadt, konzentriert auf kleinem Raum. Die Geschäftsstraßen – bewegte, belebte, lärmende Straßen, – der Großstadt, die Schmutzwinkel der Großstadt … wohl nur die Repräsentationsgemächer der Großstadt fehlen. Denn der Dom … in seiner äußeren Wirkung … trotz schönen Baus, soweit ich mich erinnere, durch Restauration in seiner Tönung verdorben, repräsentiert nicht, ebensowenig wie einige nüchterne schloßartige Gebäude. Das sahen Georg und ich in Eile … nach Baedeker, während die Eltern und Dora in einem Café warteten. Es war sehr heiß. Vielleicht trug auch diese lastende Schwüle zum Eindruck der Stadt bei. Vielleicht komprimierte sie sozusagen Häuser und Straßen, daß alles Enge enger, alles Gedrängte gedrängter erschien. Viel wird gebaut. Auf dem Bauplatz steht ein halber Abbruch, ein halber Aufbau. Straßenlärm, viele Cafés, laute Musik aus dem Café Cursaal, das uns mit einer Portion Eis erfrischte. Eine starke, packende Stadt, durch ihren teuflisch reinen Stadtcharakter … weder Zweckmäßigkeits-noch Schönheitsrücksichten haben hier gelichtet.
Papa ging mit uns zum Hafen hinunter zu Fuß. Durch neuangebaute Gegenden … kein Haus versperrt hier noch den Blick zum Himmel, nur die Straßen, denen die Häuser noch fehlen und nur die einzelnen Häuser in ihrer Nüchternheit oder in albernem Putz verraten die Stadt. Und nur eine Stelle mit offenkundigen Armenansiedelungen bei einer Fabrik. Es ist gut für den Augenblick, daß man in die Wohnungen in dem schwarzen Bau trotz der geöffneten Fenster nicht sehen kann. … Es ist ein richtiger berliner Vorstadtabend.
Die Rückfahrt zeigt den See … ruhig, wie vorher … in der Dämmerung alles noch ruhiger, die Ufer verblaßt. Aber heute nach der Dunkelheit wird er lebendiger. Der erste August… an den Ufern feiert man das Unabhängigkeitsfest mit Feuer und Feuerwerk. Auch im See liegen und rudern einige Boote mit Lampions.
Um Montreux, um einer stellenweise, besonders in ihrem letzten Teil von Martigny nach Chamonix herrlichen Eisenbahnfahrt willen, würde der nächste Morgen hier keine Stelle finden. … Soll ich jetzt einen ehrerbietigen Gruß stammeln … oder sollen wir in burschikoser Laune alles als natürlich ansehen und kaum ein behendes Danke rufen. In diesem Zwiespalt folgen wir dem Instinkt, der heißt uns ein leises aber inniges Danke lächeln … ein Danke einem lieben, schalkhaften, (oder ernsteren) wir haben ja darüber gar kein Urteil – ein Danke diesem Schicksal, das ich nicht als Zufall entweihen kann.
Am Vormittag, noch nicht spät, fuhren wir von Montreux ab. Der Morgen war bis jetzt in vielleicht kaum bewußter, heller Freude unter Reisevorbereitungen verstrichen. Ein sehr liebenswürdiger Traum hatte rückblickend den Aufenthalt in Wengen vollendet. Und am Morgen hatte ich, so will ich sagen, in der einen Hand den Traum und in der anderen die feinen Bilder der beiden Mädchen von gestern. Vergnügt betrachtete ich sie wechselseitig. … Dann saß ich im Zug und sah, wie immer, zum Fenster hinaus. – Was vorher war vielleicht jetzt gedacht, will sagen flüchtiger Gedanke war, weiß ich nicht: Schade … wo sie wohl wohnten, an welchem Orte, vielleicht in Lausanne? Das waren wohl die flüchtigen Gedanken. Ich sah hinaus … ob ich dabei im Stillen vermutete … ob ein ganz verstohlner Advokat Parallelen zog … sieh’ nun hat sich Wengen so hübsch vollendet… sieh’ das phantasiere ich wahrscheinlich alles … Über aller Phantasie erhoben aber steht der Augenblick, als ich sie sah … vor einem Schaufenster, vor dem auch ich gestern gestanden hatte … Der Satz ist schon vorbei… aber ich freue mich … freue mich … sehr, wie ein Baby, dem der liebe Gott selber einen Schnuller geschenkt hat.
Noch ist herauszuheben der große, überraschende, nächtig schöne Schluß meiner Reise: Genf. Die Fahrt dahin steht mir in Erinnerung in ihrer pressenden, drückenden schauerlichen Enge in einem Coupee II Kl. blau, nicht grün wie bei uns; und Ausblicke auf ausgestorbene, wasserlose Landschaften, Chausseen, deren Glut bis ins Coupee dringt, faulste Schläfrigkeit und o Hohn! als Reiselektüre die Novellen Henri Stendhal Beyles … starke Verbündete der Nachmittagshitze. Dazwischen Reisepläne in unserer vagen Art, voll Reizen mit Überraschungen von Minute zu Minute … bleiben wir in Genf? nein – seit neuest weiter in den Schwarzwald und ich, mit meinen Gedanken an eine vorzeitige Rückreise. Schließlich waren wir dann doch in Genf – unbestimmt auf wie lange. – Ja! und von der Fahrt ist noch so eine recht roh pragmatische Erinnerung nachzuholen. Auf einer Station war ein Wagen mit einem ziemlich engen vergitterten Fenster zu sehen und dahinter ein Mensch mit blassem Gesicht. Die Schaustellung eines Gefangenentransports.
Am ersten Abend nach dem Abendbrot machte ich mit Georg einen Gang am Wasser, am schönen Quai du Montblanc. Was wir jetzt in Dämmerung oder in hellem elektrischen Licht sahen (dicht uns zur Seite weite Hotelfronten) unfern des Sees ein Teil der beleuchteten Stadt, hatten wir noch nicht bei Tage gesehen. Der Anblick war also eine erste eindrückliche Bekanntschaft. Die Luft sehr warm … sehr viele Menschen im Freien … und auch, daß ich mit Georg allein war … alles gab eine lässig-befreite Stimmung, Ahnung und Wunsch nach Studentenleben … vielleicht romanhaftem Studententum.
Der späte Abend … ¾ des morgens dem Studium »der Religion« von Simmel gewidmet. Am Morgen auf einer Bank dem Wasser gegenüber der Badeanstalt, wo Mama, Georg und Dora badeten; wieder war es heiß … Spaziergänger und Beschäftigte kommen vorbei… ich lese und sehe auf, so recht im Genuß des Müßigganges, ich, selbst in halber und manchmal ungeduldiger Arbeit, halber Arbeit zusehend.
Dann noch am Vormittag gingen wir alle – außer Papa – durch ein paar Straßen am Ufer, schon hier von buntem, und bei aller Geschäftigkeit manchmal trag südlich anmutendem Leben eingenommen. Markt … Blumenmarkt mit Musik, um den Pavillon hocken ein paar Jungen. Um die Ecke wieder Markt, Obst, Gemüse, Schokolade … aber das ist auch wohl alles, was sich nennen läßt. Sonst richtige, wenn auch nicht sehr breite Geschäftsstraßen.
Für den Nachmittag hatte Papa aus Höflichkeitsrücksichten den Sohn eines Bekannten zu uns aufgefordert. Wir verlassen mit ihm das Hotel … da höre ich, indirekt, verspätet wie oft, Papa hat beschlossen, heute Nacht 1 Uhr nach Deutschland abzufahren. Das erste war Schrecken und Arger über die Zeit, die ich am Vormittag verloren hatte. Nun würde ich die Stadt nicht mehr sehen können. Das Zweite, daß ich erklärte, mich von einer Dampferpartie der anderen emanzipieren zu wollen, um wenigstens noch jetzt die Stadt sehen zu können. Der junge Mann erklärt, in Genf sei nichts zu sehen … er erklärte dies kategorisch, welchen modus er überhaupt bevorzugte. Die Universität sei nichts – garnichts. Aber das Museum? Na ja! aber schließlich doch auch nichts. Im übrigen wars dazu etwas spät. Höchstens … ja, wenn ich das sehen wollte … Vergnügungsetablissement so u. so, ein herrlicher Saal… fertig. Ein Blick auf die Abbildung im Führer belehrte mich vollauf… Also – na ja. Und essen sollte ich bei … Ja, ja, ich durchblätterte den Führer noch mal, sah mir die Abbildungen der Sehenswürdigkeiten an – nein wirklich, es schien kein Ziel zu geben. Und 4 Std. bummeln? Ich kann nicht ordentlich bummeln. »Ich fahre mit. Ein paar Stationen zu einem Genfer Vorort, einem Dorf, wo man 20 Min auf den Dampfer zur Rückfahrt wartet. Ein kleiner lockender Hügelweg führte 100 Schritt zwischen zwei wuchernden Gärten ganz drinnen … irgend wohin. Nur blauer Himmel war zu sehen, aber ich beschloß eine Entdeckung – und gleich stehe ich am Saume der grünsten Wiese … ein paar alte Eichbäume stehen hier am Saum, einzelne Büsche auf der Wiese … der ganz blaue Himmel und hier spielt die Sonne Versteck und berichtet aus dem Gras und den Büschen, eine ganz entzückende Wiese … geradezu meine Wiese – hier für mich. Hinten geht eine Chaussee; aber weitere Entdeckungsreisen verbietet die Zeit. Wohin auch? Ich sehe mich satt.
Auf der Rückfahrt, wie wir uns Genf nähern, stehe ich allein, vorn und will das ganze Bild, und vor allem die Berge, die ich nun für lange Zeit zum letzten Mal sehe, die Berge, die hier nicht so fordernd, majestätisch sind, sondern gleichfarbig und in beruhigender Entfernung, nicht zerrissen – mehr als ruhige Mauer sich erheben in mich einzufangen. – Und die noch unbeleuchtete Stadt im Schein der untergehenden Sonne.
Später wollten wir alle außer Papa uns noch die Stadt ansehen. Ich saß im Schreibzimmer und schrieb für Papa einen Brief und es machte sich, daß ich die andern verfehlte. Ich wurde nicht gerufen und sie gingen ohne mich. Als ich den Brief beendet hatte, ging ich hinaus und hörte, daß sie eben fort waren. So wollte ich allein gehen. Willkürlich wählte ich die Richtung rechts vom Hotel, wo ich noch nicht gegangen war, um sie vielleicht noch zu erreichen. Es war schon ziemlich dunkel. Jetzt geradeaus, dann an einem beleuchteten Restaurant vorbei – draußen saßen Leute und tranken Bier – eine breite Querstraße. Hier war es weniger hell beleuchtet und Bäume die in zwei Reihen zu beiden Seiten der Straße standen, machten es noch dunkler. Dann – ich bemerke es schon an der neuen Lichtfülle, wieder eine Geschäftsstraße. Sie war sehr belebt und ich gab nun meine Hoffnung, die anderen zu finden auf und sah mich auch nicht mehr nach ihnen um. Recht viel wollte ich wenigstens in der kurzen Zeit noch in mich aufnehmen. Ich lenkte wieder in die Straßen, durch die ich am Vormittag gegangen. Dort aber sah ich, wie die Uferbeleuchtung längs dem Wasser immer spärlicher wurde, weiter hinauf, noch einem Teil der Stadt zu, den ich noch nicht kannte. Dorthin … Auf dem geradesten Wege – an erleuchteten Cafés am Ufer, aus denen bumbsende, gemeine Musik klang vorbei. Nun war es schon viel dunkler … Ein Platz mit Bäumen, über den die Straßenbahn fährt – ich biege ab über eine Brücke unter mir liegt das Wasser, das hier natürlich auch dunkler ist und aus der Entfernung sehe ich noch die Lichtpaläste vom Quai du Montblanc. Eine kurze, feige Versuchung, die breite Straße längs des anderen Ufers einzuschlagen, unterdrücke ich. Immer hinein in die dunkelsten Straßen. Ein Denkmalskoloß am Portal eines stattlichen … wohl öffentlichen Gebäudes taucht auf. Ich werfe nur einen flüchtigen Blick darauf … ein paar Schiffer stehen ausgelassen johlend in der Nähe – ich will nicht, daß man den Fremden in mir erkenne. Jetzt gehts immer schneller, denn in 10 Minuten muß ich zu Hause sein. Aber doch weiter und weiter die dunkle Straße hinauf. Sie ist nicht eng, aber gerade darum wirkt die breite Dunkelheit um so seltsamer. Endlich liegt – mir zu Seite – eine Gasse, in tieferem Dunkel vielleicht noch, nur der verschwommene trüb-gelbe Schein einiger Laternen dringt durch. Das lockt mich. Ich gehe jetzt sehr schnell; das tu ich in einer fremden Stadt immer – schnell und zielbewußt – selbst wenn ich kein Ziel kenne. Und hier ists vielleicht auch wirklich geraten. Ein paar gröhlende Straßenjungen – ich erkenne Leute, die vor den Türen sitzen – wieder Kinder auf der Gasse – alles dunkel alles schmutzig. Dann von irgend wo ein hellerer Schein – schnell, erlöst gehe ich darauf zu – ein Platz mit Bäumen ein Denkmal – wie ich näherkomme – nein, eine Bedürfnisanstalt. Und dahinter das breite Wasser der Rhone und noch weiter schon greller Glanz vom Kurhaus. Auf geraden Wegen gehts eilends ins Hotel. In Schweiß gebadet wacht ich auf. Ein paar Straßen nur und mir wars, als hätte ich im Traum die Stadt genommen.
Die anderen waren schon da. Wir setzten uns zum Abendbrot auf die Terrasse – es war noch immer sehr heiß. Aber der mächtige rote Vollmond tauchte jetzt auf. … Schließlich ging der junge Herr. Dann ging ich ins dunkle Lesezimmer, beleuchtete es noch einmal und fand französische Bücherschätze vor – will sagen ein gutes französisches Journal. Als einzige Gäste nahmen Georg und ich in dem kleinen Vestibül Platz. Noch las ich eine kleine Novelle. Dann ging ich hinaus für die letzten Minuten, war da und dort auf dem Platz um noch einmal Bergumrisse, noch einmal den schönen Mond, noch einmal in die Richtung des Montblanc zu blicken. Es war ganz dunkel, doch noch belebt wegen der Hitze am Tage. Dann saßen wir auch schon im Hotelomnibus. Die Fahrt war so kurz wie eindrucksvoll. Es war für diesmal das letzte Mal auf Schweizer Boden. Schrecklich ist diese Schnelligkeit des Automobils und dies maschinenmäßig nichtssagende bequeme Fahren. Als führe man grade in die Ferien. Aber draußen sehe ich doch wenigstens holpriges Pflaster und besonders dunkle Schatten, wo Türen und Fenster sind.
Also stehe ich in dem stillen Bahnhof vor dem Zuge … morgen in Berlin … unten noch eine Straße im Mondschein zu sehen … Ja und morgen war ich wirklich in Berlin.
Aus dem Tagebuch, das ich schreiben will, soll erst die Reise erstehen. In ihm möchte ich das Gesamtwesen, die stille, selbstverständliche Synthese, deren eine Bildungsreise bedarf und die ihr Wesen ausmacht, sich entwickeln lassen. Um so unabweislicher ist mir dies, als durchaus keine Einzelerlebnisse mit Macht den Eindruck dieser ganzen Reise prägten. Natur und Kunst gipfelten überall gleichmäßig in dem, was Goethe die »Solidität« nennt. Und keine Abenteuer, keine Abenteuerlust der Seele stellten einen wirksamen oder reizvollen Hintergrund dar.
Am Freitag, den 24 ten Mai morgens um 4½ Uhr sollte unser Zug gehen; doch gab es starke Verspätung. Früher als pünktlich stand ich schon vor viertel in der Morgenkühle vor Katz’ Haus und stieß schüchtern mehrere mißtönende Pfiffe aus, die mich aber nicht bemerkbar machten. – Bei dieser Gelegenheit ist zu bemerken, daß als Reisepfiff: »Winterstürme wichen dem Wonnemond« festgesetzt war, eine Melodie von der ich mir nur traurige Variationen aneignen konnte. – Nach einigen Minuten des Wartens kam Sachs aus unserem Haus gestürzt – er rannte über die ganz leere Straße und ich rief ihm über die Straße zu. Gleich daraufwaren wir drei alle zusammen. Unangenehm war, daß sich nun herausstellte, es sei garnicht mehr so früh. Eilschritt wurde angeschlagen und je mehr mir die Dringlichkeit der Zeit zum Bewußtsein kam, desto mehr blieb ich zurück. Joel, Sachs Reisegefährte, überraschte mich mit »Guten Morgen« von hinten, trat an mich heran, mein Stock flog zu Boden, er hob ihn auf; ich war aufgelöst, als wir alle, auch Simon und Börnstein am Bahnhof zusammentrafen.
Die längeren Minuten, die wir nun noch auf den Zug warten mußten, hatte ich mit meiner Übelkeit zu tun. Die Fahrt nach Basel suchte ich dann, um mich für die Eindrücke des Tages frisch zu erhalten, zum Schlafen zu benutzen. Doch wurde meine Aufmerksamkeit öfters durch die Touristen, auch Studenten, die mit uns fuhren, beschäftigt, sowie durch Simon und Katz die draußen im Gang des D-Zuges sich mit den Sprachführern abgaben oder die Landschaft, die regnerisch war, ansahen.
In Basel bereits zeigte sich Simons überlegenes Reisegenie. Nach einigem Suchen fanden wir uns auf dem Bahnhof und Simon lenkte nicht, gleich den genußgierigen Haufen der übrigen Reisenden gleich in den Wartesaal zum Frühstück. Sondern wir begaben uns mit unserm Gepäck auf den nächsten Bahnsteig, warteten auf unsern Zug und belegten Plätze. Hier zum erstenmale nahm Katz den Kampf mit seinem jeder Schilderung und jedem Gewichtsmaß spottenden »Handkoffer« eingehüllt in braunes Leinentuch, auf, den er nun täglich mehrmals mit Aufbietung aller Glieder und Kräfte schleppen, heben, herunternehmen mußte. Darauf gingen wir zum Frühstück: Wartesaal II Klasse, Franc 1.40. Es war durchaus keine Zeit, dem Preis entsprechend zu essen. Unter mehrmaligem, energisch betontem »Sollen mich gern haben!« » Die sollen mich gern haben!« »Na, etwa nicht?!« ergriff Simon die umliegenden Brötchen und steckte sie mit Butter und Marmelade beladen in seinen Mantel. Ähnlich Katz und ich. Am Frühstückstisch begrüßte Simon einen jungen, liebenswürdigen freiburger Studenten, einen Freund seines Freundes Bloch nebst Gesellschaft. Er reiste auch in unserer Richtung und wir fanden ihn später in Venedig wieder.
Im Wagen saßen wir mit 2 Italienern, die später, wenn wir im Gange waren, unseren Baedeker und Sprachführer ungeniert lasen. Außerdem entsinne ich mich eines Franzosen, der in seiner Ecke schlief oder Zeitung las. Die Landschaft war durch dicke Wolken und Regen reizlos. Simon erzählte eine sehr hübsche Geschichte von einem prüden Herrn und seinem Pudel, etwas wurde gequatscht, ein bißchen im Baedeker oder Sprachführer geblättert – Simon sang. Ganz ungeniert Studentenlieder vermischt mit Stumpfsinn. Er ist oft impulsiv höchst vergnügt und besitzt die Fähigkeit zu harmlosem Blödsinn. Kurz vor Luzern kamen nach einem Besuch von mir im anderen Coupee Sachs, Joel und Börnstein zu uns. Als Simon wieder die Geschichte von dem Pudel verzapfen wollte, verulkte ich die Pointe. Er war gekränkt, ärgerlich und wollte nicht weiter erzählen. In den ersten Tagen war ich natürlich sehr aufmerksam um Spannungen zu vermeiden und nahm mir das ad notam. Innerlich ernste aber unberechenbare und schroffe Menschen, sind für mich, gleich ob jung oder erwachsen, im Umgang immer peinlich; wenn sie eine gewisse Verschlossenheit und Distance wahren, bin ich sehr vorsichtig. Simon hat von diesem Typus etwas. Aus diesem Grunde wachte ich auch in diesen ersten Tagen sehr aufmerksam, daß keine Gruppe zwischen zweien, die ständige Spannung gegeben hätte, entstünde. Daß die ganze Reise so außerordentlich harmonisch und persönlich fein verlief, ist sicher einer gewissen inneren Zurückhaltung unser aller zu danken.
In Luzern bei strömendem Regen verließen uns die andern. Die Fahrt am Vierwaldstättersee folgte, die mich ganz desorientierte und bei tiefen Wolken an allen Bergen nicht viel Schönes hatte. Schließlich versenkte uns der gleichmäßige Regen in Apathie und trieb uns zu Lektüre, bis die großartigen Strecken der Gotthardbahn begannen. Hier ist die Natur nicht auf Schönheit, sondern auf fast architektonische Großartigkeit gestellt, die, wo eben die Windungen der Bahn oder das Felsbett der Reuß sichtbar werden, wirken muß. Doch gibt es allerdings Mittel, die einem allzu elementaren Eindruck vorbeugen können. Man hat sie gefunden. In metergroßen hohen roten Blechbuchstaben steht an Wäldern, Felsen, Matten und Gehöften: Pneu Continental. Plakate von Chokoladenfirmen konkurrieren, doch erfolglos. – Übrigens regnet es weiter; Simon flucht und jammert abwechselnd. Die letzte Hoffnung ist der Gotthard. Mich regte das Wetter nicht so auf: mir war ein wenig schwül vor der Besteigung des M. Mottarone am folgenden Tage und der Madonna del Sasso, die für diesen Nachmittag noch in Aussicht genommen war. Bei Regen wären wir ja nicht an den Seen geblieben, sondern gleich in die Städte gefahren. Jedenfalls ein ziemlich feiger und alberner Gedankengang. – Hinterm Gotthard aber war es ganz wunderschön. Ein herrlicher Blick auf Berge, deren Gipfel Neuschnee trugen erweiterte sich dauernd während der Fahrt; die Landschaft hinter dem Gotthard hat noch jetzt, selbst für den, der sie auf der Bahn geräuschvoll durcheilt auf eine Strecke hin den ursprünglichen Charakter tiefer Einsamkeit. Das einzig ungemütliche waren italienische Aufschriften an Häusern, die über das »Ristorante« hinaus kaum verständlich waren.
Bellinzona – schönes Wetter der erste Eindruck – ist die erste Etappe dieses großen Reisetages. Hinter dem Bahnhof finden wir auf einem kleinen grünen Platz eine Bank. Wir legen das Gepäck ab, Simon zieht mit Meyers Sprachführer aus, Brot einzukaufen. Postkarten, die ich suche, sind nicht zu finden; dagegen trifft mich auf dem Bahnhof hocherfreut ein Mitglied der Freiburger »Rotte Corah« an. Doch mein höflicher Gruß weist alles Weitere zurück. Bei der Bank ist ein Brunnen. Hier darf man noch Wasser trinken!
In der Lokalbahn von Bellinzona nach Locarno schlafe ich dann fortwährend ein. Mit aller Mühe betrachte ich schließlich mit offenen Augen den See … Auf dem Wege vom Bahnhof Locarno bis zum Hafen bemerke ich mit Zufriedenheit, daß nicht ich immer der letzte sein werde, denn mein Vulkanfiber-Koffer trägt sich ausgezeichnet, während Katz seinen Quaderstein kaum 30 Schritte hintereinander schleppen kann. – Simon hat seinen teuren Bambusstock in der Bahn vergessen! Er läuft zurück; wir warten am heißen Ufer mit der Steinbrüstung.