Seneca: Über die Kunst des Sterbens - Lucius Annaeus Seneca - E-Book

Seneca: Über die Kunst des Sterbens E-Book

Lucius Annaeus Seneca

0,0
2,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"Es braucht ein ganzes Leben, um zu lernen, wie man stirbt", schrieb der römische Philosoph Seneca (ca. 4 v. Chr. – 65 n.Chr.). Er, der schließlich seinem eigenen Leben auf Befehl Neros gefasst ein Ende setzte, musste es wissen. Er riet seinen Lesern, den Tod unentwegt zu studieren und befolgte seinen eigenen Rat, indem er in all seinen Schriften darauf zurückkam. Dieser Band fasst nun zum ersten Mal diese Reflexionen Senecas zusammen. Zudem enthält es eine informative Einführung, hilfreiche Anmerkungen, den lateinischen Originaltext sowie einen Epilog, der Tacitus' Beschreibung von Senecas dramatischem Selbstmord enthält. »Diese sehr gute Auswahl aus Senecas Schriften über den Tod zeigt James Romms Gabe, die Gedankenwelt der Antike einem breiten Publikum zugänglich zu machen.« Robert A. Kaster, Princeton University

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 170

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Seneca

ÜBER DIE KUNSTDES STERBENS

Alte Weisheiten für ein erfülltes Lebensende

ÜBER DIE KUNSTDES STERBENS

Alte Weisheiten für ein erfülltes Lebensende

Seneca

Herausgegeben und mit einer Einleitung versehenvon James S. Romm

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

1. Auflage 2019

© 2019 by Finanzbuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Copyright der Originalausgabe © 2018 by Princeton University Press

Die englische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Seneca: How to Die. An Ancient Guide tot he End of Life bei Princeton University Press, 41 William Street, Princeton, New Jersey 08540. In the United Kingdom: Princeton University Press, 6 Oxford Street, Woodstock, Oxfordshire OX20 1 TR.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fo.tokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung aus dem Lateinischen: James S. Romm

Übersetzung aus dem Englischen: Nicole Hölsken

Redaktion: Friederike Thompson

Korrektorat: Manuela Kahle

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer

Umschlagfoto: © Science History Images/Alamy Stock Photo

Satz: Carsten Klein, Torgau

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-95972-188-2

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-346-6

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96092-347-3

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.finanzbuchverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Derjenige führt ein schlechtes Leben,der nicht weiß, wie er gut stirbt.

(Von der Seelenruhe 11.4)

INHALT

EINLEITUNG

ÜBER DIE KUNST DES STERBENS

I. Bereite dich vor

II. Fürchte dich nicht

III. Bedaure nichts

IV. Befreie dich

V. Werde Teil des Ganzen

Epilog: Übe, was du predigst

ÜBER DIE KUNST DES STERBENS (Lateinische Texte)

I. Bereite dich vor

II. Fürchte dich nicht

III. Bedaure nichts

IV. Befreie dich

V. Werde Teil des Ganzen

EPILOG: Übe, was du predigst

ANMERKUNGEN

BIBLIOGRAFIE

EINLEITUNG

Experimente haben vor Kurzem ergeben, dass Psilocybin, ein Bestandteil, den man in halluzinogenen Pilzen gefunden hat, die Furcht vor dem Tod bei Krebspatienten im Endstadium reduzieren kann. Die Droge vermittelt »das Verständnis, dass im Großen und Ganzen betrachtet alles gut ist«, sagte der Pharmakologe Richard Griffiths in einem im Jahre 2016 geführten Interview.1 Testpersonen berichteten von dem Gefühl, »der Vernetzung aller Menschen und Dinge, von dem Bewusstsein, dass wir mit allem eins sind.« Manche behaupteten, während ihrer psychedelischen Reise eine Pseudo-Todeserfahrung gemacht zu haben, »dem Tod direkt ins Auge gesehen« zu haben »… wie bei einer Anprobe«, wie Michael Pollan es in einem Bericht des New Yorker über diese Experimente formulierte.2 Dieses Zusammentreffen wurde nicht als makaber oder beängstigend erlebt, sondern als befreiend und positiv.

»Im Großen und Ganzen betrachtet ist alles gut.« Das klingt sehr nach der Botschaft, die Lucius Annaeus Seneca den römischen Lesern Mitte des ersten Jahrhunderts nach Christus vermitteln wollte. Er stützte sich dabei allerdings eher auf die Stoische Philosophie als auf organische Halluzinogene als Methode, einen Blick auf diese Wahrheit zu werfen. »Die Vernetzung aller Menschen und Dinge« war ebenfalls eines seiner Hauptthemen, genauso wie die Vorstellung, dass man im Verlaufe seines Lebens für den Tod proben sollte – denn das Leben, richtig verstanden, sei in Wirklichkeit nur eine Reise, die dem Tod entgegenführe; wir sterben, so Seneca, jeden Tag, vom Tag unserer Geburt an. In den Passagen, die in diesem Büchlein zusammengestellt wurden, und die aus acht verschiedenen Werken mit ethischem Gedankengut stammen, sprach Seneca zu bestimmten Personen – und durch sie zur Menschheit im Allgemeinen – über die Notwendigkeit, den Tod zu akzeptieren bis hin zu dem Punkt, das eigene Leben zu beenden, und zwar mit einer Offenheit, die zu seiner und unserer Zeit ihresgleichen sucht.

»Studiere stets den Tod«, riet Seneca seinem Freund Lucilius, und diesen Rat beherzigte auch er selbst. Angefangen von seinem wahrscheinlich frühesten Werk, der Trostschrift an Marcia (verfasst um das Jahr 40 n. Chr.), bis hin zu dem großen Opus seiner letzten Jahre (63–65), den Briefen an Lucilius, kam Seneca wieder und immer wieder auf dieses Thema zu sprechen. Es durchzieht auch vollkommen andere Abhandlungen, als hätte er es nie aus den Augen verloren; die eindringliche Befürwortung vernunftgeleiteten Selbstmords taucht beispielsweise unvermittelt in einem Ratschlag über die Selbstbeherrschung in seiner Schrift Über den Zorn auf. Wenn man sie gemeinsam untersucht, wie in diesem Band, gruppieren sich Senecas Gedanken um ein paar Schlüsselthemen: die Allgemeingültigkeit des Todes; seine Bedeutung als finales und entscheidendstes Übergangsritual des Lebens; seinen Anteil an rein natürlichen Zyklen und Prozessen; und seine Fähigkeit, uns zu befreien, indem er die Seele vom Körper befreit oder – im Falle des Selbstmords – uns einen Ausweg aus dem Schmerz, aus dem Joch der Sklaverei oder aus der Demütigung durch grausame Könige und Tyrannen bietet, die anderenfalls unsere moralische Integrität untergraben würden.

Dieser letzte Punkt hatte für Seneca und seine ursprünglichen Leser einen besonderen Nachklang, denn oft hatten sie miterleben müssen, wie Tod oder Demütigung auf Geheiß eines Herrschers über sie kam. Als Politiker und Philosoph war der junge Seneca Ende der Dreißigerjahre nach Christus Senator gewesen, als Caligula dem Wahnsinn anheimfiel und jene misshandeln ließ, denen er misstraute; in den Vierzigerjahren, unter Claudius, wurde Seneca selbst in einem politischen Showverfahren zum Tode verurteilt, aber das Urteil wurde in einen Exilaufenthalt auf der Insel Korsika umgewandelt. Nachdem man ihn nach Rom zurückberufen und dem jungen Nero als Berater an die Seite gestellt hatte, verbrachte Seneca die Fünfziger- und den Anfang der Sechzigerjahre am kaiserlichen Hof und beobachtete, wie Nero immer weiter den Verstand verlor und schließlich Familienmitglieder, die er als Bedrohung wahrnahm, ermorden ließ. Schließlich wurde er (wahrscheinlich fälschlich) der Beteiligung an einem gescheiterten Attentatsversuch verdächtigt und zog ebenfalls Neros Zorn auf sich. Im Alter von etwa sechzig Jahren wurde er im Jahre fünfundsechzig nach Christus gezwungen, Selbstmord zu begehen.

Roms jahrhundertealte Regierungsform, in der ein princeps oder »erster Mann« inoffiziell, aber dennoch beinahe absolute Macht innehatte, entpuppte sich insbesondere unter der Herrschaft Caligulas als Autokratie. Als erster Berater Neros, ein Amt, das er länger als ein Jahrzehnt bekleidete, diente Seneca pflichtschuldigst den Erfordernissen des Systems und gelangte dadurch zu Wohlstand, was ihm von seinen Zeitgenossen (und auch von modernen Lesern) vorgeworfen wurde. Aber die Philosophie bot ein Gegengift zur toxischen Atmosphäre des kaiserlichen Palastes. Seneca veröffentlichte auch während seiner fünfzehn Jahre an Neros Seite Abhandlungen, gab Freunden und anderen Senatoren ein größeres, moralisches Bezugssystem, um in diesen schweren Zeiten zu bestehen. (Er schrieb auch Verstragödien, von denen auch heute noch etliche vorhanden sind. Diese Werke, die sich im Ton deutlich von seiner Prosa unterscheiden, fließen in dieses Bändchen nicht mit ein.)

Seneca fand, wie viele belesene Römer seiner Zeit, dieses übergeordnete moralische Bezugssystem in der Stoa, einer griechischen Lehre, die im vorangegangenen Jahrhundert nach Rom und dort zur Blüte gelangt war. Die Stoiker lehrten ihre Anhänger, nach einem inneren Königreich zu suchen, dem Königreich des Geistes, wo das Festhalten an Tugend und Naturbetrachtung selbst dem misshandelten Sklaven, dem armen Exilanten oder dem Gefangenen auf der Folterbank Glückseligkeit bringen konnte. Wohlstand und gesellschaftliche Stellung wurden von den Stoikern als adiaphora, als »Gleichgültiges« betrachtet, das weder zum Glück noch zu dessen Gegenteil beitrug. Freiheit und Gesundheit waren nur insofern wünschenswert, als sie dem Einzelnen erlaubten, seine Gedanken und ethischen Entscheidungen in Harmonie mit dem Logos zu halten, der göttlichen Vernunft, die aus Sicht der Stoiker den Kosmos beherrschte und zu wahrer Glückseligkeit führte. Wenn die Freiheit von einem Tyrannen oder der Gesundheit unterminiert wurde und dadurch für immer verwirkt war, so dass den Maßgaben der Vernunft nicht mehr Folge geleistet werden konnte, dann war in ihren Augen der Tod dem Leben vorzuziehen, und die Selbsttötung, oder die Selbst-Euthanasie konnte gerechtfertigt sein.

Seneca erbte dieses stoische Denksystem von seinen griechischen Vorfahren und seinen römischen Lehrern, gab den Lehren aber eine neue Bedeutung hinsichtlich der Arten des Todes und insbesondere in Bezug auf den Selbstmord. In der Tat erhält dieses letzte Thema in seinen Schriften einen neuen Stellenwert, der weit über das hinausgeht, was man in anderen stoischen Abhandlungen – wie den Lehrgesprächen des Epiktet oder den Meditationen von Mark Aurel – findet. Wir modernen Leser müssen dabei im Kopf behalten, dass Seneca als politischer Insider unter zwei der schlimmsten Herrscher Roms häufig Zeuge von Selbsttötungen wurde, wie er sie in seinen Essays beschreibt. Caligula und Nero und in der Tat sämtliche Herrscher der julisch-claudianischen Dynastie forderten von ihren politischen Gegnern regelmäßig, sich das Leben zu nehmen, wobei sie damit drohten, sie ansonsten nicht nur hinrichten zu lassen, sondern auch ihren Besitz zu konfiszieren. Seneca war Zeuge zahlreicher erzwungener Selbstmorde, und so kommt er immer wieder auf das Thema zurück, ob und wann man sich dem Schmerz oder der politischen Unterdrückung entziehen sollte.

Auch in anderer Hinsicht war Seneca mehr als ein reiner oder doktrinärer Anhänger der stoischen Lehren. Zeitweise macht er Anleihen bei den Epikureern, einer konkurrierenden gedanklichen Schule, indem er die Vorstellung äußert, dass der Tod nur die Auflösung in die einzelnen Bestandteile sei, die als Teile anderer Substanzen ein neues »Leben« bekämen. Gelegentlich klingen bei ihm auch platonische Töne an, wenn er über die Unsterblichkeit und die unendliche Wiedergeburt der menschlichen Seele spricht. Er hatte keine feste Vorstellung hinsichtlich des Jenseits, außer derjenigen, dass es nichts Beängstigendes hat, und dass die Visionen von Ungeheuern und Qualen im Hades, die von den Dichtern verbreitet wurden, nur leere Fantasiegebilde seien. Auch im Hinblick auf seine Einschätzung der Selbst-Euthanasie schwankte er: Zeitweise lobte er diejenigen, die einen schmerzhaften Tod oder eine Hinrichtung durch ihren Freitod verhinderten, in anderen Fällen bewunderte er jedoch die Standhaftigkeit jener, die sich weigerten, diesen Weg zu gehen. Selbst im Falle des Selbstmords, den er generell einem moralisch verwerflichen Leben vorzieht, steht Seneca einem Punkt zögernd gegenüber: Wenn Familie und Freunde von dem Betreffenden abhängig sind, so bekennt er in einer Passage der Briefe, so muss dieser sein scheidendes Leben vielleicht vom Abgrund zurückreißen. (Er selbst, der als junger Mann von einer schweren Atemwegserkrankung mit Erstickungsanfällen geplagt war, hatte auf Selbstmord verzichtet, und zwar aufgrund seines alten Vaters, wie er uns in Brief Nr. 78.1 berichtet, der in diesem Bändchen nicht zitiert wird.)

Das »Recht zu sterben«, selbst in Fällen schmerzhafter, unheilbarer Krankheit, ist in unserer modernen Gesellschaft mittlerweile ein kontrovers diskutierter Gedanke. Ärztlich assistierter Selbstmord oder freiwillige Euthanasie waren zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Buches nur in einer Handvoll Länder und in nur vier von fünfzig US-Bundesstaaten legal; in beinahe allen Fällen wurden die Gesetze, die derlei Maßnahmen erlaubten, erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten ratifiziert, und das auch erst nach hitziger Debatte. Die Gegner argumentierten mit der Unantastbarkeit menschlichen Lebens. Aber Senecas Schriften erinnern uns daran, dass es auch so etwas wie die Unantastbarkeit des Todes gibt. »Gut zu sterben« war Seneca immens wichtig, ob das nun bedeutete, seinem Tod mit Gleichmut entgegenzublicken, die Zeit oder Art des eigenen Ablebens zu wählen oder, wie er häufig an lebhaften Beispielen illustriert, mutig die Schmerzen zu ertragen, die dem eigenen Körper zugefügt werden, entweder durch die eigene Hand oder durch die eines unerbittlichen Feindes.

Weil diese Beispiele so häufig vorkommen und so düster sind, hielten moderne Leser Senecas Schriften oftmals für makaber und vom Tode besessen. Aber Seneca würde wohl antworten, dass solche Leser vom Leben besessen sind und sich selbst täuschen, indem sie die Bedeutung des Todes negieren. Das Sterben war in seinen Augen eine der wesentlichen Funktionen des Lebens, und das Einzige, das man nicht durch Wiederholung erlernen oder vervollkommnen konnte. Weil wir nur ein einziges Mal sterben und möglicherweise auch ohne Vorwarnung, ist es wesentlich, dass wir uns im Voraus darauf vorbereiten und zu jedem Zeitpunkt gewappnet sind.

»Studiere den Tod«, »probe den Tod«, »übe den Tod« – dieser beständige Refrain in seinen Schriften entspringt Seneca zufolge nicht einer makabren Fixierung, sondern vielmehr der Erkenntnis, wie viel beim Durchschreiten dieses wesentlichen und letztendlichen Übergangsrituals auf dem Spiel steht. »Ein ganzes Leben ist notwendig, um zu lernen, wie man lebt, und – vielleicht wirst du es umso überraschender finden – ein ganzes Leben ist auch notwendig, um zu lernen, wie man stirbt«, schrieb er in Von der Kürze des Lebens (7.3). Die Passagen, die in diesem Bändchen zusammengetragen wurden – ausgewählt aus denjenigen acht Prosa-Abhandlungen, in denen der Tod die größte Rolle spielt, und die er in etwa einem Vierteljahrhundert seines Lebens schrieb – sind seine Versuche, dem Leser diese Lektion nahezubringen.

ÜBERDIE KUNSTDES STERBENS

I. BEREITE DICH VOR

Senecas umfangreichstes Prosawerk, die Briefe an Lucilius, ist eine Sammlung von Briefen an einen engen Freund, Lucilius, der genau wie Seneca selbst zum Zeitpunkt der Entstehung der Briefe um die sechzig Jahre alt war (63-65 n. Chr.). Der Tod und das Sterben gehören in diesen Briefen zu den Hauptthemen, und einige davon befassen sich sogar beinahe ausschließlich damit, insbesondere die Briefe Nr. 30, 70, 77, 93 und 101, die allesamt entweder in Gänze in diesem Bändchen rezitiert werden (wie an dem Einbezug der Gruß- und Abschiedsformel ersichtlich ist) oder in weiten Teilen zum Tragen kommen.

Als Aufhänger dient den Briefen jeweils ein Ereignis aus Senecas täglichem Leben, wie ein Besuch bei einem kranken Freund oder (wie in dem Auszug weiter unten) eine Idee, auf die Seneca im Verlauf seiner Lektüre anderer Werke gestoßen ist. Obwohl sie die Form einer intimen Korrespondenz haben, waren die Briefe vornehmlich zur Veröffentlichung gedacht, und das »Du« spricht manchmal Lucilius an, manchmal aber auch das Römische Publikum oder sogar die Menschheit im Allgemeinen.

Epikur sagt »Übe für den Tod«3 oder, wenn das die Bedeutung seiner Worte besser wiedergibt, »es ist großartig, wenn man lernt, wie man stirbt«. Vielleicht hältst du es für nutzlos, etwas zu erlernen, das man nur ein einziges Mal tun muss; aber das genau ist der Grund, warum wir es üben sollten. Wir müssen uns dem Studium der Dinge verschreiben, bei denen wir nicht auf Erfahrungen zurückgreifen können. »Übe für den Tod«; der Mann, der uns das sagt, fordert uns auf, für die Freiheit zu üben. Jene, die gelernt haben, wie man stirbt, haben die Sklaverei verlernt. Dies ist eine Fähigkeit, die über allen anderen steht und sogar darüber hinausgeht. Was spielen Gefängnisse, Wachen und Schlösser für diejenigen, die sie erlangt haben, noch für eine Rolle? Sie besitzen das Tor zur Freiheit. Es gibt nur eine einzige Kette, die uns knechtet: die Liebe zum Leben. Wenn wir sie schon nicht abschütteln können, so können wir sie zumindest insoweit entmachten, dass, wenn es irgendwann die Umstände erfordern, uns nichts mehr davon abhalten kann, uns bereit zu machen, sofort das zu tun, was getan werden muss. (Brief, 26.8–10)

In dem nun folgenden Auszug gibt Seneca Lucilius Ratschläge, was dieser einem nicht namentlich genannten Freund raten soll, der sich aus dem öffentlichen Leben zurückziehen und nun ein zurückgezogenes Dasein führen musste.

Wenn [dein Freund] in Parthien geboren worden wäre, hätte er von Kindheit an einen Bogen in Händen gehalten; wäre er in Germanien geboren, hätte er schon als Knabe gelernt, einen Speer zu schwingen; hätte er in der Zeit unserer Vorfahren gelebt, hätte er gelernt, auf Pferden zu reiten und seinen Feind Mann gegen Mann niederzuschlagen. Jedes Volk besitzt seine eigenen Methoden, um seine Mitglieder in den Bann zu ziehen und zu befehligen. Welche Methode also muss dein Freund anwenden? Diejenige, die am wirkungsvollsten gegen jegliche Waffe und jeglichen Feind ist: die Verachtung des Todes.

Niemand zweifelt daran, dass der Tod etwas Schreckliches hat, so dass unser Geist, dem die Natur die Liebe zu sich selbst mitgegeben hat, davor zurückweicht. Auf das, was wir freiwillig auf uns nehmen, müssen wir uns nicht vorbereiten, genauso wenig wie auf den Selbsterhaltungstrieb, von dem wir alle motiviert werden. Niemand lernt, sich bei Bedarf zufrieden in ein »Bett voll Rosen« niederzulegen. Lieber wappnen wir uns für Folgendes: niemals unter Folter ein Geheimnis preiszugeben; oder auch in verwundetem Zustand die ganze Nacht lang Wache zu halten, wenn es nötig wird, ohne uns auch nur auf einen Speer zu lehnen, denn der Schlaf pflegt diejenigen zu überkommen, die sich auf etwas stützen …

Aber was, wenn dich eine tiefe Sehnsucht nach einem längeren Leben erfasst? Glaube daran, dass nichts von den Dingen, die du nicht mehr sehen kannst und die mit dem Universum verschmelzen, in dem sie ihren Ursprung haben (und dem sie bald wieder entspringen werden), jemals aufgezehrt ist; diese Dinge pausieren nur, aber sie sterben nicht. Und genauso unterbricht der Tod, den wir fürchten und meiden, nur das Leben, nimmt es uns aber nicht. Es wird der Tag kommen, der uns wieder ins Licht führt.4 Viele von uns würden diesen Tag von sich weisen, wenn er uns nicht ohne unsere Erinnerungen wieder auf die Welt schickte.

Aber ich will dir darlegen, wie alle Dinge, die scheinbar sterben, eigentlich nur verwandelt werden. Deshalb sollte derjenige, der auf die Welt zurückkehren wird, sie mit Gleichmut verlassen. Sieh doch nur, wie der Kreislauf des Universums immer wieder zu sich selbst zurückkehrt. Du wirst erkennen, dass nichts in diesem Kosmos wirklich ausgelöscht wird, doch stets fällt und wieder aufersteht. Der Sommer vergeht, aber das nächste Jahr bringt einen weiteren; der Winter scheidet, aber die ihm zugewiesenen Monate bringen ihn erneut hervor. Die Nacht verdrängt die Sonne, aber schon bald vertreibt das Tageslicht sie wieder. Und das Gleiche gilt für die Konstellation der Himmelskörper. Jede Bewegung, die vorübergeht, wiederholt sich irgendwann wieder; beständig erhebt sich ein Teil des Himmels, während der andere hinter dem Horizont versinkt.

Ich will jetzt zum Ende kommen, aber lass mich vorher noch diesen einzigen Gedanken hinzufügen: Weder Kleinkinder noch Kinder noch diejenigen, deren Geist beeinträchtigt ist, verspüren Angst vor dem Tod; es wäre eine Schande, wenn unsere Vernunft uns nicht die gleiche Zufriedenheit gewähren würde, die diese Menschen kraft ihrer Torheit besitzen. Lebe wohl! (Brief 36.7–12)

Seneca litt sein Leben lang unter Atemwegserkrankungen, möglicherweise sogar an Tuberkulose, sowie an Asthma. Seine Erkrankung war so schwer, dass er in der Jugend eigenen Angaben zufolge sogar über Selbstmord nachdachte. Während seines ganzen Lebens muss er Anfälle wie den im Folgenden beschriebenen erlebt haben, aber im Alter nahmen sie an Heftigkeit zu, insbesondere wenn man bedenkt, welchen Namen die Ärzte ihnen (Seneca zufolge) gaben, nämlich mediatio mortis, »Probe für den Tod«.

Lieber Lucilius,

die Krankheit gewährte mir eine lange Atempause, doch dann überkam sie mich wieder ganz plötzlich. »Welche Art der Krankheit?«, fragst du nun. Diese Frage macht durchaus Sinn, denn immerhin gibt es noch keine Krankheit, die ich noch nicht durchgestanden habe. Aber eine einzige ist, wie du sagen könntest, mein persönliches Kreuz. Ich weiß nicht, wie der griechische Name dafür lautet, aber er könnte passenderweise suspirium lauten.5 Sie ereilt mich plötzlich, kurz und gewaltig, wie ein Tornado; fast in einer Stunde ist es wieder vorüber (denn wer könnte schon lang zum Sterben benötigen?). Jegliches körperliche Unbehagen, jede Gefahr durchfährt mich; es gibt nichts, das ich schlimmer finde. Und wie könnte ich auch nicht? Dies ist keine gewöhnliche Krankheit – sondern etwas vollkommen anderes – vielmehr der Verlust des Lebens und der Seele. Deshalb bezeichnen es die Ärzte als »Probe für den Tod«, und zuweilen vollendet der Geist, was er so oft versucht hat.

Glaubst du, ich sei fröhlich, während ich diese Zeilen schreibe, weil ich dem Tode entronnen bin? Ich halte es für lächerlich, mich an diesem Ergebnis zu erfreuen, als sei es ein Zeichen guter Gesundheit – genauso lächerlich, wie es wäre, einen Sieg zu feiern, wenn das Gericht eine Vertagung angeordnet hat. Doch sogar inmitten des Erstickungsanfalls hörte ich nicht auf, Trost in mutigen und glücklichen Gedanken zu finden. »Was ist das?«, sagte ich zu mir selbst. »Unterzieht mich der Tod so häufig einer Prüfung? Soll er doch: Ich habe das Gleiche mit ihm getan, und zwar lange Zeit.« Wann war das, wirst du mich nun fragen. Bevor ich geboren wurde: denn der Tod ist nicht existent. Ich weiß, wie es ist. Es wird nach mir genau so sein wie vor mir. Wenn der Tod eine Qual bereithält, dann muss diese Qual schon existiert haben, bevor wir ins Licht traten, aber damals spürten wir nichts Unangenehmes. Ich frage dich, würdest du es nicht für töricht halten, wenn jemand eine Lampe für schlechter