Seniorentango - Andi LaPatt - E-Book
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Seniorentango E-Book

Andi LaPatt

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Beschreibung

Frederike muss feststellen, dass sie ihre Meinung über das Älterwerden überdenken muss, als ihre Großtante Gilberte ins Haus schneit, einen Erbschaftsstreit um das Elternhaus entfacht und kurzerhand ihre zwei besten und ebenso verrückten Freundinnen ins Haus holt. Die Seniorengang beschließt, mit außergewöhnlichen Mitteln zu Geld zu kommen und scheut nicht davor zurück, sich gegen Kriminelle zur Wehr zu setzen. Eine humorvolle Geschichte um jugendliche 69-jährige Amazonen, die sich nichts vom Alter diktieren lassen. Lassen Sie sich verzaubern von Gilberte, Henriette und Milly, die das Leben mit ganz viel Lebenslust meistern und die mit eigenwilligen Methoden, einem großen Herzen und einer enorm großen Brise Anti-Normalität auch Ihr Bild über reifere Menschen entscheidend auf den Kopf stellen werden.

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Seitenzahl: 430

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Andi LaPatt

 

Seniorentango

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein Buch aus dem FRANZIUS VERLAG

Cover und Buchumschlag: Jacqueline Spieweg

Korrektorat/Lektorat: Petra Liermann

Verantwortlich für den Text ist die Autorin Andi LaPatt

Satz, Herstellung und Verlag: Franzius Verlag

Druck und Bindung: bookpress.eu

ISBN 978-3-96050-022-3

2. Auflage

Alle Rechte liegen bei der Franzius Verlag GmbH

Hollerallee 8, 28209 Bremen

Copyright © 2018 Franzius Verlag, Bremen

www.franzius-verlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar

Das Werk ist einschliesslich aller seiner Teile urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung undVervielfältigung des Werkes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks und der Übersetzung, sind vorbehalten. Ohne ausdrückliche schriftliche Erlaubnis des Verlages darf das Werk, auch nicht Teile daraus, weder reproduziert, übertragen noch kopiert werden, wie zum Beispiel manuell oder mithilfe elektronischer undmechanischer Systeme inklusive Fotokopieren, Bandaufzeichnung und Datenspeicherung. Zuwiderhandlung verpflichtet zuSchadenersatz. Alle im Buch

Inhaltsverzeichnis

 

Kapitel 1: Warum ich?

Kapitel 2: Altersglück

Kapitel 3: Die Überraschung

Kapitel 4: Henry

Kapitel 5: Pläne

Kapitel 6: Ab ins Gebüsch

Kapitel 7: Ein Schwede im Garten

Kapitel 8: Hier spricht Dr. Love

Kapitel 9: Auch das noch

Kapitel 10: Zuwachs

Kapitel 11: Angriff

Kapitel 12: Seniorentango

Kapitel 13: Und nichts als die Wahrheit

Kapitel 14: Paella im Garten

Kapitel 15: Spaziergang

Kapitel 16: Unverhofft kommt oft

Kapitel 17: Auf Abwegen

Kapitel 18: S’ist nirgends besser als dahiem

Kapitel 19: Ein letzter Tango

Kapitel 20: Dem Anfang wohnt ein Zauber inne

Weitere Veröffentlichungen der Autorin

Veröffentlichungen des Franzius Verlages:

 

Für meine Eltern, zwei unglaubliche Menschen,

die von Herzen lieben und geben.

 

Danke, dass Ihr mich dieses wertvolle Gut gelehrt habt.

 

Kapitel 1: Warum ich?

„Nur über meine Leiche.“ Die Ansage von Frederike war klar und deutlich. Eine Strähne ihrer blonden Haare blies sie sich empört aus dem Gesicht.

„Nur über ihre Leiche“, hatte sie gesagt. „Na, im Zweifelsfall ließe sich selbst das einrichten. Nun gut, es musste ja nicht gleich eine Leiche sein, aber wenn es sein musste, würde ich auch Gewalt anwenden“, dachte Gilberte insgeheim bei sich.

„Ich mache dir gerne einen Kaffee. Selbst wenn du hier übernachten möchtest. Schön. Das ist alles gut und recht, aber hier wohnen? Auf gar keinen Fall.“

Schon wieder so klar und knackig. Was war das Mädchen doch entscheidungsfreudig. Gilberte bewunderte Frederike fast ein wenig um ihre wortkarge und dennoch klare Art sich mitzuteilen. Es gab sicherlich irgendwo jemanden, den sie damit beeindrucken konnte. Noch bevor die junge Frau weitersprechen konnte, schubste Gilberte sie unsanft zur Seite. Die große, schwere Eichentüre wich schwerfällig und Gilberte dackelte mit ihren Siebensachen ins Haus. Dabei verrutschte ihr übergroßer, weißer Hut und das etwas zu enge Etuikleid in Größe 46 vertonte jeden Schritt der älteren Dame im Reibungspunkt mit der Stützstrumpfhose, die sie trug und die für ihren Hauttyp etwas zu dunkel ausgefallen war.

„Halt, ‚Stopp‘ hab´ ich gesagt.“ Frederike versuchte ihre Großtante aufzuhalten, stellte sich in Designerjeans breitbeinig hin und hatte eine ernste Miene aufgesetzt.

„Jaja, nur über deine Leiche. Das sagtest du bereits“, und mit diesen Worten ließ Gilberte ihre Koffer mitten im Flur zu Boden fallen und rückte kurz ihren Hut wieder in die richtige Position. Befreit vom Gepäck, schritt sie energisch zur Küche und riss dort das Fenster auf. Lautstarkes Vogelgezwitscher flog ihr entgegen und Gilberte atmete die frische Luft ein, die von draußen hereinströmte. Frederike war zwar ihre Großnichte, aber sie war auch schwer von Begriff. Ein wenig frische Luft würde vielleicht helfen, ihre Hirnzellen zu durchbluten. Und ihr würde es helfen, ruhig zu bleiben.

 

Mit einer beinahe penetranten Selbstverständlichkeit machte sich Gilberte an der Kaffeemaschine zu schaffen.

„Kaffee?“, fragte sie ihre Großnichte. Frederike sah sie mehr schockiert denn wütend an und hörte sich selbst ein „Ja, bitte“ von sich geben. Wie ein Schulmädchen fand sich Frederike behandelt, was sie ohnehin auf die Palme brachte.

„Wenn ich mich recht entsinne, schwarz ohne Zucker, stimmt’s?“, mutmaßte Gilberte und hantierte an der kleinen Maschine herum. Mit ihrem dicken Hintern wackelte sie, als müsste sie demnächst auf den Lokus.

„Hast du mir nicht zugehört?“ Frederike hatte ihre Hände in die Hüfte gestemmt in der Hoffnung, diese Geste würde ihrer Wut mehr Ausdruck verleihen. Gilberte summte unbeeindruckt leise vor sich hin, während die Kaffeemaschine schmatzende Geräusche von sich gab und frischen Kaffeegeruch in der Küche verströmte.

„Hallo?“, schrie Frederike in die Richtung ihrer Großtante, ihre Stirn in dicke Falten gelegt.

„Das ist doch ein neuer Song von der tollen Sängerin aus Großbritannien, wie hieß die noch mal? Adele, nicht?“ Gilberte fing an, Adeles Song nach zu summen. Frederike kochte innerlich vor Wut. Sie war in Eile, eigentlich hatte sie gar keine Zeit für solche Spielchen und für nervende Großtanten schon gar nicht.

„Herrgott, ich rede mit dir!“ Noch immer stand Frederike wütend im Raum und schäumte vor Zorn.

„Ich weiß, Liebchen, ich weiß. Aber, um ehrlich zu sein:“ Gilberte drehte sich um. „Nicht in diesem Ton, und nicht mit mir.“ Sie streckte ihrer Großnichte eine Tasse Kaffee entgegen. Dann fiel sie wieder in ihr Summkonzert, wohl eher aus Freude denn gesegnet mit viel Talent.

„Bitteschön, trink erst mal ´nen Kaffee, das beruhigt die Nerven.“ Damit war sie nähergekommen, hatte Frederike die Tasse ungefragt in die Hand geknallt und ging wieder rauschenden Schrittes in den Flur zu ihrem Gepäck. Dort zupfte sie an einem Koffer herum und zerrte dessen Reißverschluss auf. Was musste das Mädchen auch gleich einen solchen Aufstand machen? Aber bitteschön, sie sollte den Grund erfahren.

„Das Testament ist nicht rechtens“, ächzte sie, während sie sich wieder auf die Füße stellte. Sie hatte sich bücken müssen, wobei ihr üppiger Körper ihr in die Quere gekommen war, und streckte Frederike einen Umschlag entgegen. Diese hielt noch immer die Tasse dampfenden Kaffees in der Hand, blinzelte mehrfach und eilte dann zu ihrer Großtante in den Flur. Unsicher nahm sie den Umschlag entgegen.

„Keine Angst, es ist nur eine Kopie. Das Original wird sicher von einem Notar verwahrt, nur für alle Fälle“, triumphierte Gilberte, die sich auf einen ihrer zwei großen Koffer gesetzt hatte. Umständlich öffnete Frederike das Kuvert, nachdem sie die Tasse auf der alten Kommode im Flur abgestellt hatte. Wehmütig sah Gilberte das antike Möbel an und erinnerte sich an die Zeit, in der sie schon einmal in diesem Haus gelebt hatte. Damals als Kinder hatten sie hier herumgetobt, ach, wie lange war das schon her. Sie lehnte sich ein wenig zurück und sah ihre Schwester im Alter von sieben Jahren aus der Küche stürmen, an der Kommode vorbeirennen, hinaus ins Freie, wo damals noch eine Bauernwiese gewesen war. Den vornehmen Garten und die endlos scheinende Einfahrtsstraße im englischen Stil hatte es erst gegeben, nachdem Katharina mit ihrem Mann das Haus geerbt hatte. Ihm hatte es nicht fein genug sein können, obwohl er nur ein Zugeheirateter gewesen war. Heute war mehr Chaos in der Auffahrt als ein englischer Garten zu sehen. Wenn ihre Mutter wüsste, wie leichtfertig Frederike mit der wertvollen Kommode umging, würde sie sich im Grab umdrehen. So viel war für Gilberte sicher.

„Du kannst trotzdem nicht hierbleiben.“ Frederike senkte den Brief und sah ihre Großtante mit halb zugekniffenen Augen an. Die Eingangstüre stand noch immer weit offen und das Vogelgezwitscher schien Frederike von allen Seiten einzuholen. Draußen tobte der Frühling, und in Frederike tobte die ohnmächtige Wut. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.

„Du irrst dich, Frederike, ich kann, glaub mir, ich kann. Und vor allem:“, sie schaute zu der jungen Dame auf, den Blick siegessicher getränkt. „Ich werde.“

Damit stellte sie sich umständlich wieder gerade hin, strich sich das Kleid glatt und nahm Frederike den Brief aus der Hand.

„Das müssen erst die Anwälte klären. Ich weiß ja nicht, ob das echt ist, was du da anschleppst.“

„Was ich da anschleppe?“ Gilberte schnaubte verächtlich. „Wo hast du denn, bitteschön, deine Kinderstube genossen?“

„Ich habe dich nicht eingeladen“, erklärte Frederike selbstgefällig, und schon wieder hatte sie die Hände in die Hüften gestemmt.

 

Die Sonne drängte sich zum Fenster und zur Tür herein, der Frühling versuchte an ihnen zu kitzeln, doch die beiden Frauen waren zu beschäftigt mit ihrem Konflikt.

„Du siehst beinahe aus wie Katharina früher, wenn sie wütend war“, lachte Gilberte, überging ihre Großnichte und glitt mit dem Finger über den oberen Rand der Kommode. Er zeigte eine dicke Staubschicht, die sie Frederike unter die Nase rieb. „Sauber ist anders.“

„Das geht dich gar nichts an“, gab Frederike patzig zurück, doch dann holte sie tief Luft und musste plötzlich laut niesen. Staub hatte die unangenehme Eigenschaft, einen überall einzuholen, und wenn es nur durch die Nasenhöhle war.

„Gesundheit“, meinte ihre Großtante und musterte Frederike von oben bis unten. Wie die jungen Leute sich heute kleideten! Eine junge Frau, die mit etwas gutem Willen auch wie eine hätte aussehen können, aber da war zu viel Hose, zu wenig Klasse und vor allem ein schreckliches Make-up, war Gilbertes Urteil.

„Ein Kleid würde dir gut stehen. Im Gegensatz zu diesen fürchterlichen Jeans.“

Frederike konnte es nicht ausstehen, wenn man ihren Kleidungsstil kommentierte, schon gar nicht, wenn man im Alter von Gilberte in derart schrillen Klamotten die Blicke auf sich zog. Doch diese ließ sich nicht beirren, denn etwas ganz anderes interessierte sie schlagartig.

„Ich denke, ich hätte ganz gerne wieder mein altes Zimmer. Du weißt schon, das Nordzimmer mit Blick auf den See.“ Eine Antwort wartete sie erst gar nicht ab, oder besser gesagt: Eine Antwort Frederikes interessierte sie nicht. Sie griff sich einen ihrer Koffer und drehte sich auf dem dicken Absatz um. Als sie sich die ersten Treppenstufen ächzend emporgeschleppt hatte, hielt sie ihre Großnichte zurück.

„Nein, du kannst da nicht hoch“, meinte diese erzürnt.

„Ach, Mädchen, lass dir was Originelleres einfallen!“ Gilberte stampfte nach Atem ringend nach oben in den ersten Stock. Ihre Schwäche für Zartbitterschokolade und Käsekuchen machten ihr immer zu schaffen, wenn es ums Treppensteigen ging.

Frederike überlegte einen Moment, ob sie ihr nachlaufen oder direkt die Polizei anrufen sollte. Dann erinnerte sie sich an den Inhalt des Briefes. Ein Testament, das alles auf den Kopf stellen würde, wenn es wirklich rechtsgültig sein sollte. War das möglich? Ein ungutes Gefühl beschlich sie, und Frederike konnte nicht ausmachen, ob es sich dabei um ein schlechtes Gewissen oder eine böse Vorahnung handelte.

„Du hast ja gar nichts richtig eingeräumt“, schallte es aus der ersten Etage nach unten. „Wo sind denn all die Möbel?“ Schritte donnerten über Frederike und sie seufzte tief.

„Warum stehen hier keine Möbel?“, hörte sie ihre Großtante eine Etage über sich schimpfen. Schließlich beschleunigte sich der Schritt der wohlbeleibten Dame, und Frederike hörte, wie sie die Treppe heruntergepfeffert kam.

„Was ist hier eigentlich los?“, wollte Gilberte von ihrer Blutsverwandten wissen. Bei der Besichtigung der oberen Etage hatte sie ein ungutes Gefühl beschlichen, und Gilberte war bekannt dafür, dass sie roch, wenn Gefahr im Verzug war. Und in diesem Haus stank irgendetwas gewaltig zum Himmel.

Frederike kaute auf der linken Seite ihrer Lippe herum. Das tat sie immer, wenn ein schwieriges Gespräch bevorstand. Und so, wie sich dieser heutige Morgen bisher entwickelt hatte, war ihr klar, dass dies definitiv ein schwieriges Gespräch werden würde.

„Tante Gigi, ich…“, stammelte Frederike herum und hatte plötzlich einen ganz anderen Tonfall in ihrer Stimme, der ihrer Großtante nicht verborgen geblieben war.

„Ich bin ganz Ohr“, sagte diese, und dieses Mal war es an ihr, die Hände in die üppig ausladenden Hüften zu stemmen.

„Ich… Was sollte ich auch mit so einem großen Haus, ich meine…“ Unschuldig blickte Frederike ihre Großtante an.

„Du willst das Haus doch nicht etwa verkaufen?“ Die Stimme von Gilberte wurde lauter. Als Frederike keine Antwort gab, begriff Gilberte, wie nahe sie an der Wahrheit war.

„Kommt nicht in Frage“, meinte sie entschlossen.

„Es ist alles schon unter Dach und Fach“, erklärte Frederike und war dankbar, dass die Überschreibung des Anwesens vor über einer Woche stattgefunden hatte. Seither hatte sie im großen Aufenthaltsraum im Erdgeschoss gehaust, bis sie schließlich hier ausziehen würde.

„Das Haus gehört dir nicht.“ Gilberte stierte die junge Frau an, und Frederike sah sie wiederum mit aufgesetzter, unschuldiger Miene an, während sie mit der Schulter zuckte.

„Wie kann man nur so undankbar sein und ein so ansehnliches Haus verkaufen, das seit Jahrzehnten in Familienbesitz ist.“ Gilberte schüttelte ungläubig den Kopf. Für den Moment schien es, als wäre sie sprachlos, aber das hielt nicht lange an.

„Der Kaffee“, meinte sie plötzlich.

„Was?“ Frederike sah sie ungläubig an und verstand den abrupten Themenwechsel nicht.

„Der Kaffee, er wird kalt. Gehst du mit allen Dingen so verschwenderisch um?“, wollte Gilberte wissen und zeigte auf die Tasse Kaffee, deren Inhalt wohl schon kalt geworden sein musste.

„Tante Gigi, wie soll ich so ein riesiges Anwesen unterhalten? Die Kosten sind immens hoch.“

„Natürlich sind sie das. Vor allem, wenn man so verschwenderisch ist wie du.“ Gilberte musterte ihre Großnichte, und Frederike spürte, wie das Gespräch anfing sie zu nerven. Sie war kein kleines Kind mehr, und sie hatte nicht vor, sich wie eines behandeln zu lassen.

„Das Haus ist verkauft. Basta. Daran kannst auch du nichts mehr ändern“, sagte Frederike und griff sich die Tasse Kaffee. Schließlich drehte sie sich um und lief in die Küche.

„Nicht, dass du mir den Kaffee wegschüttest“, rief Gilberte ihr hinterher, und bevor Frederike die braune Flüssigkeit in den Ausguss leeren konnte, nahm die Seniorin ihrer Großnichte die Tasse von hinten aus der Hand.

„Ich habe dich nicht eingeladen, Umschlag hin oder her. Das Testament damals, der Verkauf heute, alles. Du kannst da gar nichts mehr machen.“ Damit lehnte sie sich an den Trog und blickte ihre Großtante mit wild funkelnden Augen an.

„Kindchen, mein Testament ist das richtige, und wir werden noch sehen, wer hier das letzte Wort hat.“ Gilberte hatte vor, um dieses Haus zu kämpfen, und wenn es das Letzte sein würde, was sie tat. Damit drehte sie sich um, schritt temperamentvoll den Flur entlang und begann, die restlichen Koffer in die erste Etage zu schleppen. Frederike hatte Schluckauf bekommen, wie immer, wenn sie sich zu sehr aufregte. Mit den Armen hatte sie sich auf der Küchenkombination aufgestützt, sah schwer atmend aus dem großen Fenster. Kleine Spatzen turnten auf einem Baum draußen herum und zirpten um die Wette.

„Ach, haltet doch die Fresse!“ Damit knallte Frederike das Küchenfenster zu. Mit einem Mal schossen ihr tausend Gedanken durch den Kopf. Wenn sie Gilberte nicht aus dem Haus bringen würde, war das eine Katastrophe. Nach einer kurzen Überlegung griff sie sich ihr Handy und wählte die Nummer des Rechtsanwalts, der sie seit dem Tod ihrer Mutter beriet. Ihr Vater war schon lange tot, und seit nun auch noch ihre Mutter verstorben war, hatte der Rechtsanwalt, Dr. Ivan Sutter, nicht nur das Testament vollstreckt und den Nachlass geregelt, sondern ihr auch beratend zur Seite gestanden beim Hausverkauf. Denn Frederike wollte nicht in diesem Haus bleiben, sie war dann doch mehr der Stadtmensch und wollte in Zürich leben, wo ihr Freund zuhause war, und der würde von Zürich nicht wegziehen. Das hatte er ihr ganz klar vermittelt.

„Können Sie mich bitte zu Dr. Sutter durchstellen?“, hörte Gilberte Frederikes Stimme. Die Seniorin hatte ihre Schuhe ausgezogen und war die Treppe hinuntergeschlichen, weil sie neugierig geworden war, was Frederike jetzt unternehmen würde.

„Vielen Dank, können Sie ihm ausrichten, dass er mich anrufen soll?“ Ein Moment des Schweigens entstand, während Gilberte in Strümpfen auf der Treppe hockte und horchte.

„Es ist dringend“, sagte Frederike in der Küche.

„Nein, es duldet wirklich keinen Aufschub. Bitte sagen Sie ihm einfach, es sei sehr, sehr dringend“, wiederholte Frederike. Wenig später hörte Gilberte ihre Großnichte leise fluchen und nahm dies zum Anlass, wieder die Treppen hinauf zu schleichen. Ein Wunder, dass die alte, hölzerne Stiege nicht verraten hatte, dass sie lauschte.

„Ich könnte im Strahl kotzen“, sagte Frederike mehr zu sich selbst und biss die Zähne zusammen. Schließlich steckte sie das Handy wieder in die Hosentasche und marschierte in den großen Aufenthaltsraum, wo sie seit ein paar Tagen ihr Lager aufgeschlagen hatte. Sie setzte sich auf das Sofa, auf dem sie schlief und fing an, ihr Gesicht mit beiden Händen zu massieren, als müsste sie sich selbst beruhigen. Dabei atmete sie sehr unregelmäßig und sah immer wieder zur Decke, so als könnte sie Gilberte durch das Holz sehen.

Dann klingelte ihr Handy.

„Ja? Herr Sutter? Ach, Gott sei Dank, dass Sie zurückrufen. Meine Großtante…“, dann brach sie ab. Gilberte hatte das Klingeln gehört und stand mucksmäuschenstill in der oberen Etage, um möglichst viel davon hören zu können, was Frederike unten sprach.

„Ist das Ihr Ernst?“, hörte sie ihre Großnichte aufgeregt sagen. Dann blieb es ruhig für eine Weile. Sie konnte nur ein paar Mal ein „Hm“ oder ein „Ja“ vernehmen, schließlich verabschiedete sich Frederike von ihrem Rechtsanwalt, danach wurde es vollkommen still im Parterre. Frederike standen die Tränen in den Augen, es hätte alles so einfach sein können. Es hätte alles so schön enden können, aber nun? Sie betrachtete das Chaos im Aufenthaltsraum, ihr Chaos. Neben dem großen, alten Sofa stand ein Billardtisch, ihre schmutzige Wäsche lag überall verteilt auf dem Boden herum. In den letzten Wochen hatte es sie nicht gekümmert, wie es hier aussah, schließlich wurde das Haus verkauft, gereinigt und dann war es ohnehin egal, welches Chaos hier für ein paar Wochen geherrscht hatte. Frederike war nur froh gewesen, dass sie so schnell einen Käufer gefunden hatte, um dieses Haus endlich loszuwerden. Und jetzt machte ihre Großtante ihr einen Strich durch die Rechnung. Frederike brannte darauf, neu anzufangen in Zürich mit ihrem neuen Freund Loris, endlich weg von diesen Landeiern der Ostschweiz. Ihr Blick fiel auf einen kleinen Plastikbeutel, übervoll mit leeren Sandwichpackungen, zusammengeknüllten Servietten und Plastikgeschirr. Halbvolle Plastikflaschen zierten den Boden, oft nur halb ausgetrunken hatten sie unter anderem auch klebrige Flüssigkeit auf dem Boden hinterlassen. Nachdenklich überblickte sie die Szenerie.

„Hast du was gesagt?“, schrie Gilberte scheinheilig durch die Räume und stampfte, immer noch in Strümpfen, die Treppe hinunter. Als sie in den Aufenthaltsraum kam, blieb sie stehen.

„Was ist denn hier los?“, wollte sie wissen und sah sich pikiert um.

Aber als Frederike keine Antwort gab, wiederholte Gilberte ihre Frage: „Hattest du was gesagt? Hast du mit mir geredet?“ Nach einer kurzen Überlegung realisierte Frederike, dass ihre Großtante gehört haben musste, dass sie am Telefon gesprochen hatte, also klärte sie sie auf.

„Mein Anwalt, er weiß es schon“, erklärte sie Gilberte. „Ich habe soeben mit ihm telefoniert.“ Frederike blickte drein, als hätte man ihr eröffnet, sie hätte nur noch drei Monate zu leben.

Gilberte nickte nur stumm, irgendwie tat ihr Frederike beinahe schon wieder ein wenig leid.

„Und was sagt er?“, wollte sie von der jungen Frau wissen. Tief luftholend meinte diese: „Dein Anwalt hat ihn schon angerufen.“ Frederike machte eine kurze Pause, sie konnte noch immer kaum glauben, was sie zu hören bekommen hatte.

„Offenbar wird es länger dauern, bis die Echtheit beider Testamente geklärt ist. Der Käufer des Hauses ist soeben abgesprungen, der Kaufvertrag hinfällig, weil die Käuferschaft informiert werden musste über die Verzögerung wegen der Klärung der Dokumente.“ Die Luft einatmend, japste sie die letzten Worte, und Gilbertes Gesicht zeigte ein Lächeln. Sie gab ein verständnisvolles „Hm“ von sich. Und der letzte Satz fiel Frederike erst richtig schwer: „Und der Anwalt meinte, es wäre klug, dich vorerst hier wohnen zu lassen, bis die Sache geklärt ist.“

Wieder gab Gilberte ein „Hm“ von sich. Frederike hatte erwartet, dass so ein Satz folgen würde wie „Siehst du, ich habe es dir doch gesagt“, oder zumindest hatte sie eine überhebliche oder gar verletzende Aussage erwartet, was zu ihrem Erstaunen jedoch ausblieb.

„Nun gut“, sagte Gilberte. „Dann gilt es noch zu klären, ob du auch hier wohnenbleiben willst oder nicht.“ Sie zeigte auf den Saustall, der Frederike mit einem Mal sehr peinlich war.

„Wieso meinst du?“, wollte Frederike wissen und setzte eine unwissende Miene auf.

„Wer so lebt wie du hier, ist entweder ein Mietnomade oder nur auf der Durchreise, wenn man das so sagen darf.“ Gilberte beobachtete ihre Großnichte aufmerksam.

„Ich bin eigentlich schon in Zürich“, erklärte Frederike kurz angebunden.

„Aha“, war alles, was Gilberte dazu sagte. Frederike fiel auf, dass sie nicht nur die Schuhe ausgezogen, sondern auch den Hut abgelegt hatte. Eine pfiffige Kurzhaarfrisur machte aus Gilberte eine rüstige Seniorin, die die Bezeichnung Seniorin so noch gar nicht verdient hatte. Mit etwas mehr Figur, als ihr gut tat, sah man ihr die vielen guten Abendessen und Gläser Wein an, mit denen sie das Leben genoss. Dass das Kleid einen Zacken zu kurz für ihr Alter und ein bisschen zu eng für dieses Format von Figur war, störte Gilberte nicht im Mindesten. Sie machte sich die Mühe, ihre Haare regelmäßig nachzucolorieren. Ein rotgefärbtes Braun leuchtete auf ihrem Kopf, der viel zu groß geratene Halsschmuck korrespondierte mit den grünen Augen, während das Make-up wohl auch etwas zu lebendig ausgefallen war. Nach Frederikes Gutdünken hätte es auch weniger Rouge getan.

„Was soll dieses ‚Aha’?“ Frederike hatte sich von ihrer Großtante verunsichern lassen, die Nachfrage klang schon beinahe frech.

„‚Aha’ eben, mehr sage ich dazu nicht“, meinte Gilberte lässig. Es war herrlich mitanzusehen, wie Frederike die Fassung zu verlieren drohte.

„Das tust du aber sehr laut“, kam es hinterher. Frederike konnte es gar nicht leiden, wenn jemand eine Anspielung auf Loris machte.

„Ich habe keinen Ton gesagt“, widersprach die Seniorin mit süffisantem Lächeln im Gesicht.

„Jaja, ist schon gut“, maulte Frederike. Es reichte ihrer Großtante offensichtlich nicht, ihr ganzes Leben durcheinander zu bringen, sie musste es auch noch kommentieren. Gilberte indessen schmunzelte bis zu den Ohren. Irgendetwas stimmte nicht mit der Geschichte hier, so viel war sicher. Hauptsache, sie war wieder nach Hause zurückgekehrt. Und dieses Mal ließ sie sich nicht so schnell vertreiben.

 

Für den Moment war alles gesagt, was gesagt werden musste. Sie überließ es ihrer Großnichte, ob sie bleiben wollte oder nicht. Für Gilberte selbst war klar, dass sie dieses Haus erst wieder einmal auf Vordermann bringen musste. Also drehte sie sich um und rauschte aus dem Zimmer. Frederike blickte ihr hilflos hinterher. Eigentlich wäre sie auf ein Kampfgespräch aus gewesen, bereit, den neuen Freund bis aufs Blut zu verteidigen. Dass Gilberte sie wortlos hatte stehenlassen, hatte ihr komplett den Wind aus den Segeln genommen. Verloren stand sie in ihrem eigenen Chaos und fing zögerlich an, die schmutzige Wäsche zusammensuchen als verzweifelten Versuch, etwas mehr Ordnung in diesen Raum zurück zu zaubern und vielleicht in ihren Kopf. Sie blies die Luft durch die Lippen, als wäre sie ein Pferd, das sich mit dieser Geste beruhigen musste und fing an, sich in Selbstmitleid zu suhlen.

„Warum immer ich, warum passiert immer mir sowas?“, fluchte sie leise und hob einen schmutzigen BH vor sich in die Höhe. Zu allem Übel hatte sie den nicht ganz billigen Büstenhalter achtlos herumliegenlassen lassen und bei der letzten Pizza-Attacke nicht bemerkt, dass sich aus dem danebenliegenden Karton mit Öl gebundene Tomatensauce auf den Weg gemacht hatte, um den teuren Stoff ihrer Unterwäsche komplett zu ruinieren.

„Scheiße, der hat ein Vermögen gekostet“, raunte sie. Von irgendwoher hörte sie ihre Großtante im Haus herumhantieren. Ihr grauenvolles Gesinge ging ihr jetzt schon gehörig auf die Nerven. Wie konnte man nur so fröhlich sein? Die Frau war doch schon alt, da sollte man sich doch altersgerecht kleiden und sich gefälligst auch so benehmen. In ihrer Wut sah Frederike ihre Großtante in einem Altenheim auf einem ausgeleierten Sofa sitzen und Strümpfe stricken. Es passte nicht zu einer solchen Frau, sich derart schreiend anzuziehen, sich so laut aufzuführen und - Herrgott noch mal - so gut gelaunt zu sein. Das passte einfach nicht, und es passte vor allem Frederike nicht in ihren Kram.

 

Gilberte inspizierte indessen das ganze Haus. Trotz Stützstrumpfhosenschritt gelang es ihr nicht, wie eine liebliche Elfe durchs Haus zu wirbeln, sondern vielmehr wie ein stampfendes Ross ihre erste Note zu hinterlassen, als müsste sie ihr zurückgewonnenes Revier markieren. Da und dort hob sie einen Gegenstand auf, schloss eine offengelassene Türe eines Wandschranks lautstark und riss die Fenster in allen Zimmern auf, um den müffeligen, abgestandenen Geruch des Hauses auszulüften und möglicherweise auch die Anwesenheit der letzten Bewohner. In den Räumen wiederholten sich vor ihrem inneren Auge Szenen aus ihrer Kindheit, und nach einer anfänglichen Wehmut zauberten die einstigen Geschichten ein breites Lächeln auf ihr Gesicht. Zugegeben, Katharina und ihr Mann hatten etwas Schönes aus dem Haus gemacht. Aus dem früheren einfachen Herrschaftshaus mit Bauernwiese war ein nobler Wohnsitz geworden, der damals eindrücklich die Landschaft geziert hatte. Dann war es übergegangen in die Hände der Eltern von Frederike. Ihre Großnichte war ebenfalls hier großgeworden.

 

Heute hatte das Anwesen seinen Glanz verloren, denn die Kosten zur Erhaltung der Noblesse, die das Haus hätte ausstrahlen sollen, hatten wohl ein großes Loch in den Geldbeutel gefressen, sodass das Eine oder Andere dem Verfall zum Opfer gefallen war. Nachdem kaum mehr ein Möbel in den leeren Räumen stand, fiel das Welken der alten Villa noch viel mehr auf. Offensichtlich schrie sie der Renovierungsbedarf an, wenngleich ein bisschen Inneneinrichtung mitgeholfen hätte, ihn für ein Weilchen zu überdecken. Ungern gab Gilberte zu, dass Frederike recht hatte: Die Instandhaltungskosten für das gesamte Anwesen waren sicher immens hoch. Doch vielmehr benötigte diese alte Villa zuerst eine Kernsanierung, die noch mehr Geld verschlingen würde. Und ihre Rente war klein, doch Gilberte war Lebenskünstlerin. Bisher hatte sie noch immer eine Lösung gefunden, wenn es Probleme gab. Und im Moment sah sie über den riesigen Problemberg hinweg, der sich unheilvoll anzukündigen drohte.

„Von den 1000 Sorgen, die man sich macht, treffen nur 999 ein, also konzentriere dich auf Lösungen“, war das Motto der schrillen Seniorin. In einer ungewöhnlichen und harten Lebensschule hatte Gilberte gelernt, den Moment zu genießen und sich nicht unnötige Sorgen zu machen, die sie möglicherweise gar nicht betrafen, zumindest nicht heute. Dass sie dabei ein wenig die Tendenz hatte, Realitäten auszublenden, war Gilberte durchaus bewusst. Aber wie so Vieles, blendete sie auch das erfolgreich aus. Für sie zählte, dass sie nach unzähligen Familienstreitereien wieder zurückgefunden hatte in ihr Geburtshaus, nach dem sie sich so lange gesehnt hatte.

 

Kapitel 2: Altersglück

Schlüssel klimperten draußen im Flur, eine Haustüre wurde aufgestoßen, und schon zwitscherte eine junge, viel zu gut aussehende Frau in den Raum: „Guten Morgen, Frau Rohrmeier, ich bin dahaaa.“

„Klar bist du da, ich bin ja nicht taub“, murmelte die alte Frau, die sich auf dem Sofa verschanzt hatte.

„Sagten Sie was?“, hörte sie die junge Frau in Weiß fragen, die gerade aus dem Flur in die kleine Wohnstube bog. Milly Rohrmeier sah sie übel gelaunt an.

„Wie geht es uns denn heute, Frau Rohrmeier?“ Kornelia, die junge Pflegefachkraft, stellte ihre Tasche neben das Sofa und strahlte Milly Rohrmeier an.

„Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, mir geht es blendend“, maulte Milly. Ihre sonst schon miese Laune hatte sich just in diesem Moment um ein Vielfaches verschlechtert, als sich dieses elfenhafte Wesen Zutritt verschafft hatte zu ihrer kleinen Wohnung. Es war schlimm genug, dass sie in der Altersresidenz hausen musste, aber dass diese modellmäßigen Möchtegernkrankenschwestern auch noch mit einem Schlüssel, den man ihnen offiziell ausgehändigt hatte, Zutritt hatten zu den Wohnungen der Senioren, fand Milly unnötig und geradezu menschenunwürdig.

 

Kornelia überging die Anspielung von Milly Rohrmeier, überging ihre schlechte Laune überhaupt und hantierte mit sonnigem Gemüt an ihrer Tasche herum.

„Dann wollen wir mal unseren Blutdruck messen“, forderte Kornelia die alte Frau auf und hockte sich auf den Rand des Sofas, während sie sie aufmunternd anlächelte.

„Warum müssen wir unseren Blutdruck messen? Ist Ihrer nicht in Ordnung? Meiner ist ganz normal“, gab Milly ungehalten zu Protokoll.

„Wieso meinen?“, fragte Kornelia. Der Ausdruck in ihrem Gesicht bestätigte Milly, dass die junge Frau wohl neben dem gelernten Fach kaum etwas von ihrer Art von Humor verstand.

„Vergessen Sie ‘s“, meinte Milly und sehnte sich nach alten Tagen, in denen sie mit schwärzestem Humor die Gäste ihrer Kneipe unterhalten hatte. Diese übertrieben aufgesetzte und zuvorkommende Art von Kornelia ging ihr dermaßen auf den Keks, dass sie hier längst wieder ausgezogen wäre, wenn sie denn gekonnt hätte.

„Nun machen wir aber schön unseren Arm frei, sodass ich den Blutdruck messen kann.“

Kornelia hatte den vermaledeiten Apparat in Händen, um diesen verfluchten Blutdruck zu messen. Was sollte sich auch seit gestern geändert haben? Was sollte es bringen, ihn jeden Tag zu messen? Milly regte sich jeden Tag über die Art von Kornelia auf, über die Langeweile in dieser blöden Residenz und das verflixte Fernsehprogramm, das mittlerweile zu ihrem unfreiwillig besten Freund geworden war. Und das alles war genauso wie gestern. Warum also sollte sich etwas an ihrem hohen Blutdruck geändert haben? Solange sie jeden Morgen so wenig von ihrem Leben genießen konnte und sich eine so faltenfreie und überfreundliche Fresse einer jungen Pflegerin ansehen musste, würde sich an ihrem Blutdruck gar nichts ändern.

„Können Sie sich nicht vernünftig artikulieren?“, meinte Milly böse. Das ewige „Wir“-Gequatsche ging ihr zusätzlich auf die Nerven. Kornelia behandelte sie wie jemanden, der blöd geworden war in der Birne. Aber auch das wurde von Kornelia übergangen. Entweder hatte sie selbst nicht so viel in ihrer Birne, oder sie lernten in der Ausbildung zur Pflegefachkraft, wie man die Gefangenen einer Altersresidenz gepflogen ignorierte.

 

Schließlich ergab sich Milly und ließ sich den Blutdruck messen, es half ja alles nichts. Sie konnte Kornelia nicht einfach rauswerfen und von hier abhauen. Während die junge Pflegerin an ihrem Arm herumwirkte, um den Blutdruck messen zu können, stierte Milly gelangweilt aus dem Fenster. Ein weiterer Tag in der Einöde der Residenz „Altersglück“. Wie konnte man einer Residenz nur einen so dummen Namen geben? Die alten Säcke unten in der Lobby waren geistig alle schon im Sarg, hatten ihr Leben bereits verwirkt und mühten sich mit täglichem Schach ab oder liefen der jungen Gymnastiklehrerin hinterher, die zweimal die Woche kam, um sich mit ihnen im Altersyoga abzumühen. So ein Schwachsinn. Wie lächerlich sie dabei aussahen, sagte ihnen wohl niemand. Da blieb sie dann doch lieber in ihrer Zweizimmerwohnung und sah sich den üblichen Mist im Fernsehen an.

„170 zu 110, uiuiui“, hörte sie Kornelia neben sich sagen, während sie die Apparatur zum Blutdruckmessen von ihrem Arm wegzog.

„Wundert Sie das?“, fragte Milly teilnahmslos.

„Das ist nicht gut, Frau Rohrmeier, was machen wir denn da?“ Schon wieder hörte Milly diesen Tonfall, mit dem man sonst nur mit kleinen Kindern oder Deppen sprach. Kornelia sah sie mitleidig an.

„Ja, ich weiß, Frau Rohrmeier, es dauert eben noch ein wenig, bis es Wochenende ist.“

„Hä?“, dachte sich Milly. Wovon redete dieser Barbieverschnitt? Liebevoll streichelte Kornelia ihren Unterarm.

„Ihr Sohn wird am Samstag auch am Schachturnier teilnehmen, ist das nicht toll?“, fragte Kornelia und klatschte in ihre Hände, sodass Milly sich nicht mehr sicher war, ob diese junge Frau wirklich alle Tassen im Schrank hatte.

„Schachturnier? Ach du Scheiße“, sagte Milly und atmete tief durch. Sie war umzingelt von Idioten. Und ihr Herr Sohn, der es auch nur alle paar Wochen für nötig hielt hier aufzutauchen, nachdem er sie hier abgeladen hatte, konnte ihr den Buckel runterrutschen. Schachturnier, sowas Idiotisches. Jeder, der Milly Rohrmeier kannte, wusste, dass sie von Schach soviel hielt wie ein Veganer vom Fleischessen.

„Sie sollten sich etwas mehr bewegen“, meinte Kornelia freundlich und fing an, das Geschirr in der offenen Küche zu waschen.

„Davon träum´ ich auch“, gab Milly patzig zur Antwort.

„Wie wäre es nachher mit einem Spaziergang, was meinen Sie?“, brachte Kornelia den Vorschlag.

„Sex würde mir mehr Spaß machen“, murmelte Milly, und Kornelia hörte auf, den Teller zu waschen, den sie in Händen hielt. Etwas schockiert blickte sie in Millys Richtung und setzte nach wenigen Sekunden wieder ihr überfreundliches Grinsen auf.

„Dafür bin ich leider nicht zuständig“, sagte sie mit einem so lieblichen Ton, dass es Milly schon wieder den Blutdruck hochjagte.

„Das dachte ich mir schon“, gab Milly zur Antwort. Sie kniff ihre Lippen wütend zusammen.

„Aber wenn Sie möchten, können wir mit dem Arzt…“, fing Kornelia an, aber Milly unterbrach sie.

„Eine Nummer schieben? Mit dem heißen Typen, der erst seit zwei Wochen da ist? Gibt’s den auf Rezept? Mit dem sofort.“ Milly lachte, und die vielen gerauchten Zigaretten ihres Lebens husteten in ihrer Stimme mit. Sie liebte es, Kornelia aus dem Konzept zu bringen, und sie hatte immer wieder mal Erfolg damit. Diese sah sie betreten an, als hätte sie ihr vorgeschlagen, im Puff zu arbeiten. Milly seufzte, wenigstens konnte sie diese hirnlose Pflegebarbie ein wenig provozieren, das war ihr täglicher Höhepunkt. Mehr war nicht mehr drin, seit ihr schlauer Herr Sohn - oder vielmehr seine Göttergattin - entschieden hatte, dass sie es besser hätte in der Wohnanlage „Altersglück“. Dann wüssten sie sie immer in Sicherheit – pah, der Schleimer. Abgegeben hatte er sie, damit er sein Leben leben konnte. Sie würde hier verrotten, langsam aber sicher. Sie dachte darüber nach, wo ihr Revolver war. Notfalls könnte sie auch nachhelfen. Kornelia war offenbar derart vor den Kopf gestoßen, dass sie nichts mehr sagte und wortlos den Rest des Geschirrs abtrocknete. Milly knipste den Fernseher an. Wenigstens war die Dauerfreundlichkeitsfresse endlich still.

„Machen Sie mir einen Kaffee“, forderte Milly die junge Frau schließlich auf. Nicht wirklich freundlich, sie hatte keine Lust auf Konversation mit etwas, das so gut aussah wie dieses junge Ding und das ganze lebendige Leben noch vor sich hatte. Ohne zu antworten machte sich Kornelia an die Arbeit, werkelte an der Kaffeemaschine herum, während Milly weiter in den Fernseher stierte. Die gleiche Scheiße wie gestern, die heutigen Programme waren wirklich gerade noch gut genug, um daran zu verblöden. Geistige Umweltverschmutzung auf höchstem Niveau. Nicht mal ein anständiger Krimi lief. Ein paar TV-Leichen und andere kriminelle Perversitäten hätten sie jetzt aufmuntern können.

 

Plötzlich klopfte es an die Türe. Milly fuhr herum. Das würde doch nicht etwa ihr Sohn sein? Ihr Gesicht erhellte sich für einen kurzen Moment, und Kornelia trocknete sich die Hände ab.

„Soll ich nachsehen?“, fragte Kornelia.

„Was fragen Sie so blöd, Sie stehen direkt neben der Eingangstür“, herrschte Milly sie an und drehte den Fernseher leiser. Sie hatte sich soeben vorgenommen, nun doch keine gute Laune zu haben, egal, wer da vor der Tür stand. Schließlich war das auch einer, der nicht regelmäßig vorbeikam und sie hier alleine ließ. Also musste sie sich auch keine Mühe geben und freundlich sein. Sie hörte nur mit halbem Ohr hin, wie die Türe aufging, wie Stimmen sich unterhielten und blickte erschrocken in den Flur, als sie eine altbekannte Stimme vernahm: „Altes Mädchen, was treibst du hier?“

„Gigi?“ Mit einem Mal erhellten sich alle Gesichtszüge von Milly.

„Klar, ich bin’s in voller Größe, lass´ dich umarmen“, lachte Gilberte und bückte sich zu Milly hinunter. Mit Sorge betrachtete Gilberte die auffällige, geblümte Tapete an der Wand, als sie ihre Freundin in den Armen hielt. Sie spürte, wie schwer Milly geworden war, wie träge und wie alt sie sich anfühlte. Sie wollte nichts davon aussprechen. Sie hatte nur gehört, dass Milly in einer Altersresidenz wohnte, deswegen wollte sie sie besuchen. Als ob Milly hierher gehörte.

 

„Seit wann bist du wieder in der Schweiz?“, wollte Milly wissen und knipste den Fernseher aus. Gilberte setzte sich hin und versteckte ihren Schock hinter einem Pokerface. Geblümte Tapeten…

„Ich mache dann mal das Bett“, quasselte Kornelia dazwischen, und Milly wehrte mit der Hand ab.

„Jaja.“

„Erzähl, wo warst du? Was hast du alles erlebt?“, wollte Milly aufgeregt wissen. Mit einem Mal kehrte Leben in den Körper der 69-Jährigen zurück.

„Seit gut zwei Wochen“, meinte Gilberte geistesabwesend und blickte sich um. Sie hatte nicht gewusst, dass Milly plötzlich auf Häkel-Deckchen und Gobelin-Bilder stand. Gilberte entdeckte eine Plastikschachtel, unterteilt in kleine Fächer, die auf dem Tisch stand. Sie lehnte sich nach vorne und griff sich das Plastikteil.

„Tabletten“, meinte Milly wortkarg, ohne die Frage von Gilberte abzuwarten.

„Das kann ich auch erkennen. Bist du krank?“, wollte diese wissen. Sie sah sich die unterteilten Fächer ein. Montag bis Sonntag, Morgen, Mittag, Abend stand da darauf, darin lagen Tabletten in unterschiedlicher Größe und Farbe.

„Krank? Nein“, wandte sich Milly an ihre alte Freundin und winkte ab. Sie hatte keine Lust auf diese Diskussion. „Erzähl von deinen Reisen“, bettelte sie. Vielleicht klappte das Ablenkungsmanöver und Gilberte würde von ihrem letzten Trip erzählen, wo sie gewesen war, wen sie getroffen hatte. Doch Milly kannte die Antwort eigentlich schon, bevor sie die Frage richtig ausgesprochen hatte.

„Zuerst will ich wissen, was das hier alles ist!“ Gilberte schob Milly das Plastikteil unter die Nase.

„Ach, die sind hier der Meinung, ich brauche das alles. Ich habe hohen Blutdruck“, seufzte Milly und verdrehte die Augen wie ein kleines Kind, das man bei etwas Verbotenem erwischt hatte.

„Täglich neun Tabletten, allein für Bluthochdruck?“, wandte Gilberte ein. Die Tabletten rasselten in der Plastikdose.

„Keine Ahnung, die faseln was vom Herzen, was für den Magen wegen der Blutdruck-Tabletten und irgendwie was für die Nerven.“

„Für die Nerven?“ Gilberte war hellhörig geworden.

Milly vermied das Wort „Depression“, sie ahnte, wie ihre alte Freundin darauf reagieren würde.

Gilberte schüttelte nur den Kopf und legte die Plastikschachtel wieder auf den Tisch. Es war wohl besser, sie würde dieses Thema vorerst ruhen lassen. Manchmal musste man den richtigen Zeitpunkt abwarten, um Dinge genau unter die Lupe zu nehmen. Aber das Thema hier war mit Sicherheit noch nicht gegessen.

„Wieso sitzt du denn hier drin? Es ist wunderschönes Wetter draußen“, erklärte Gilberte und erhob sich vom Sofa. Dann zog sie an den langen Vorhängen, die von der Decke bis zum Boden reichten. Mit einem kräftigen Akt zog sie die Gardinen auf, und die Sonne verschaffte sich den Weg in die Wohnung, erhellte die Räume und reizte Millys Augen. Sie blinzelte, kniff die Augen zusammen und hielt sich die rechte Hand vors Gesicht. Als Gilberte sich zu Milly drehte, sah sie eine alte Frau mit schaler Gesichtsfarbe, leblos und verwirkt, die so gar nichts mit der Frau zu tun hatte, die sie seit vielen Jahren kannte.

„Wann warst du das letzte Mal draußen?“, wollte sie wissen und öffnete die Terrassentür, um frische Luft hereinzulassen.

„Ich weiß nicht, ich…“, fing Milly an, aber sie wusste mit einem Mal nicht mehr, was sie sagen sollte. Sie kam sich plötzlich dumm vor, dass sie hier wohnte, sich seit Monaten in ihrer kleinen Wohnung verkroch und sich wie ein verzogenes Kleinkind verhielt.

„Zieh dich an, wir gehen raus“, forderte sie Gilberte auf.

„Ich kann nicht, ich bin nicht mehr so gut zu Fuß“, entschuldigte sich Milly, sie blieb demonstrativ auf ihrem Sofa sitzen und machte keinerlei Anstalten, der Aufforderung von Gilberte zu folgen.

„Papperlapapp, krieg deinen alten Arsch hoch. Los, wir gehen raus.“

Befehlstöne mochte Milly schon gar nicht, also blieb sie erst recht sitzen und verschränkte die Arme. „Du kannst mich mal“, war alles, was sie sagte, sie griff sich die Fernbedienung und knipste den Fernseher wieder an.

„Gern, sag mir wann und wo“, gab Gilberte zur Antwort und entriss Milly die Fernbedienung, knipste den Fernseher wieder aus und sah Milly erbost an. Beide funkelten sich gegenseitig mit wütendem Blick an.

„Ich zähle jetzt bis Drei, und wenn du bis dann deinen verdammten, alten Arsch nicht aus diesem Sofa hochkriegst, dann hole ich den Besen und versohle ihn dir.“

Milly kniff die Augen angriffslustig zusammen. „Das versuch mal erst“, meinte sie und lehnte sich mit verschränkten Armen auf ihrem Sofa zurück.

Gilberte lehnte sich über das Sofa und fing an, an Milly herumzuzerren.

„Jetzt komm schon, los“, ächzte sie, und ein kurzes Handgemenge sorgte für Aufregung in der Alterswohnung. Kornelia lugte aus dem Schlafzimmer heraus.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie besorgt nach, während sie ein Kissen in Händen hielt, das sie offenbar neu zu beziehen versuchte.

„Sie könnten mir helfen, diese alte Schachtel auf die Beine zu kriegen“, keuchte Gilberte, während sie weiter an Milly herumzerrte, die sich absichtlich schwer machte und sich gegen ihre alte Freundin stemmte.

„Ich muss doch sehr bitten“, wehrte Kornelia ab, und Milly gelang es, Gilberte von sich zu stoßen.

„Bist du hierhergekommen, um Krieg zu führen?“, wollte Milly wissen und sah ihren Besuch erbost an.

„Mit wem denn? Mit dir? Den hab´ ich doch längst gewonnen. Schau dich doch mal an“, warf ihr Gilberte an den Kopf.

„Bitte seien Sie behutsam mit Frau Rohrmeier, ihr geht es nicht gut“, mischte sich Kornelia erneut ein und hatte das Kissen zu Boden gelegt.

„Soll ich diese Dame bitten zu gehen?“, fragte sie Milly. Dabei hatte sie einen wichtigen Gesichtsausdruck aufgesetzt, der Gilberte aber überhaupt nicht beeindruckte.

„Diese Dame? Pah“, lachte Milly.

„Frau Rohrmeier braucht Ruhe. Ihr hoher Blutdruck und ihre Depressionen…“, erklärte Kornelia, führte jedoch keine Details aus. Sie hatte sich wichtig vor Gilberte aufgebaut.

„Depressionen?“ Gilberte hatte sich umgedreht und blickte die Pflegefachkraft von oben bis unten an. „Hier drinnen bekäme ich auch Depressionen, das können Sie mir glauben, und Ruhe hat das alte Weib auf dem Sofa schon mehr als genug gehabt.“

Amüsiert beobachtete Milly das Schauspiel, wie sich plötzlich Gilberte und der Barbieverschnitt in die Haare zu bekommen drohten. Endlich war wieder einmal etwas los in ihrem Leben.

„Aber ich“, stammelte Kornelia, während Gilberte sie sanft zurück schob.

„Seien Sie ein braves Mädchen und kümmern Sie sich um die Bettwäsche, das können Sie so gut“, erklärte Gilberte in etwa dem gleichen unsinnig freundlichen Ton, mit dem Kornelia mit Milly jeden Tag behandelte. Kornelia blickte sich verdattert um und fügte sich, ging zurück ins Schlafzimmer und nahm das Kissen wieder mit sich.

„Endlich mal wieder ein bisschen Leben hier“, meinte Milly lachend. „Der hast du ’s aber gegeben.“

Gilberte kam nicht umhin, mit Milly mitzulachen.

„Im Ernst, Milly, du siehst jetzt schon aus wie tot, du brauchst dringend frische Luft“, sagte Gilberte in versöhnlicherem Ton.

„Ich weiß, Gigi, ich bin nur…“ Sie brach ab, sah hinauf zu ihrer alten Freundin und ließ sich überreden, den Fernseher auszumachen. Umständlich ließ sie sich hochziehen von Gilberte, die ihr auf die Füße half. Die Beine waren eingeschlafen, sie brauchte einen Moment, bis sie ordentlich stehen konnte, und Gilberte begleitete sie ins Bad.

 

Als sie eine halbe Stunde später durch den Park der Altersresidenz „Altersglück“ spazierten, bemerkte Gilberte, dass Milly um Jahre gealtert schien.

„Ich bin alt geworden“, fing Milly an, bevor Gilberte ihre Frage formulieren konnte.

„Das werden wir alle irgendwann, irgendwie.“ Gilberte machte eine kurze Pause, ehe sie fortfuhr. „Warum bist du hier?“, wollte sie schließlich wissen. Sie kannte Milly als eine Lebefrau, das hatte sie immer an ihr bewundert. Milly hatte sich nie etwas sagen lassen, war immer wild und rebellisch gewesen. Das „Altersglück“ passte so überhaupt nicht zu ihr.

„Es gab da einen Vorfall“, begann Milly zu erklären. Sie war stehengeblieben und schaute ihre Freundin beinahe beschämt an.

„Was für einen Vorfall?“, bohrte Gilberte nach. Und Milly begann zu erklären, wie sie vor ein paar Monaten einen Schlaganfall erlitten hatte. Wahrscheinlich waren die vielen Zigaretten schuld, hatte der Arzt gesagt. Seither habe sie wenigstens das Rauchen aufgegeben. Die Frau ihres Sohnes hatte sie in ihrem Haus gefunden, gerade noch rechtzeitig.

„Glaub mir, die waren mehr um ihretwillen froh, dass es keine bleibenden Schäden gegeben hat, als um meinetwillen.“

Gilberte spürte die Verbitterung in Millys Stimme. „Und dann?“

„Die haben mich ohne mein Wissen hier angemeldet, mich hier abgeladen letzten November, und seither besuchen sie mich ein-, zweimal im Monat. Vielen Dank auch.“ Milly blickte hinauf zu den Bergen, die rechts und links über dem Tal aufragten, und die sie beinahe zu ersticken drohten. Sie hatte es nicht so mit dem Rheintal, und ausgerechnet hierhin hatte sie ihr Sohn verfrachtet, obwohl jeder, der sie kannte, wusste, dass sie ein Seekind war. Der Bodensee fehlte ihr mit jedem Tag, sie sehnte sich die früheren Tage zurück, in denen sie von ihrer kleinen Kneipe direkt auf den See hatte blicken können.

 

Offenbar war es ein angesehenes Haus, diese Altersresidenz „Altersglück“, es hatte einen guten Namen, was auch immer. Milly war es egal. Überall war es besser als hier. Der Bodensee war zwar nur 20 Kilometer entfernt von hier und dennoch unerreichbar geworden für Milly.

„Sie meinten, sie könnten mich nicht mehr alleine lassen. Das wäre nicht mehr zu verantworten, Marianne hat einen solchen Terror gemacht.“ Milly äffte einen Tonfall nach, mit dem sie deutlich zum Ausdruck brachte, was sie von ihrer Schwiegertochter hielt.

„Es konnte ihr nicht schnell genug gehen. Sie war dankbar, als sie mich endlich aus dem Haus raus hatte. Und rate mal“, sagte Milly in traurigem Ton.

„Was?“, wollte Gilberte wissen.

„Der Teil des Hauses, in dem ich gewohnt habe, ist bereits schon wieder vermietet!“ Milly stierte weiter hinauf auf die Berge, Tränen füllten sich in ihren Augen. Gilberte erinnerte sich, dass Milly in ihrem eigenen Doppelhaus gelebt hatte. Eine Hälfte hatte sie bewohnt, die andere ihr Sohn. Gilberte war entsetzt über das Gehörte. Wäre sie doch nur früher zurückgekehrt in die Schweiz!

„Und Maggie?“fragte sie, doch Gilberte merkte, dass das die falsche Frage gewesen war, denn Milly brach in schmerzerfülltes Schluchzen aus.

„Tierheim?“, fragte Gilberte nach, kramte in ihrer Handtasche herum und reichte Milly schließlich ein Taschentuch. Gilberte hatte keine Antwort parat, sie wusste nur, dass Milly ohne ihre Maggie nur ein halber Mensch war. Die nicht mehr ganz so junge Deutsche Schäferhündin war in den letzten Jahren immer wie ein Schatten von Milly gewesen. Maggie war Tag und Nacht nicht von Millys Seite gewichen, hatte sie beschützt, war ihr Partner und ihr bester Freund gewesen. Sprachlos schwieg Gilberte mit ihrer Freundin.

 

Sie erinnerte sich daran, dass Milly ihrem Sohn einst eine Vollmacht ausgestellt hatte, über ihren Anteil am Haus verfügen zu können. Im Sinne einer frühzeitigen Vorsorge hatten sie sich damals abgesprochen, man wusste ja nie. Albrecht hatte sich als Langzeitsingle und ewiger Lieblingssohn in der anderen Doppelhaushälfte einquartiert. Milly hatte nicht mehr darauf zu hoffen gewagt, dass Albrecht je eine Frau finden würde. Als er schließlich dann doch mit Marianne nach Hause kam und sie ihr vorstellte, schien das Glück perfekt, insbesondere, weil die nicht mehr ganz so junge Frau alleinerziehende Mutter war und gleich zwei Sprösslinge mitbrachte. Das Haus nebenan war plötzlich voller Leben, voller lachender Kinder gewesen, etwas, das Milly sich immer gewünscht hatte. Etwas überstürzt hatte ihr Sohn dann seine Marianne geheiratet, was Milly irgendwie verstand, doch die Freude hatte nicht lange gewährt. Marianne fing früh an, sich dagegen zu wehren, dass Milly so nah bei der Familie wohnte. Mit einer lästig aufgesetzten Freundlichkeit hatte sich Marianne ins Herz von Albrecht geschlichen und die eigene Mutter von dort langsam, aber sicher vertrieben. System hatte das Ganze, wie sie vorgegangen war, soviel war für Milly sicher. An die erteilte Vollmacht hatte Milly nicht mehr gedacht, bis Marianne sich nach ihrem Schlaganfall schlagartig darauf berufen hatte. Milly hatte keine Chance gehabt, es wurde über sie verfügt, das Haus vermietet, eingeschlossen fand sie sich wieder in diesem vermaledeiten Alterswohnsitz, bevor sie wusste, wie ihr geschehen war. Sie war durch den langen Krankenhausaufenthalt nicht in der Lage gewesen, die Geschehnisse mitzuverfolgen oder sich gar zu wehren. Ohne Absprache wurde Maggie ins Tierheim verfrachtet, wie ein altes Möbelstück, das man hatte loswerden wollen. Und das hatte ihr das Herz gebrochen, vor allem deswegen, weil ihr eigener Sohn nichts dagegen unternommen hatte. Er hatte gewusst, wie sehr Milly an Maggie hing und es doch zugelassen. Und dafür hasste sie die Beiden, Marianne und Albrecht. Und sie hasste es, wenn ihr Sohn nicht vorbeikam, aber vielmehr hasste sie die Besuchszeiten, wenn er es dann doch tat, denn sie konnte ihm kaum mehr in die Augen sehen. Entweder schleppte er die angeheiratete Familie mit, die ihr mit selbstgemalten Bildern und selbst gebackenen Kuchen auf die Nerven gingen, während Marianne der „Land und Liebe“—Frontseitenhobbyköchin mit ihrem doofen Grinsen und der perfekt sitzenden Frisur Konkurrenz machte. Sie hasste es auch, wenn er ohne die Bagage vorbeikam, denn entweder wollte Albrecht etwas von ihr oder müllte ihre Ohren zu mit Geschichten über die Teufelsbrut, die er nun liebevoll als seine Kinder bezeichnete. Mariannes neuster Akt war, Albrecht davon zu überzeugen, die Bälger auch noch zu adoptieren. Kein Wort von Maggie, kein Wort des Bedauerns, keine Entschuldigung. Für Albrecht war Maggie Geschichte, und wie sich Milly damit fühlte, interessierte offenbar niemanden.

 

Milly erzählte ihrer alten Freundin von den letzten Wochen, von dem unfreiwilligen Auszug, darüber, wie selbstgefällig Marianne gelächelt hatte, als sie den Hund endlich ins Tierheim hatte bringen können, während sie im Krankenhaus gelegen hatte und zugenebelt worden war mit Medikamenten. Unter Tränen erinnerte sich Milly an ihre vierbeinige Freundin. Gilberte konnte nur erahnen, wie sehr Milly trauerte und wie schlimm das alles für sie sein musste. Eine tiefe Trauer erfasste Gilberte, es schnürte ihr die Kehle zu.

„Es ist alles so fad hier“, endete sie, sah sich in dem perfekt hergerichteten Garten um. Ein großer Park, ein englischer Garten, in dem jeder Grashalm darauf zugeschnitten schien, in welchem Maßstab er zu wachsen hatte. Hinter ihnen saßen ältere Menschen auf einer Bank oder schoben im Schneckentempo einen Rollator vor sich her. Nur wenige waren in Begleitung, lediglich zwei von ihnen waren in ein Gespräch verwickelt. Die Ruhe in diesem Park war erdrückend. Gilberte fiel auf, dass selbst die Vögel sich verkrochen hatten, kein Gezirpe, kein Gesang, nur niederschmetternde Ruhe.

„Kein einziges Heilkraut, keine Blume, die neben dem Weg leuchtet, alles perfekt geschnitten und zu Tode gegärtnert.“ Milly griff sich an die Brust, mit einem Mal bekam sie kaum mehr Luft.

„Guten Tag, Frau Rohrmeier, das ist ja schön, dass ich Sie endlich hier draußen sehe!“ Eine in Weiß wandelnde, weibliche Freundlichkeit kam ihnen entgegen. Ach, wie ihr diese Scheißlächelei auf die Eier ging. Sie sagte nicht viel dazu, nickte der Frau nur zu und wandte sich dann an Gilberte.

„Sie behandeln mich hier, als wäre ich blöd. Ich kann es nicht mehr hören. Nicht einmal mit einem Kleinkind geht man so um. Ich werde noch irre hier drin. Und diese alten Säcke da drinnen…“, sie zeigte auf einen verglasten Raum, hinter dem viele Menschen zu sehen waren, die in ihren Bewegungen erstarrt zu sein schienen.

„Das ist meine Zukunft, so sehe ich in einem halben Jahr aus. Abgeschoben, mit Medikamenten vollgepumpt und mein Lebenswillen zerstört, damit ich am Mittwochnachmittag zum Altersyoga gehen kann oder Schach spiele mit Herrn Hutter.“ Sie zeigte auf einen alten Herrn in selbst gestricktem Pullunder, der in einem Rollstuhl am Tisch saß und auf das Schachbrett stierte, wobei Gilberte nicht ausmachen konnte, ob er sich überhaupt noch bewegte.

 

Sie war auf Vieles vorbereitet gewesen, aber nicht auf so etwas wie das hier. Insbesondere, weil sie selbst immer Angst davor hatte, genauso zu enden. Hier war die Endstation, vor der sie sich am meisten fürchtete. Das hier war noch schlimmer als der Tod selbst.

 

Kapitel 3: Die Überraschung

Gilbertes Daumen blieb auf der Klingel, minutenlang, bis sie schließlich ein leises Fluchen hinter der Tür vernahm. Draußen schien noch immer die Sonne, der Frühling hatte Einzug gehalten in der Ostschweiz. Vögel sangen ihr Liebeslied von den Bäumen, die Natur erwachte von neuem, und zarte Knospen blühten um die Wette. Die Welt schien friedlicher, bunter zu sein, ein Neuanfang lag in der Luft.

„Können Sie nicht lesen, die offiziellen Besuchszeiten sind vorbei“, rief eine aufgebrachte Stimme hinter der großen Eisentür.

„Das ist ein Notfall“, gab Gilberte von sich und fing an, auf die Türe einzuhämmern. Schlüssel klirrten, und die große Türe ging schwerfällig auf. Die Seniorin stand einer jungen Frau gegenüber, die mit verschwitztem Sweatshirt und verwehter Ponyfrisur stirnrunzelnd zu ihr hochblickte.

„Schönheit ist auch anders“, murmelte Gilberte zu sich selbst und setzte ihr freundlichstes Lächeln auf, aber bevor das Pony überhaupt etwas sagen konnte, schob sich die Seniorin ungefragt an der jungen Frau vorbei.