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Lodernde Flammen im Lipperland Wo Rauch ist, da ist auch Feuer! So sagt man nicht nur in Lippe. Christian Kupery, Assistent der Geschäftsleitung im Buchladen seiner Frau, genießt gerade noch die Abwesenheit der Chefin, als sich mit einem Mal dunkle Wolken über ihm zusammenziehen: Sein Bulli schickt merkwürdige Rauchzeichen aus dem Motorraum, in der Senne wird eine alte Scheune abgefackelt, und in einem Bürogebäude brennt jemandem die Sicherung durch. Alle möglichen Dinge befeuern die Gerüchteküche: Was will das mondäne Paar aus dem Rhein-Main-Gebiet im beschaulichen Lipperland? Wer streift nachts durch den Teutoburger Wald? Wohin ist der Bauer nach dem Scheunenbrand verschwunden? Spätestens jetzt ist Kuperys detektivische Neugier entfacht.
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Seitenzahl: 228
Jörg Czyborra
Vom Autor bisher bei KBV erschienen:
Ochsentour
Jörg Czyborra wurde 1956 in Mülheim an der Ruhr geboren. Sein Vater brachte ihm die ersten Griffe auf der Gitarre bei. Seither begleitet die Musik sein Leben. Nach der Ausbildung zum Bankkaufmann war er im Vertrieb erklärungsbedürftiger Produkte tätig, bis der Unfalltod seiner Frau sein Leben auf den Kopf stellte. Seit er vor 15 Jahren ins schöne Lipperland zog (der Liebe wegen), entdeckt er immer wieder den herben Charme der Menschen und die sanfte Schönheit der Umgebung – oder umgekehrt. Heute wohnt er in Oerlinghausen, dem westlichen Zipfel von Lippe. Wenn er nicht gerade schreibt oder seine über die Republik verteilten Kinder besucht, hilft er in der Buchhandlung seiner Frau als »Assistent der Geschäftsleitung«.
Jörg Czyborra
Lipperland-Krimi
Originalausgabe
© 2023 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
www.kbv-verlag.de
E-Mail: [email protected]
Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Umschlaggestaltung: Ralf Kramp unter Verwendung © Andrii Gorb - adobe.stock.com
Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln
Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm
Printed in Germany
Print-ISBN 978-3-95441-664-6
E-Book-ISBN 978-3-95441-672-1
»So stieg ich bergauf, an der Hünenkapelle auf dem Tönsberg vorüber, durch Buchenwald, in dessen Schatten die Bickbeersträucher strotzten vom Segen der Waldfrau, vorüber an Quellsümpfen, mitten durch enkeltiefen Treibsand, bis sie vor mir lag, die herbe Senne.«
Hermann Löns, Frau Einsamkeit
PROLOG
1. KAPITEL
2. KAPITEL
3. KAPITEL
4. KAPITEL
5. KAPITEL
6. KAPITEL
7. KAPITEL
8. KAPITEL
9. KAPITEL
10. KAPITEL
11. KAPITEL
12. KAPITEL
13. KAPITEL
14. KAPITEL
15. KAPITEL
16. KAPITEL
17. KAPITEL
18. KAPITEL
19. KAPITEL
20. KAPITEL
21. KAPITEL
22. KAPITEL
23. KAPITEL
24. KAPITEL
25. KAPITEL
26. KAPITEL
27. KAPITEL
28. KAPITEL
DANKE
Ein sanfter Wind zog durch die Krone des alten Kastanienbaums, der seit Generationen vor der baufälligen Scheune stand. Die Scharniere des doppelflügeligen Tores waren eingerostet. Von den zwei Flügeln ragte der linke schief in den Hof hinein, gehalten nur vom oberen Scharnier und eingegraben in den harten Lehmboden. In den Wänden der Scheune fehlten einige Holzlatten, viele waren gebrochen, die groben Ritze boten Wind und Wetter kaum Widerstand. Ebenso konnte das löchrige Dach kaum vor Regen schützen. Altes Heu lagerte hier noch als Zeuge vergangener und vermutlich besserer Zeiten. Durch die Luft tanzte Staub, den jeder leichte Windzug aufwirbelte.
Wenn die Sonne eine Lücke im dichten Laub des Baumes fand, fiel ein kurzer Lichtstrahl schmerzhaft in die Augen des Mannes, und er kniff sie rasch wieder zu. Er lag auf dem Rücken. Mit geschlossenen Augen waren wieder die Nebel in seinem Kopf da, und der Schmerz wanderte von den Augen zurück in seinen Magen. Seine großen Hände presste er auf seinen Bauch und meinte, eine gewisse Linderung zu spüren.
Warum liege ich hier in der Scheune?
Verwirrt öffnete er wieder die Augen und sah durch eines der Löcher im Dach in den blauen Himmel hinauf. Durch den alkoholgeschwängerten Nebel drangen bruchstückhafte Erinnerungen in sein Bewusstsein. Eine Flasche Doppelkorn? Die haute ihn doch normalerweise nicht um! Fast hätte er gelächelt, doch erneut traf ihn ein greller Lichtstrahl, und er schloss rasch die Augen. Wieder spürte er den Schmerz in der Magengegend. Seine Hände fühlten sich warm und glitschig an. Er hob die Linke vor seine Augen. Verwundert sah er das Blut, das sich mit dem Schmutz seiner Kleidung vermengt hatte.
Er schloss die Augen und ließ sich in den Nebel fallen, der sein Bewusstsein umgab. Das Bild von Heike, seiner Frau, erschien vor ihm, und er empfand unbändigen Zorn. Sie hatte ihm wieder Vorwürfe gemacht, er solle mit der Sauferei aufhören. Die hatte doch keine Ahnung, was er alles vertragen konnte! Kein Wunder, dass er Magenschmerzen hatte, bei dem Fraß, den sie ihm servierte.
Erneut verließ ihn das Bewusstsein.
Etwas kitzelte in seiner Nase. Dann spürte er, wie Heu unablässig auf ihn herabrieselte. Er nahm den leicht modrigen Geruch wahr und dass seine Hände von einer Lage Heu bedeckt waren. Es war ihm nicht unangenehm, und bevor der Schmerz, der in seinem Bauch rumorte, ihn erneut zusammenkrümmen ließ, sank er in eine Dämmerung zurück, aus der er nicht wieder erwachen sollte.
Unschlüssig stand Christian Kupery vor den Auslagen in der Bäckerei. Seine Frau, die sonst auf ein gesundes Frühstück für ihn achtete, war mit einer befreundeten Buchhändlerin zu einem Kollegentreffen gefahren. Daher genoss Kupery es, sich ein zweites Frühstück mit lecker belegten Brötchen gönnen zu können. Wenn nur die Auswahl nicht so schwerfiel.
»Also heute nehme ich mal …«, begann er, ohne den Satz zu beenden.
Die Bedienung hinter der Theke lächelte ihn erwartungsvoll an.
»Also …«, setzte er wieder an. »Ich sehe ja gar keine Mettbrötchen hier!«
Das Lächeln von Frau Engels, der freundlichen Dame hinter der Theke, wurde breiter. »Sie wissen doch, Herr Kupery, ich schmiere Ihnen auch gerne ein paar.«
Der Witz kam an, Kupery ließ ein dröhnendes Lachen vernehmen.
»Das glaube ich gerne! Dann machen Sie doch mal. Dazu noch ein Mehrkornbrötchen mit Schinken und Ei, Tomate, Salat und das ganze Gedöns.«
»Also wie immer, Herr Kupery!« Frau Engels drohte ihm scherzhaft mit dem Messer.
Kupery gab den Bekümmerten. »Ich bin ja jetzt Strohwitwer, und niemand kümmert sich so richtig um mich.«
Frau Engels machte den Spaß mit. »Aber Sie haben doch mich, mit all den leckeren Sachen.«
»Ja, aber sonst?« Er sah sie schelmisch an. »Wissen Sie, wenn ich jetzt 30 Jahre jünger wäre …«
»… und mindestens 20 Kilo leichter!«, dröhnte eine satte Baritonstimme in Kuperys Rücken.
Erfreut drehte er sich um. Sein Freund Schlotti war von ihm unbemerkt in den Laden gerollt. Schlotti, mit richtigem Namen Klaus-Peter Schlotthauer, saß im Rollstuhl, seit er bei einem Einsatz eine Schusswunde im Rücken erlitten hatte. Der ehemalige Polizist mit dem Oberkörper eines Bodybuilders war ungemein mobil, allseits beliebt und reagierte lediglich auf Mitleid äußerst allergisch.
Die Freunde begrüßten sich mit einer kurzen Umarmung.
»Ich war auf dem Weg zu dir in die Buchhandlung und wollte mir einen Kaffee schnorren«, sagte Schlotti, während er ebenfalls die Auslage der Bäckerei in Augenschein nahm.
»Aber gerne doch, mein Freund. Komm, ich lade dich auf ein Brötchen zum Frühstück ein. Lass mich raten. Du nimmst wie immer ein Roggenbrötchen mit Käse ohne Beiwerk, nur mit Butter.«
Frau Engels hatte sich bereits ein passendes Brötchen genommen.
»Wow!«, entfuhr es Kupery, als der durch das große Schaufenster nach draußen starrte. Schlotti drehte sich mit seinem Rollstuhl um, und beide bewunderten ein futuristisch anmutendes Auto, das vor der Bäckerei einparkte.
»Wow!«, machte nun auch Schlotti, als die Beifahrertür langsam wie ein Flügel nach oben schwebte.
Aus dem weißen Wagen stieg eine Frau mittleren Alters in einem leichten, hellen Leinenkleid, die Füße steckten in offenen Sandaletten. Ihr Gesicht wurde von einer sehr großen Sonnenbrille verdeckt, die sie beim Betreten der Bäckerei in ihr halblanges, brünettes Haar schob.
Frau Engels, noch mit der Fertigung der Brötchen beschäftigt, begrüßte die Kundin und fügte hinzu: »Ich bin gleich bei Ihnen.«
»Es eilt nicht. Außerdem waren die Herren ja vor mir da«, antwortete diese.
Frau Engels schmunzelte. »Die beiden Herren müssen sich erst mal aus ihrer Starre lösen.«
Kupery und Schlotti starrten tatsächlich weiter nach draußen, wo auch die Fahrertür nach oben schwebte. Es entstieg ein Mann mit sportlicher Figur, der das weite Hemd lässig über der Jeanshose trug. Als auch er die Bäckerei betrat, schätzte Kupery, dass der Mann mindestens so groß wie er selbst sein musste, und er empfand seine 195 Zentimeter schon als riesig. Der Neuankömmling schenkte den beiden Männern ein freundliches Nicken.
Kupery schüttelte ungläubig den Kopf. »Und Sie passen wirklich in diese Flunder? Respekt!«
Das Paar musste lachen, der Mann winkte lässig ab. »Ist gar nicht so schwierig, wie es aussieht!«
Nun mischte sich Schlotti ein. »Ja, rein geht ja vielleicht noch, aber man müsste meinen Freund mit einem Hebekran aus dem Auto hieven! Was ist denn das für ein Wagen?«, wollte er wissen.
Der Mann gab bereitwillig Auskunft. »Ein BMW, Modell I8, ein Hybrid.«
Kupery bezahlte soeben die Brötchen. »Komm, Schlotti, das ist nichts für uns. Der Wagen liegt ja so tief, da komme ich nur mit einem Bandscheibenvorfall wieder raus. Dann doch lieber weiter in meinen Bulli.«
Die Frau lächelte ihm zu.
»Sie haben recht. Da ist die Rundumsicht auch viel besser, und man kann die schöne Gegend hier überblicken.«
»So ist es«, brummte Schlotti zur Bestätigung.
Kupery wandte sich zum Gehen. »Vielen Dank, Frau Engels, für unser Frühstück.« Dann wandte er sich noch einmal an das Paar. »Und Ihnen einen schönen Tag hier. Genießen Sie unseren beschaulichen Ort.«
Die beiden bedankten sich und wandten sich der Kuchenauslage zu.
Unbeachtet blieb der grauhaarige Mann, der von einem der Tische des Cafébereiches die Szene verfolgt hatte. Erst als das Paar mit dem Sportwagen abgefahren war, griff der Mann zu seinem Handy.
Leise sprach er ins Telefon: »Rate mal, wer hier gerade in unserem schönen Städtchen aufgetaucht ist.«
Die Stimme seines Gesprächspartners klang missmutig. »Bist du jetzt unter die Quizmaster gegangen, oder was?«
»Nein, aber ich finde es doch bemerkenswert, dass die Novaks gerade hier eingetroffen sind.«
»Und? Muss ich die kennen?«
»Mein Lieber, Helena und Ivo Novak sind in der Baubranche groß geworden und gehören zu den Big Playern, wenn es um Stadtentwicklung und Großprojekte geht. Solche Leute sollte man kennen.«
»Du vielleicht, aber warum sollte mich das interessieren?«
»Ist es nicht merkwürdig, dass die beiden gerade jetzt hier in unserem schönen Lipperland auftauchen? Erst gestern las ich in der Presse, dass unser Landrat sich aus dem Fenster lehnte und gleich mehrere Medizinzentren für Lippe ankündigt hat. Wen das wohl auf den Plan gerufen haben könnte?«
Schweigen am Ende der Leitung, dann eine nachdenkliche, nicht mehr ganz so missmutige Antwort: »Du könntest recht haben. Danke für die Information. Ich werde die Sache im Blick behalten.«
Das Gespräch wurde beendet, und der Mann bestellte sich entspannt einen weiteren Kaffee. Er addierte das Telefonat zu weiteren erbrachten Gefälligkeiten, die bei passender Gelegenheit präsentiert werden konnten.
Das Gebäude in Sichtweite der Zuckerfabrik in Lage als nüchtern und zweckmäßig zu beschreiben, wäre noch die freundlichste Variante für das dreistöckige Bürohaus gewesen. Errichtet in den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, hatte es einige Jahre als Hauptsitz eines Finanzdienstleisters gedient. Nach der Jahrtausendwende und einigen Jahren des Leerstandes hatte der Bauunternehmer Norbert Hausmann das Haus erworben und in der dritten Etage ein bescheidenes Büro für sich und seine Schreibkraft eingerichtet. Da war er ganz Lipper, immer schön sparsam. Die erste und zweite Etage konnte er langfristig an eine neu gegründete Anwaltssozietät vermieten. Die junge Anwältin und ihre beiden Kollegen köderte er mit einer vergleichsweise geringen Miete, deren Höhe er aber kontinuierlich anpasste. Der Anwaltskanzlei war es wichtig gewesen, dass hinter dem Haus ausreichend Parkplätze zur Verfügung standen.
All dies kam Norbert Hausmann in den Sinn, als er langsam seine Limousine hinter dem Haus auf den für ihn reservierten Parkplatz lenkte. Ächzend hievte er seine beachtliche Leibesfülle aus dem Wagen, öffnete die hintere Tür und griff nach einer alten, schon abgewetzten Aktentasche. Diese Tasche umrankten Gerüchte, denn niemand konnte sich erinnern, Norbert Hausmann jemals ohne sie gesehen zu haben.
Hausmann konnte den Zwang nicht unterbinden, die Stufen mitzuzählen. Er wusste, dass es sechsunddreißig Treppenstufen waren, bis er vor dem Eingang zum Büro stand. Trotzdem. Oben angekommen, nahm er sich Zeit, seinen Puls und seine Atmung zu beruhigen. Er wollte ausgeruht, jung und dynamisch erscheinen. Nicht nur vor Frau Hofmann, die ihm seit vielen Jahren die Treue hielt und deren Tätigkeit mit Schreibkraft nur unzureichend beschrieben wurde. Sie war neben Sekretärin auch manchmal seine Seelentrösterin.
Vor allem war es sein Kompagnon, Klaus Traber, dem er keine Schwäche offenbaren wollte. Gerade heute nicht, denn er hatte eine Ahnung, dass es in dieser Sache besonders wichtig sein würde.
Schwungvoll betrat er das Vorzimmer und schmetterte wie immer ein freundliches »Tach auch« in den Raum.
Frau Hofmann tat ihm den Gefallen und zuckte merklich zusammen, um dann süffisant anzumerken: »Hallo Chef! Forsch wie immer.«
Hausmann steuerte auf die Rechte von zwei Bürotüren zu und fragte im Vorbeigehen: »Liegt was an?«
»Die Post liegt wie immer auf Ihrem Schreibtisch.«
Schon war er in sein Büro verschwunden.
Der Raum war nur spärlich möbliert. Ein rechtwinkliger Schreibtisch in hellem Buchenfurnier, den er vor Jahren zusammen mit einem passenden Rollcontainer aus einem Nachlass übernommen hatte. Davor stand ein großer Ledersessel, der gerade Platz für Hausmanns ausladendes Hinterteil bot. Das in die Jahre gekommene Leder glänzte speckig, und eine Naht am Sitzkissen war auf gut fünf Zentimetern aufgerissen. Vor dem Schreibtisch standen zwei Besucherstühle mit schwarzem Stoffbezug. Noch tadellos in Schuss. Ein Zeichen dafür, dass Hausmann nicht oft Besucher in seinem Büro empfangen hatte. Die in der Nähe stehende, altmodische Kommode aus massivem Kiefernholz würde man heute in einem Möbelhaus mit schwedischem Flair vergeblich suchen. An der Wand hingen vergilbte, großformatige Baupläne.
Hausmann hängte sein Jackett über die Lehne eines Besucherstuhls, öffnete den Hemdkragen und lockerte die Krawatte. Sein weißes Hemd zeigte unter den Achseln große Schweißflecken, dabei war der Sommer noch gar nicht auf Touren gekommen. Er warf einen uninteressierten Blick auf die wenigen Briefe, die Frau Hofmann für ihn bereitgelegt hatte. Dann schloss er die Augen und konzentrierte sich auf das Gespräch, das vor ihm lag. Etwas hatte in der Stimme seines Kompagnons gelegen. Etwas, das ihn zur Vorsicht gemahnte. Er schloss die Augen. Jetzt musste er voll konzentriert sein.
* * *
Hausmann erhob sich und schritt langsam aus seinem Büro. Frau Hofmann saß vor einem Bildschirm, hatte Ohrhörer aufgesetzt und tippte ein Diktat ab, das Klaus Traber in eines dieser neumodischen, kleinen digitalen Aufzeichnungsgeräte gesprochen hatte. Ohne anzuklopfen, betrat er das Büro seines Kompagnons. Der telefonierte und deutete mit einer Handbewegung an, er solle sich doch setzen.
Hausmann blieb noch einen Moment stehen und nahm die Atmosphäre des Raumes auf. Er war ja nicht zum ersten Mal hier, aber heute erschien ihm alles noch eine Spur kälter. Die modernen Büromöbel mit den Chromgestellen, die schwarzen Regale, die ihren Inhalt hinter Rauchglastüren verbargen. Die aus ebensolchem Rauchglas gefertigte Schreibtischplatte, auf der sich lediglich ein großer Monitor, eine Tastatur, eine Computermaus und ein Telefon mit großem Display und mehreren Schaltern neben der Nummerntastatur befanden. Das Telefon wirkte neben dem futuristisch anmutenden Apple iMac fast antik.
Klaus Traber wippte beim Telefonieren in seinem Bürosessel lässig vor und zurück. Hausmann neidete seinem Kompagnon ein wenig dessen jugendliche Ausstrahlung. Zehn Jahre Altersunterschied machten sich schon bemerkbar. Traber wirkte agiler, dynamischer und immer irgendwie auf dem Sprung. Hausmann sinnierte einen Augenblick darüber, ob auch er vor zehn Jahren so auf seine Umwelt gewirkt hatte. Allerdings wäre er nie auf die Idee gekommen, sein Haar lang zu tragen und immer adrett zu einem kleinen Pferdeschwanz zu binden. Auch Trabers Kleidung fand er affektiert. Dieser trug Anzüge und Hemden, die maßgeschneidert wurden. Über dem Hemd trug er breite, rot leuchtende Hosenträger, die ihm ein wenig das Aussehen eines Brokers aus den amerikanischen Filmen über die Wallstreet verliehen.
Hausmann drehte sich um und schickte sich an, das Büro wieder zu verlassen.
Traber beendete rasch sein Telefonat. »Gut, wir reden später noch einmal darüber. Zunächst einmal vielen Dank.« Er legte auf. An Hausmann gewandt, machte er eine einladende Handbewegung. »Setz dich doch.«
Hausmann schielte auf die Besucherstühle vor dem Schreibtisch. »Ich weiß nicht, ob die mit meiner Gewichtsklasse klarkommen!« Dann schob er einen Stuhl zurück und nahm umständlich Platz. Dabei fragte er: »Was liegt an?«
Traber klickte mit der Maus und sah kurz auf den Monitor, den Hausmann von seiner Position aus nicht einsehen konnte. Dann schaute er Hausmann an. »Nun, zunächst einmal, wusstest du, dass sich Ivo Novak hier in Lippe umsieht?«
Hausmann hob die Schultern. »Nein, aber ich denke, es schauen sich viele Touristen unser schönes Lipperland an.«
Traber bedachte ihn mit einem verächtlichen Grinsen, das Hausmann nicht entging. Sollte der doch glauben, dass er alt und senil wurde.
Traber klärte ihn auf. »Ivo Novak ist in derselben Branche wie wir tätig. Er firmiert unter NENTIS, Stammsitz in Frankfurt am Main, Investor und Bauträger. Ist eigentlich eine Nummer zu groß für Lippe. Aber man weiß ja nie. Hast du etwas erfahren zu Planungen, die uns interessieren könnten? Was hat es mit den angekündigten Medizinzentren auf sich?«
Hausmann schüttelte leicht den Kopf. »Du sprichst die Ankündigungen des Landrates an? Außer dem, was in der Presse steht, ist nichts zu hören.« Er verschwieg, dass der Flurfunk im Kreishaus dazu durchaus Gerüchte verbreitete. Ein alter Instinkt hielt ihn davon ab, hierüber zu berichten. Wegen dieser Geschichte hatte ihn sein Kompagnon bestimmt nicht um ein Gespräch gebeten.
»Nun gut«, bemerkte Traber mit einem weiteren Blick auf seinen Monitor. »Kommen wir zu einem wirklich wichtigen Thema. Du hast bestimmt mitbekommen, dass das Finanzamt eine Prüfung angesetzt hat.«
Hausmann hasste diesen oberlehrerhaften Ton! Er bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Ja klar. Steuersachen erledigt der Petersen doch seit Jahren zuverlässig für uns.«
Traber schüttelte kurz den Kopf. »Nein, nicht mehr! Petersen hat seine Steuerberatung schon vor drei Jahren einem Nachfolger übergeben. Ich habe der Übertragung unseres Mandats auf den Nachfolger nicht zugestimmt. Stattdessen habe ich die mir besser bekannte Steuerberaterin und Wirtschaftsprüferin Krüger beauftragt.«
»Das hätte der Petersen mit seiner Erfahrung und seinen Kontakten zum Finanzamt noch gut für uns regeln können«, brauste Hausmann auf, »du hast ihn doch nur geschasst, damit du deiner Freundin einen Gefallen tun konntest. Das kannst du eigentlich nicht machen!«
»Doch, das kann ich!«, erwiderte Traber süffisant. »Schau dir mal unseren Gesellschaftervertrag an.« Traber saß jetzt kerzengerade in seinem Sessel. »Frau Krüger hat sich die Unterlagen für den Prüfungszeitraum noch einmal genau angeschaut und dabei Interessantes gefunden.«
Hausmann hatte sich vorgebeugt und saß nur noch auf der Stuhlkante. Seine massigen, schweißnassen Hände stützten sich auf der Rauchglasplatte ab und hinterließen unschöne Schlieren. Er fixierte sein Gegenüber aus kleinen, schmalen Augen.
»Um es kurz zu machen: Aus unserer Firma sind in den vergangenen zwei Jahren gut 100.000 Euro abgeflossen!« Traber machte eine Pause, um Hausmann Zeit für eine Reaktion zu geben.
Die bestand jedoch nur aus einem sorglosen: »Ach ja?«
Traber wurde wütend. »Ach ja! Jeweils im ersten Quartal des Jahres wurden Barbeträge von circa 50.000 Euro entnommen. Dazu gibt es lediglich Handnotizen von dir mit der Bemerkung für Horst Beckmann‹!«
»Na und?«, schnaubte Hausmann verächtlich. »Der Horst ist seit Jahren für uns tätig. Für die Kleinreparaturen und sonstigen Krams hat er immer sein Geld in einer Summe für das zurückliegende Jahr bekommen.«
»Horst Beckmann ist schon vor Jahren in Rente gegangen! So kann man heute nicht mehr arbeiten!« Trabers Tonfall wurde schärfer. »Das hast du vielleicht vor dreißig Jahren machen können.«
Hausmann grinste mit einem schiefen Lächeln. »Noch bin ich der Chef hier, das ist meine Firma!« Er stellte dies sachlich, geradezu ruhig fest.
Es verfehlte die beabsichtigte Wirkung nicht. Traber wurde zunehmend nervös und wollte soeben aufbrausend antworten. Er konnte sich jedoch noch einmal zurücknehmen und gab sich ebenso ruhig.
Jedoch entging Hausmann nicht, dass es in Traber innerlich brodelte wie in einem Vulkan, kurz vor einem heftigen Ausbruch.
»Nun, Beckmann ist verreist, und ich konnte ihn nicht erreichen.« Er beobachtete sein Gegenüber genau, Hausmann zeigte aber keine Regung. Daher fuhr er fort: »Vielleicht hast du ja auch still deine Einlage aus der Firma abgezogen?« Traber ließ die Frage im Raum stehen.
Hausmann beugte sich noch weiter vor. Er frage gefährlich leise: »Was willst du eigentlich?«
Traber lehnte sich zurück und schaute ihn triumphierend an. »Entweder fließt das Geld umgehend zurück oder …« Er machte eine theatralische Pause.
Hausmann fixierte seinen Partner, stand dann langsam auf. Von oben herab ließ er ihn wissen: »Ich regle das. Auf meine Weise. Und du«, sein Zeigefinger und Daumen zeigten wie eine Pistole auf Trabers Brust, »du erklärst mir dann ausführlich, woher die exorbitant hohen Umsätze mit Firmen im Ruhrgebiet kommen. Du schreibst hohe Rechnungen, die sofort bezahlt werden. Nur dass die Rechnungssummen umgehend vom Firmenkonto in bar abgehoben werden. Wo ist das Geld geblieben? Jedenfalls nicht in unserem Tresor oder in meiner Tasche!« Dann drehte er sich um und umrundete den Besucherstuhl, stütze sich auf die Rückenlehne und sah Traber durchdringend an. Sehr leise, gerade so, als ob er unliebsame Zuhörer befürchten würde, ließ er seine Bombe platzen: »Ich habe in der letzten Woche einen Freund getroffen, der mir steckte, dass du dich an Projekten beteiligt hast, auf deren Baustellen unterbezahlte Arbeiter aus Ostblockstaaten schuften mussten. Er hätte da ein paar delikate Informationen, an deren Veröffentlichung du kein Interesse haben könntest – der Zoll aber umso mehr.«
Hausmann richtete sich auf. Bevor er das Büro seines Kompagnons verließ, setzt er noch hinzu: »Das wäre dann auch noch zu klären.«
Kupery und Schlotti saßen im Büro der Buchhandlung und ließen sich das zweite Frühstück schmecken. Kupery hatte aus seinem chromblitzenden Ungetüm köstlichen Kaffee gezaubert und wartete nun gespannt auf Schlottis Urteil über die neue Kaffeesorte.
»Und? Was sagst du?«
Schlotti schlürfte noch einmal vernehmlich an der Tasse. Dann stellte er sie ab, wiegte nachdenklich den Kopf hin und her, um dann kundzutun: »Also ich als Beutelipper kann dazu nur sagen: kann man trinken.«
Kupery verbarg seine Enttäuschung nicht.
Schlotti aber lachte. »Komm schon, alter Freund. Das ist doch das höchste Lob, das ein Lipper zu vergeben hat. Im Ernst, er schmeckt vorzüglich. Aber wie du weißt, habe ich erst vor ein paar Jahren mit dem Rauchen aufgehört, und meine Geschmacksknospen haben sich noch nicht so weit regeneriert, dass ich hier als kompetenter Testtrinker auftreten könnte.«
Kupery wollte gerade zu einer Entgegnung ansetzen, als die Türglocke einen Kunden vermeldete. Schlotti wunderte sich, dass sein Freund ruhig sitzen blieb. »Musst du da nicht hin?«
Kupery blieb entspannt. »Marianne hilft so lange aus, bis Susanne wieder da ist. Wenn’s richtig brummt, holt sie mich schon.«
Wie aufs Stichwort tauchte Mariannes Kopf in der Bürotür auf. »Christian, jetzt musst du kommen.« Und schon war sie wieder verschwunden.
Kupery wuchtete sich aus seinem Sessel. Das Feixen von Schlotti übersah er geflissentlich.
Vor der Kasse im Buchladen stand eine kleine Reihe von Kunden. Kupery begrüßte alle mit der Frage: »Ist wieder ein Bus angekommen?«
Man kannte ihn, und alle grinsten und grüßten zurück. Während Marianne von einer Kundin mit einer wohl umfangreicheren Recherche zu einem Buch beschäftigt wurde, kassierte Kupery und gab bestellte Bücher aus. Dann blickte er sich um und entdeckte zu seiner Überraschung die Frau aus der flachen Flunder vor der Bäckerei. Sie hatte ihre große Sonnenbrille in ihr Haar gesteckt und schaute sich interessiert um.
Kupery sprach sie an. »Wie kann ich Ihre Suche unterstützen?«
Sie schaute auf, erkannte ihn offenbar wieder, und ein Lächeln legte sich auf ihr Gesicht. »Danke, gar nicht. Ich möchte mich lediglich umschauen. Mein Mann wollte noch ins Rathaus. Ich jedoch fand diese Buchhandlung wesentlich interessanter.«
Kupery gefiel sich in der Rolle des Charmeurs.
»Sie haben einen sehr guten Geschmack.« Sie blickte in die Runde. »Mir gefällt dieses Zusammenspiel von Alt und Neu. Und natürlich die schöne Stuckdecke. So etwas findet man nicht mehr häufig.«
Stolz wollte Kupery noch über die Geschichte des Hauses und der 1865 gegründeten Buchhandlung erzählen. Da kam ihr Mann aber schon in den Laden und gesellte sich zu ihnen. Auch er ließ einmal seinen Blick schweifen und sagte zu seiner Frau: »Das gefällt dir, nicht wahr? – Können wir weiter? Ich habe im Rathaus alles erledigt. Wir können ja noch einmal wiederkommen.«
Mit einem bedauernden Schulterzucken wandte sich die Frau ab. Kupery wünschte den beiden eine schöne Zeit und verschwand wieder ins Büro.
Schlotti hatte sich die Zeit mit Penny vertrieben. Die Hündin lag in der Regel unter Susanne Kuperys Schreibtisch, ließ sich allerdings für Leckerlis und Streicheleinheiten gerne hervorlocken. Die kniehohe Hündin mit griechischen Wurzeln war ein hübscher Mischling, bei dem die Labradorlinie optisch dominierte.
Kupery fragte noch im Hereinkommen: »Du hast sie doch wohl nicht gefüttert?«
»Auf keinen Fall«, wehrte Schlotti scheinheilig ab. »Das würde ich nie tun. By the way: Wann kommt Susanne zurück?«
»Ich hole sie morgen Vormittag am Bahnhof ab.«
»Dann ist es wohl erst einmal vorbei mit dem zweiten Frühstück.«
Theatralisch ließ sich Kupery in seinen Sessel fallen.
»Da gibt’s dann auch keine Mettbrötchen mehr!«, bohrte Schlotti den Stachel tiefer ins Fleisch.
Kuperys Monitor gab einen Ping-Ton von sich. Nach einem kurzen Blick auf das Gerät wandte er sich an seinen Freund.
»Du, ich geh gleich noch zum Hof von Peter Becker. Willst du mich nicht begleiten?«
»Nee, hab andere Pläne. Aber was willst du denn bei diesem Miesepeter?«
»Ich habe ihm vor Wochen ein altes Wagenrad zum Restaurieren gegeben. Es sollte schon längst fertig sein. Ich habe aber nichts mehr von ihm gehört.«
Schlotti machte eine abwertende Geste. »Vielleicht hat er es endlich geschafft, sich totzusaufen.«
Kupery nickte zustimmend. »Ich frage mich immer wieder, wie seine Frau es mit ihm so lange aushält.«
* * *
Heike Becker parkte den alten Subaru vor dem Haus und trug die Einkäufe in die Küche. Sie hatte mal wieder Koteletts im Angebot erstanden. Dazu würde es Salat aus dem eigenen Garten geben. Die eigenen Kartoffeln waren noch nicht so weit, daher hatte sie noch welche gekauft. Zu gern hätte sie einmal Nudeln oder Reis serviert, aber ihr Mann bestand auf Kartoffeln. Dazu musste es reichlich Sauce geben. Dass diese schon seit Längerem aus dem Tetrapack kam, hatte Peter bis jetzt nicht mitbekommen. Ihm schmeckte es so. Nicht, dass er sie dafür einmal gelobt hätte. Aber sie war schon froh, dass ihr Essen nicht mehr Anlass war für einen Wutausbruch und Gewalttätigkeiten gegen sie.
Heike zuckte erschreckt zusammen, als ein Mann die Küche betrat. Rasch entspannte sie sich aber wieder. Es war ihr Bruder, Jens Pölter, den alle nur »den Trapper« nannten. Das lag vor allem an seiner Kleidung. Die bestand stets aus einer verwaschenen Jeans, einem löchrigen Shirt und einer braunen Lederjacke, an deren Nähten noch ein paar kümmerliche Fransen von besseren Zeiten erzählten. Aus der wettergegerbten Haut seines Gesichts schauten zwei hellblaue, wachsame Augen hervor.
»Ist er da?«, fragte er anstelle einer Begrüßung.
Heike Becker schüttelte nur den Kopf.
Beruhigt nickte der Trapper. »Wie geht es dir?«, wollte er von seiner Schwester wissen. Beinahe zärtlich legte er ihr eine Hand auf den Arm.
Sie zuckte augenblicklich zurück und verzog schmerzhaft das Gesicht.
Obwohl er die Antwort kannte, fragte der Trapper: »Hat er dich wieder geschlagen, das Schwein?«
Heike gab keine Antwort und trat noch einen Schritt von ihrem Bruder weg.
»Du brauchst das vor mir nicht zu verstecken. Raus mit der Sprache.«
Heike drehte sich um und sprach mehr zu den Töpfen, die auf dem Herd standen: »Er schlägt nicht mehr ins Gesicht, wo es alle sehen können. Aber Arme, Rücken, Po … wo halt sein Gürtel trifft.«
Der Trapper konnte es nicht sehen, aber er wusste, dass seine Schwester weinte. »Heike! Warum haust du nicht einfach ab? Der Kerl hat dich doch gar nicht verdient.«
»Ach Jens«, es war nicht mehr als ein leises Wimmern. »Wo soll ich denn hin? Wovon soll ich denn leben? Du weißt doch, dass ich nur den Hauptschulabschluss habe und keine Lehre gemacht habe. Ich habe doch immer nur hier auf dem Hof gearbeitet.«
Natürlich wusste Jens das alles, aber es überkam ihn wieder einmal diese unbändige Wut. »Ich bringe ihn um!«, sagte er düster. »Irgendwann ramme ich ihm die Hörner unserer Ochsen in seinen jämmerlichen Leib. Vorher zahle ich ihm jeden Schlag mit meinem Gürtel heim.«