10,99 €
»Die Stärke des Wolfs liegt im Rudel« (Rudyard Kipling) Wölfe streifen durch die Senne. Wie Schatten aus längst vergangenen Tagen wandern sie durch das Gebiet, das schon zu Kaisers Zeiten als Truppenübungsplatz diente. Nur selten erblickt ein Mensch die scheuen Tiere. Sie stellen keine Gefahr dar. Im Gegensatz zu den Wölfen auf zwei Beinen. Diese bereiten sich hier auf den Tag vor, an dem ihre Reichsfantasien endlich das ganze Land zu alter Größe erwachen lassen sollen. Sie trainieren hart, üben sich an Waffen und dulden keine Schwachen in ihren Reihen. Als ein junger Mann tot am Rande des Übungsplatzes aufgefunden wird, gerät Kuperys Freund, der Trapper, ins Visier der Ermittler. Er setzt sich ab und verstärkt dadurch den Eindruck, für die Tat verantwortlich zu sein. Nur Kupery glaubt seinen Unschuldsbeteuerungen. Und geht auf die Jagd.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 217
Jörg Czyborra
Vom Autor bisher bei KBV erschienen:
Ochsentour
Sennefeuer
Jörg Czyborra wurde 1956 in Mülheim an der Ruhr geboren. Sein Vater brachte ihm die ersten Griffe auf der Gitarre bei. Seither begleitet die Musik sein Leben. Nach der Ausbildung zum Bankkaufmann und diversen Stationen in Handel und Industrie war er zuletzt in der Buchhandlung seiner Frau als »Assistent der Geschäftsleitung« tätig. Heute wohnt er in Oerlinghausen, dem westlichen Zipfel von Lippe. Wenn er nicht gerade schreibt, literarisch-musikalische Vorträge konzipiert oder mit seinem Freund Joachim H. Peters an neuen Kabarettprogrammen bastelt, genießt er mit seiner Frau den wohlverdienten (Un-)Ruhestand.
In seiner Krimireihe um Christian Kupery verarbeitet er zahlreiche persönliche Erlebnisse aus seiner Wahlheimat Lippe.
Jörg Czyborra
Lipperland-Krimi
Originalausgabe
© 2024 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim
www.kbv-verlag.de
E-Mail: [email protected]
Telefon: 0 65 93 - 998 96-0
Umschlaggestaltung: Ralf Kramp
Lektorat: Volker Maria Neumann, Köln
Druck: CPI books, Ebner & Spiegel GmbH, Ulm
Printed in Germany
ISBN 978-3-95441-699-8 (Taschenbuch)
ISBN 978-3-95441-710-0 (e-Book)
Die Stärke des Wolfs liegt im Rudel.
(Rudyard Kipling)
1. KAPITEL
2. KAPITEL
3. KAPITEL
4. KAPITEL
5. KAPITEL
6. KAPITEL
7. KAPITEL
8. KAPITEL
9. KAPITEL
10. KAPITEL
11. KAPITEL
12. KAPITEL
13. KAPITEL
14. KAPITEL
15. KAPITEL
16. KAPITEL
17. KAPITEL
18. KAPITEL
19. KAPITEL
20. KAPITEL
21. KAPITEL
22. KAPITEL
23. KAPITEL
24. KAPITEL
25. KAPITEL
26. KAPITEL
27. KAPITEL
28. KAPITEL
29. KAPITEL
30. KAPITEL
31. KAPITEL
32. KAPITEL
33. KAPITEL
34. KAPITEL
35. KAPITEL
36. KAPITEL
37. KAPITEL
38. KAPITEL
39. KAPITEL
40. KAPITEL
41. KAPITEL
42. KAPITEL
43. KAPITEL
DANKSAGUNG
»Bleiben Sie zuversichtlich.« Der Moderator beendete die Nachrichtensendung wie immer mit dieser Aufforderung.
Christian Kupery hielt die Fernbedienung bereits in der Hand und schaltete den Fernseher aus. »Was sollen wir denn auch sonst machen?«, grummelte er leise vor sich hin. Er hatte sich soeben eine halbe Stunde der Gewissheit hingegeben, dass die Welt verrückt geworden war. Da beschwerte sich ein Aggressor, der ohne Skrupel sein Nachbarland überfallen hatte und tausendfach Opfer unter der Zivilbevölkerung in Kauf nahm, dass man seine Kriegsschiffe angriff. In der Türkei und in Syrien mussten auch ein halbes Jahr nach einem verheerenden Erdbeben die Menschen noch auf der Straße leben. In Deutschland wunderte sich ein leibhaftiger Prinz, dass er nach einem aufgedeckten Putschversuch gegen die demokratische Ordnung des Landes weiterhin in Haft bleiben musste. Und die Wetterfee kündigte eine tropische Nacht an, mit Temperaturen nicht unter zwanzig Grad Celsius.
Kupery schlurfte in die Küche und lugte in den Kühlschrank. Mit Freude entdeckte er die angebrochene Flasche Rosé, nahm ein großes Glas und goss sich großzügig ein. Er warf noch einen Blick in die Schublade, in der Susanne, seine Frau, die Schokolade aufbewahrte. Aber die war leer.
Zurück im Wohnzimmer, ließ er sich in dem bequemen Sessel nieder, stellte das Glas auf den kleinen Beistelltisch und griff nach dem Buch, das ihm Susanne bereitgelegt hatte. Susanne betrieb seit vielen Jahren in Oerlinghausen, am westlichen Zipfel von Lippe, eine kleine Buchhandlung, deren Gründung auf das Jahr 1865 zurückging. Christian bezeichnete sich gerne als Assistent der Geschäftsleitung, überließ das operative Geschäft aber seiner Frau und deren Mitarbeiterinnen. Er war immer dann zur Stelle, wenn die EDV mal wieder zickte, wenn Fahrdienste oder Auslieferungen anstanden. Natürlich half er auch gerne im Laden aus und beriet die Kunden, wenn es um Mord und Totschlag ging. Daher hatte ihm Susanne auch den Titel eines ihm gut bekannten Krimiautors bereitgelegt. Es war das Vorab-Exemplar eines Buches, das erst Ende Oktober erscheinen würde, und Kupery freute sich auf die Lektüre, die ihm schon jetzt, Anfang August, wohlige Schauer bereiten sollte. Er nahm noch einen großen Schluck vom Wein, rekelte sich bequem in den Sessel, legte die Füße auf den kleinen Hocker und schlug die erste Seite auf.
Es lag bestimmt nicht an der Qualität des Lesestoffes, dass Kupery schon bald darauf die Augen zufielen und er in die Stille und den Frieden der Nacht versank.
Ein rhythmisches Brummen holte ihn aus dem Reich der Träume zurück. Kupery schaute sich zunächst verwirrt um, bis er begriff, wo er sich befand. Das Buch war ihm in den Schoß gerutscht, das Weinglas fast geleert, und die alte Stehlampe beleuchtete nur den Sessel, während der Rest des Wohnzimmers im Halbdunkel lag. Das Brummen war verschwunden. Kupery konnte sich nicht erklären, was für ein Geräusch ihn geweckt hatte. Es wurde ihm aber sofort klar, als das Brummen erneut einsetzte. Er hatte sein Handy auf lautlos geschaltet, aber der Vibrationsalarm funktionierte noch. Kupery schaute sich suchend um. Auf dem Beistelltisch lag das Gerät, brummend und mit leuchtendem Display. Kupery nahm es auf.
»Ja?«, fragte er noch schlaftrunken.
»Ich bin’s«, japste eine nervöse Stimme.
»Und wer ist ›Ich bin’s‹?«, hakte Kupery schleppend nach.
»Na, der Trapper! Erkennst du mich denn nicht?«
Kupery sah auf seine Armbanduhr. »Jens? Okay, wie kommst du zu der Annahme, ich sei um halb zwei in der Nacht noch in der Lage, dich an deiner Stimme zu erkennen?«
»Mensch, Christian, ich bin wirklich verzweifelt, ich brauche deine Hilfe.«
Kupery wurde nun doch wach. In der Stimme lag tatsächlich Verzweiflung. Er räusperte sich. »Ist schon gut, Jens. Was ist denn los?«
»Hast du mich nicht verstanden? Ich brauche deine Hilfe, Christian.«
»Das habe ich verstanden. Also, wo drückt der Schuh?«
Jens wurde jetzt offenbar ein wenig ruhiger.
»Das kann ich dir am Telefon nicht alles erklären. Kannst du zu mir kommen?«
»Klar, für meine Freunde bin ich immer da. Wann hast du Zeit die Tage?«
»Kannst du jetzt sofort kommen?«
»Jetzt sofort? Mitten in der Nacht?«
Der Trapper klagte nun fast flehentlich: »Ja, bitte. Ich weiß sonst echt nicht mehr weiter.«
»Ist schon gut, Jens. Ich mach mich gleich auf den Weg und komme zu dir auf den Hof.«
»Nein!« Jens schrie es fast durch das Telefon. »Nicht auf den Hof! Der wird wahrscheinlich überwacht. Kennst du die Aussichtsplattform am Augustdorfer Dünenfeld? In der Nähe führt eine Straße vorbei. Dort können wir uns treffen.«
Kupery war jetzt endgültig hellwach.
»Ich kenne das Gelände. Ich kann in zwanzig Minuten da sein.«
Jens atmete erleichtert auf. »Das ist gut. Und noch was.« Er machte eine verlegene Pause. »Kannst du ’nen Becher Kaffee mitbringen?«.
»Das wird sich machen lassen. Aber vorher muss ich eins wissen. Was ist passiert? Warum wird dein Hof überwacht?«
Kupery konnte Jens schlucken hören.
»Die Kripo hält mich für einen Mörder!«
Kupery schaltete die alte Stehlampe aus und schlurfte in die Küche. Auf dem Weg warf er einen kurzen Blick ins Schlafzimmer. Susanne schlief den Schlaf der Gerechten. Sie hatte früh am Abend den Schlaftrunk aus der Apotheke genommen, und Kupery war der festen Überzeugung, dass neben seiner Frau jetzt auch die Welt untergehen könnte, ohne dass sie aufwachte. Trotzdem schloss er leise die Türe zum Schlafzimmer, und auch die Küchentüre schloss er vorsichtshalber hinter sich. Dann erst schaltete er die kleine Kaffeemaschine an. Das Mahlwerk machte einen höllischen Lärm.
Bald darauf hatte er zwei Thermobecher gefüllt und einen kleinen Zettel für Susanne auf den Küchentisch gelegt. Bin gleich wieder da, stand darauf. Er hoffte doch sehr, dass er vor Susannes Erwachen wieder zu Hause sein würde, aber sicher war sicher.
Er schlich sich wie ein Dieb aus dem Haus und bestieg seinen Bulli. Durch das nächtliche Oerlinghausen fuhr er am Segelflugplatz vorbei nach Stukenbrock und weiter Richtung Augustdorf. Obwohl er sich eigentlich sicher war, wie er zu fahren hatte, ließ er sich doch den Weg von seinem Navigationsgerät anzeigen. Fast hätte er dann auch die Abbiegung verpasst, als die freundliche Stimme aus dem Gerät ihn aufforderte: »Jetzt links abbiegen.« Kurze Zeit später verkündete die Stimme: »Sie haben Ihren Zielort erreicht. Das Ziel liegt auf der rechten Straßenseite.«
Kupery fuhr rechts auf den Seitenstreifen, stellte den Motor ab und die Scheinwerfer aus. Angestrengt starrte er in die Dunkelheit. Die Aussichtsplattform war nur schemenhaft zu erkennen. Er grübelte darüber, wie er hier überhaupt jemanden ausfindig machen sollte. In diesem Moment wurde die Beifahrertüre aufgerissen, und der Trapper schwang sich auf den Sitz. Rasch schloss der die Türe wieder, und die Innenbeleuchtung erlosch.
Als Kupery die Hand nach dem Schalter für die Beleuchtung ausstreckte, zischte der Trapper knapp: »Nicht einschalten!«
Kupery tat wie ihm geheißen. Er griff nach einem Thermobecher und reichte ihn weiter. »Ja, dir auch einen wunderschönen guten Morgen, lieber Jens«, ließ er sich sarkastisch vernehmen.
Jens, der Trapper, fluchte leise. Er hatte den Kaffee zu gierig geschlürft und sich dabei die Zunge verbrannt. »Teufel, ist der heiß!« entfuhr es ihm. Erst dann wandte er sich Kupery zu. »Guten Morgen und vielen Dank, dass du gekommen bist.«
Obwohl Kupery viele Fragen durch den Kopf schossen, ließ er seinem Freund Zeit, sich zu sammeln.
Jens schnaufte mehrfach tief durch und nippte nun vorsichtiger am Kaffee. »Ahhh, das tut gut. Danke. Nicht nur für den Kaffee.«
Kupery hielt den Thermobecher in beiden Händen. Auch er nippte vorsichtig an dem heißen Getränk. Dann wandte er sich an Jens. »Okay, das ist jetzt bestimmt eine ganz spannende Geschichte, mit der du mich mitten in der Nacht aus dem Bett lockst.«
Trotz der Dunkelheit konnte er erkennen, wie Jens bestätigend nickte.
»Ich wusste einfach nicht mehr, an wen ich mich sonst noch wenden sollte. Ich habe zunächst versucht, Schlotti zu erreichen. Aber der geht nicht ans Telefon.«
Das klang ein wenig traurig, sodass Kupery sich veranlasst sah, Jens aufzuklären. »Das glaube ich gerne. Der ist doch mit Nehir in Urlaub gefahren. Ich kann mir vorstellen, dass die beiden Turteltäubchen ihre Handys ausgeschaltet haben.«
»Na, wenn das so ist. Dann kann er mir sowieso nicht helfen.« Jens’ Stimme war sehr leise geworden.
Kupery konnte ihn kaum verstehen. Um ihn aufzurütteln, fragte Kupery direkt nach. »Jetzt mal Butter bei die Fische, Jens! Warum bin ich hier? Wieso hält dich die Kripo für einen Mörder?«
Jens setzte sich aufrecht in seinen Sitz. Sein Gesicht wandte sich nun Kupery zu. »Wo soll ich denn anfangen?«
Auch wenn das nur eine rhetorische Frage war, konterte Kupery mit unverhohlenem Ärger. »Ganz am Anfang wäre schon eine gute Idee!«
Durch Jens ging ein Ruck. Mit fester Stimme berichtete er nun. »Gestern Morgen war ich unterwegs. In der Nähe des Truppenübungsplatzes, so in Höhe des Dreiflusssteins, bin ich bei meinen Streifzügen über die Leiche eines jungen Mannes gestolpert. Ich habe natürlich sofort die 110 angerufen. Dann musste ich auf deren Eintreffen warten, und ich habe denen genau erklärt, wie ich den gefunden habe, dass ich nichts angefasst habe, und so weiter. Die Beamten haben dann meine Personalien aufgenommen. In der Zwischenzeit kamen auch ein Krankenwagen und ein Notarzt. Die haben den Mann auf die Trage gelegt und sind mit ihm davongefahren.« Jens gönnte sich noch einen Schluck Kaffee.
In die Pause fragte Kupery nach: »War der Mann denn wirklich tot? Oder nur verletzt? Wieso sprichst du von einer Leiche?«
Jens hob abwehrend eine Hand.
»Ob er schon tot war oder nicht, konnte ich gar nicht erkennen. Der lag doch auf dem Bauch. Aber er rührte sich nicht mehr. Eine Verletzung konnte ich auch nicht erkennen. Wie gesagt, ich habe ihn nicht angefasst. Ich dachte also, ich hätte meine staatsbürgerliche Pflicht erfüllt und man würde mich gehen lassen.«
Verwundert fragte Kupery nach: »Hast du denn nicht nach dem Puls gefühlt oder geprüft, ob der Mann noch atmet? Schon mal was von stabiler Seitenlage gehört?«
»Mensch, Christian«, jammerte Jens, »davon habe ich doch keine Ahnung. Ich war so aufgeregt. So gegen Mittag jedoch besuchte mich ein Kommissar von der Kripo auf meinem Hof und löcherte mich mit idiotischen Fragen.«
»Die stellen in der Regel aber keine idiotischen Fragen«, murmelte Kupery dazwischen.
»Doch!«, insistierte Jens aufgeregt. »Der wollte alles haargenau wissen. Wo ich war, warum ich dort war, ob mir etwas im Wald aufgefallen war, ob ich andere Menschen gesehen hätte, ob mich andere gesehen hätten, und so weiter und so weiter.«
»Der war halt genau. Das ist sein Job, mein Lieber. Konntest du denn seine Fragen alle beantworten?«
»Nun ja«, gab Jens kleinlaut zu, »wohl nicht alle. Als er mich fragte, ob ich das Opfer gekannt hätte, habe ich Nein gesagt.«
Jens machte eine Pause, die Kupery stutzig machte.
»Und? Hast du ihn nun gekannt oder nicht?«, wollte er wissen.
»Gekannt habe ich ihn nicht. Erkannt habe ich ihn aber. Ja, ich bin ihm schon einmal begegnet.« Und wieder schwieg Jens.
Kupery trommelte nervös auf dem Lenkrad herum. »Lass dir nicht alle Würmer aus der Nase ziehen. Was heißt denn hier: ›Erkannt habe ich ihn‹?«
»Ich bin mit dem Typen vor Kurzem aneinandergeraten.« Aufgeregt berichtete er: »Weißt du, das war einer der Typen, die mit ihren Fahrrädern durch den Wald heizen. Ohne Rücksicht auf die Tiere und die Vegetation. Nicht auf den Wegen, nein – mitten durch den Wald, über Stock und Stein. Es ist jetzt schon ein paar Tage her, da habe ich ihn mal darauf angesprochen und ihn ganz höflich gebeten, doch die ausgewiesenen Wege zu benutzen.«
Kupery konnte sich gut vorstellen, dass Jens eine spezielle Auffassung von Höflichkeit pflegte, wenn es um die Natur ging. Vielleicht war es nicht angemessen, aber er musste dennoch schmunzeln.
»Wie hat der das denn aufgenommen? Ich meine deine freundlich und höflich formulierte Aufforderung?«
Jens erregte sich weiter. »Ausgelacht hat er mich! Ob ich der Waldschrat sei oder so etwas. Lederstrumpf hat er mich genannt. Das alles auch noch vor seiner jungen Begleiterin, die auch auf so einem Mountainbike unterwegs war. Da bin ich schon wütend geworden und habe ihm gesagt, dass ich ihn beim nächsten Mal vom Rad holen werde. So etwas in der Art. Da waren die aber schon weitergefahren.«
Kupery dachte einen Moment über das Gehörte nach. Das waren doch alles noch keine Gründe für die Panik, die Jens erfasst hatte. »Okay« sagt er schließlich, »das hast du dem Kripomann vermutlich nicht erzählt, oder?
Jens schüttelte nur den Kopf. »Nein, habe ich nicht. Ist mir auch erst später wieder eingefallen.«
»Das kann schon mal passieren. Aber ich verstehe immer noch nicht, wieso die Kripo dich für den Mörder halten soll.«
»Mensch, Christian! Das hat mir doch der Kripomann erzählt. Der hat gesagt, der Mann sei auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben.«
»Ja und?«, bohrte Kupery weiter. »Die müssen halt ermitteln, ob ein Fremdverschulden vorliegt. Dabei haben sie nur dich als Zeugen.«
»Nein! Die suchen mich! Ich bin überzeugt davon. Am Abend fuhr dann ein Polizeiwagen mit zwei Beamten auf mein Grundstück. Ich kam gerade aus dem Wald und konnte sie von dort aus beobachten. Die klopften an meine Hütte und sahen durch das Fenster. Dann riefen Sie laut meinen Namen. Ich habe mich nicht gemeldet und gewartet, bis sie wieder wegfuhren.«
Kupery wiegte seinen Kopf hin und her. »Ob das wohl so klug war?«, sagte er zweifelnd. »Und dann hast du was gemacht?«
»Ich bin rasch in meine Hütte, habe mir ein, zwei Sachen gegriffen und bin wieder im Wald verschwunden. Dort habe ich mich verkrochen.«
Kupery sog übertrieben die Luft durch die Nase. »Das kann ich riechen, mein Freund. Was erwartest du nun von mir?«
Jens war wieder zusammengesunken und saß wie ein nasser Sack auf seinem Sitz. »Ich weiß es nicht, Christian. Ich habe solche Angst, eingebuchtet zu werden. In einer Zelle könnte ich es nicht lange aushalten. Die Enge würde mich verrückt machen.«
Kupery trank den letzten Schluck Kaffee aus seinem Becher.
»Nun gut, mein Lieber. Wir machen Folgendes. Ich fahre dich zurück auf deinen Hof. Dort kannst du dich frisch machen und die Klamotten wechseln.«
Ängstlich fragte Jens: »Was ist, wenn der Hof überwacht wird? Dann werden die mich sofort festnehmen.«
»Quatsch!«, sagte Kupery mit Überzeugung. »Dafür haben die überhaupt kein Personal. Die können sich nicht tagelang bei dir auf die Lauer legen. Außerdem steht doch noch gar nicht fest, ob sie dich als Tatverdächtigen suchen.« Kupery startete den Motor. »Ich werde nachher Kontakt zu einem befreundeten Kommissar aufnehmen und versuchen herauszubekommen, was da los ist. Wenn die mit dir reden wollen, kann ich dich immer noch begleiten.«
Kupery hatte einige Mühe, den Bulli auf der schmalen Straße zu wenden.
»Du kannst dir schon mal überlegen, warum du die ganze Zeit im Wald unterwegs warst.«
Ein verträumtes Lächeln erschien in Jens’ Gesicht, als er antwortete: »Erzähl es bitte niemandem. Ich habe einen weiteren Wolf entdeckt.«
Knapp zehn Kilometer südlich von den beiden Freunden saß eine schmale Gestalt regungslos auf einer Bank. Sie befand sich in einem eingezäunten Areal, das ungefähr die Größe eines halben Fußballfeldes hatte. Dieses Areal lag auf dem Gelände des Truppenübungsplatzes Senne. Dieser unter britischer Verwaltung stehende Übungsplatz umfasste rund hundertsechzehn Quadratkilometer und grenzte im Süden an Paderborn. Im Norden lag die Generalfeldmarschall-Rommel-Kaserne der Bundeswehr im Bereich der Gemeinde Augustdorf. Fast mittig in diesem großen Gebiet lag bis zum Jahr 1939 die kleine Ortschaft Haustenbeck, an die heute nur noch die Ruine der kleinen Kirche erinnerte. Die verbliebenen, unter Denkmalschutz stehenden Außenwände mussten abgestützt werden. Unweit der Kirche hatte ehemals der Friedhof der Gemeinde gelegen, von dem nicht mehr geblieben war als ein rostiges, zweiflügliges Eisentor sowie drei Gedenksteine, die an die Gefallenen des Ersten Weltkriegs und an die ehemalige Gemeinde Haustenbeck erinnerten. Im Mai 1938 war von der Wehrmacht beschlossen worden, zur Erweiterung der vorhandenen Übungsplätze die Ländereien und das Dorf aufzukaufen. Eine Reichsumsiedlungsgesellschaft handelte mit den bäuerlichen Besitzern die Aufgabe ihrer Gehöfte aus. Die Umsiedlungen wurden teilweise bis zum zweihundert Kilometer entfernten Bezirk Magdeburg angeordnet. Im November 1939 hatte der letzte Gottesdienst in der Kirche zu Haustenbeck stattgefunden.
Auf der Bank links vom Eingang verharrte die schmale Gestalt regungslos in der Nacht. Trotz der hochsommerlichen Temperaturen trug sie einen Hoodie, dessen Kapuze den größten Teil des Gesichtes verbarg. Pullover und Hose waren in schwarzgrünen Tarnfarben gehalten, ebenso wie der kleine Rucksack, der neben der Person auf der Bank lag. An dem halbhohen Holzlattenzaun hinter der Bank lehnte ein Fahrrad, dessen breite Reifen mit einem ausgeprägten Profil auf die Geländegängigkeit des Gefährts hinwiesen.
Ein Beobachter hätte vermuten können, die Person hätte hier eine Rast eingelegt und wäre dabei eingenickt. Doch wäre er überrascht worden von der Schnelligkeit, mit der die Gestalt sich plötzlich neben die Bank hockte, dabei den Rucksack hinter sich ablegte und mit einem raschen Griff das Fahrrad flach auf den Boden legte. Es näherte sich ein Fahrzeug, man konnte es hören, bevor man es sah. Die Stille der Nacht schien das Motorengeräusch zu verstärken, sodass man das Knattern des Motors vernahm, bevor die beiden Lichtkegel der Scheinwerfer sichtbar wurden. Dies mochte die Range Control, eine Streife der britischen Militärverwaltung, sein, oder aber es handelte sich um einen ortskundigen Fahrer, der sich die Umrundung des Truppenübungsplatzes sparen wollte und die Abkürzung über das Gelände nutzte. Dann rauschte der helle Wagen am ehemaligen Friedhof vorbei. Dumpf wummerten die Bässe aus der Musikanlage in die Nacht.
Die Gestalt neben der Bank ließ einige Minuten verstreichen, bis sich die nächtliche Stille wieder verlässlich über das Gelände gelegt hatte. Erst dann erhob sie sich, schulterte den Rucksack und führte das Fahrrad zum Eingang. Ein Igel überquerte die Rasenfläche, blieb stehen und schaute neugierig herüber. Ohne das Tor zu öffnen, hob die Gestalt das Fahrrad darüber und schwang sich behände selbst auf die andere Seite. Einen kurzen Blick zurückwerfend, hob sie eine Hand wie zum Gruß. Dann bestieg sie das Fahrrad und fuhr, ohne die Beleuchtung einzuschalten, Richtung Norden davon.
Der Igel sah der Gestalt einen Augenblick nach, bevor er eilig die offene Rasenfläche querte und Schutz im dichten Gebüsch suchte.
Jens Pölter war allgemein als »Der Trapper« bekannt. Was zum einen an seiner Kleidung lag; die zerschlissene Jeans und eine abgewetzte Lederjacke mit kümmerlichen Fransenresten an den Nähten waren zu seinem Markenzeichen geworden. Zum anderen zeugte sein wettergegerbtes Gesicht davon, dass er sich hauptsächlich im Freien aufhielt. Christian Kupery hatte Jens auf dessen Hof abgesetzt, wobei die Bezeichnung Hof maßlos übertrieben war. Das ursprüngliche Gebäude war Opfer eines Brandes geworden. Die von der Versicherung ausgezahlte Summe hatte gerade ausgereicht, um die Parzelle vom Schutt zu befreien und auf den Platz einen ausgedienten Bauwagen zu stellen. Beim Wiederaufbau konnte Jens auf tatkräftige Unterstützung einiger Freunde setzen. Auch wenn noch längst nicht alle Arbeiten abgeschlossen waren, verfügte er nun doch wieder über ein bewohnbares Zimmer und ein funktionierendes Bad. Jens bezeichnete den Bauwagen gerne als seine »Hütte«. Er fand, das passte besser zu seinem Trapper-Image.
Kupery hielt sich nicht länger auf, sondern fuhr auf direktem Wege nach Hause. Wie ein Dieb schlich er vorsichtig in die über der Buchhandlung liegende Wohnung, sorgsam darauf achtend, dass die alte Holztreppe nicht knarrte. In der Küche stellte er beruhigt fest, dass sein Zettel noch unberührt auf dem Küchentisch lag. Er knüllte ihn in die Hosentasche, stellte die Thermobecher in die Spüle und schlich vorsichtig ins Schlafzimmer. Susanne atmete ruhig im Schlaf und bewegte sich nicht. Kupery ließ seine Jeans neben das Bett fallen und legte sich neben seine Frau.
Ein letzter Blick auf seine Armbanduhr zeigte ihm, dass er vielleicht noch vier Stunden Schlaf bekommen würde. Mit einem zufriedenen Lächeln schlief er sofort ein.
Um Viertel nach acht riss ihn sein Wecker unsanft aus allen Träumen. Er blieb noch mit geschlossenen Augen liegen. Aus der Küche hörte er, wie Susanne dort hantierte. Es half nichts, er musste aufstehen. Schlurfend betrat er die Küche und kniff sofort die Augen zusammen. Die Sonne fiel unbarmherzig auf sein zerknittertes Gesicht.
»Guten Morgen, meine große Eule.« Susanne begrüßte ihn vergnügt.
»Moin!«, knurrte Kupery undeutlich zurück. Dann sog er die Luft schnuppernd durch die Nase. »Hat meine Lerche auch einen Kaffee für mich?«
Susanne reichte ihm seinen Lieblingsbecher. Dabei fragte sie beinahe beiläufig: »Na? Was war denn das für ein Ausflug heute Nacht?«
»Dir bleibt auch nichts verborgen, was?«
Susanne lächelte ihren Mann nur an.
»Hast du noch Zeit für die Langfassung, oder reicht erst einmal die Kurzfassung?«, wollte er dann wissen.
»Fass dich kurz, mein Lieber. Ich muss nach unten in die Buchhandlung.«
Kupery nippte noch einmal an seinem Becher. »Nun gut. Jens rief mich an. Er hatte sich im Wald verkrochen, weil er glaubt, die Polizei hält ihn für einen Mörder.«
»So ein Quatsch!«, entrüstete sich Susanne. »Der Jens tut doch keiner Fliege etwas zuleide. Wie kommen die denn auf so etwas?«
»Weiß ich auch noch nicht«, gab Kupery zu. »Er ist völlig durch den Wind. Als er einen Streifenwagen auf seinen Hof hat fahren sehen, hat er sich in den Wald verkrochen. Dabei war er es doch, der sofort die Rettungskräfte gerufen hatte, als er den Verletzten im Wald gefunden hat.«
Susanne wandte sich zum Gehen. »Weiß er denn, wen er da verletzt gefunden hat?«, wollte sie noch wissen.
»Nein. Du kennst Jens ja. Der ist wirklich ein wenig verhuscht, aber so durcheinander habe ich ihn noch nie erlebt.«
»Na, das wird sich doch aufklären lassen. Was hast du mit ihm gemacht?«
»Ich habe ihn auf seinen Hof gefahren. Er sollte erst mal duschen, so wie der gestunken hat. Ich muss mal ein wenig telefonieren.«
»Dann sehe ich dich ja gleich im Büro.« Mit dieser Feststellung verließ Susanne die Küche.
Kupery duschte ausgiebig. Nicht als modische Marotte, sondern aus Bequemlichkeit zog er wie immer ein schwarzes Shirt zu einer schwarzen Jeans an. Seine abgewetzte Lederweste gehörte ebenfalls zu seinem Standardoutfit. Er schlüpfte in bequeme Slipper, bevor er sich ins Büro der Buchhandlung begab. Wie immer galt sein erster Handgriff der chromblitzenden Kaffeemaschine, die erst nach dem Aufheizen zum Einsatz kommen konnte. Ächzend ließ er sich in seinen bequemen Sessel fallen. Die kurze Nacht steckte ihm noch in den Knochen.
Er fuhr in seiner Morgenroutine fort: Monitor an und erst einmal den E-Mail-Eingang prüfen. Die meisten E-Mails verschob er, ohne sie zu lesen, in den Papierkorb. Er warf einen kurzen Blick auf die digitale Ausgabe der Zeitung. Nichts Neues, wie ihm schien. Die Welt versank im Chaos und sein geliebtes Oerlinghausen im Sommerloch.
Kupery rief das Presseportal der Polizei Lippe auf und scrollte durch die Einträge. Neben den Einträgen zu Verkehrsunfällen, Fahrraddiebstählen und Einbruchsmeldungen fand er schließlich auch die Kurzmeldung über den Fund eines Schwerverletzten in der Nähe des Dreiflusssteines. Trotz sofort eingeleiteter Rettungsmaßnahmen sei der Verletzte auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben. Über Ursachen und Art der Verletzung gab es keine Auskünfte. Damit hatte Kupery auch nicht gerechnet. Eine Mordkommission sei eingerichtet worden. Es folgte der Hinweis, dass Beobachtungen an jede Polizeidienststelle oder die Polizei Bielefeld gemeldet werden könnten.
Er kramte ein kleines, altes und abgegriffenes Notizheft aus einer der Schubladen seines Schreibtisches. Ein zufriedenes Lächeln legte sich auf sein Gesicht, als er das mit einem Register von A bis Z versehene Adressbüchlein durchblätterte. Immer noch ganz die alte Schule, fuhr es ihm durch den Kopf. Natürlich hatte Kupery auf seinem Smartphone eine umfangreiche Sammlung von Kontakten gespeichert. Gleichwohl hatte er sich angewöhnt, die weniger genutzten Daten lieber analog in diesem alten Büchlein festzuhalten. Er war sich sicher, dass er hier die Durchwahlnummer bei der Kriminalpolizei Bielefeld notiert hatte. Rasch fand er den entsprechenden Eintrag. Bevor er jedoch zum Telefon griff, versorgte er seine Frau und sich mit Kaffee.
Das eher schmucklose Gebäude in der Innenstadt von Bielefeld, gelegen in der Nähe des Landgerichtes, beherbergte mehrere Firmen, vor allem Rechtsanwaltskanzleien. Auf einer Tafel neben der Eingangstüre standen die Namen auf einheitlich großen, weißen Schildern und der Hinweis, wo man das jeweilige Büro finden konnte. Eines dieser nüchternen Schilder trug die Aufschrift:
Dr. Gernot von Richter
Wirtschaftsberatung & Assekuranz
Büro 1. Etage
In einem kleinen, schlichten Eingangsbereich zweigten von einem Dielengang mehrere Türen ab. Die ersten Türen verbargen eine kleine Teeküche und daneben die Toilette. Am Ende des Dielengangs gab es drei Türen, die in Büroräume führten. Im größeren Büro, dessen zwei Fenster auf den Hof des Gebäudes wiesen, sorgte eine