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London, 1944: Der Krämerladen ihres Vaters war bislang der einzige Lebensinhalt von Ginnie Travis. Als die Bedrohung durch den Krieg immer größer wird, flieht Ginnie gemeinsam mit ihrer Schwester zu ihrer Tante in den Norden Englands. Dort - mitten im Nirgendwo - trifft sie auf den amerikanischen Soldaten Nick und verliebt sich unsterblich in ihn. Doch Nick hütet ein dunkles Geheimnis und Ginnie muss eine folgenschwere Entscheidung treffen ...
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Seitenzahl: 558
Der Krämerladen ihres Vaters war bislang der einzige Lebensinhalt von Ginnie Travis. Als die Bedrohung durch den Krieg immer grösser wird, flieht Ginnie gemeinsam mit ihrer Schwester zu ihrer Tante in den Norden Englands.
Dort – mitten im Nirgendwo – trifft sie auf den amerikanischen Soldaten Nick und verliebt sich unsterblich in ihn.
Doch Nick hütet ein dunkles Geheimnis und Ginnie muss eine folgenschwere Entscheidung treffen …
Lily Baxter wuchs in London auf und begann ihre Karriere in dem Bereich Werbung und TV.
Mittlerweile lebt sie mit Ihrer Familie in Dorset und ist Autorin zahlreicher Romane.
Lily Baxter
Serenade imMondschein
Aus dem Englischen von Nina Restemeier
beHEARTBEAT
Digitale Deutsche Erstausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Für die Originalausgabe:
Copyright: © 2011 by Lily Baxter
Titel der englischen Originalausgabe: We´ll meet again
First published in Great Britain by: Arrow Books
Für die deutsche Ausgabe
Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Beke Ritgen
Projektmanagement: Esther Madaler
Covergestaltung: Jerome Weirauch unter Verwendung von Motiven von © shutterstock: Lukasz Pajor | AN NGUYEN | InnervisionArt
eBook-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-1877-7
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Für Tricia, eine Freundin in der Not
Ost-London, Juni 1944
Es war immer ein Wagnis, bei Fliegeralarm den Luftschutzraum zu verlassen. Dennoch hatte Ginnie sich hinausgewagt. Allen Protesten ihres Vaters zum Trotz war ihr Grund genug gewesen, dass Porzellanladen-Fred einen seiner Anfälle erlitten hatte. Sie war also in das kleine Büro hinter dem väterlichen Möbelgeschäft gelaufen und wollte gerade einen angesichts der Rationierungen großzügig bemessenen Löffel Zucker in eine Teetasse geben, da hörte sie es: das gefürchtete Knattern der Flügelbombe. Das charakteristische Motorengeräusch brachte die Tasse dazu, auf der Untertasse zu klappern, und unter Ginnies Füßen vibrierte der Boden.
Dann setzte das Motorengeräusch aus. In der tödlichen Stille, die folgte, hielt Ginnie den Atem an, fünfzehn Sekunden blieben bis zum Einschlag. Sie schloss die Augen und betete, die Bombe möge Felder oder Brachland treffen, irgendetwas, nur nicht die dicht besiedelten Vorstadtstraßen. Doch die Explosion war zu nah, und Ginnie spürte, wie die Druckwelle der Detonation die Grundfesten des Hauses erschütterte. Putz platzte in ganzen Stücken von der Decke, und die Luft war voller Staub. Mit zitternden Händen griff Ginnie nach Tasse und Untertasse. Heute waren sie alle hier davongekommen, aber irgendwo hatte es jemanden erwischt.
Die Sirene heulte monoton Entwarnung, als Ginnie hinaus auf den Hinterhof trat. Mit hochrotem Kopf und außer sich vor Zorn kam ihr Vater aus dem Luftschutzraum.
»Du dummes Ding, wolltest du dich umbringen?«, schimpfte er.
»Mir ist nichts passiert, Dad. Wie geht es Fred?«
Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Er wird’s überleben. Aber du hättest tot sein können, begraben unter Trümmern, wenn es uns getroffen hätte.« Er umarmte sie unbeholfen. »Bring dem armen Kerl seinen Tee. Ich schaue drinnen nach, ob was kaputtgegangen ist.«
Sidney Travis, Möbelhändler und besorgter Vater, nein, zuerst besorgter Vater, dann Möbelhändler, hastete ins Haus. Ginnie hörte, wie er vor sich hin schimpfte und die Deutschen verfluchte. Sie blieb auf dem Hinterhof stehen und musterte besorgt die umstehenden Häuser. Erleichtert seufzte sie, als nach eingehender Begutachtung offensichtlich war: Die Ladenzeile in der Collier Lane hatte kaum etwas von der Druckwelle abbekommen. Die zweckmäßigen Betonkästen stammten aus Vorkriegszeiten; im Erdgeschoss befanden sich die Ladenlokale, darüber Wohnungen, und auf der Rückseite gab es eine funktionale, aber triste Zufahrtsstraße für Warenanlieferungen. In den Plänen des Architekten hatte das Konzept vermutlich modern gewirkt, vielleicht sogar einen gewissen Stil besessen. Aber die Collier Lane befand sich in einem der ärmeren Vororte Ostlondons, zwischen kleineren Fabriken und eintönigen Reihenhäusern aus der Zeit Edwards VII. Architektonische Utopien verkamen in einer solchen Umgebung rasant zu schäbigen Ansammlungen von Glas- und Betongebäuden. Jetzt waren zudem die meisten Scheiben kreuzweise mit Kreppband verklebt, und überall waren Sandsäcke aufgetürmt, nur Ginnies Vater weigerte sich standhaft, sein Schaufenster zu vernageln. Das sei schlecht fürs Geschäft, erklärte er, und Hitler und seine Luftwaffe könnten ihm mal den Buckel herunterrutschen.
Ginnie wusste, dass sie diesmal Glück gehabt hatten. Sie hatten überlebt, während andere, Gebete hin oder her, dort, wo die Bombe eingeschlagen war, ums Leben gekommen sein dürften. Ginnie eilte in den Schutzraum und rümpfte die Nase, als ihr der durchdringende Geruch von verschwitzten Körpern entgegenschlug. Porzellanladen-Fred saß immer noch auf der Holzbank, blass und verstört. Sie reichte ihm den Tee. »Ich hoffe, er ist Ihnen süß genug.«
Er antwortete mit einem unsicheren Lächeln. »Danke, mein Kind.«
Ginnie blickte besorgt zur anderen Insassin des Schutzraums. Ida Richmond wohnte in einer Wohnung über dem Laden und tat, was in ihren Augen erste Hilfe war: Sie gab beruhigende Laute von sich und fächelte Fred mit ihrem Taschentuch Luft zu. »Geht’s ihm einigermaßen gut, Mrs. Richmond?«
Ida nickte energisch, wodurch ihr das Haarnetz über ein Auge rutschte. Sie richtete es mit einer geübten Handbewegung. »Es braucht mehr als eine deutsche Bombe, um unserem Porzellanladen-Fred den Rest zu geben.«
Fred nickte bestätigend und schlürfte seinen Tee. Eigentlich hieß er Fred Brown, aber Ginnies Vater neigte dazu, Leuten Spitznamen zu geben. Fred Brown war zu Porzellanladen-Fred geworden, um ihn von Fred Harper, auch bekannt als Woollies-Fred, dem Filialleiter von Woolworth’s, ein Stück weiter unten in der Ladenzeile, zu unterscheiden. »Es geht schon wieder, Kindchen.« Fred hob seine Tasse, wie um ihr zuzuprosten. »Süß, dünn und mit viel Milch – genau wie ich es mag.«
»Es geht ihm wieder gut.« Ida griff nach einem blau gemusterten Porzellanteller, auf dem sich ihre neuesten Backversuche türmten. »Nelson Squares. Probieren Sie mal einen, Fred.« Sie hielt ihm die eher rechteckig als quadratisch geschnittenen Stücke Blechkuchen vor die Nase. »Sie brauchen was auf die Rippen, mein Guter. Sie sind nur noch Haut und Knochen.«
»Da sage ich nicht nein.« Er nahm ein Stück und biss hinein. »Sie sind zu gut zu mir, Ida.«
»Ich habe einfach ein paar alte Brotkanten und die Trockenfrüchte aufgebraucht, die schon seit Weihnachten bei mir auf dem Regal stehen. Mein Göttergatte ist kein Leckermaul, und ich muss auf meine Figur achten.« Sie strahlte ihn durch die dicken Gläser ihrer Hornbrille an. »Diese Junggesellen sorgen einfach nicht richtig für sich. Ich verstehe nicht, warum Sie nie geheiratet haben, Fred. Sie müssen doch ein hübscher Kerl gewesen sein, damals, als Sie noch Haare und alle Zähne hatten.«
Fred schluckte den letzten Bissen herunter und nahm noch einen Schluck Tee. »Jetzt geht es mir besser, Ida. Vielen Dank. Aber ich sehe lieber mal in meinem Laden nach dem Rechten. Vielleicht hat die Druckwelle zerstört, was ich noch auf Lager hatte. Ist ja wenig genug. Dieser Tage ist es schwierig, anständiges Geschirr zu bekommen.« Er stellte Tasse und Untertasse auf der Holzbank ab und kam mühsam auf die Beine, wobei er sich mit einer Hand an der Wand abstützte. »Danke für den Tee, Ginnie.«
»Gern geschehen.« Sie trat beiseite, als er den Schutzraum verließ.
Ida stand auf. »Der Mann braucht eine Frau. Er ernährt sich von nichts als Tee und Toast. Kein Wunder, dass er keine Kondition hat. Mein Norman hat sicher fast das Doppelte von Fred. Er hätte für die Nelsons hier nicht mehr als einen Happs gebraucht.«
Ginnie lächelte. »Vielen Dank, dass Sie immer mit uns teilen, Mrs. Richmond.« Sie mochte Ida, die der Familie Travis seit jeher mütterliche Zuneigung entgegenbrachte. Ida hatte keine Kinder, und ihr Mann arbeitete den ganzen Tag bei der Eisenbahn, sodass Ida nichts weiter zu tun hatte, als ihre winzige Wohnung zu putzen oder nach unten zu kommen, um Kostproben ihrer Kochkunst vorbeizubringen.
»Aber du hast doch noch gar keinen probiert, Kindchen. Einer mehr oder weniger wird Norman gar nicht auffallen.«
Ginnie schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Sie sehen köstlich aus, aber es ist fast Mittag, und ich bekomme Ärger, wenn ich meinen Teller nicht leer esse. Mum hat sich bestimmt den ganzen Morgen abgerackert, um aus fast nichts etwas Essbares zu zaubern.«
»Du bist wirklich ein Engel, Ginnie. Schade, dass deine Schwester nicht mehr nach dir schlägt. Flatterhaftes Ding, diese Shirley.«
»Ach, ich find sie ganz in Ordnung, Mrs. Richmond. Sie ist halt lebenslustig, das ist alles.«
»Und du bist eine treue Seele, Kindchen.« Ida trat nach draußen und blinzelte gegen die Sonne. »Hoffen wir, dass der Krieg zu Ende ist, bevor du einberufen wirst oder in der Munitionsfabrik arbeiten musst wie deine Schwester. Wie alt bist du jetzt? Ich kann es mir so schlecht merken.«
»Im August werde ich neunzehn.«
»Dann hast du wenigstens noch ein Jahr, bevor du eingezogen werden kannst. So Gott will, ist der Krieg dann vielleicht schon vorbei.«
»Hoffen wir’s, Mrs. Richmond.«
»Dein Vater wäre ohne dich aufgeschmissen. Ich weiß nicht, wie es um den Laden stehen würde ohne deine Hilfe.«
»Es macht mir Spaß«, antwortete Ginnie mit fester Stimme. »Es ist vielleicht nicht das, wovon ich geträumt habe, als ich noch zur Schule gegangen bin. Aber jetzt kenne ich mich in Buchführung aus und weiß schon fast genauso viel über Teppiche und Möbel wie mein Dad.«
Ida klopfte ihr auf die Schulter. »Du bist ein Schatz.« Sie schlenderte über den Hof und verschwand in Richtung Zufahrtsstraße. »Bis später, Kindchen.«
Ginnie holte Kehrblech und Besen von der Außentoilette und ging eilig in den abgetrennten Bereich im hinteren Teil des Ladens, der als Büro diente. Sie hatte nicht gelogen, als sie Ida erzählt hatte, die Arbeit mache ihr Spaß, aber ein Teil von ihr wünschte sich, Dad würde ihr erlauben, sich für eine der Frauenabteilungen der Armee zu melden und ihren Beitrag für König und Vaterland zu leisten. In einem Jahr würde sie ohnehin eingezogen oder wie Shirley Kriegsarbeit leisten müssen. Aber in der Munitionsfabrik schuften oder sich freiwillig als Luftschutzhelferin melden, nein, das wollte sie nicht.
Sie schüttelte sich den Putz aus dem dunkelblonden Haar, nahm es zusammen und band es zum Pferdeschwanz. Das Gummiband dafür hatte sie zusammen mit einem Stück Siegelwachs und einer leeren Fisherman’s-Friend-Dose in der Schreibtischschublade gefunden, in der sie nach etwas wie einem Band oder Gummi gekramt hatte. Eine einzelne widerspenstige Strähne, die sie an der Nase kitzelte, steckte Ginnie mit einer Haarklammer fest. Prüfend warf sie einen Blick in den gesprungenen, stellenweise blinden Spiegel, der an einem Stapel Geschäftsbücher lehnte, bevor sie sich an die Arbeit machte. Sie putzte und fegte, bis alles sauberer war als vor dem Bombenalarm. Sie war gerade damit fertig, als sie hörte, wie ihr Vater mit Tom Adams, dem örtlichen Luftschutzwart, redete, dessen laute Stimme nicht zu überhören war.
Sie rannte in den Laden. »Wo ist die Bombe denn runtergekommen, Mr. Adams?«
»Wir haben Glück gehabt«, verkündete Tom feierlich. »Sie ist im Park runter und hat das Cricketstadion in Schutt und Asche gelegt. Zum Glück ist nicht Samstag, sonst hätte es die halbe Bürgerwehr und das Team von der Munitionsfabrik in Dagenham erwischt.«
»Da arbeitet Shirley«, meinte Sidney und verzog missbilligend den Mund. »Das Mädchen war Klassenbeste. Was hätte nur aus ihr werden können, wenn dieser verdammte Krieg nicht wäre!« Er sah seine Tochter entschuldigend an. »Verzeih meine Ausdrucksweise, aber dieser Hitler macht mich fuchsteufelswild.«
»Tja, Sid, die Pflicht ruft, da kann ich nicht länger mit dir plaudern.« Tom verabschiedete sich und schlenderte Richtung Tür. »Bis bald!«
»Ja, vielleicht bis später auf ein Bier im King’s Arms«, rief Sid ihm nach. Dann wandte er sich seufzend an Ginnie. »Das Schaufenster ist gesprungen. Ich fürchte, jetzt werde ich es doch vernageln müssen, auch wenn mir das gegen den Strich geht.« Er bückte sich, um eine Rolle Linoleum aufzurichten. »Die Druckwelle hat die hier umgeworfen. Sei so gut und hilf mir, sie wieder hinzustellen. Und dann ab mit dir zum Mittagessen! Du weißt doch, welche Sorgen sich Mum macht, wenn du auch nur eine Minute zu spät nach Hause kommst.«
Ginnie machte sich mit schnellen Schritten auf den etwa eine Meile langen Heimweg. Die Cherry Lane war von Bäumen gesäumt wie so manche Vorstadtstraße und lag mitten in einem Wohngebiet voller identischer Doppelhäuser aus den Dreißigerjahren. Es war eine der besseren Straßen im Viertel, sie grenzte aber an ein Industriegebiet, wo das Gaswerk in unmittelbarer Nachbarschaft zu Leimfabrik und Schlachthof lag. Der Bahnhof mit seinen rußigen Abstellgleisen und dem Lärm des Rangierbahnhofs war ganz in der Nähe, und unter den Bahnbögen hatten sich Kleinbetriebe angesiedelt.
Schon als Kind hatte Ginnie begriffen, dass es Unterschiede gab zwischen ihr und den Mädchen, die am anderen Ende der Stadt wohnten. Vor allem in der Gegend um die vornehme Monk Avenue wohnten Familien, in denen man seine Eltern »Mummy« und »Daddy« nannte, nicht »Mum« und »Dad«. Die Väter arbeiteten, und die Mütter spielten Bridge und pflegten ihre gesellschaftlichen Kontakte, während ein Dienstmädchen die Hausarbeit erledigte. Die stattlichen Häuser in der Monk Avenue waren von großen Gärten umgeben und wurden von hohen Mauern oder Hecken von der Straße abgeschirmt. Hinter den Häuserreihen befand sich der Golfplatz, und bis zum Gymnasium waren es nur zwei Straßen. Möglicherweise wünschte sich Shirley, einmal in der Monk Avenue zu leben, aber egal: Ginnie selbst legte Wert darauf, ihren Wurzeln treu zu bleiben. Was ist denn schlecht an der Cherry Lane, fragte sie sich, als sie sich dem Haus Nummer zehn mit der Fassade aus Kieselrauputz näherte. Das Wohnzimmer und das größte Schlafzimmer schmückten Erkerfenster mit Rundbögen. Es gab einen recht großen Garten hinter dem Haus und einen etwas kleineren Vorgarten, den eine niedrige Backsteinmauer vom Bürgersteig trennte. Ginnie blieb an der Gartenpforte stehen und sah hinauf zu dem dreieckigen Fensterchen, hinter dem sich ihr kleines Reich befand. Es war vollgestopft mit ihren kostbarsten Besitztümern, unter anderem einem versilberten Frisierset, das ihr ihre Großeltern väterlicherseits zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hatten. Sie waren während eines Luftangriffs ums Leben gekommen, und Ginnie konnte es immer noch nicht glauben, aber es war so: Hitler hatte Granny Travis auf dem Gewissen. Sie vermisste die alte Dame mit der scharfen Zunge und dem schwarzen Humor. Ihre Großeltern mütterlicherseits waren im Abstand von wenigen Wochen an einem Herzinfarkt gestorben, als Ginnie zwölf gewesen war, und ihr blieben nichts als die schönen Erinnerungen an Weihnachten und die Sommerferien im großelterlichen Ferienhäuschen in Frinton-on-Sea.
Sie zog den Hausschlüssel aus ihrer Handtasche und schloss die Tür auf. »Hallo, Mum, ich bin’s.«
Mildred Travis kam aus der Küche und wischte sich die Hände an ihrer geblümten Schürze ab. Unter dem Tuch, das sie sich wie einen Turban um den Kopf geschlungen hatte, lugten einige zu Schnecken aufgedrehte Locken hervor, und ihre Wangen waren gerötet. »Hast du die Flügelbombe gehört, Ginnie? Ich war mit Mrs. Martin von nebenan im Luftschutzraum, und als dann plötzlich der Motor ausging, hat mein Herz so schnell geschlagen, dass ich schon dachte, ich würde vor Angst ohnmächtig. Gott sei Dank geht es dir gut. Weißt du, wo sie eingeschlagen hat?«
»Im Park, Mum. Mr. Adams hat gesagt, dass es das Cricketstadion erwischt hat. Und das Schaufenster ist gesprungen, aber Dad vernagelt es jetzt.«
»Wurde auch Zeit. Das hätte er schon vor Jahren tun sollen, aber hört er auf mich? Natürlich nicht. Dein Vater ist der größte Dickkopf, den ich kenne.« Mildred rannte in die Küche und kam einen Augenblick später mit einem Stieltopf in der Hand zurück. »Hab die Kartoffeln gerade noch erwischt, bevor sie anbrennen. Das Essen ist sofort fertig.«
Ginnie hängte ihre Handtasche und die Schachtel mit ihrer Gasmaske an die Garderobe und zog sich die Handschuhe aus. Obwohl es heiß draußen war, hätte ihre Mutter schrecklich geschimpft, wenn sie nicht tadellos herausgeputzt das Haus verlassen hätte. Krieg hin oder her, was sich gehörte, musste auch eingehalten werden. Ginnie nahm am Tisch Platz und wartete darauf, dass ihre Mutter einen Teller mit dampfend heißer Woolton Pie hereinbrachte. Es war Mittwoch, und mittwochs gab es eben Pie aus den Gemüseresten der letzten Tage. Die Mahlzeiten folgten nämlich einem strikten Wochenplan, also wusste Ginnie wenigstens, was sie zu erwarten hatte, auch wenn sie zur Abwechslung gern einmal wieder einen Salat gegessen hätte.
»Verflixter Juni«, stöhnte Mildred, als sie die Teller hereinbrachte und einen vor ihrer Tochter auf den Tisch stellte. »Es ist viel zu heiß, um den ganzen Tag in der Küche zu schuften. Aber dein Vater legt Wert auf seinen Lunch. Seit wir verheiratet sind, hat es nicht einen Tag gegeben, an dem ich ihm kein Mittagessen gekocht hätte.« Sie nickte seufzend. »Im Juli werden es vierundzwanzig Jahre.«
»Hm, ja, Mum, das sieht lecker aus.« Ginnie griff nach Messer und Gabel. »Du kannst wirklich zaubern. Dad wird sicher alles verputzen. Ich gehe gleich zurück und löse ihn ab, damit seine Portion nicht kalt wird.« Sie nahm einen Bissen und schluckte tapfer. Die Pie mit Käse und dicker Kartoffelbreihaube war deftig genug für ein Winteressen, ziemlich salzig und schmeckte vor allem nach Zwiebeln: Aber immerhin war sie warm und sättigte, und um nichts in der Welt hätte Ginnie ihre Mutter enttäuschen wollen. »Köstlich.« Sie spülte den Bissen mit einem Schluck Wasser herunter.
»Wenigstens hast du einen gesegneten Appetit, nicht so wie deine Schwester.« Angewidert schob Mildred ein Stück Kartoffel auf ihrem Teller hin und her. »Sie sieht in letzter Zeit etwas käsig aus. Das liegt bestimmt an den Lösemitteldämpfen in der Munitionsfabrik.«
»Ja, Mum.« Ginnie pflügte sich weiter durch das Essen auf ihrem Teller. Shirley aß wahrscheinlich in der Werkskantine und hörte dabei mit ihren Freundinnen und Kolleginnen Workers’ Playtime im Radio. Es fiel Ginnie schwer, ihre Schwester nicht um ihre Unabhängigkeit zu beneiden. Nach der Schule hatte Shirley sich geweigert, ihrem Vater im Geschäft zu helfen, sondern nach einer anderen Anstellung gesucht. Sie hatte es halbherzig getan und, was deswegen nicht verwunderte, erfolglos. Denn die meiste Zeit hatte sie im Tennisclub verbracht. Das allerdings fand ein jähes Ende, als die Regierung verfügte, dass sich jede Frau über zwanzig entweder einer der Frauenabteilungen der Armee anzuschließen oder andere Kriegsarbeit zu leisten habe. Die Arbeit in der Munitionsfabrik war zwar nicht Shirleys Traumberuf, aber allemal besser, als sich zu verpflichten. Die Uniformen, behauptete sie, seien hässlich und unvorteilhaft, und nur über ihre Leiche werde sie so eine anziehen. Ginnie lächelte in sich hinein. So unverschämt gut, wie Shirley aussah, und so unwiderstehlich, wie ihr Charme war, wäre sie sicher selbst mit einem Mord durchgekommen.
»Hörst du mir überhaupt zu, Ginnie?«
Die Stimme ihrer Mutter riss Ginnie aus ihren Gedanken, und sie blickte auf. »Ja, Mum.«
»Ich habe gerade gesagt, dass ich mit euch Mädchen zu Tante Avril nach Shropshire gezogen wäre, als dieser ganze Krieg losging, wenn euer Vater und der elende Laden nicht gewesen wären.« Mildred seufzte und schob ihren Teller weg. »Aber ihn allein lassen, das konnte ich nicht. Er kann nicht mal ein Ei kochen, ganz zu schweigen von einem vernünftigen Essen.«
»Aber ich dachte, du verstehst dich nicht mit Tante Avril. Hast du nicht immer gesagt, sie sei das krasse Gegenteil von einem Engel?«
»Oh, nein, so habe ich das nie gesagt!« Mildred tupfte sich die Lippen mit einer karierten Baumwollserviette ab. »Was ich gesagt habe nun, was ich gemeint habe, ist, dass Avrils Lebensstil nichts für mich wäre. Aber seit ihr letzter Ehemann gestorben ist, ist sie ja wenigstens ein bisschen ruhiger geworden.«
»Ihr letzter? Sie hatte doch bloß zwei.«
»Und beide sind viel zu früh gestorben. Das kommt davon, wenn man auf großem Fuß lebt. Aber trotzdem ist sie meine Schwester, und es wäre ihre Pflicht gewesen, uns aufzunehmen.«
»Es würde dir nicht gefallen, in einem Pub zu leben. Du magst es doch nicht, wenn es nach Bier riecht, geschweige denn nach all dem anderen, was eine Kneipe ausmacht.«
Mildred schnaubte und legte ihr Besteck in einem exakten Winkel neben ihrem Teller ab. »Alles wäre besser, als darauf zu warten, von einer Flügelbombe in Fetzen gerissen zu werden. Außerdem ist es eine hübsche Gegend. Dein Dad und ich haben unsere Flitterwochen in Shropshire verbracht, bloß dass Sid angeln gegangen ist und ich die meiste Zeit am Ufer gestanden habe und mich von Mücken stechen lassen musste.«
»Du Arme!«
»Warum grinst du?«, fragte Mildred misstrauisch. »Das war nicht lustig, und wir mussten jeden Abend Fisch essen. Ich mag nun einmal keine Forellen, und ich habe seitdem keine mehr angerührt.«
Ginnie wischte sich den Mund mit der Serviette ab. »Das war köstlich, Mum. Ich gehe jetzt besser zurück in den Laden, damit Dad nach Hause kommen und sein Festmahl genießen kann.«
»Du hast doch deinen Nachtisch noch gar nicht gegessen.«
»Ich esse ihn heute Abend.«
»Aber es sind Erdbeeren aus dem Garten! Ich habe sie heute Morgen gepflückt.« Mildred verzog das Gesicht. »Wenn du nicht aufpasst, bekommst du noch Verdauungsstörungen, genau wie dein Vater.«
»Ich nehme die Erdbeeren mit zur Arbeit. Später habe ich bestimmt Zeit, sie zu essen.«
»Shirley bringt heute Abend einen jungen Mann zum Tee mit, also komm pünktlich nach Hause. Und sag deinem Dad, dass er nicht in den Pub gehen soll. Wir wollen doch keinen schlechten Eindruck machen.«
»Welcher Freund ist es diesmal?«
»Pass auf, was du sagst! Das klingt ja, als wäre Shirley ein Flittchen. Sie ist ein hübsches Ding und kann nichts dafür, wenn sie eine Menge Aufmerksamkeit bekommt.«
»Sie hatte schon mehr Freunde als ich warme Mahlzeiten. Wie auch immer, ich dachte, sie wäre mit Charlie Crisp zusammen.«
»Charlie ist ein netter Bursche, aber ich finde, Shirley hat etwas Besseres verdient als einen Mann, der beim Wasserwerk arbeitet.«
Ginnie wusste natürlich, dass Charlie eigentlich im Klärwerk arbeitete, aber das erwähnte sie lieber nicht bei Tisch, um das Zartgefühl ihrer Mutter nicht zu verletzen. »Also, wen bringt sie heute mit?«
»Den Bruder von Olivia Mallory. Olivia ist mit Shirley zur Schule gegangen, und ihre Familie ist sehr wohlhabend. Sie hat Shirley auch in den Tennisclub eingeführt.«
»Ich kenne Olivia«, antwortete Ginnie missmutig. »Ich fand immer, dass sie eine hochnäsige Kuh ist, die Shirley wie den letzten Dreck behandelt.«
»Ihr Vater ist Anwalt und sitzt im Bezirksrat. Friedensrichter ist er sogar, glaube ich, und sie haben ein Haus in der Monk Avenue. Ich sehe Mrs. Mallory manchmal in der Kirche, aber gesprochen habe ich noch nie mit ihr. Eine immer so hübsch angezogene Frau! Ich wette, sie kauft in diesen schicken Geschäften im West End ein.« Mildred seufzte und lächelte. »Manche Leute haben einfach alles. Jedenfalls ist es Olivias Bruder, Laurence, der heute Abend kommt. Er ist Offizier bei der Navy.«
»Na, wie könnte er da etwas anderes als ein netter Kerl sein!«
Mildred sah sie misstrauisch an. »Machst du dich über mich lustig, Virginia?«
»Aber, Mum, nein, wo denkst du hin?« Ginnie stand auf und gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. »Ich geh dann. Bis später.«
Um sechs Uhr an diesem Abend stand Ginnie vor dem Badezimmer und hämmerte schon zum zweiten Mal an die Tür. »Beeil dich, Shirley! Ich will mir vor dem Essen noch den runtergerieselten Putz aus den Haaren waschen.«
»Ich brauche nicht mehr lange.« Shirleys Stimme wurde von Wasserrauschen begleitet.
»Wäschst du dir die Haare, Shirley Travis? Wenn du den letzten Rest von meinem sündhaft teuren Shampoo genommen hast, verzeih ich dir das nie, verstanden?« Ginnie wartete angespannt, bis schließlich die Tür aufflog und Shirley mit einem Handtuch um den Kopf auf der Schwelle stand.
»Ich glaube, ich habe das letzte bisschen benutzt. Tut mir leid, Schwesterherz. Aber dein Freund Woollies-Fred hat bestimmt eine neue Flasche für dich.« Shirley rauschte an ihr vorbei und zog eine Duftwolke von Amami-Shampoo und Lifebuoy-Seife hinter sich her.
Ginnie war sprachlos, wusste aber, dass streiten zwecklos wäre. Sie holte tief Luft und zählte bis zehn. Ohne Erfolg. Ihre Wut war kein Stück verraucht, und so folgte sie ihrer Schwester in das große, lichtdurchflutete Zimmer auf der Rückseite des Hauses. »Du egoistisches Biest! Du hättest wenigstens fragen können!«
Shirley, die sich die Haare abtrocknete, sah auf und lächelte. »Ich weiß, ich bin manchmal ein kleines Biest und ganz schön gemein zu dir. Aber du bist doch sicher eine liebe kleine Schwester und willst mir nicht meinen großen Abend verderben, oder?«
»Wovon redest du?«
Shirley ließ das Handtuch auf den Boden fallen und schlüpfte in ihr Hemdhöschen, das statt aus Spitze aus Fallschirmseide war und an der Taille mit einem einzelnen Perlmuttknopf geschlossen wurde. »Ich möchte, dass du nett zu meinem neuen Freund bist.«
»Es ist doch bloß der große Bruder von Olivia, und die konnte ich noch nie leiden. Sie ist hochnäsig und hat dir immer nur Scherereien eingebracht. Und was ist eigentlich so Besonderes an Laurence Mallory?«
»Ach, bitte, Ginnie, red nicht so schlecht von Olivia! Immerhin war sie in der Schule meine beste Freundin, und ich war immer schon ein bisschen in Laurence verliebt. Wir haben uns kurz vor Ostern bei einem Ball im Tennisclub wiedergetroffen, als er gerade auf Heimaturlaub war. Er hat mir das Gefühl gegeben, zu den Monk-Avenue-Kreisen dazuzugehören. Es war wunderbar.«
»Herrje, Shirley, du hörst dich ja schon so versnobt an wie Mum!«
»Ich bin kein Snob! Laurence ist großartig, und ich weiß, dass er vollkommen in mich vernarrt ist. Aber sein Urlaub ist morgen vorbei, und er muss auf sein Schiff zurück. Also möchte ich, dass alle seine Erinnerungen an mich, die er auf See mitnimmt, liebevoller nicht sein könnten.«
»Und was ist mit dem armen Charlie? Er ist dir verfallen, mit Haut und Haaren!«
»Ich weiß. Und ich mag ihn auch sehr, aber manchmal verliebt man sich eben von einem Augenblick auf den anderen, Ginnie. Du verstehst das sicher, wenn es dir das erste Mal passiert.« Shirley zog einen Schmollmund und schüttelte den Kopf, sodass sich ihre rotblonden Locken medusenhaft um ihr Gesicht ringelten. »Du wirst Laurence mögen. Wie eine Schwester natürlich, denn er gehört mir.«
Ginnie stand auf. »Na, dann viel Glück, kann ich da nur sagen.«
»Er ist groß, blond und hat tiefblaue Augen mit ein paar Fältchen drum herum, weil er doch immer hinaus aufs Meer starrt.« Shirley zog ihren Büstenhalter an, aber sie hatte Schwierigkeiten, die Häkchen zu schließen. »Hilf mir mal, Ginnie. Das verdammte Ding muss beim Waschen eingelaufen sein. Oder vielleicht habe ich auch mehr Busen bekommen. Tja, wenn ich so darüber nachdenke, waren sie in letzter Zeit auch ein wenig empfindlich. Vielleicht sollte ich mal zum Arzt gehen.«
Ginnie hakte die beiden Enden ineinander. »Mum hat gesagt, du bist in letzter Zeit etwas blass.« Sie ließ das Gummi los und ließ es Shirley gegen den Rücken schnappen.
Shirley kreischte auf. »Au, das hat wehgetan!«
»’tschuldige.« Ginnie trat einen Schritt zurück und betrachtete ihre Schwester nachdenklich. »Andere Symptome hast du doch wohl nicht, oder?«
»Du willst damit hoffentlich nichts Unanständiges andeuten?« Shirley schnappte sich ihr Kleid vom Bett und streifte es sich über. Sie zog eine Grimasse, als es ihr nicht gelang, den Reißverschluss zu schließen. »Ich habe eindeutig zugenommen. Das liegt an diesem schrecklichen, schwer verdaulichen Essen, das wir in der Werkskantine bekommen.«
»Bist du sicher?« Ginnie beäugte Shirleys üppige Kurven mit wachsender Besorgnis. »Du hast doch keine Dummheiten gemacht, oder?«
»Ich weiß nicht, was du meinst. Autsch!« Shirley stiegen Tränen in die Augen. »Ich hab mich an dem blöden Reißverschluss geklemmt. Das tut wirklich weh!«
»Halt die Luft an!« Ginnie hielt mit einer Hand den Stoff zusammen und manövrierte den Verschluss in seine richtige Position. »Du solltest gleich nicht so viel essen, sonst platzen die Nähte.«
»Das ist nicht witzig!« Shirley machte eine Drehung und betrachtete sich in der verspiegelten Schranktür. »Ich werde fett.«
»Wann hattest du zum letzten Mal deine Regel?«
»Das geht dich nichts an.«
»Wenn du in der Tinte sitzt, tut es das sehr wohl.«
»Das kann nicht sein. Charlie hat aufgepasst, und mit Laurence war es …« Shirley hielt sich die Hände an die mit einem Mal glühend roten Wangen. »Ich meine … es ist einfach unmöglich.«
Ginnie schüttelte den Kopf. »Vielleicht ist es falscher Alarm. Aber du solltest einen Termin beim Arzt machen.«
»Ja, das mach ich.« Shirley schlug sich eine Hand vor die Augen. »Also, das Letzte, was ich will, ist Charlie bitten müssen, mich zu einer ehrbaren Frau zu machen.«
»Er wird wenigstens von keinem U-Boot-Torpedo auf den Meeresgrund befördert«, erwiderte Ginnie düster. »Ich hoffe, du weißt, was du tust.«
Shirley nahm eine Haarbürste von ihrem Frisiertisch und kämmte sich die zerzausen Locken. »Alles wird gut. Ich weiß, was ich vom Leben will, und das ist sicher kein Reihenhaus in Klärwerknähe.«
»Charlie tut mir leid. Er ist verrückt nach dir. Reicht das nicht?«
»Mum ruft dich«, unterbrach Shirley sie und deutete auf die Tür. »Sie braucht bestimmt Hilfe bei den Fleischpasteten oder was immer sie vorbereitet hat. Hoffentlich müssen wir sie nicht im Luftschutzraum essen, das wäre der Gipfel!«
»Ich hatte noch gar keine Zeit, mich zu waschen und umzuziehen«, entgegnete Ginnie. »Du bist fast fertig. Geh du doch runter und hilf Mum! Es ist schließlich dein Freund, der zu Besuch kommt, nicht meiner.«
»Wäre ja auch schwierig, du hast ja keinen.« Shirley sank auf dem Hocker vor dem Frisiertischchen zusammen und sah Ginnie schuldbewusst an. »’tschuldige, das war gemein. Das wollte ich nicht. Bitte geh nach unten und halte Mum bei Laune, und ich werde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um eine neue Flasche Amami für dich aufzutreiben.«
»In Ordnung. Aber nur, wenn du mir versprichst, dass du morgen zum Arzt gehst.«
»Ich schwöre es bei meinem Leben. Also, nicht wörtlich. Es ist falscher Alarm. Ganz bestimmt.«
Ginnie hatte gerade den Treppenabsatz erreicht, als es an der Tür klingelte.
»Gehst du bitte, Ginnie?«, rief Mildred aus der Küche. »Ich muss die Scones aus dem Ofen holen!«
Ginnie öffnete die Tür. Sie hatte Laurence Mallory zuletzt vor Jahren gesehen, da war sie noch ein Kind gewesen. Aber der lächelnde junge Mann in der Uniform der Royal Navy konnte ja wohl nur Shirleys neueste Eroberung sein.
»Hallo«, sagte sie lächelnd, »du bist bestimmt Laurence. Komm doch herein.«
»Und du musst Ginnie sein. Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, warst du noch ein kleines Mädchen.« Er nahm seine Schirmmütze ab und trat ein. Dann überreichte er ihr eine in braunes Papier eingeschlagene Flasche. »Das ist Gin. Leider habe ich nichts anderes bekommen. Vielleicht hätte ich für dich besser Brause mitbringen sollen? Ich bin nicht sonderlich gut in so etwas.«
Sie runzelte die Stirn. »Für wie alt hältst du mich?«
Trotz sonnengebräunter Wangen sah sie ihn erröten. »Es tut mir schrecklich leid. Bin ich ins Fettnäpfchen getreten?«
Im Garderobenspiegel erhaschte sie einen Blick auf sich selbst. Dank Shirley hatte sie keine Zeit mehr gehabt, die Bluse mit dem offenen Kragen und die Hose auszuziehen, die sie zur Arbeit getragen hatte, und sie war nicht geschminkt. Mit ihrem Pferdeschwanz hätte sie tatsächlich als Schulmädchen durchgehen können, und nun war sie es, die errötete. »Ich bin älter, als ich aussehe. Aber danke für den Gin.« Sie führte ihn ins Wohnzimmer. »Ich rufe Shirley. Sie kommt gleich.«
»Es tut mir leid, wenn ich dich in Verlegenheit gebracht habe.« Er lächelte, und Ginnie bemerkte die Lachfältchen um seine Augen, die ihn sehr attraktiv machten, genau wie Shirley gesagt hatte.
»Ist schon in Ordnung. Ich sehe nicht immer so schlimm aus. Aber bei dem Einschlag heute ist im Laden der Putz von der Decke gekommen, und ich hatte noch keine Zeit zum Umziehen.«
»Du siehst hübsch aus, so wie du bist. Ich hatte schon befürchtet, ihr wäret alle herausgeputzt und es würde schrecklich formell.«
»Was möchtest du trinken, Laurence?« Sie öffnete die viel gepriesene Hausbar ihrer Eltern und bemerkte ihren Fehler, als sie die leeren Regalreihen sah. »Oje, ich fürchte, wir haben keine Wahl. Wir müssen Gin und Wasser trinken. Oder nur Gin.«
Er grinste. »Ich nehme Gin und Wasser, aber nur, wenn du auch einen trinkst.«
»Danke, das werde ich.« Sie nahm zwei Gläser und füllte in jedes ein wenig Gin. »Ich hole Wasser.«
In der Küche traf sie ihre Mutter, die mit von der Hitze gerötetem Gesicht eine zweite Ladung Scones aus dem Ofen holte. »Wie ist er, Ginnie? Wo ist Shirley? Eigentlich hätte sie den armen Kerl begrüßen sollen.«
»Sie donnert sich natürlich auf. Er ist nett, Mum, du wirst ihn mögen. Und er hat Gin mitgebracht. Ich wollte gerade etwas Wasser holen.«
»Er ist offensichtlich ein Gentleman. Shirley hätte es schlechter treffen können.«
»Aber, Mum, sie geht doch erst seit Kurzem mit ihm aus!«
»Ich kannte deinen Dad erst drei Tage und wusste, dass er der Richtige ist. Manchmal reicht das, Liebling.« Mildred schob die herrlich aufgegangenen Scones zum Abkühlen auf einen Rost. »Mrs. Martin hat mir ihr letztes Glas Erdbeerkonfitüre gegeben, damit es eine richtige Teestunde wird. Nimm das Wasser und leiste Laurence Gesellschaft, während ich hier den Rest mache. Dein Dad müsste auch gleich nach Hause kommen.«
Ginnie füllte einen Krug mit Leitungswasser und brachte ihn ins Wohnzimmer. Laurence betrachtete gerade ein gerahmtes Foto von ihr und Shirley am Strand von Frinton. »Da war ich neun«, erklärte sie, »und Shirley zwölf.«
»So hatte ich dich in Erinnerung.« Er grinste. »Ihr habt euch beide ganz schön verändert.«
»Shirley hat erzählt, dass du morgen zurück auf dein Schiff musst. Das ist schade. Ich meine, es wäre schön gewesen, dich besser kennenzulernen.«
Er hob sein Glas. »Darauf trinken wir, Ginnie.«
Die Tür ging auf, und Shirley schwebte mit ausgebreiteten Armen herein. »Es tut mir so leid, dass ich dich nicht persönlich empfangen konnte, Larry, mein Lieber.«
Er stellte sein Glas ab und stand auf, um sie zu umarmen. »Ist schon in Ordnung, Shirley. Deine Schwester hat mir Gesellschaft geleistet.« Ginnie blickte ihn amüsiert an, und er antwortete ihr mit einem angedeuteten Lächeln. »Ich war leider ein wenig früh dran.«
Ginnie wollte Shirley gerade einen Drink anbieten, als sie im Vorgarten eine Bewegung wahrnahm. Ihr Vater rannte den Plattenweg hinauf. »Da kommt Dad, und er ist furchtbar in Eile.«
»Ist das Gin?« Shirley beäugte die Flasche. »Ich hätte gern einen Drink, Ginnie. Gieß mir ruhig ordentlich ein, sei so lieb.« Sie warf ihr einen warnenden Blick zu. »Bitte.«
Ginnie wollte gerade einschenken, als die Tür aufflog und Sid hereinplatzte. Er blieb wie angewurzelt stehen, als er Laurence bemerkte. »Oh, Sie sind schon da. Ich fürchte, Sie sind zu einem ungünstigen Zeitpunkt gekommen.«
Mildred war ihm gefolgt und griff nach seinem Arm. »Nicht jetzt, Sid. Was immer es ist, kann es nicht bis nach dem Tee warten?«
»Ich glaube nicht, Liebes.« Sid tätschelte ihr die Hand. »Das betrifft vor allem dich, Shirley. Bei dem Luftangriff heute Morgen ist auch das Klärwerk getroffen worden. Es hat Opfer gegeben.«
Opfer?« Shirley starrte ihren Vater ungläubig an. »Doch nicht Charlie?«
»Leider doch, ja.«
»Ist er schwer verletzt?«, wollte Mildred wissen und umklammerte den Arm ihres Mannes. »Ist er im Krankenhaus?«
»Es tut mir leid, aber es ist schlimmer als das.« Sid räusperte sich. »Es hat sieben Tote gegeben, und Charlie ist einer davon.«
Ginnie schlug sich die Hand vor den Mund und versuchte, ein entsetztes Keuchen zu unterdrücken. Niemand rührte sich, und es war, als wäre die Zeit stehen geblieben. Alle Farbe wich aus Shirleys Gesicht, und ihre Augen waren vor Schock weit aufgerissen, als sie auf dem Boden zusammensackte. Mildred stieß einen Schrei aus und ließ sich auf den nächsten Sessel sinken, während Sid hilflos dastand. Ginnie und Laurence sprangen gleichzeitig zu Shirley und halfen ihr aufs Sofa, wo sie in die Kissen sank, den Arm über die Augen gelegt.
»Ich sollte gehen«, meinte Laurence leise. »Das ist nicht der richtige Moment, um sich um Gäste zu kümmern.«
»Ich bringe dich zur Tür.« Ginnie folgte ihm in den Flur. »Es tut mir so leid. Charlie war ein guter Freund.«
Er nahm seine Mütze von der Garderobe. »Das verstehe ich. Du brauchst mir nichts zu erklären.«
»Das wird dir Shirley auch selbst sagen, wenn es ihr wieder besser geht. Es war ein Schock für sie.«
Er legte ihr eine Hand auf den Arm. »Natürlich war es das. Sag Shirley, dass ich morgen auf dem Weg zum Bahnhof bei ihr vorbeikomme.«
»Ja, natürlich. Es tut mir so leid, Laurence.«
»Du musst dich nicht entschuldigen. So etwas passiert einfach. Es ist schließlich Krieg.«
Sie öffnete die Haustür und sah ihm nach. An der Gartenpforte drehte er sich noch einmal um und lächelte ihr zu, ein mitfühlendes Lächeln, das ihn sehr sympathisch machte, dann war er fort. Ginnie lehnte sich an den Türpfosten und atmete tief die warme Sommerluft ein. Der Duft des Pfeifenstrauchs vermischte sich mit dem süßen Aroma, das die Levkojen in ihrem Beet verströmten, dem einzigen Beet, das ihre Mutter nicht zum Gemüsebeet umfunktioniert hatte. Sie hatten den Rasen im Vorgarten umgegraben und Kartoffeln gepflanzt, aber manche Dinge waren eben heilig, und eins davon war das Beet mit ihren Lieblingsblumen. Sollten die Deutschen jemals über den Kanal kommen, würden sie feststellen müssen, dass Mildred Travis der britannischen Königin Boudicca in nichts nachstünde, wenn es darum ging, ihr Eigentum zu verteidigen. Mum mäkelte vielleicht an den kleinen Unzulänglichkeiten des Alltags herum, aber sie hätte ihr Leben gegeben, um ihre Familie und ihr geliebtes Heim zu schützen.
Selbst in einer Welt im Wandel änderten sich manche Dinge nie. Aber Ginnie fragte sich, was ihre Mutter wohl dazu sagen würde, wenn sich ihre Familie um ein uneheliches Kind vergrößerte, dessen Vater bei einem Luftangriff im Klärwerk umgekommen war. Die Vorstellung war beinahe ebenso furchteinflößend wie der Gedanke an den Augenblick, in dem über ihnen der Motor einer Flügelbombe aussetzte. Ginnie schloss die Haustür und hoffte inständig, dass Shirley nichts gesagt hatte. Morgen früh würde sie sich freinehmen und dafür sorgen, dass Shirley zum Arzt ginge. Sie wollte gerade ins Wohnzimmer zurückkehren, als Shirley an ihr vorbeistürzte.
»Mir ist schlecht!«, rief sie und rannte in die Küche.
Am nächsten Morgen kamen sie gerade vom Arzt nach Hause, als ihnen Laurence mit einem Blumenstrauß in der einen und einem ziemlich ramponierten Lederkoffer in der anderen Hand entgegenkam.
»Oh Gott«, stöhnte Shirley und stieß die Gartenpforte auf, »ich kann nicht mit ihm reden. Sag ihm, dass ich an irgendeiner schrecklichen Krankheit sterbe. Sag ihm irgendetwas, nur nicht die Wahrheit.« Sie rannte über den Plattenweg ins Haus und schlug die Tür hinter sich zu.
Ginnie wartete am Tor und fragte sich, wie sie das merkwürdige Verhalten ihrer Schwester wohl am besten erklären könnte. »Hallo, Laurence.«
»Ich wollte sehen, wie es Shirley heute Morgen geht, aber offensichtlich ist sie immer noch sehr mitgenommen.« Er drückte Ginnie den Strauß in die Hand. »Kannst du ihr den von mir geben?«
»Natürlich. Aber möchtest du nicht hereinkommen?«
»Nein, danke. Ich will mich nicht aufdrängen.«
Er sah sie mit einem Blick an, wie er offener nicht hätte sein können, und sie bedauerte aufrichtig, nicht ebenso offen sein zu können. »Es tut mir wirklich leid, wie der Abend gestern verlaufen ist. Shirley ist im Moment nicht ganz sie selbst.«
»Ist schon in Ordnung. Ich verstehe das. Meine Familie hat auch Freunde verloren.«
Sie nickte und versuchte, eine Erklärung für Shirleys offenkundige Unhöflichkeit zu finden, aber sie scheiterte kläglich. »Ja. Krieg ist einfach nur schrecklich.«
Zu ihrer Überraschung entlockte ihm das ein Lächeln. »Stimmt genau.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. »Sag mal, ich weiß, das klingt vielleicht unverschämt, aber hast du Lust, mich zum Bahnhof zu begleiten? Ich bin ein bisschen früh dran, und wir könnten noch zusammen einen Tee trinken oder so.«
Eigentlich hätte sie zur Arbeit in den Laden gemusst oder zumindest ins Haus gehen, um Shirley zu trösten. Aber plötzlich hatte sie das Bedürfnis, etwas für sich zu tun, und Laurence wünschte sich offensichtlich Gesellschaft. »Sehr gern, aber könntest du vielleicht einen Augenblick warten, dann bringe ich die Blumen ins Haus. Ich möchte nicht, dass sie in meinen Armen sterben.« Sie unterbrach sich, als ihr klar wurde, was sie da gerade gesagt hatte. »Das war wohl unangebracht, unter den gegebenen Umständen.«
»Wenn ich jedes Mal ein Pfund bekäme, wenn ich etwas Falsches sage, wäre ich längst ein reicher Mann«, tröstete er sie. »Geh nur, Ginnie, ich warte hier.«
Als sie den Bahnhof betraten, kam es Ginnie so vor, als wären sie in ein altmodisches, sepiafarbenes Bild hineingeraten. Alles war in Braun- und Sandtönen gehalten, sogar der Tee und die gerösteten Milchbrötchenscheiben, die die Bedienung vor sie auf den Tresen knallte. »Mein Alter war auch bei der Navy«, teilte sie ihnen düster mit. »Er ist von diesem Bahnsteig aus aufgebrochen, und das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. Versenkt von einem U-Boot. Keine Überlebenden.« Sie watschelte zurück auf ihren Platz beim Teekessel.
»Das war ja nicht besonders taktvoll angesichts deiner Uniform.« Ginnie blickte Laurence besorgt an, aber als sie es in seinen Augen amüsiert aufblitzen sah, musste sie zum ersten Mal an diesem Morgen lächeln.
Der Tag hatte nicht besonders gut angefangen. Die Zeit im Wartezimmer beim Arzt war nervenaufreibend gewesen. Eine Horde Kleinkinder hatte Chaos verbreitet, und die älteren Leute hatten sich beschwert, dass die junge Generation keine Disziplin und keinen Respekt mehr vor alten Menschen habe. Im Behandlungszimmer war es noch schlimmer gekommen. Denn der Arzt bestätigte, dass Shirley im zweiten oder dritten Monat schwanger sei. Sie war tränenüberströmt zusammengebrochen, und dann hatte es diesen peinlichen Moment beim Verlassen der Praxis gegeben, als sie an all den neugierigen Patienten vorbeigehen mussten. Ginnie kehrte plötzlich in die Gegenwart zurück, als sie bemerkte, dass Laurence mit ihr sprach.
»Ist schon in Ordnung, Ginnie«, versicherte er ihr gut gelaunt. »Ich bin es gewohnt, dass Leute so etwas sagen. Schau also nicht so traurig.«
»Ich glaube, sie hat es nicht so gemeint, aber richtig von dir verabschiedet haben wir uns ja nicht gerade, meine Familie und ich, meine ich.«
»Es tut mir sehr leid, dass ich keine Gelegenheit hatte, mich bei Shirley dafür zu entschuldigen, dass ich gestern so überstürzt aufgebrochen bin. Sie scheint wirklich sehr mitgenommen zu sein.«
»Das stimmt, sie ist ein sehr gefühlvoller Mensch.« Ginnie hatte plötzlich das Bedürfnis, ihn zu beruhigen. »Sie ist eine extrem treue Freundin, und es tut ihr wirklich leid, dass dein letzter Abend an Land ruiniert worden ist.«
»Hat sie dich gebeten, mir das auszurichten?«
Ginnie schaffte es nicht, ihm ins Gesicht zu lügen, also rührte sie ihren Tee um, obwohl gar kein Zucker darin war. »Ja, so in etwa.« Das stimmte natürlich nicht. Shirley hatte überhaupt nicht mehr an Laurence gedacht, bis sie ihm heute Morgen begegnet waren.
»Ich möchte um nichts in der Welt, dass es ihr schlecht geht. Shirley ist wirklich amüsant, und wir hatten viel Spaß miteinander. Schade, dass wir so wenig Zeit füreinander hatten.« Er schob Ginnie den Teller mit seinem gerösteten Milchbrötchen hin. »Möchtest du die eine Hälfte? Ich fürchte, beide schaffe ich nicht, und ich möchte Lady Macbeth da drüben nicht verärgern.« Er machte eine Kopfbewegung in Richtung der Frau, die sie bedient hatte.
Ginnie unterdrückte ein Kichern. »Pssst, sie hört dich sonst noch!«
»Keine Chance. Sie hat gerade einen jungen Mann in Uniform in den Krallen. Wahrscheinlich erzählt sie ihm gerade, dass ihr Vater in Mons oder Ypern in die Luft gejagt wurde.«
Ginnie kicherte und erntete einen missbilligenden Blick von Lady Macbeth. »Wir werden bestimmt gleich rausgeworfen, Laurence.«
»Da muss ich doch das alte Klischee bemühen: Ich bin schon aus schöneren Lokalen rausgeflogen.« Er sah auf seine Uhr. »Ich höre einen Zug. Ich sollte mich wohl auf den Weg machen.« Er erhob sich. »Begleitest du mich noch zum Gleis? Es wäre schön, wenn mir jemand nachwinken würde.«
Sie stand auf und hängte sich die Schachtel mit der Gasmaske über die Schulter. »Du bist wohl von der romantischen Art, was?«
»Stimmt.« Er ließ ein wenig Trinkgeld in der Untertasse und ging zur Tür. Ein Schwall Dampf quoll in die Gaststube, als der Zug in den Bahnhof geschnauft kam. Waggontüren wurden aufgerissen, und Fahrgäste stiegen aus, während andere darauf warteten, ihre Plätze einzunehmen.
Ginnie streckte die Hand aus. »Alles Gute, Laurence.«
Er zögerte und sah sie lange an. »Grüß Shirley von mir.«
»Natürlich.«
Er beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie auf die Wange. »Du bist wirklich großartig, Ginnie.«
Der Schaffner pfiff schrill auf seiner Pfeife, und Laurence sprang in dem Augenblick auf den Wagen, als der Zug sich in Bewegung setzte. Er beugte sich aus einem offenen Fenster und winkte. Ginnie hob die Hand und erwiderte die Geste, bis der Zug nicht mehr zu sehen war. Aus der Tasche zog sie ihr Taschentuch und tupfte sich die Augen ab. Nein, wie lächerlich, wegen eines Mannes Tränchen zu verdrücken, den sie kaum kannte, noch dazu, wenn dieser Mann der Freund ihrer Schwester war! Aber möglicherweise würde er von seinem Einsatz nicht zurückkehren, und sie weinte aus echtem, tief empfundenem Bedauern. Dann schnäuzte sie sich die Nase, straffte die Schultern und verließ den Bahnhof.
Sie ging direkt zum Laden, doch er war geschlossen, was vormittags an einem Werktag sonst nie vorkam. Sie rannte nach nebenan in den Porzellanladen und traf Fred, der niedergeschlagen auf einem Hocker hinter der Ladentheke saß. Als sie eintrat, hellte sich sein Gesicht für einen Augenblick auf, und er erhob sich. »Ist alles in Ordnung, Kindchen?«
»Das wollte ich dich auch gerade fragen, Fred. Warum hat Dad den Laden zugemacht?«
»Er hat einen Anruf von zu Hause bekommen. Keine Ahnung, was deine Mum zu ihm gesagt hat, aber er hat das ›Geschlossen‹-Schild rausgehängt und mir gesagt, er kommt gleich wieder. Mehr weiß ich auch nicht. Ida war auch schon hier unten und hat mich das Gleiche gefragt. Was ist denn nur los, Ginnie?«
Sie wandte sich der Tür zu. »Ich gehe wohl besser nach Hause und finde es heraus«, sagte sie noch über die Schulter hinweg.
Im Haus Nummer zehn in der Cherry Lane herrschte helle Aufregung, als Ginnie dort ankam. Ihre Mutter keifte ins Telefon, und im Obergeschoss hämmerte ihr Vater an Shirleys Zimmertür. Mildred bedeckte die Sprechmuschel mit einer Hand und blickte Ginnie zornig an. »Du hast es gewusst, junge Dame, nicht wahr? Warum hast du uns nichts gesagt?« Sie nahm die Hand vom Hörer. »Nein, ich habe nicht mit dir gesprochen, Avril. Das ist eine schreckliche Verbindung. Ich rufe dich später zurück.« Sie knallte den Hörer auf die Gabel und stemmte die Hände in die Hüften. »Also? Ich verlange eine Erklärung! Du hast Shirley zum Arzt begleitet, also wusstest du Bescheid.«
»Ich habe es erst gestern Abend erfahren, Mum. Es hatte keinen Sinn, es euch zu erzählen, solange Shirley sich nicht sicher war.« Ginnie schlüpfte an ihr vorbei in die Küche. »Ich setze den Kessel auf.«
Mildred folgte ihr. »Eine Tasse Tee wird das nicht in Ordnung bringen! Deine Schwester ist eine Schande für die ganze Familie. Ich nehme an, Charlie ist der Vater, und nicht der junge Mann, der gestern Abend hier war, richtig?«
»Da musst du Shirley fragen, Mum.« Ginnie füllte Wasser in den Teekessel. »Das ist nicht meine Sache.«
»Das sagst du nicht mehr, wenn niemand mehr mit dir spricht! Wir werden zum Gespött der Leute, und ich kann nie wieder zu einem Treffen der Mothers’ Union gehen!«
»Sie hat einfach Pech gehabt. So etwas passiert nun einmal, wenn Krieg ist.« Ginnie zündete den Gasherd an und stellte den Kessel auf die Flamme. »Aber es ist nun, wie es ist, und der arme Charlie ist nicht mehr hier, um das Richtige zu tun. Shirley wird unsere ganze Hilfe brauchen.«
Mildred ging in der Küche auf und ab. »Ich habe bereits alles geregelt. Shirley fährt nach Shropshire und bleibt so lange bei Tante Avril, bis das Baby da ist. Dann kann sie zurückkommen, und zwar mit einem Ring am Finger, und wir denken uns eine Geschichte über eine Kriegshochzeit aus und erzählen allen, sie wäre verwitwet.« Sie drehte sich zu Ginnie um und zeigte mit dem Finger auf sie. »Und du fährst mit. Dein Vater muss sich eben jemand anderen suchen, der ihm im Laden hilft. Wir sagen, dass wir euch in Sicherheit bringen, wegen der Bombenangriffe. Das ist viel glaubwürdiger. Ich würde ja auch mitkommen, aber ich kann euren Vater nicht allein lassen. Schließlich wäre er ohne mich völlig aufgeschmissen!«
Der Bahnhof von Lightwood Common in Shropshire war menschenleer bis auf einen älteren Gepäckträger, der ihnen auf dem Bahnsteig entgegenschlurfte, um ihnen mit ihren Koffern zu helfen. Es war eine lange und umständliche Reise gewesen. Sie hatten mehrmals umsteigen müssen, und immer wieder hatte der Zug auf offener Strecke gehalten. Als sie den Bahnhof Paddington verlassen hatten, war ihr Waggon vollgestopft mit Soldaten und Frauen in Uniform gewesen, und sobald unterwegs Passagiere ausgestiegen waren, hatten sofort andere ihren Platz eingenommen, ja, es hatte sogar den Anschein gehabt, als würden die Abteile an jeder Station voller. Ältere Damen mit hässlichen Filzhüten schimpften unablässig über die Versorgungsengpässe und Rationierungen, während junge Soldaten sich schmutzige Witze erzählten, bis die älteren unter ihnen sie in scharfem Ton zum Schweigen brachten. Gekränkt und mit roten Gesichtern blieben die Gemaßregelten den Rest der Fahrt stumm. Kleine Babys plärrten in den Armen ihrer Mütter, und bei ihrem bloßen Anblick stöhnte Shirley auf und wandte sich ab, um mit leeren Augen aus dem Fenster zu starren. Mehrmals während eines Bombenalarms hatte der Zug langsam fahren müssen, und das hatte ihre ohnehin schon endlose Reise noch verlängert. Mittags aßen Ginnie und Shirley, was sie sich als Reiseproviant eingepackt hatten, obwohl keine Aussicht darauf bestand, bis zu ihrer Ankunft noch einmal etwas zu essen zu bekommen. Im Speisewagen nämlich hatte es längst schon nichts mehr gegeben. Kurz bevor ihnen beiden die Hoffnung abhandenzukommen drohte, doch noch anzukommen, war der Zug in Lightwood Common eingefahren und sie endlich da.
»Folgen Sie mir bitte.« Der Gepäckträger türmte ihre Koffer auf einem Wagen auf und schob ihn den Bahnsteig entlang.
»Hier sagen sich ja Fuchs und Hase Gute Nacht«, meinte Shirley und klang bitter. »Ich werde mich in diesem gottverlassenen Nest zu Tode langweilen.«
»Ach, Shirley, sieh doch nicht gleich alles so schwarz!«, sagte Ginnie, während sie sich umschaute. Ihr letzter Besuch in Shropshire war schon ein paar Jahre her, aber die Begeisterung für den Ort ihrer Kindheit erwachte sofort wieder. Da war er, der süße Geruch von frisch gemähtem Heu und feuchter Erde, vermischt mit dem Duft von Geißblatt und Heckenrose, den sie noch so gut in Erinnerung gehabt hatte. Die milde Luft, die ihr wie eine Liebkosung über die Wangen strich, war frisch und frei von Auto- und Busabgasen, und es war wunderschön, zur Abwechslung den Blick auf üppigem Grün und sanften Hügeln ruhen zu lassen, statt auf Bombenwunden und Steinwüsten. Ginnie war durch und durch Londonerin, aber sie hatte schon immer eine Schwäche für dieses Fleckchen Erde gehabt und sich auf die kurzen Urlaube hier gefreut. Tante Avril war das glatte Gegenteil ihrer Mutter: Mildred war eher zart besaitet und reagierte schnell verletzt; sie gab gern den Snob und war sehr auf ihren guten Ruf bedacht. Avril hingegen gab keinen Pfifferling darauf, was andere von ihr hielten. Sie lebte, liebte und kleidete sich, wie es ihr gefiel. Sie hatte zwei Ehemänner überlebt, die beide eines natürlichen Todes gestorben waren, und es hieß, sie habe mindestens ein halbes Dutzend Liebhaber gehabt, damals während ihrer wilden Zeit in Paris, wo sie die Muse eines Künstlers gewesen war.
»Ich wette, wir müssen bis zum Pub laufen«, nörgelte Shirley. »Schau doch nur, wie dick geschwollen meine Beine sind, jetzt schon! In neun Monaten sehe ich bestimmt aus wie ein Wal.«
»Na, komm, wenn du erst einmal eine schöne Tasse Tee und etwas zu essen bekommen hast, geht es dir gleich besser. Tante Avril kocht doch so lecker, zumindest hat sie das vor der Rationierung. Ich denke immer noch an ihre Schokoladenéclairs – die waren absolut fantastisch.«
»Hier entlang, Ladys.« Der Gepäckträger rollte seine Fracht durch die Schalterhalle. »Mrs. Parkin hat jemanden geschickt, der Sie abholt.«
»Gott sei Dank«, seufzte Shirley erleichtert. »Ein Auto mit Chauffeur wäre himmlisch!«
Ginnie war dem Ausgang näher als ihre Schwester, und ein Blick hinaus verriet ihr, was für ein Gefährt Tante Avril für ihre beiden Nichten aufgetrieben hatte: Es war alles andere als eine Limousine. Ginnie folgte dem Gepäckträger hinaus auf das von Bäumen gesäumte Sträßchen vor dem Bahnhof, wo ein Pony und eine Kutsche darauf warteten, sie zu Tante Avrils Pub, dem Ferryboat Inn, zu bringen. Der Kutscher, im Mundwinkel eine Pfeife, den verbeulten Filzhut tief in die Stirn gezogen, streifte die beiden Schwestern nur mit flüchtigem Blick, der ansonsten der Umgebung galt. Das Pony, ein kräftiger Welsh Cob, scharrte mit den Hufen und schnaubte, als könnte es kaum erwarten aufzubrechen.
»Hilf uns mal mit dem Gepäck, Percy.« Der Träger warf Shirleys Schminkköfferchen auf den Wagen, gefolgt von dem Schweinslederkoffer, den ihr Vater zum einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt bekommen hatte und an dem er sehr hing, obwohl er ein wenig angestoßen war.
»Das ist deine Aufgabe«, knurrte Percy und nagte an seiner Pfeife. »Ich tu Avril bloß ’nen Gefallen, ich bin kein Taxifahrer.«
Vor sich hin grummelnd hievte der Gepäckträger die letzte Tasche hinten auf den Wagen, dann hielt er die Hand auf. »Bitte schön, Ladys, alles sicher verstaut.«
Ginnie kramte in ihrer Tasche nach ihrer Geldbörse und reichte ihm eine Sixpence-Münze. Er wirkte nicht besonders beeindruckt und murmelte etwas von geizigen Londonern, während er zurück in die Schalterhalle humpelte.
»Springen Sie rauf, oder wollen Sie hinterherlaufen?«, fragte Percy ungeduldig. »Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit. Ich muss die Schweine füttern, und außerdem verdurste ich gleich.«
Ginnie kletterte hinauf und setzte sich neben den Fahrer, dann wollte sie Shirley beim Aufsteigen helfen, aber die schlug ihre Hand aus.
»Danke, das schaffe ich schon. Ich bin ja nicht gebrechlich, oder so«, fauchte Shirley und zog sich hinauf auf den Wagen. Ginnie blieb nur, ganz eng zu Percy aufzurücken. »Mach nicht so einen Aufstand!«, zischte Shirley ihr, kaum oben, ins Ohr. »Ich will nicht, dass es alle mitbekommen.«
Ginnie machte sich so dünn wie möglich. Ein seltsamer Geruch ging von dem Kutscher aus, und sie konnte nicht sagen, ob es der Dreck auf seiner Kleidung war oder ob er in etwas Ekliges getreten war, das nun an seinen schweren Stiefeln hing. Eventuell ließ auch seine Körperhygiene zu wünschen übrig.
Mit einer auffordernden Handbewegung zum Kutscher hin sagte Shirley: »Fahren Sie los, Wertester.«
»Wertester? Wie hoch tragen Sie denn Ihre Nase, Lady? Wann ich losfahre, bestimme immer noch ich! Ich bin mein eigener Herr, verstanden?«
»Mit dem ersten Zug morgen früh, ich sag’s dir, bin ich hier weg «, flüsterte Shirley deutlich hörbar. »Ich kann’s kaum erwarten! Ich lasse mich doch nicht lebendig begraben an einem Ort, wo man nach Eau de Schwein stinkt.«
»Sei still, er hört dich noch. Er ist doch nicht taub.«
Shirley warf den Kopf zurück. »Mir doch egal«, fuhr sie um einiges leiser fort, sich zu beschweren. »Aber wenn das Rumpeln dieses absolut unmöglichen Gefährts keine Fehlgeburt auslöst, dann weiß ich auch nicht.« Sie klammerte sich am Geländer fest, als Percy mit der Peitsche knallte und sich das Pony in Bewegung setzte.
Das Gasthaus The Ferryboat Inn lag malerisch unter Bäumen am Flussufer. Es schien, als faulenzte es in der Spätnachmittagssonne und posierte für ein Foto, wie man es in Kalendern oder auf Pralinenschachteln finden konnte. Das Gebäude bestand aus zwei Häusern aus dem siebzehnten Jahrhundert, jedes mit Steinmauern in sanftem Goldgelb und dunklem Schieferdach. Steinstufen führten von der Kiesterrasse hinab zum grasbewachsenen Ufer, wo die handbetriebene Kettenfähre träge in ihrer Verankerung schaukelte.
Percy brachte den Wagen vor dem Haupteingang zum Stehen. »Absteigen«, verlangte er barsch. »Ich muss mich um das Tier kümmern.«
Shirley sprang von der Kutsche wie ein Fallschirmspringer aus einem brennenden Flugzeug. Ginnie folgte ihr etwas langsamer.
»Danke, Mr. Percy.« Sie bemühte sich, nicht die Nase zu rümpfen, als der nächste Luftzug seinen Körpergeruch in ihre Richtung wehte.
»Einfach Percy, Miss.« Er tippte sich an den Hut. »Ich bringe die Koffer in den Schankraum, dann müssen Sie sie nicht tragen.«
»Sehr freundlich, vielen Dank noch einmal.« Sie trat einen Schritt zur Seite, als er mit der Zunge schnalzte und das Pony aufforderte, zum Stall zu trotten.
»Da ist Tante Avril!« Shirley winkte begeistert. »Gott sei Dank ist sie noch ganz die Alte! Ich hatte schon befürchtet, es hätte uns in die Geschichte von der Cold Comfort Farm verschlagen.«
Der Vergleich zu dem viel gelesenen, witzigen Roman, einer Parodie auf die Romane der Brontë-Schwestern, war zu treffend. Scharf erwiderte Ginnie: »Sei nicht so ein Snob, Shirley. Du klingst ja schon wie Mum.«
»Ach, sei du doch still!« Shirley reckte das Kinn und lief dann ihrer Tante über den kiesbedeckten Vorplatz entgegen.
Ginnie zögerte, ihr Blick ging hinunter zum Fluss. Dort neigten sich die Bäume über dessen behäbigen Lauf, und ihre Kronen spiegelten sich im sonnengesprenkelten Wasser. Als Ginnie einen Otter entdeckte, der am gegenüberliegenden Ufer die spiegelglatte Wasseroberfläche durchbrach und geschmeidig im Unterholz verschwand, schnappte sie vor Freude nach Luft. Der Fluss hatte in all seinen Stimmungen schon immer eine besondere Faszination auf sie ausgeübt, ob er nun an einem heißen Junitag wie heute träge dahinfloss oder wild und reißend an ihnen vorbeirauschte wie an jenem Weihnachtsabend, an dem sie zu Besuch gewesen waren. Der Lärm und die Hektik der Stadt schienen tausende Meilen weit weg, und es kam Ginnie vor, als wäre sie in eine fremde Welt versetzt worden, eine Welt ohne Krieg und Zerstörung. Hier schien die Zeit stehen geblieben und ewig Sommer.
»Ginnie, mein Schatz, willst du den ganzen Tag da stehen bleiben, oder kommst du herein?« Avril hatte den Arm gehoben und winkte ihr zu, um auf sich aufmerksam zu machen. »Ich hab zur Feier eurer Ankunft eine Kanne Pimm’s vorbereitet, außer ihr seid wie eure Mutter und hättet lieber einen Tee.« Dicht gefolgt von Shirley verschwand sie im Wirtshaus.
Ginnie ließ sich nicht zweimal bitten. Im Haus war es kühl, und seit ihrem letzten Besuch hatte sich nichts, aber auch gar nichts verändert. Den Schankraum beherrschte eine große Kaminecke mit einem schmiedeeisernen Feuerkorb und verschnörkelten Feuerböcken. Die niedrige Balkendecke war dunkel von Tabakrauch, und an den Wänden glänzten unzählige Messingplaketten, wie sie an Pferdegeschirren in ganz Großbritannien üblich waren; ja, eine ganze Sammlung davon mit den unterschiedlichsten Motiven hing hier und hatte Ginnie von klein auf begeistert. Früher hatte sie bei jedem Besuch ihre neuen Lieblingsmotive gekürt. Eine Blumenvase auf dem Tresen quoll über vor Rosen, deren Farbe zufällig oder absichtlich von den Chintzvorhängen und Stuhlpolstern wieder aufgegriffen wurde. Abgesehen von der Theke, die man eingebaut hatte, hatte sich in den dreihundert Jahren, seit die ersten Bewohner in dieses Haus gezogen waren, nicht viel verändert, aber jede weitere Generation hatte ihm dennoch ihren Stempel aufgedrückt. Momentan hingen an den rau verputzten Wänden gerahmte Ölbilder, die Avrils erster Ehemann, ein angesehener Künstler, gemalt hatte, und ein paar Kohleskizzen von Einheimischen, die Avril selbst aufs Papier geworfen hatte.
»Die habe ich seit 1940 versteckt«, erklärte sie triumphierend. Sie war hinter die Theke geschlüpft und hielt jetzt eine leicht angestaubte Flasche hoch. »Ich flitze eben in die Küche und hole das Eis und alles, was sonst noch dazugehört. Eigentlich ist alles schon seit Stunden fertig. Aber ich konnte ja nicht wissen, wann ihr ankommt. Ach, Mädchen, setzt euch und macht es euch bequem. Auspacken könnt ihr später.« Durch die Tür hinter der Theke verschwand sie, wie angekündigt, in die Küche.
Shirley setzte ihren Hut ab, zog die Handschuhe aus und legte sie auf einen Tisch am Fenster. »Ich bleibe trotzdem nicht«, verkündete sie. »Ich liebe Tante Avril über alles, aber deswegen bleibe ich nicht die nächsten sechs Monate hier in diesem Hinterwäldlerkaff.«
»Sei froh, dass du hier bleiben darfst.« Ginnie zog ebenfalls die Handschuhe aus, die früher einmal weiß gewesen waren, nun aber einen traurigen Grauton angenommen hatten. »Wenn du nicht die Beine breit gemacht hättest, wäre das alles nicht passiert.«
»Herrje, wirst du gleich vulgär! So war es nicht, und jetzt bin ich Witwe, ohne je verheiratet gewesen zu sein. Zumindest glaube ich, dass es Charlie war, aber sicher bin ich nicht.«
Durch die geöffnete Tür sah Ginnie ihre Tante mit einem Eiswürfelbereiter hantieren. »Tante Avril nimmt für uns eine Menge auf sich. Du solltest auch mal an andere als nur an dich selbst denken!«
»Wie meinst du das?«
»Das hier ist ein kleines Dorf. Vielleicht solltest du besser so tun, als wärest du verheiratet. Du möchtest Tante Avril doch nicht in Verlegenheit bringen.«