Über den Wolken beginnt das Glück - Lily Baxter - E-Book

Über den Wolken beginnt das Glück E-Book

Lily Baxter

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Beschreibung

London, 1940: Die achtzehnjährige Susan Banks hat nur einen Traum: ihr Land im Krieg als Pilotin zu unterstützen. Aber Susan weiß, dass ihr Wunsch für immer ein Traum bleiben wird, denn sie ist arm, mittellos und völlig allein.
Als sie jedoch auf Fluglehrer Tony Richards trifft, schöpft sie Hoffnung, dass sie ihre Pläne doch noch verwirklichen kann. Und je besser sie Tony kennenlernt, umso mehr empfindet Susan für ihn. Doch dann erhält sie eine erschreckende Nachricht, die alle ihre Träume zu zerstören scheint ...

Werden ihre Träume jemals wahr werden? Eine mitreißende Geschichte über eine starke junge Frau, die in den Wirren des Zweiten Weltkriegs um ihre Träume und die Liebe kämpft.

Weitere bewegende Liebesgeschichten von Lily Baxter bei beHEARTBEAT:

In der Ferne blüht die Hoffnung
Serenade im Mondschein
Wiedersehen in Dorset


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Inhalt

CoverWeitere Titel der AutorinÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungKapitel EinsKapitel ZweiKapitel DreiKapitel VierKapitel FünfKapitel SechsKapitel SiebenKapitel AchtKapitel Neun Kapitel ZehnKapitel ElfKapitel ZwölfKapitel DreizehnKapitel VierzehnKapitel FünfzehnKapitel SechzehnKapitel SiebzehnKapitel AchtzehnKapitel NeunzehnKapitel ZwanzigKapitel EinundzwanzigKapitel Zweiundzwanzig

Weitere Titel der Autorin:

Schwingen der Hoffnung

Liebe im Herzen

Serenade im Mondschein

In der Ferne blüht die Hoffnung

Wiedersehen in Dorset

Über dieses Buch

London 1940: Die achtzehnjährige Susan Banks hat nur einen Traum: ihr Land im Krieg als Pilotin zu unterstützen. Aber Susan weiß, dass ihr Wunsch für immer ein Traum bleiben wird, denn sie ist arm, mittellos und völlig allein.

Als sie jedoch auf Fluglehrer Tony Richards trifft, schöpft sie Hoffnung, dass sie ihre Pläne doch noch verwirklichen kann. Und je besser sie Tony kennenlernt, umso mehr empfindet Susan für ihn. Doch dann erhält sie eine erschreckende Nachricht, die alle ihre Träume zu zerstören scheint …

Über die Autorin

Lily Baxter wuchs in London auf und begann ihre Karriere in dem Bereich Werbung und TV. Mittlerweile lebt sie mit Ihrer Familie in Dorset und ist Autorin zahlreicher Romane.

Lily Baxter

Über den Wolkenbeginnt das Glück

Aus dem Englischenvon Isabell Lorenz

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

 

»be« - Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

 

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2011 by Lily Baxter

Titel der britischen Originalausgabe: »Spitfire Girl«

First published in Great Britain by: Arrow Books, London

 

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Beke Ritgen

Covergestaltung: Kirstin Osenau unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock: Georgethefourth | Irina Bg | KathySG | Alexey Fedorenko

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

 

ISBN 978-3-7325-3848-5

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

 

Für Gay und Tim

Kapitel Eins

Primrose Hill, London – Dezember 1940

 

 

Es war Mitternacht, aber den Himmel über London erhellte ein Feuersturm. Susan stand auf dem Primrose Hill. Entsetzt sah sie die Bomben vom Himmel fallen und Granatkartätschen in Kaskaden herabregnen, als wäre der 5. November und Feuerwerk zum Gedenken an die Pulververschwörung. Sogar aus dieser Entfernung hörte sie das Motordröhnen der deutschen Flugzeuge. Ein Bombeneinschlag, ohrenbetäubend laut und mächtig genug, um die Erde selbst erzittern zu lassen, vermochte selbst die tapferste Seele in Angst und Schrecken zu versetzen. Wie musste es da erst, wo hier Einschlag auf Einschlag folgte, für das kleine Geschöpf sein, das zitternd zu ihren Füßen kauerte?

»Ist schon gut, Charlie«, sagte Susan, bückte sich und hob den Welpen hoch. Sie wiegte ihn in den Armen, rieb die Wange an seinem weichen Fell und atmete den warmen Welpengeruch ein, als wäre er das teuerste französische Parfüm.

Charlie gab einen leisen Laut von sich, halb ein Grunzen, halb ein Winseln, schmiegte sich unter ihr Kinn und hob den Kopf in dem Versuch, ihr das Gesicht zu lecken. Der kleine Kerl zitterte immer noch. Entschlossen machte Susan kehrt.

»Na, dann komm, Kerlchen, wir gehen nach Hause und zurück ins Warme. Aber du musst ein ganz, ganz braver Junge und ganz still sein, ja? Keinen Laut, wenn ich bitten darf!«

Susan nahm den Weg über Elsworthy Terrace rechts in die Elsworthy Road. Der Widerschein des rotglühenden Himmels verlieh den Reihenhäusern aus der Zeit König Edwards eine gewisse angestaubte Vornehmheit, die sich bei Tageslicht besehen in Schäbigkeit gewandelt hätte. Das galt auch für das Haus, in dem Susan lebte und arbeitete. Sie stieg die Stufen zur Haustür hoch, schloss auf und machte dabei so wenig Lärm wie möglich. Normalerweise wäre sie so spät abends nicht mehr unterwegs gewesen, schon gar nicht bei Fliegeralarm. Aber Charlie war noch nicht ganz stubenrein, und seine Bedürfnisse schienen ihr in diesem Moment drängender als ihre eigene Sicherheit.

Sie wagte kaum daran zu denken, wie lange sie Charlies Anwesenheit noch vor Mrs. Kemp und ihren Töchtern geheim halten könnte, und dennoch: London mochte ja überall um Susan herum in Chaos und Schutt versinken, aber zum ersten Mal in ihren achtzehn Jahren hatte sie etwas, das ihr gehörte, ihr ganz allein.

Susan verbarg den Labradorwelpen unter ihrer Jacke und ging geradewegs und so schnell, wie es ihr die Dunkelheit erlaubte, auf die Dienstbotentreppe zu. Diese führte ins Untergeschoss, wo die Wirtschaftsräume lagen. Im Dunkeln tastete sich Susan vorwärts. Ihre Finger kamen an das kalte Glas eines der gerahmten Aquarelle, die den schmalen Flur säumten. Sie war froh, dass sie die rätselhaften Gesichter der japanischen Krieger nicht sehen musste, die mit versteinertem Gesichtsausdruck vor sich hinstarrten. Vorsichtig suchte Susan sich ihren Weg um das halbmondförmige Mahagonitischchen herum, auf dem ein reichlich böse dreinschauender Buddha im Schneidersitz hockte. Daneben stand ein altmodischer Fernsprechapparat, der nur ein weiteres Überbleibsel der Vergangenheit war, von der die Familie nicht lassen mochte.

Der verstorbene Graham Kemp hatte als kleiner Beamter in der britischen Botschaft in Tokio gearbeitet. Doch wenn man Mrs. Kemp von ihrem Mann reden hörte, hätte man glauben können, er habe eine weit einflussreichere Position bekleidet. Ihre ruhmreichen Tage im Kreise anderer Engländer im Ausland waren sicher längst vorbei. Dennoch hielt die Familie an der Überzeugung fest, sie stünden in jeder Hinsicht über allen anderen Menschen.

Jane Kemp war, wie Susan auf die schmerzliche Art hatte herausfinden müssen, ein Snob, borniert und obendrein bigott, und ihre Töchter waren nicht viel besser. Alle drei ließen keinen Zweifel daran, dass ein Mädchen wie Susan, eine Waise, aufgewachsen in einem Kinderheim, weniger als nichts wert sei. Susan war Dienstmädchen, und als solches hatte sie unsichtbar zu bleiben. Sie erhielt einen Wochenlohn, der ihr kaum ermöglichte, sich Strümpfe und Haarshampoo zu kaufen. Dennoch erwartete man von ihr Dankbarkeit für Unterkunft und Verpflegung und für die Dienstkleidung, die sie tagaus, tagein zu tragen hatte.

Nur einen halben Tag pro Woche hatte Susan frei. Also hatte sie beinahe ständig entweder in der einen oder der anderen wenig schmeichelhaften Ausstattung herumzulaufen, die ihre Arbeitgeberin ihr zur Verfügung stellte. Vormittags galt es, ein braunes Baumwollkleid mit beigefarbener Schürze und Häubchen zu tragen  verabscheuungswürdig alle drei Teile. Für den Nachmittag war ein schwarzes Kleid mit weißer Rüschenschürze und Stirnband vorgeschrieben, was Susan auch nicht besser gefiel. Beide Uniformen waren derzeit definitiv nicht der letzte Schrei in Modefragen. Die schwarzen Schnürschuhe, die die Dienstmädchenuniform komplettierten, waren genauso hässlich wie unbequem.

Susan drückte Charlie an sich und ging vorsichtig die Treppe hinunter in die große, altmodische Küche. Diese konnte sich nicht sehr verändert haben, seit das Haus kurz nach der Jahrhundertwende erbaut worden war. Ein Kiefernholztisch stand in der Mitte des Raums, und der ursprüngliche, gusseiserne Herd nahm immer noch den Ehrenplatz ein. Allerdings hatte Mrs. Kemp kürzlich, wenn auch widerstrebend, einen moderneren Gasherd angeschafft. Er stammte aus zweiter Hand, aber Susan kochte wesentlich lieber mit der schnelleren, leichter zu kontrollierenden Hitze. Der alte Herd war sehr breit, launisch und verschlang Holz und Kohle wie ein hungriger Riese. Ständig musste er gefüttert und gereinigt werden. Außerdem musste man einmal in der Woche eine Schicht Schwärze auf das Gusseisen auftragen, damit sich kein Rost festsetzte. Es war eine schmutzige, undankbare Aufgabe, eine Aufgabe, auf die Susan liebend gern verzichtet hätte.

Als sie ihre Stelle im Haus an der Elsworthy Road angetreten hatte, hatte es bei den Kemps noch eine Köchin und eine Putzfrau gegeben. Die Köchin war eine freundliche Frau gewesen, die schon ihr ganzes Arbeitsleben lang bei der Familie in Stellung gewesen war. Doch kurz nach Ausbruch des Krieges hatte sie gekündigt, weil sie sich lieber aufs Land zurückziehen und bei ihrer verheirateten Tochter wohnen wollte. Die Putzfrau hatte eine gut bezahlte Beschäftigung in einer Munitionsfabrik angenommen.

Susan setzte Charlie auf dem Boden ab. Als sie sich davon überzeugt hatte, dass die Verdunkelungsvorhänge zugezogen waren, schaltete sie das Licht an. Eine Vierzig-Watt-Glühbirne verbreitete schwaches Licht, aber inzwischen kam Mrs. Kemp die Ausrede zu Hilfe, dass sie ihre patriotische Pflicht erfülle, wenn sie Strom spare. Vor dem Krieg war es einfach nur ihr Geiz gewesen, der zu solch Einsparungen geführt hatte.

Susan ging zur Vorratskammer und holte den Milchkrug vom Marmorregal. Sie goss eine kleine Menge auf eine Untertasse und stellte sie vor Charlie auf den Fußboden. Aber ehe er die Milch aufschlecken konnte, schnellte ein heller Blitz auf hohen, dunklen Beinen durch den Raum und grub seine Krallen in die Schnauze des Welpen. Charlie jaulte vor Schmerz und stolperte beim Versuch, sich vor dem fauchenden Siamkater in Sicherheit zu bringen, über die eigenen Pfoten und fiel um.

»Binkie-Bu«, rief Susan wütend, »du schreckliches Geschöpf!« Sie bückte sich und tröstete Charlie, versuchte aber gar nicht erst, dem bösartigen Katzentier die Untertasse zu entreißen. Zufrieden, weil er diese Runde gewonnen hatte, schleckte der Kater die Milch auf. Susan holte ein Obstschälchen aus der Schublade und stellte es in sicherer Entfernung zum reizbaren Binkie-Bu auf. Dann erst füllte sie das Schälchen mit Milch. Charlie schlang alles in Sekundenschnelle herunter, wobei er seinen Gegner skeptisch im Auge behielt.

Susan stand Wache. Sie war bereit, sich auf Mrs. Kemps verwöhnten Liebling zu stürzen, sollte der beschließen, ein kleiner Labradorwelpe wäre leichte Beute. Aber als Binkie-Bu seinen Durst gestillt hatte, streckte er sich und zeigte seine scharfen Krallen, als wäre es notwendig, allen ins Gedächtnis zu rufen, dass er bewaffnet und gefährlich sei. Er setzte sich und fing an, sich zu putzen.

Susan schüttelte den Kopf. »Du bist das entsetzlichste, verzogenste Tier, das mir je untergekommen ist«, sagte sie im Plauderton. »Andererseits, hätte ich dich heute Vormittag nicht zum Tierarzt bringen müssen, hätte ich Charlie nicht entdeckt.« Sie schenkte dem Hund ein Lächeln, und zur Antwort wedelte der mit dem Schwanz. Sie nahm ihn hoch und machte sich auf den Weg in ihr Zimmer, das eingezwängt zwischen der Vorratskammer und dem Waschraum des Gärtners lag. Das Zimmer war klein und schlicht möbliert. Es gab nur ein schmales Bett, eine Kommode und einen hübschen Bugholzstuhl. Aber immerhin konnte sich der Raum eines Fensters rühmen, das auf den großen Garten hinter dem Haus ging und einen Ausblick auf die grasbewachsene Kuppe des Primrose Hill bot.

Sie setzte Charlie aufs Bett und hockte sich neben ihn. Sie streichelte ihn, bis er sich zu einer Kugel zusammenrollte und die Augen schloss.

»Keiner darf wissen, dass du hier bist«, sagte Susan leise. »Das meine ich ernst, Charlie. Du musst sehr, sehr still sein. Mrs. Kemp mag Hunde nicht, und sie wäre entsetzt, wenn sie wüsste, dass ich dich ins Haus gebracht habe.«

Einen Moment lang blieb Susan still sitzen und runzelte die Stirn, als sie sich an die Szene im Wartezimmer des Tierarztes erinnerte. Da war ein gutes Dutzend Hunde mit ihren jeweiligen Besitzern, und alle Tiere schienen gesund zu sein, wenn manche auch sichtlich alt waren. Seltsamer noch war die Tatsache, dass keiner der Hunde mehr aus dem Behandlungszimmer wieder auftauchte. Hastig machten sich ihre Besitzer allein auf den Weg nach Hause, manche hatten Tränen in den Augen.

Susan hatte fast bis zum Schluss warten müssen. Im Wartezimmer gab es nur noch sie selbst mit Binkie-Bu in seinem Weidenkörbchen und einen großen Pappkarton mit einem sehr kleinen Labradorwelpen mit lohfarbenem Fell. Der Karton war immer noch da, als sie aus dem Behandlungsraum herauskam.

Susan hatte dem Tierarzt die Symptome der Katze geschildert, oder eher Mrs. Kemps Version des Gesundheitszustands ihres Lieblings. Es war Susan klar gewesen, wie der Arzt reagieren würde, und so war sie nicht enttäuscht. Der Arzt hatte die Augenbrauen hochgezogen und erklärt, er habe selten ein gesünderes Exemplar gesehen. Dabei versorgte er einen langen Kratzer auf der Hand, den der empörte Siamkater ihm beigebracht hatte. Schließlich riet der Arzt zu einer leichten Diät und einem strikten Verbot, dem übergewichtigen Kater den Rahm von der Milch zu geben. »Es herrscht Krieg, kleines Fräulein«, sagte er und funkelte sie wütend an, als wäre sie die Schuldige.

Susan hatte den Behandlungsraum mit Binkie-Bu verlassen, der immer noch kehlig fauchte. Schließlich hatte er die würdelose Prozedur über sich ergehen lassen müssen, dass man ihm ein Thermometer in einen Teil seiner Anatomie steckte, den er offenbar für persönlich und sehr privat hielt.

Susan hatte den Katzenkorb auf dem Boden abgesetzt. Einen Moment lang hatte sie mit dem Gasmaskenbehälter zu kämpfen, ehe sie ihr Portemonnaie hatte aus der Handtasche ziehen können. Die Sprechstundenhilfe reichte ihr die Rechnung, die Susan mit dem Geld bezahlte, das Mrs. Kemp ihr gegeben hatte. »Verlangen Sie einen Rabatt bei Barzahlung«, sagte sie. »Achten Sie darauf, dass Sie den bekommen.«

Susan war vorher schon in der Praxis gewesen. Fragend neigte sie den Kopf, und die Sprechstundenhilfe reagierte mit einem Lächeln auf Susans unausgesprochene Frage. »Fragen Sie nicht«, sagte sie und zählte das Wechselgeld ab.

»Das habe ich vor Ewigkeiten schon aufgegeben.« Susan ließ die Münzen in ihr Portemonnaie gleiten. »Eines würde ich aber doch gern wissen. Was ist mit den ganzen Hunden passiert? Ein gutes Dutzend wurde ins Behandlungszimmer gebracht, und keiner ist rausgekommen. Gibt es irgendeine schreckliche Epidemie unter Hunden?«

»Das könnte man so sagen.« Das Lächeln der Sprechstundenhilfe war verblasst. »Überall das Gleiche in ganz London. Wir haben Dutzende vollkommen gesunder Tiere eingeschläfert. Das ist der Krieg. Die Leute können es sich entweder nicht leisten, die Hunde zu behalten, oder sie haben Angst vor den Luftangriffen und wollen nicht, dass ihre Haustiere leiden. Mir fehlt das Verständnis für beides.«

Besorgt musterte Susan den schlafenden Welpen. »Aber doch nicht der auch, oder?«

»Doch, leider. Die anderen aus dem Wurf haben wir unterbringen können. Aber der ist der kleinste, man könnte sagen, der schwächste aus dem Wurf. Wenn ihn bis heute Abend keiner will, dann wird er leider enden wie die anderen Hunde heute im Behandlungszimmer.«

Mehr hatte Susan nicht hören müssen. Sie hatte ihr Portemonnaie auf dem Tresen ausgekippt und sich dabei nicht darum gekümmert, dass sechs Pennys und drei Farthings ihrer Arbeitgeberin gehörten. Sie würde behaupten, ihr wären die Münzen heruntergefallen und sie wären durch einen Gitterrost gekullert. Lieber wollte sie einer erzürnten Mrs. Kemp gegenübertreten, als den kleinen Kerl seinem Schicksal überlassen.

Charlie kuschelte sich tiefer ins Federbett und brummelte leise und zufrieden. Vorsichtig stand Susan auf. Sie wollte ihn nicht stören. Sie wusste, sie hatte das Richtige getan. Wie konnten die Leute nur in einem Anfall vorübergehenden Wahnsinns ihre Haustiere einschläfern lassen! Susan würde noch ihren letzten Bissen mit Charlie teilen. Er gehörte jetzt ihr, und sie würde alles tun, um ihn zu beschützen. Erschrocken fuhr sie herum, als sie jemanden ihren Namen rufen hörte. Schnell lief sie aus dem Zimmer und zog die Tür hinter sich zu.

In der Küche stand Virginia Kemp am Tisch und starrte auf die leeren Schüsseln und die verräterischen Milchspritzer auf dem Boden. »Was haben Sie angestellt, Banks? Ich dachte, der Tierarzt hätte gesagt, der garstige Kater soll weniger Rahm bekommen. Wollen Sie ihn umbringen?«

Binkie-Bu schlenderte zu Virginia hinüber, machte einen Buckel und rieb sich an ihren Beinen. Er schaute zu Susan auf, und sie war sicher, dass er hämisch grinste. Schnell sammelte sie die Anstoß erregenden Tellerchen ein. »Tut mir leid, Miss. Ich habe vorhin vergessen, das aufzuheben.«

Virginia zuckte mit den Schultern. »Sie bekommen Schwierigkeiten, sollte Mummy den Schmutz auf den Fliesen sehen, wenn sie hereinkommt.«

»Ja, Miss. Ist sonst noch etwas?«

»Mummy möchte Tee und Gebäck. Sieht nach einer langen Nacht aus. Pam und ich nehmen Kakao. Für sie keinen Zucker, sie ist sowieso schon zu dick.« Virginia machte auf dem Absatz kehrt und ging zur Hintertür. »Bringen Sie alles zum Luftschutzraum, und denken Sie an die Verdunkelung.« Dann machte sie das Licht aus und trat in die Dunkelheit hinaus.

Susan wartete, bis die Tür sich geschlossen hatte, ehe sie das Licht wieder anmachte. Sie seufzte. Dass sie allein im Haus zurückblieb, schien die anderen nicht zu kümmern. Man hatte ihr zwar nicht ausdrücklich den Zugang zum Schutzraum verwehrt, aber sie hatte ihn bisher nur ein einziges Mal betreten. Es handelte sich um eine Wellblechkonstruktion, die man in den Erdboden hineingegraben und mit dicken Grassoden abgedeckt hatte. Bei diesem ersten und bisher einzigen Besuch des Luftschutzraums hatte sich Susan aber erstens nicht willkommen gefühlt und zweitens auch unter leichter Klaustrophobie gelitten. Wie dem auch sei, sie würde lieber ihr Glück versuchen und im Haus bleiben als die Nacht mit Mrs. Kemp und den beiden Furien verbringen, wie Susan die beiden Kemp-Töchter getauft hatte. Pamela ging ja noch, man konnte mit ihr auskommen, wenn man allein mit ihr war. Bei Virginia dagegen sah die Sache anders aus.

Susan konnte bloß hoffen, dass es eines Tages, und zwar in nicht allzu ferner Zukunft, zur Einberufung aller jungen Frauen käme und sie selbst sich bei einem der Frauen-Hilfscorps würde melden müssen. Das jedenfalls wäre der einzige Ausweg aus ihrer gegenwärtigen Lage. Seit ihrem Geburtstag im August hatte sie immer wieder ernsthaft daran gedacht, sich beim Hilfscorps zu bewerben. Allerdings hatte sie den Plan wieder aufgegeben, als sie herausfand, dass man sie nicht in die Nähe eines Flugzeugs lassen würde. Susan hatte immer wieder Berichte über die beeindruckenden Leistungen von Amy Johnson gelesen, der berühmten britischen Fliegerin, die 1930 als erste Frau einen Alleinflug von England nach Australien absolviert hatte. Inspiriert von diesen Berichten hatte Susan in aller Heimlichkeit den Ehrgeiz entwickelt, fliegen zu lernen, aber das kam ja für ein Mädchen wie sie nicht infrage.

Susan bereitete den Tee vor und erhitzte die Milch für den Kakao. Als alles fertig war, lud sie ein Tablett voll und trug es durch den Garten zum Luftschutzraum. Der Prim-rose Hill lag als dunkle Silhouette vor dem rotglühenden Himmel. Susan roch den beißenden Rauch von Hunderten brennender Gebäude, hörte das Donnern der Flugabwehrkanonen, in das sich das Dröhnen von Flugzeugmotoren mischte, während Bomben auf das East End und benachbarte Stadtteile fielen.

Als käme das Ende der Welt, genauso fühlte es sich an. Der Kriegslärm in seiner ganzen Perfidie war selbst Mrs. Kemp nicht entgangen, denn sie fühlte sich gedrängt, Susan in den Luftschutzraum einzuladen. Susan schüttelte den Kopf und behauptete, sie habe vergessen, die Hintertür abzuschließen, und sie sei nicht sicher, ob sie das Gas abgestellt habe. Sie zog sich zurück, und Mrs. Kemps bissige Bemerkung hallte ihr in den Ohren. »Dummes Ding, ich weiß wirklich nicht, wieso ich dich noch in meinem Haus behalte!«

Den Rest der Nacht verbrachte Susan zusammengerollt auf dem Bett gemeinsam mit Charlie, der sich eng an sie schmiegte. Am nächsten Morgen wachte sie in aller Frühe auf und brachte den jungen Hund in den Garten, ehe er sich danebenbenehmen konnte. Eine Frostschicht lag wie Glasur auf dem Rasen und den kahlen Ästen des Apfelbaums ganz hinten im Garten. Spätblühende Chrysanthemen waren vor Kälte zusammengeschrumpft und versenkten die Köpfe in ihren absterbenden Blättern. Eine bleiche, butterblumenfarbene Sonne zerteilte mit Mühe das Federbett aus Wolken. Abgesehen von dem immer noch in der Luft hängenden Brandgeruch und dem durch die Entfernung gedämpften Brausen und Röhren der Feuer, die irgendwo im Süden wüteten, hätte es ein vollkommener Wintermorgen sein können.

Susan setzte Charlie ins Gras und hoffte, er würde die Gelegenheit nutzen und sich erleichtern. Er trödelte, lief hierhin und dahin, mit der Nase am Boden, erschnüffelte Gerüche, die für menschliche Nasen nicht wahrnehmbar waren. Nervös wartete Susan auf ihn und behielt den Luftschutzraum stets im Auge. »Beeil dich, Charlie«, flüsterte sie. »Mach voran. Bitte.«

Er wedelte mit dem Schwanz und tollte um sie herum. Aber dann schien er zu begreifen, weshalb er hier draußen war, und tat, was von ihm erwartet wurde. Er war kaum fertig, als die Schutzraumtür aufging und Pamela den Kopf herausstreckte. Susan schnappte sich Charlie und ließ ihn in die Tasche ihres Morgenmantels gleiten.

»Ach, Sie sind das.« Mit ihren kurzsichtigen Augen blinzelte Pamela sie an. »Bringen Sie uns Tee, seien Sie so gut, ja, Susan?« Sie duckte sich, ging zurück in den Luftschutzraum und ließ die Tür weit auf.

»Ja, Miss.« Hastig zog sich Susan in die Küche zurück. Sie nahm Charlie aus ihrer Tasche und setzte ihn auf dem Boden ab. »Das war ganz schön knapp, Kleiner. Ein Glück, dass Miss Pamela zu eitel ist, um ihre Brille zu tragen.« Vor lauter Erleichterung kicherte sie. »In Zukunft werden wir vorsichtiger sein müssen.«

Susan setzte den Kessel auf, dann krümelte sie etwas Brot in ein Schüsselchen und goss Milch darauf. Sie stellte die Schüssel vor Charlie auf den Boden und warf dabei Binkie-Bu einen ängstlichen Blick zu. Doch der Kater lag immer noch in aller Seelenruhe auf seinem Samtkissen. Was momentan in der Küche passierte, interessierte ihn scheinbar nicht. Aber Charlies Begeisterung für sein Frühstück riss den Kater aus seiner Lethargie. In einer einzigen geschmeidigen Bewegung erhob er sich von seinem Ruhekissen und stolzierte in unverkennbarer Absicht über die Steinfliesen.

Diesmal war Susan darauf vorbereitet und nahm Charlie aus dem Weg, bevor sie den Rahm der Milch abschöpfte und in eine Schale goss. »Da hast du, du fetter Kater!«, brummelte sie. »Iss auf und genieß es, denn mehr bekommst du nicht.« Sie brachte Charlie in die Sicherheit ihres Zimmers. »Tja, das wird wohl noch ganz schön schwierig«, sagte sie zu sich selbst, als sie die Tür zumachte und ihn einschloss.

Der einzige Dank dafür, dass sie das Tablett mit dem Tee zum Schutzraum brachte, war ein Tadel ihrer Arbeitgeberin. Mrs. Kemp trat heraus, auf dem Kopf steckte ein Lockenwickler am anderen, das Gesicht ohne Make-up wirkte nackt und bleich. Wütend funkelte sie Susan an. »Wieso bist du denn noch nicht angezogen, Mädchen? Was sollen die Nachbarn denken, wenn sie dich in deinem Nachtzeug durch den Garten spazieren sehen?«

»Tut mir leid, Madam«, erwiderte Susan leise. »Miss Pamela bat mich, den Tee zu bringen.«

»Schieb bloß nicht die Schuld auf meine Tochter. Und jetzt mach dich um Himmels willen anständig zurecht.« Mrs. Kemp schnappte sich das Tablett und verschwand in dem, was Susan wie die Eingeweide der Erde erschien.

Am liebsten hätte Susan den Eingang zugeschüttet und die drei Kemp-Weiber dort verrotten lassen. Stattdessen seufzte sie und trottete ins Haus zurück. Danke schien in Mrs. Kemps Wortschatz nicht vorzukommen. Aber nachdem Susan die Familie vier Jahre lang von vorn bis hinten hatte bedienen müssen, hatte sie sich damit abgefunden, wie eine Leibeigene behandelt zu werden. Eines Tages, dachte sie, packe ich meine Sachen und gehe. Nur wann und wohin, das war die Frage.

Susan ging in ihr Zimmer und zog das verhasste braune Kleid an, in dem auch die schönste Frau der Welt bieder und hausbacken ausgesehen hätte. Sie bürstete sich das blonde Haar, bis es glänzte, und stopfte alles unter ein Haarnetz, bevor sie das Häubchen auf dem Kopf feststeckte. Sie band sich die Schürze um und tätschelte Charlie ein letztes Mal, bevor sie ihn wieder allein ließ. Er wollte ihr nachlaufen, aber sie setzte ihn zurück aufs Bett und befahl ihm streng, dort zu bleiben, bis sie wieder zurückkäme. Natürlich verstand er kein Wort von dem, was sie sagte, aber mehr konnte sie schließlich nicht tun. Sie lief in die Küche und machte sich an die Vorbereitung des Frühstücks.

Trotz des hohen Blutzolls, den London nicht nur in dieser Nacht hatte entrichten müssen, und trotz der Verwüstung in einigen Stadtteilen ging das Leben im Kemp-Haushalt weiter, als wäre nichts geschehen. Mrs. Kemp beschwerte sich, der Porridge sei klumpig und der Toast auch nicht nach ihren Wünschen. Anschließend zog sie sich in den Salon zurück, wo sie ihre Zeit meist auf dem Fenstersitz verbrachte und das Leben vorbeiziehen sah. Oder sie saß in einem Sessel am Kamin und las alte Nummern der Zeitschriften National Geographic Magazine oder Woman’s Journal.

Pamela verließ das Haus früh und öffnete die kleine Buchhandlung an der U-Bahn-Station Swiss Cottage, wo sie Geschäftsführerin war. Virginia machte sich nach einem geruhsamen Frühstück auf den Weg in den Golfclub. Sie hatte eine kleine Leibrente von ihrem Vater geerbt, weshalb sie es nicht nötig hatte, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Kürzlich hatte Virginia verkündet, dass sie inoffiziell mit Dudley Thomson verlobt sei und bald heiraten werde. Allerdings fragte sich Susan oft, ob Virginia den jungen Mann in das Geheimnis eingeweiht hatte. Dudley Thomson war eine gepflegte Erscheinung, trat weltmännisch auf, litt aber unter Plattfüßen und Asthma, was ihm die Befreiung vom Kriegsdienst eingebracht hatte. Er war stellvertretender Geschäftsführer der Stadtteilfiliale der Westminster Bank und hielt sich selbst für einen Charmeur. Nach einer verstörenden Episode vergangene Weihnachten, als er versucht hatte, Susan unter dem Mistelzweig zu küssen, und ihr an Busen und Hintern gefasst hatte, achtete Susan darauf, nie mit ihm allein zu sein.

Trotz allem schien Susans offensichtliche Abneigung gegen Dudley ohne Wirkung auf sein Ego zu bleiben. Wenn er den Damen des Hauses einen Besuch abstattete, was für Susans Geschmack zu oft geschah, behandelte er sie mit dem herablassenden Wohlwollen seiner Klasse Dienstboten gegenüber und würzte das Ganze noch mit einem gelegentlichen Klaps auf Susans Hintern, um ihr freundschaftliches Verhältnis zu bekräftigen. Sie erduldete alles schweigend, denn sie wusste, jeder Versuch, ihn bloßzustellen, würde nur zu Ärger führen. Sie hatte den Verdacht, dass er Pamela einer ähnlich demütigenden Behandlung aussetzte, denn sie errötete, wann immer sie ihn sah, und vermied es, sicher kein Zufall, ganz wie Susan, allein mit ihm zu sein.

Dudley hätte gern, so vermutete Susan, sein Glück bei der jüngeren, hübscheren Schwester versucht. Aber Virginia hatte ihn zuerst entdeckt und hatte die Krallen, zu denen sie ihre veritablen Fingernägel hatte wachsen lassen, tief in ihre Beute geschlagen. Dudley mochte sich ja winden wie ein Kaninchen, das in den Fängen eines Habichts steckte, aber befreien würde er sich nicht mehr können. Susan konnte nur hoffen, die zwei lebten unglücklich bis an Ende ihrer Tage.

Als der Frühstückstisch abgeräumt und der Abwasch erledigt war, begab sich Susan an ihre übrigen Pflichten. Sie machte die Betten und leerte die Nachttöpfe aus, auf deren Benutzung die Familie immer noch bestand, obwohl es auf der ersten Etage eine bestens funktionierende Toilette neben dem Badezimmer gab. Sie wischte Staub in allen Räumen und bearbeitete die Böden mit dem Teppichkehrer von Ewbank. Das Polieren der schweren Mahagonimöbel im Speisezimmer war an diesem Tag nicht an der Reihe, und Susan musste auch keine Graphitpaste auf den Herd auftragen. Aber einkaufen musste sie.

Susan hatte ein altes Fahrrad, das jahrelang vernachlässigt und vor sich hin rostend im Gartenschuppen gelegen hatte, wieder zum Leben erweckt. Jetzt war es gereinigt, poliert, eingeölt, es war Luft in den Reifen, und damit war es ein nützliches Fortbewegungsmittel geworden. Allerdings machte Mrs. Kemp in aller Deutlichkeit klar, dass das Rad nicht in der Freizeit benutzt werden dürfe. Susan durfte an ihren freien Tagen also nicht damit fahren, Ausflüge nach Hampstead Heath oder noch weiter weg waren verboten. Zu Fuß gehen sei gesund, verkündete Mrs. Kemp, es kräftige die Beinmuskulatur, und tief durchzuatmen tue dem Kreislauf gut und stärke das Herz.

Susan fragte sich oft, wieso Mrs. Kemp ihren eigenen Rat nie befolgte. Das Haus verließ sie nur selten, und selbst dann nahm sie ein Taxi. Oder sie begleitete Virginia und Dudley auf eine Spritztour aufs Land, was selbstredend in Dudleys Auto geschah. Mrs. Kemp legte immer noch Wert darauf, als Anstandsdame ihrer Mädchen zu fungieren, auch wenn Virginia bald vierundzwanzig wäre und Pamela gerade volljährig geworden war. Manchmal, allerdings nicht oft, hatte Susan tatsächlich Mitleid mit den beiden. Aber dann erinnerte sie sich immer, und das Gott sei Dank schnell, an Virginias beißende Kommentare und an Pamelas Nörgeleien, und ihr Mitgefühl verflog so schnell wie Morgennebel an einem Sommertag.

Erst am späten Nachmittag war Susan mit ihren Einkäufen fertig. Stundenlang hatte sie anstehen müssen, zuerst beim Bäcker, dann beim Metzger. Im Waitrose-Supermarkt hatte sie an einer Theke lange auf die kläglichen Rationen Butter, Käse und Speck warten müssen, dann an einer anderen Theke noch einmal lange auf Tee, Zucker und Kekse. Mrs. Kemp bestand darauf, nachmittags zum Tee Plätzchen aus gut verdaulichem Vollkornmehl oder einen Keks mit Vanillecremefüllung zu essen. Pamela war versessen auf Süßigkeiten, besonders auf Schokolade, und vermisste ihre Vorkriegsgewohnheit, täglich mindestens eine Tafel Cadbury-Schokolade mit Früchten und Nüssen zu essen. Auch in ihren besten Momenten war Pamela kein glücklicher Mensch; doch nicht genug Schokolade zu bekommen brachte sie definitiv an den Rand des Nervenzusammenbruchs.

Susan kam aus dem Lebensmittelladen, Kartoffeln und einen großen Wirsing im Einkaufsnetz. Ihr Fahrradkorb war beinahe voll, also musste sie das Netz an den Lenker hängen und sich bemühen, das Gleichgewicht zu halten, während sie losstrampelte. Sie machte schon ordentlich Tempo und registrierte nur am Rande den großen roten Ball, der genau vor ihr auf die Straße rollte. Den kleinen Jungen, der dem Ball hinterherrannte, sah sie erst, als es zu spät war. Mit aller Kraft stieg sie in die Bremse, schlitterte und stürzte, und die Kartoffeln regneten auf sie herab und rollten in den Rinnstein, wo sie sich zum Wirsing gesellten. Der kleine Junge stieß ein erbarmungswürdiges Geheul aus und rannte zu seiner Mutter.

»Alles in Ordnung mit Ihnen?«

Susan hatte mit einem aufgeschrammten Ellbogen und einem angeschlagenen Selbstbewusstsein zu kämpfen. Aber mit Unterstützung einer hilfreichen Hand kam sie, wenn auch mühsamer als gedacht, wieder auf die Beine. »Alles in Ordnung, danke.«

»Sie bluten.« Der junge Mann trug eine Uniform, die für Susan nach Royal Air Force aussah. Er zog ein sauberes, weißes Taschentuch aus seiner Hosentasche und drückte es sacht gegen den verletzten Ellbogen. Dann bückte er sich, hob den Ball auf und reichte ihn der Mutter des schluchzenden Jungen. »Sie sollten besser auf das Kind aufpassen, Madam. Ihr Sohn hätte einen schlimmen Unfall verursachen können.«

»Wenn ich einen Rat von Ihnen will, frage ich danach, Mister.« Die Frau packte ihren Sohn am Genick, gab ihm einen ungezielten Klaps auf den Hintern und zerrte ihn ins nächstgelegene Geschäft. Sein Geschrei hallte dennoch die ganze Straße hinunter.

»Sie hätte ihn an der Hand halten sollen«, meinte Susan mit bebender Stimme. »Der Junge hätte überfahren werden können.«

»Ist auch ganz bestimmt alles in Ordnung mit Ihnen?«

»Ja, danke. Mir geht es gut. Nur ein paar Schrammen. Nichts weiter Erwähnenswertes.« Sie hob das Rad an und musterte wehmütig den vorderen Reifen. »Sieht aus, als hätte ich jetzt ein Loch im Reifen.«

»Das hört sich jetzt womöglich wie eine dumme Anmache an, aber mein alter Herr hat hier eine Straße weiter ein Fahrradgeschäft.« Er grinste, und seine haselnussbraunen Augen blitzten.

Susan lehnte das Rad an einen Laternenpfahl, bückte sich und sammelte das Gemüse aus dem Rinnstein auf. »Danke. Aber ich muss jetzt nach Hause.«

Dem plötzlichen Aufheulen von Sirenen folgte das Geräusch eiliger Schritte. Die Leute rannten, um einen Luftschutzbunker aufzusuchen. Der junge Offizier nahm Susan das Einkaufsnetz ab und half ihr, die letzten Kartoffeln einzusammeln.

»Mein Vater hat hier um die Ecke wirklich ein Geschäft. Wir haben einen Schutzraum im Garten. Kommen Sie.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, drückte er ihr das Einkaufsnetz in die Hand. Dann nahm er das Rad am Lenker und schob es in die entgegengesetzte Richtung.

Susan blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Das Fahrradgeschäft kannte sie gut. Einen großen Teil ihres sauer verdienten Lohns hatte sie dort gelassen und in diverse Ersatzteile fürs Rad investiert. Trotzdem ging sie nur widerstrebend mit. Mrs. Kemp hatte für Susan von Anfang an eine Sperrstunde verhängt. Nach acht Uhr abends durfte sie das Haus nicht verlassen, was es ihr praktisch unmöglich machte, sich mit anderen in ihrem Alter zu treffen oder einen Freund zu haben. In aller Deutlichkeit hatte Mrs. Kemp erklärt, sie halte nichts von jungen Frauen, die Verehrer hätten, und das schloss ihre Töchter mit ein. Pamela gehorchte den Regeln ihrer Mutter pflichtbewusst. Aber Virginia machte sich einen Spaß daraus, auf diese Regeln zu pfeifen.

Susan lief schneller, um mit dem jungen Mann Schritt zu halten. »Es ist wahrscheinlich gar nicht so schlimm«, meinte sie ängstlich. Was Mrs. Kemp wohl sagen mochte, wenn das Abendessen zu spät auf den Tisch käme, machte ihr im Moment größere Sorgen als die Gefahren eines Bombenangriffs. Und dann war da noch Charlie. Er könnte wimmern oder an der Tür kratzen. »So weit weg vom Hafen werfen die doch keine Bomben ab«, fügte sie atemlos hinzu.

»Das Kaufhaus John Lewis hat kürzlich einiges einstecken müssen. Und eine Bombe ist auch in der Baker Street runtergegangen. In Pimlico auch.«

»Ich sollte lieber sofort nach Hause.«

»Machen Sie sich keine Sorgen. Meine Absichten sind ehrbar, kleines Fräulein.« Sein Lachen war ansteckend, und trotz ihrer Proteste hielt er unbeirrt auf sein Ziel zu.

Überall um sie herum eilten die Leute zum öffentlichen Luftschutzbunker und zum Eingang der U-Bahn. Sirenen hallten immer noch durch die Straßen, ein wirklich grauenerregendes Geräusch. Die Straßen leerten sich schnell, Dringlichkeit und Panik breiteten sich aus, eine Stimmung, die etwas Ansteckendes hatte.

Es war eine große Erleichterung, als sie endlich vor dem Fahrradgeschäft ankamen. Aber Susan war immer noch skeptisch. Sie wunderte sich, dass ein junger Offizier eine solch bescheidene Umgebung sein Zuhause nannte, aber ihr neuer Freund zögerte nicht. Er schob ihr Rad in eine schmale Gasse zwischen den Häusern und öffnete ein Tor, das auf einen Hinterhof führte. Gerade als sie ankamen, trat ein kahlköpfiger Mann mit einem Becher Tee aus dem Gebäude. Seine faltigen Gesichtszüge verzogen sich zu einem erfreuten Lächeln.

»Hallo, Tony, was für eine schöne Überraschung! Ich habe noch gar nicht mit dir gerechnet.«

Susan kannte Mr. Richards gut, und er erinnerte sich offenkundig ebenso gut an sie. Denn er wandte sich mit freundlichem Lächeln zu ihr. »Hallo, Herzchen, wieder mal Probleme mit dem Rad, ja? Oder ist mein Junge in meinem Namen auf Kundenfang gegangen?«

»Nichts dergleichen, Dad. Sie hatte einen kleinen Unfall, und jetzt hat sie ein Loch im vorderen Reifen.« Tony umarmte seinen Vater, der deshalb Tee auf dem Betonboden verschüttete. »Aber darum wollen wir uns lieber später kümmern. Jetzt müssen wir Sie erst einmal in den Luftschutzraum bringen.« Er hielt Susan die Hand hin. »Kommen Sie, Miss … tut mir leid, ich weiß nicht einmal, wie Sie heißen.«

Susan zögerte. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie einen attraktiven, jungen Mann kennengelernt, der sie wie eine Erwachsene behandelte. Sie wünschte sich verzweifelt, dass er einen guten Eindruck von ihr hätte. Aber er war Offizier, und sie war nichts als ein einfaches Hausmädchen. Alle Zweifel, all die Unsicherheit, die ihre Kinderzeit geprägt hatten, überfielen sie mit einem Mal. Sie war ein Niemand, ungewollt und ungeliebt. Banks war der Nachname des Polizisten, der sie ausgesetzt auf den Stufen einer Methodistenkirche gefunden hatte. Zur Identifizierung besaß sie nur einen Zettel, angeheftet an die Decke, in die sie gehüllt war, und auf dem Zettel in Großbuchstaben der Name SUSAN. »Einfach nur Susan«, hauchte sie. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«

»Tony Richards. Freut mich, Einfach-nur-Susan. Ich nehme an, Sie haben auch einen Nachnamen.«

Sie holte tief Luft. Sie wünschte sich so verzweifelt, dass er einen guten Eindruck von ihr hätte. »Natürlich.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Kemp. Ich heiße Susan Kemp.«

Kapitel Zwei

Susan hatte ihm eine faustdicke Lüge aufgetischt. Beinahe spürte sie sie schon, die Hand Gottes, die sie niederstrecken würde. Aber nun war es geschehen. Sie hatte den Namen ihrer Arbeitgeberin gestohlen und behauptet, Mitglied einer Familie zu sein, die nichts als Verachtung für sie empfand. Aufmerksam und ängstlich musterte sie Tony und fragte sich, ob er sie und ihre Lüge wohl durchschaut hätte. Aber er lächelte.

»Hallo, Susan Kemp. Ich bin aufrichtig entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Er nahm ihre Hand. »Ich habe so ein Gefühl, als wäre dies der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.«

»Jetzt lass mal das Süßholzraspeln!«, mischte sich Mr. Richards ein und schüttelte den Kopf. »Du wärest weg vom Fenster, wenn die Deutschen die U-Bahn-Station Swiss Cottage bombardieren, und alles, was du tust, ist hier stehen und den Beau Geste geben.«

Susan sah erst den einen, dann den anderen an. »Wer ist Beau Geste?«

»Der Held eines wirklich fabelhaften Films, Gary Cooper spielt ihn. Sie kennen den Film nicht? Geht um drei Brüder, die in die Fremdenlegion gehen, und so.« Tony führte sie in den Luftschutzbunker. »Habe den Film letzte Woche in Southampton gesehen. Vielleicht hätten Sie ja Lust, ihn sich mal mit mir anzugucken, falls er hier noch läuft. Na, wie wär’s?«

Susan blinzelte, bis sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Sie setzte sich in die Nähe des Eingangs. »Vielleicht. Aber ich kenne Sie doch kaum.«

Tony setzte sich neben sie. »Es gibt nur einen Weg, dem abzuhelfen, Susan.«

Sie warf seinem Vater einen besorgten Blick zu, aber Mr. Richards war damit beschäftigt, sich die Brille am Hemdzipfel zu polieren. »Sind Sie auf Heimaturlaub?«, fragte sie, um das Thema zu wechseln.

»Er ist Pilot«, erklärte Mr. Richards voller Stolz, ohne seinem Sohn Gelegenheit zu einer Antwort zu geben. »Er ist First Officer bei der Air Transport Auxiliary, die Transport- und Versorgungsflüge durchführt. Das ist so gut wie ein Flight Lieutenant bei der Air Force.«

Tony schüttelte den Kopf. »Ich bin Fluglehrer, Dad, nicht mehr und nicht weniger, aber das ist sicher nicht ganz dasselbe.«

»Trotzdem ist er Pilot«, wiederholte Mr. Richards stolz. »Du würdest reguläre Einsätze fliegen, wenn da nicht deine Rückenverletzung wäre.«

Tony zuckte mit den Schultern. »Es ist schon viel besser als gleich nach der Bruchlandung«, erwiderte er lässig. »Ich bin schon fast wieder der Alte, auch wenn es immer noch schlimm genug ist, dass ich nicht mehr zur Fliegerstaffel gehöre.«

»Sie sind ein echter Pilot, oh!«, meinte Susan und staunte ihn voller Ehrfurcht an.

Er grinste. »Meine Fluglizenz habe ich schon vor dem Krieg gemacht. Das Fliegen war schon immer meine große Leidenschaft. Deshalb unterrichte ich jetzt.«

»Und du lebst.« Mr. Richards hauchte auf seine Brillengläser und widmete ihnen noch eine extra Runde Polieren. »Möglicherweise wärest du heute gar nicht hier, wenn du immer noch eine Wellington fliegen würdest. Du leistest auch so großartige Arbeit.« Er räusperte sich.

»Es muss faszinierend sein, ein Flugzeug zu steuern«, sagte Susan und lenkte so das Gespräch in eine unverfänglichere Richtung. Sie sah deutlich, dass es Mr. Richards peinlich war, seine Gefühle offen zur Schau zu stellen. »Einfach nur da oben in der Luft zu sein, frei wie ein Vogel. Ich kann mir nichts Aufregenderes vorstellen. Ganz bestimmt ist Ihre Arbeit kriegswichtig.«

Tony verzog das Gesicht. »Stimmt schon. Aber Ruhm erntet man damit nicht. Ich unterrichte Piloten darin, alle möglichen Flugzeugtypen für die Air Transport Auxiliary zu fliegen. Und mehr darf ich Ihnen leider nicht sagen. Der Rest ist geheim.«

»Trotzdem ist es so schon aufregend genug«, meinte Susan und schlug in aufrichtiger Bewunderung die Hände zusammen. »Ich finde das einfach wunderbar!«

Mr. Richards setzte sich die Brille auf und erhob sich. »Na, siehst du, Tony: Da gibt es noch jemanden außer deinem alten Vater, der dich bewundert. Ganz eigennützig gesprochen, ich habe lieber einen lebenden Sohn als einen toten Helden.« Er schwieg einen Moment und neigte lauschend den Kopf zur Seite. »Das hat sich gerade wie Entwarnung angehört. Muss wohl falscher Alarm gewesen sein. Ich gehe dann mal lieber zurück ins Geschäft.« Er trat hinaus und blieb auf der Schwelle kurz stehen. »Geben Sie mir zehn Minuten, Susan, dann habe ich Ihr Rad in Ordnung gebracht.«

»Aber nicht doch! Ich will Ihnen nicht Ihre wertvolle Zeit stehlen«, protestierte sie und sprang auf. »Ich sollte jetzt wirklich nach Hause. Ich kann das Rad ja schieben und bringe es dann morgen wieder her, oder übermorgen.« Sie mochte nicht zugeben, dass sie die Reparatur nicht bezahlen konnte. Vor dem Freitag würde sie keinen roten Heller ihr Eigen nennen können, erst dann nämlich würde Mrs. Kemp ihr einigermaßen widerwillig ihren Lohn auszahlen.

»Keine Sorge, Kleines«, erwiderte Mr. Richards und tätschelte ihr die Schulter. »Es wird nicht lange dauern. Eine Reifenpanne behebe ich im Schlaf.« Er war gegangen, noch ehe sich Susan mit einer nachvollziehbaren Ausrede verabschieden konnte.

Tony stand auf und streckte sich. »Kommen Sie, wir sollten auch raus hier. Ich kann diese verdammten Luftschutzräume nicht ausstehen. Ich riskiere es lieber und bleibe draußen, als eine Nacht hier drinnen in dieser Enge zu verbringen.«

Eine zweite Aufforderung brauchte Susan nicht. Sie ging hinaus und sog tief die frostschwere Luft ein. »Mir geht es genauso. Ich kann es nicht ausstehen, unter der Erde zu sein.«

»Scheint, als hätten wir viel gemeinsam.« Tony folgte ihr hinaus auf den Hinterhof, der vollgestellt war mit leeren Kisten, aufgestapelten Gummireifen und Fahrradgestellen, manche ohne Reifen, andere ohne Sattel. »Wie ein Friedhof ist das hier«, sagte er und folgte Susans Blick. »Solange ich zu Hause bin, werde ich für meinen Dad ein bisschen aufräumen. Er hat schon alle Hände voll zu tun, wenn er im Geschäft arbeitet und sich obendrein noch um sich selber zu kümmern hat.«

»Lebt er allein?«

»Mum ist gestorben, als ich zehn war. Es war ein Unfall mit Fahrerflucht. Den Fahrer haben sie nie gefasst.«

»Das tut mir leid. Das muss furchtbar für Sie beide sein.«

»Ich habe es mit angesehen. Den einen Moment hielt sie noch meine Hand, als wir die Straße überquerten, und den nächsten …« Er wandte den Kopf ab. »Vor zwölf Jahren ist das gewesen. Manchmal kann ich mich gar nicht mehr an ihr Gesicht erinnern.« Von der Seite her warf er ihr einen Blick zu. »Schlimm, oder?«

Sie ließ ihre Hand in seine gleiten und drückte seine Finger sacht. »Aber nein. Sie waren doch noch so klein, da erinnert man sich nicht mehr.«

»Sie sind ein richtig nettes Mädchen, Susan Kemp.« Er hielt ihren Blick, seiner ernst und aufrichtig. »Wie alt sind Sie eigentlich, wenn ich das fragen darf? Ich bin zweiundzwanzig, und ich will ja schließlich keine Anzeige wegen Kindesentführung.«

»Ich bin achtzehn.« Sie fühlte heiße Röte in die Wangen steigen und zog schnell die Hand zurück. Flirtete er mit ihr? Damit hatte sie keinerlei Erfahrung, und auch ohne Flirtversuche wusste sie schon nicht mehr, wie sie sich verhalten sollte. Sie zog sich Richtung Tor zurück. »Ich muss jetzt aber wirklich gehen.«

»Warten Sie. Sie haben Ihre Einkäufe vergessen.« Er verschwand in dem Luftschutzraum und kam mit ihrem Netz wieder heraus. »Das ist schwer. Ich begleite Sie nach Hause.«

»Das ist nicht nötig, wirklich nicht.« Sie entriegelte das Tor, das auf den schmalen Durchgang führte. »Ich sehe mal nach, ob Ihr Vater mit meinem Rad fertig ist.« Sie ging auf den Vordereingang des Geschäfts zu. Tony blieb ihr dicht auf den Fersen.

»Ich habe doch nichts gesagt, was Sie beunruhigt hätte, oder, Susan?«

»Nein. Ganz und gar nicht. Ich muss jetzt einfach nur nach Hause zu Charlie.« Das hatte sie gesagt, ohne nachzudenken, und kaum waren die Worte ausgesprochen, bereute sie sie.

»Wer ist Charlie? Ihr Freund?«

Sie hatte schon einen falschen Namen angegeben. Eine weitere kleine Lüge würde da auch nichts mehr ausmachen. »Ja«, antwortete sie und wählte den bequemen Ausweg. »Stimmt genau.«

»Dann kommt es wohl nicht infrage, dass ich Sie mal ins Kino ausführe.«

Sie war vor dem Eingang des Geschäfts angelangt, und sie zögerte. »Da haben Sie leider recht.«

»Na gut, dann weiß ich Bescheid.« Tony öffnete die Tür und hielt sie ihr auf. »Aber nach Hause bringe ich Sie trotzdem. Das Einkaufsnetz ist schwer, und wir wollen doch nicht, dass Sie noch einmal stürzen. Beim nächsten Mal haben Sie vielleicht nicht so viel Glück.«

Als sie das Geschäft betrat, murmelte sie leise Unverständliches vor sich hin. Normalerweise hätte sie sein Angebot sofort abgelehnt, aber wahrscheinlich hatte der tragische Tod seiner Mutter in ihm einen ausgeprägten Beschützerinstinkt für andere geweckt. Der Auslöser dafür war wohl gewesen, dass Susan ausgestreckt auf der Straße gelegen hatte  es hatte sicher unschöne Erinnerungen in ihm wachgerufen. Unvorstellbar für Susan, was der kleine Junge empfunden haben mochte, als seine Mutter überfahren worden war. Mit Mühe verdrängte sie das Bild des zehnjährigen Jungen und seines tragischen Verlustes aus ihren Gedanken und trat an die Ladentheke.

»Wie sieht es denn aus, Mr. Richards?«, fragte sie.

»Fast fertig.« Mr. Richards nahm die Zigarette aus dem Mundwinkel und legte sie auf den Rand des Aschenbechers. »So, und da wären wir dann, Herzchen. So gut wie neu.« Er hob die Klappe in der Theke und rollte das Fahrrad heraus.

»Was bin ich Ihnen schuldig?«, erkundigte sich Susan ängstlich.

»Ist schon gut, Kleines. Das war umsonst.«

»Das scheint mir nicht fair zu sein.«

Mr. Richards lächelte. »Na, wir hatten doch das Vergnügen Ihrer Gesellschaft im Luftschutzraum, Susan. Das allein ist schon Bezahlung genug.«

Sie wollte protestieren, aber Tony griff nach dem Lenker und war schon auf dem Weg zur Tür. »Machen Sie sich keine Sorgen. Beim nächsten Mal berechnet er Ihnen das Doppelte.«

»Ungezogener Bengel!«, sagte sein Vater liebevoll. »Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder, Susan.«

»Ja. Danke für die Reparatur.«

Aus einem Impuls heraus beugte sich Susan über die Theke und küsste Mr. Richards auf die Wange. Er roch nach Zigarettenrauch, nach Pomade und nach Schmieröl. Er ist nett, entschied sie. Wenn sie sich spontan jemanden als Vater aussuchen könnte, wäre es ein Mann wie Mr. Richards: freundlich, großzügig und liebevoll. Von diesen Eigenschaften hatte sie herzlich wenig zu sehen bekommen, seit man sie bei den Kemps aufgenommen hatte. Sie drehte sich um und merkte, dass Tony sie mit anerkennendem Lächeln beobachtete.

»Kommen Sie, Susan. Wir dürfen Charlie nicht warten lassen.«

Sein Tonfall war neutral, aber auf einmal wünschte sie sich, sie hätte nicht das Blaue vom Himmel heruntergeschwindelt.

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Verzweifelt suchte Susan nach einer Erklärung, aber sie hatte Charlie als menschliches Wesen ausgegeben. Jetzt würde es sich kindisch anhören, wollte sie zugeben, dass sie einfach in Panik geraten war. Solch ein Eingeständnis würde zu allerlei Fragen über ihre Familie führen, und dann wäre sie gezwungen, ihm zu erzählen, dass sie gelogen und ihm einen falschen Namen genannt hatte. Arglistige Täuschung, das war es, und sie selbst hatte sich die Grube geschaufelt, aus der es kein Entkommen zu geben schien.

»Erzählen Sie mir von Ihrer Arbeit«, bat sie verzweifelt. »Natürlich nur über den Teil, der nicht geheim ist.«

»Da gibt’s nicht viel zu erzählen«, antwortete er lässig. »Wir nehmen Freiwillige auf, die bereits einen Pilotenschein und mindestens zweihundert Flugstunden haben. Denen bringen wir dann bei, alles Mögliche zu fliegen, von einer Gypsy Moth bis hin zu einem viermotorigen Bomber.«

»Und Sie unterrichten nicht nur Männer, sondern auch Frauen?«

»Im Moment nicht. Die Pilotinnen von der Air Transport sind in White Waltham stationiert. Aber ich finde, die leisten großartige Arbeit.«

»Und Sie fliegen Spitfires?«

Auf ihren neugierigen Blick reagierte er mit einem Lächeln. »Ist das Ihre Lieblingsmaschine?«

»Ich denke schon. Nicht, dass ich viel über Flugzeuge weiß«, fügte Susan hastig hinzu. »Aber ich habe in Zeitschriften und in den Zeitungen über Spitfires gelesen. Die haben so eine schöne Form.« Sie spürte, dass sie wieder rot wurde. »Ich fürchte, das hört sich albern an.«

»Keineswegs. Ich finde Spitfires auch faszinierend.« Neugierig musterte er sie. »Interessiert sich Charlie fürs Fliegen?«

Beim Gedanken an einen Welpen mit Flügeln wie ein Vogel musste Susan ein Kichern unterdrücken und schüttelte den Kopf. »Nein, kein Stück. Er ist eher der Typ, der fest mit den Beinen auf der Erde steht.«

»Was macht er denn? Ich meine, ist er bei einer der Waffengattungen?«

»Nein.« Sie zögerte und überlegte schnell. »Dafür gibt es Gründe … gesundheitlicher Art, sozusagen.«

»Tut mir leid. Ich wollte nicht neugierig sein.«

Er wirkte so verlegen, dass Susan wünschte, sie hätte gar nicht erst angefangen, davon zu sprechen. Vor dem Haus der Kemps blieb sie stehen. »So, da wohne ich, Tony.« Sie streckte die Hand aus, um ihm das Einkaufsnetz abzunehmen. »Danke für alles. Ich hoffe, Sie genießen Ihren Urlaub.«

Er hängte das Netz über den Fahrradlenker und starrte ehrfürchtig auf die imposante Fassade. »Dagegen wirkt unsere Wohnung über dem Laden ja wie die reinste Puppenstube.«

»Ich bin sicher, Sie haben ein sehr gemütliches Zuhause.« Dann fiel Susan nichts mehr ein, und sie hielt ihm die Hand hin. »Nochmals danke.«

Ernsthaft schüttelte Tony ihr die Hand. »War mir ein Vergnügen.« Aus seiner Jackentasche zog er einen Notizblock und einen Füllfederhalter. Er nahm die Kappe vom Füller und kritzelte etwas auf den Block. »Sollten Sie und Charlie je in Hamble sein, kann ich ein paar gute Pubs empfehlen. Das Bugle offeriert ein tolles Dinner mit Hummer, oder Sie gehen ins King and Queen oder ins Victorious, sitzen einfach da und schauen aufs Wasser. Hamble ist ein hübscher kleiner Ort, sogar im Krieg. Und Sie bekommen viele Spitfires zu sehen. Ich habe die Telefonnummer vom Victorious aufgeschrieben. Der Wirt ist sehr sympathisch, und er gibt Nachrichten weiter, kleine, große, alle möglichen halt.«

Susan nahm Tony den Zettel ab. Sie wusste, sie käme nie nach Hamble, aber es hörte sich an wie der Himmel.

»Danke, Tony«, sagte Susan. »Sollten Charlie und ich je in der Gegend sein, melden wir uns ganz bestimmt.« Sie steckte den Zettel ein. »Auf Wiedersehen, und passen Sie gut auf sich auf.«

Tony tippte sich an die Uniformmütze. »Es war schön, Sie kennengelernt zu haben, Susan.«

Susan sah ihm nach, als er fortging, und beinahe überwältigte sie Traurigkeit. Sie hatte einen Mann getroffen, den sie wirklich mochte, und sie hatte dabei entsetzliches Chaos angerichtet. Sie hatte nicht nur bei ihrem Namen gelogen und sich als wichtiger dargestellt, als sie in Wirklichkeit war. Sie hatte ihn auch in dem Glauben gelassen, dass ein goldgelbes Fellknäuel ein menschliches Wesen wäre. Sie lief den gepflasterten Seitenpfad hoch, der in den Garten führte. Sie stellte das Rad im Schuppen unter und lief zur Hintertür. Sie öffnete sie und hoffte und betete, dass Charlies Anwesenheit nicht entdeckt worden wäre.

Das wütende Gebimmel der Glocke mit der Aufschrift Salon empfing Susan. Sie seufzte. Mrs. Kemp würde den Nachmittagstee wollen. Susan aber hatte nicht die Zeit gehabt, Scones zu backen. Es würde Brot geben müssen, und darauf dünn gekratzt etwas Butter und ein großzügiger Klacks Marmelade, die zum Glück noch nicht rationiert war.

Susan streifte rasch den Regenmantel ab und eilte in den Salon, um sich dem Zorn ihrer Arbeitgeberin zu stellen. Am Tisch im Flur blieb sie stehen, um sich das Häubchen zu richten, und dann, in dem Spiegel, der direkt über dem Buddhakopf hing, überprüfte sie, ob ihre Kleidung richtig saß. Beinahe wollte sie der Mut verlassen, als sie die unverkennbare Stimme von Mrs. Kemps Freundin heraushörte. Mrs. Girton-Chase war zu Besuch, die Stimme unverkennbar: Sie klang, als würde jemand Glas zerschneiden.

Mrs. Kemp ließ sich nie die Gelegenheit entgehen, vor diesem besonderen Gast aufzutrumpfen. Mrs. Girton-Chase’ Familienstammbaum ließ sich, schenkte man den Gerüchten Glauben, bis zu Wilhelm dem Eroberer zurückverfolgen. Inzwischen allerdings lebte die Dame in einer Seniorenresidenz mit Blick auf den Regent’s Park. Die Bewohner dort stammten allesamt aus dem Adel. Insgeheim war Susan davon überzeugt, Mrs. Girton-Chase’ illustre Familie wäre wahrscheinlich froh, die alte Hexe los zu sein. Sie atmete tief durch, klopfte an die Tür und trat ein.

Wütend funkelte Mrs. Kemp sie an. »Wo hast du bloß gesteckt, Mädchen? Und weshalb trägst du nicht die vorgeschriebene Kleidung?«

Ihre zufällige Begegnung mit Tony und ihre Sorge um Charlie hatten alles andere aus ihren Gedanken verbannt. Susan verschränkte die Hände hinter dem Rücken. »Tut mir leid, Madam. Ich komme gerade erst vom Einkaufen zurück. Ich musste in den Läden ewig lange anstehen, und dann kam auch noch der Bombenalarm.«

»Ausreden«, warf Mrs. Girton-Chase ein und schüttelte den Kopf. »Heutzutage bekommt man einfach kein gutes Personal mehr, Jane.«

Mrs. Kemp beschloss, diese Erklärung zu ignorieren. Sie verzog den Mund. »Zieh dich sofort um, Banks, und dann bring den Tee. Ich habe Appetit auf Scones mit viel Marmelade. Sahne hast du wohl nicht bekommen, oder?«

Susan griff nach dem Türknauf. »Nein, Madam.«

»Sie sollte die Milch abkochen.« Mrs. Girton-Chase zeigte mit knotigem Finger auf Susan. »Das solltest du tun, Mädchen. Erhitze die Milch auf Körpertemperatur und lass sie dann über Nacht stehen. Am Morgen kannst du dann den Rahm abschöpfen. Zeig ein bisschen Initiative, wenn du über so etwas verfügst.«

»Tut sie nicht«, lautete Mrs. Kemps Urteil, und sie entließ Susan mit einer flüchtigen Handbewegung. »Kinder aus dem Waisenhaus sind verlorene Liebesmüh, Margot. Ich wollte meine Bürgerpflicht tun, aber manchmal frage ich mich, ob es all die Mühe wert war.«

Susan verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich. Das alles hatte sie schon oft gehört. Trotzdem hatte Mrs. Kemp immer noch die Macht, sie mit diesen Worten zu kränken. Manchmal hätte Susan am liebsten mit dem Fuß aufgestampft und ihre vermeintliche Wohltäterin angebrüllt. Die bittere Wahrheit herauszuschreien wäre gar nicht so verkehrt gewesen. Aber wozu? Wären diese Worte etwa auf fruchtbaren Boden gefallen? Nein, sicher nicht. Mrs. Kemp war davon überzeugt, dass sie bei allem, was sie sagte und tat, recht hätte.

Susan sah nach Charlie, ehe sie sich in der Küche an die Arbeit machte. Jetzt würde es wohl kaum noch einen Unterschied machen, wenn Mrs. Kemp weitere fünf Minuten auf ihren Tee warten musste. Nichts war so wichtig wie das Wohlergehen ihres kleinen Schützlings. Sie fand ihn zusammengerollt auf ihrem Bett, ihm zur Gesellschaft wollene Bettsocken. Auf dem Linoleum gab es mehrere kleine Pfützen, aber nichts Schlimmeres.

Charlie machte die Augen auf und gähnte. Dabei zeigte er eine rosafarbene Zunge und winzige, spitze Zähne. Er wedelte mit seinem kleinen Schwanz, sprang auf und begrüßte sie freudig. Sie nahm ihn hoch, drückte ihn an sich und flüsterte ihm in Babysprache etwas zu. Sie fühlte sein Herz schlagen, als sie seinen warmen, weichen Körper in den Armen hielt. Er gab ein leises Winseln von sich, während er ihr die Wange leckte. Susan zögerte einen Moment, dann setzte sie ihn wieder auf dem Bett ab und zog ihr schwarzes Kleid an. Er saß da und beobachtete sie erwartungsvoll. sie hatte nicht das Herz, ihn so bald schon wieder zu verlassen. Sie richtete sich die Haare und befestigte das gerüschte Stirnband. Dann nahm sie Charlie hoch und machte sich auf den Weg in die Küche.

Binkie-Bu war zum Glück nicht da. Seine nachmittägliche Siesta hielt er für gewöhnlich im Salon bei seinem Frauchen, und obwohl Susan ihn dort nicht gesehen hatte, nahm sie an, dass er es sich auf einem der Sessel bequem gemacht hatte. Sogar Mrs. Girton-Chase würde es sich sehr gut überlegen, ehe sie den Siamkater von irgendeinem Platz verscheuchte, den er vereinnahmt hatte. Binkie-Bu kannte keine Gnade, wenn man ihn störte. Zuweilen versteckte er sich hinter einem Möbelstück, um mit seinen Krallen auf jeden loszugehen, der das Pech hatte, in seine Reichweite zu kommen. Um Zeugnis von derartigen Angriffen abzulegen, konnte Susan sogar Narben auf den Beinen nachweisen.

Susan brachte Charlie in den Garten und ließ ihn auf dem Rasen herumstromern, während sie in die Küche lief, um Scones zu backen und eine Kanne Tee für zwei zu machen. Sie hatte es gerade noch in die Küche geschafft, sozusagen im letzten Moment, ehe Virginia hereinstürzte und verkündete, dass Dudley und sie ebenfalls Tee wünschten.

»Und bringen Sie auch den Rest vom Früchtekuchen«, fügte sie hinzu und blieb auf der Türschwelle stehen. »Wenn Sie alles verputzt haben, werde ich fuchsteufelswild.«

»Ich habe den Kuchen nicht angerührt«, antwortete Susan und vergaß in der momentanen Wut ihren Platz. »Ich esse Früchtekuchen nicht einmal!«

»Reden Sie nicht in diesem Ton mit mir, Banks.« Virginia warf den Kopf in den Nacken. »Es mag ja Krieg herrschen, aber im Waisenhaus sind viele Mädchen wie Sie, die alles darum gäben, in solch einem Haus zu leben.« Sie rauschte aus der Küche, ohne auf eine Antwort zu warten.

Susan streckte ihr die Zunge heraus. Eine kindische Geste, aber trotzdem befriedigend. »Pferdegesicht«, brummelte sie leise. »Hochnäsiges Biest.« Sie knallte den Teig auf das bemehlte Brett und rollte ihn gerade aus, als das Glöckchen für den Salon schon wieder bimmelte. Sie seufzte. Ihr war klar, dass sie dieses Spiel nicht gewinnen konnte. Was immer sie auch machte, es wäre falsch. Sie würde es mit Fassung tragen, so wie sie das die vergangenen vier Jahre gemacht hatte. Die Familie mochte sie wie Dreck behandeln, aber sie war kein Dreck und verdiente wahrhaft Besseres.

Eines Tages würde sie hocherhobenen Hauptes dieses Haus verlassen, und dann müssten die drei Kemp-Weiber ohne ihre persönliche Sklavin zurechtkommen. Weder Virginia noch Pamela hatten je in ihrem Leben ein Paar Strümpfe ausgewaschen, geschweige denn einen Staubwedel geschwungen. Mrs. Kemp würde eine Kasserolle nicht von einer Bratpfanne unterscheiden können. Wären die drei auf sich allein gestellt, müssten sie von Brot und Käse leben. Ganz genau wie Hausmäuse. Eine Sippe von Hausmäusen. Das Bild brachte Susan zum Kichern.

Sie stellte das Backblech mit den Scones in den heißen Ofen und füllte den Kessel mit Wasser. Wieder klingelte es, sogar zweimal. Aber sie ignorierte die Glocke und ließ sich Zeit damit, Teller, Messer, Tassen und Untertassen auf ein Tablett zu stellen. Sie holte bestickte Leinenservietten aus der Schublade und achtete genau darauf, dass es die kleinen waren, die nur zum Nachmittagstee oder einem leichten Mittagessen benutzt wurden. Mrs. Wilson, die Köchin im Haus gewesen war, bis sie in den Ruhestand ging, war eine Seele von Mensch gewesen. Sie hatte Susan die Grundlagen des Kochens beigebracht und ihr gezeigt, wie man den Tisch eindeckte und Servietten für eine Dinnerparty faltete. Sie war die Einzige im Haushalt gewesen, die Susan mit einem gewissen Maß an Menschlichkeit und Mitgefühl behandelt hatte. Susan hatte Mrs. Wilson sehr gemocht und vermisste sie immer noch.

Susan nahm die Scones zum Abkühlen aus dem Ofen, dann ging sie hinaus und schaute nach Charlie. Er gab begeisterte Laute von sich und sprang mit glänzenden Augen auf sie zu. Sie brachte ihn hinein und gab ihm eine Schale Brot mit Milch, und er verputzte alles innerhalb von Sekunden. Besorgt beobachtete sie ihn. »Ich weiß nicht genau, was du fressen solltest, Charlie. Ich muss in die Bücherei gehen und mir ein Buch über Hunde heraussuchen«, sagte sie zu ihm. Beim Klang ihrer Stimme wedelte er mit dem Schwanz.

Wieder ertönte die Glocke, und hastig stapelte Susan die warmen Scones auf einen Teller und stellte ein Schälchen mit Marmelade dazu. Butter war längst zum Luxus geworden. Pro Person wurden nur fünfundfünfzig Gramm pro Woche zugeteilt. Aber hausgemachte Brombeermarmelade gab es reichlich in der Vorratskammer. Allzu gern hatte Mrs. Wilson ihre Einmachkünste an Susan weitergegeben, und inzwischen war Susan sehr geschickt darin, Marmelade einzukochen, Gemüse einzulegen und zu backen. Das Kochen machte ihr Spaß. Das war mehr, als sie über die übrigen eintönigen Arbeiten im Haushalt sagen konnte.

Sie hob das Tablett hoch und trug es in den Salon.

»Wurde ja auch langsam Zeit«, meinte Mrs. Kemp stirnrunzelnd. »Hättest du noch länger gebraucht, wäre es Zeit fürs Abendessen gewesen.«

»Heutzutage bekommt man einfach kein anständiges Personal«, schimpfte Mrs. Girton-Chase zum wiederholten Mal. Sie musterte die Scones. »Hoffentlich liegen die nicht zu schwer im Magen. Sollte das der Fall sein, leide ich wieder die ganze Nacht unter schrecklichen Verdauungsbeschwerden.«

Dudley und Virginia hatten nebeneinander auf dem Fenstersitz gesessen. Doch jetzt sprang Dudley auf und nahm Susan das Tablett aus der Hand. »Erlauben Sie mir, Kindchen«, sagte er, strich dabei wie zufällig über ihre Hände und zwinkerte ihr zu. »Tja, wer hätte da nicht gern was anderes, was Leichtes und so richtig Knuspriges zum Beispiel, nach dem man sich die Finger leckt.« Dabei grinste er Susan anzüglich an.

»Stell das Tablett ab, Dudley.« Virginia erhob sich mit der Anmut eines Panthers, der zum Sprung auf seine Beute ansetzt. »Das wäre vorläufig alles, Banks.«

Hastig zog sich Susan in die Küche zurück.

In den nächsten Tagen wäre ein paar Mal beinahe alles aufgeflogen. Besonders eng wurde es knapp eine Woche, nachdem Susan den kleinen Charlie ins Haus geholt hatte. Am Morgen hatte Pamela an ihrer Frisierkommode gesessen und ein wenig Lippenstift aufgetragen, als sie Charlie auf dem Rasen herumtoben sah. Aber als sie endlich ihre Brille gefunden und aufgesetzt hatte, war er schon wieder im Haus verschwunden. Zum Frühstück kam Pamela herunter und beklagte sich darüber, dass das Zwergkaninchen, das den Kindern von nebenan gehörte, wieder einmal aus dem Käfig ausgerissen sei und seinen Weg in den Garten der Kemps gefunden habe.

»Um diese Jahreszeit gibt es da unten nicht mehr viel zu fressen«, sagte sie und knabberte an ihrem Toast. »Aber Sie gehen lieber mal runter und suchen das Kaninchen, ehe es noch irgendeinen Schaden anrichtet, Susan.«

»Ja, Miss.« Susan schenkte Pamela noch einmal Tee nach. »Wäre da sonst noch etwas?«

Pamela schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ich muss jetzt los, sonst öffnen wir zu spät. Ausgerechnet heute kommt nämlich Mr. Margoles und macht Inventur.« Sie nahm einen Schluck Tee, tupfte sich die Lippen mit der Serviette ab und stand vom Tisch auf. »Was gibt es denn heute zum Abendessen? Hoffentlich nicht schon wieder Eintopf.«

»Ich weiß nicht, Miss. Ich gehe heute am Vormittag noch einkaufen. Vielleicht hat der Metzger ja noch ein paar Würstchen übrig, wenn ich früh genug hinkomme.«