SEX EDUCATION. Der Roadtrip - Katy Birchall - E-Book
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SEX EDUCATION. Der Roadtrip E-Book

Katy Birchall

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Beschreibung

Ein Buch für alle, die dringend mehr SEX EDUCATION brauchen! Maeves Bruder steckt mal wieder in Schwierigkeiten. Sie kann ihn natürlich nicht einfach hängen lassen - auch wenn Sean das mehr als verdient hätte! Zusammen mit Otis, Aimee und Eric macht sie sich auf den Weg zu ihm und plötzlich wird aus der halsbrecherischen Rettungsaktion ein abenteuerlicher Roadtrip. Sean wird von einer Gruppe reicher Jugendlicher beschuldigt, sie bestohlen zu haben. Kurzerhand schleichen sich die vier Freunde in die toxische Clique ein, um seinen Ruf wiederherzustellen. Gar nicht so einfach, denn dabei kommt Unausgesprochenes zwischen Maeve und Otis ans Licht und die Beweise gegen Sean sind mehr als erdrückend … Tauch noch tiefer ein in die Welt von SEX EDUCATION und erlebe mit Otis, Maeve, Aimee und Eric einen legendären Roadtrip! Dieser offizielle Roman zur Netflix-Erfolgsserie bietet Fans alles, was sie an SEX EDUCATION lieben: tolle Charaktere, viele Geheimnisse und intensive Emotionen, dazu jede Menge Humor und beste Unterhaltung. Ob LGBTQI+ oder Body Positivity, Feminismus oder Sextherapie - wie in der Serie gibt es auch im Roman ungeschönte Wahrheiten und Tabubrüche über alles, was wirklich wichtig ist in Sachen Liebe, Sex und Beziehungen. Mit einem Nachwort von Ilona Einwohlt. Empfohlen für alle, die die Serie auf Netflix gebinged haben und trotzdem nicht genug bekommen.

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Seitenzahl: 350

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Katy Birchall

ist Journalistin und Autorin mehrerer Jugendromane, unter anderem von der Bestsellerserie »Plötzlich It-Girl«. Sie ist ein großer Fan von SEX EDUCATION und wenn sie nicht gerade am Schreibtisch sitzt, rennt sie im Park ihrem Hund Bono hinterher, während er seinen Erzfeinden nachjagt: Eichhörnchen.

Ein Verlag in der westermannGRUPPE

SEX EDUCATION™/© Netflix. Used with permission.

All rights reserved.

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem TitelSex Education – The Roadtrip bei Hodder Children’s Books,einem Imprint von Hodder & Stoughton.

Text by Katy Birchall, copyright © Netflix

Cover images copyright © Netflix

The moral rights of the author have been asserted.

Zu diesem Titel stehen Unterrichtserarbeitungenzum kostenlosen Download zur Verfügung.

1. Auflage 2021

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2021 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Str. 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Bea Reiter und Ulrich Thiele

Nachwort: Ilona Einwohlt

Lektorat: Antonia Thiel und Deborah Schirrmann

Umschlaggestaltung: Juliane Lindemann,unter Verwendung von Bildern von © Netflix

E-Book ISBN 978-3-401-80979-3

Besuche den Arena Verlag im Netz:

www.arena-verlag.de

1

Maeve klappte das Buch zu und seufzte.

Dann lehnte sie sich auf dem Sofa zurück und starrte mit zusammengekniffenen Augen ins Sonnenlicht, das durch einen Spalt zwischen den Vorhängen in den Wohnwagen schien. Ihre linke Hand trommelte ungeduldig auf dem Buchdeckel herum, die rechte hatte sie zum Mund geführt, um an ihrem Daumennagel zu knabbern.

Maeve hatte Jane Eyre schon ein paarmal gelesen, aber diese Stelle machte sie immer wieder aufs Neue wütend. Sie hasste John Reed, Janes Cousin, und mit jedem Mal kam er ihr schlimmer vor. Er mobbte Jane einzig und allein deshalb, weil er alles hatte und sie nichts und niemanden.

»Arroganter Wichser«, sagte Maeve in den leeren Raum hinein.

Sie hörte auf, an ihrem Nagel zu kauen, legte die Hände auf den Bauch und starrte an die Decke. Aus einem Wohnwagen am Ende ihrer Reihe drang leise Musik zu ihr und irgendwo redeten und lachten ein paar Leute.

Plötzlich fühlte sie sich sehr einsam.

»Das kommt davon, wenn man Bücher von den Brontë-Schwestern liest«, murmelte Maeve und schnaubte. Sie strich sich die Haare nach hinten und setzte sich aufrecht hin.

Als sie das Buch weglegte, entdeckte sie ihre Zigaretten, die halb versteckt unter der Tasche neben ihr lagen. Sie holte eine heraus, nahm das Feuerzeug vom Tisch und stand auf. Dann ging sie zur Tür, stieß sie auf und trat ins Sonnenlicht hinaus.

»Guten Morgen, Schätzchen.«

Maeve, die gerade eine Zigarette anzündete, hob den Blick und sah Cynthia, die Besitzerin des Wohnwagenparks. Sie hängte Wäsche zum Trocknen auf und lächelte ihr zu.

»Hallo, Cynthia.« Maeve stieß den Rauch aus und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Was für ein schöner Tag«, sinnierte Cynthia, während sie einen Jeansrock an die Wäscheleine hängte, der exakt so aussah wie der, den sie trug. »Wie geht’s? Was machst du gerade?«

»Ich lese nur ein bisschen.«

»Ah, wie schön. Ist das Buch gut?«

»Jane Eyre.«

»Ich glaube, das kenne ich.« Cynthia überlegte kurz. »Ist es das mit dem Dachs?«

Bevor Maeve antworten konnte, wurde die Tür von Cynthias Wohnwagen aufgestoßen und ihr Mann, Jeffrey, steckte den Kopf heraus. Er trug ein ausgebleichtes weißes Muskelshirt, ein neongrünes Stirnband und eine sehr enge, sehr kurze Sporthose. Jeffrey stemmte die Hände in die Hüften und holte tief Luft, während Maeve vergeblich versuchte, ein Grinsen zu unterdrücken.

»Jeffrey, was machst du da?«, fragte Cynthia und rümpfte angewidert die Nase.

»Zumba«, erwiderte er leicht gekränkt, während er den Kopf nach links und rechts drehte. »Ich dachte, ich mach es hier draußen, da hab ich mehr Platz.«

»Seit wann machst du denn Zumba?«

»Seit heute. Und ab jetzt sehr oft.« Jeffrey hob den Arm und drehte das Radio im Wohnwagen lauter. Unter den kritischen Blicken seiner Frau betrat er den Rasen, überprüfte den korrekten Sitz des Stirnbandes und machte einen Ausfallschritt.

»Erst mal aufwärmen«, informierte er Maeve.

»Klar.« Sie versuchte angestrengt, nicht hinzuschauen.

Cynthia schüttelte entgeistert den Kopf. »Jeffrey, du siehst aus wie ein Idiot.«

Er ignorierte sie. »Bei einem Turnier für lateinamerikanische Tänze habe ich mal den zweiten Platz gemacht«, verkündete er. Als er sich aus dem Ausfallschritt aufrichtete, verlor er fast das Gleichgewicht, ließ dann aber energisch die Hüften kreisen. »Mir wurde gesagt, dass ich viel Potenzial habe.«

»Wer hat das gesagt? Deine Großmutter?«, murmelte Cynthia.

Maeve nahm einen letzten Zug von ihrer Zigarette, während Jeffrey Seitschritte nach links und rechts machte, die überhaupt nicht zum Takt der Musik passten, und dabei in die Hände klatschte.

»Bis später«, sagte sie und trat die Zigarette aus. »Viel Spaß, Jeffrey. Und zerr dir nichts.«

»Danke.« Er zeigte mit beiden Daumen nach oben und kreiste mit den Schultern.

»Und vergiss die Miete für diese Woche nicht«, sagte Cynthia mit einem dünnen Lächeln. »Das letzte Mal bist du zwei Tage zu spät dran gewesen. Ich würde ja gerne eine Ausnahme für dich machen, aber das wäre den anderen gegenüber nicht fair.«

»Keine Angst, ich denk dran«, erwiderte Maeve.

»Danke, Schätzchen.«

Ein paar Kinder rannten an ihnen vorbei und wichen Jeffrey aus, der jetzt lautstark zählend Hampelmänner machte und eines von ihnen beinahe mit dem Arm im Gesicht getroffen hätte. Als sie zur Seite sprangen, verlor er das Gleichgewicht und stolperte, wobei ihm das Stirnband über die Augen rutschte.

»He!«, brüllte er den Kindern nach, die lachend davonliefen. »Passt doch auf!«, beschwerte er sich und zog sein Stirnband wieder nach oben.

»Ich weiß noch, wie du in dem Alter warst«, sagte Cynthia tief seufzend zu Maeve. »Du hattest immer Ärger. Und dein Bruder auch. Aber es hat ja auch niemand auf euch aufgepasst, deine Mutter hatte ja genug mit sich selbst zu tun. Wie geht es deinem Bruder? Alles in Ordnung mit ihm?«

»Ja, danke. Ihm geht’s großartig.«

»Ah, das ist schön.«

Maeve deutete zu ihrem Wohnwagen. »Ich muss jetzt weiterlesen.«

»Ja, die Geschichte ist gut. Dieser fiese kleine Dachs.«

Jeffrey hörte abrupt auf, hektisch auf der Stelle zu laufen. »Was für ein Dachs? Er ist doch wohl hoffentlich nicht in den Wohnwagen gelaufen.«

»Da ist kein Dachs, Jeffrey«, erwiderte Cynthia und starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich meinte den Dachs in dem Buch, das Maeve gerade liest.«

»Bis dann«, sagte Maeve und winkte ihnen zu.

»Bis dann, Schätzchen.«

Als Maeve in den Wohnwagen stieg, hörte sie gerade noch, wie Cynthia ihrem Mann zuraunte: »Volltrottel.« Mit einem breiten Grinsen im Gesicht schloss sie die Tür hinter sich.

Maeve holte ihr Handy aus der Tasche, um nach neuen Nachrichten zu schauen, und stellte enttäuscht fest, dass es keine gab. Als Cynthia nach Sean gefragt hatte, hatte Maeve gelogen. Sie hatte schon eine ganze Weile nichts von ihm gehört. Jedes Mal, wenn sie einen Blick auf ihr Handy warf, hoffte sie, wie durch ein Wunder eine Nachricht von ihm zu finden. Irgendein Zeichen, mit dem er sie wissen ließ, dass es ihm gut ging, oder das ihr verriet, wo er gerade war. Aber eigentlich war es nichts Neues, dass ihr Bruder monatelang verschwand. Und sie war durchaus in der Lage, auf sich selbst aufpassen.

Trotzdem vermisste sie ihn.

Egal. Als Maeve das Handy wieder einsteckte, fiel ihr Blick auf den Tisch und blieb an dem Bewerbungsformular hängen, das sie gestern Abend ausgefüllt hatte. Sie stand einen Moment reglos da, dann sagte eine Stimme in ihrem Kopf: »Mach’s einfach.«

Sie ging zielstrebig ins Schlafzimmer, schnappte sich die Kosmetiktasche und überprüfte ihr Make-up im Spiegel. Während sie mit einem schwarzen Kajalstift den Lidstrich nachzog, musste sie an den Aushang im Fenster der Buchhandlung denken: Verkäufer (m/w/d) zur Aushilfe gesucht. Bewerbung im Laden.

Maeve hatte den Aushang gestern entdeckt, als sie mit ihrem Schulfreund Otis zusammen an dem Geschäft vorbeigelaufen war, und war sofort stehen geblieben. Ihr Herz hatte angefangen zu rasen. Sie brauchte dringend einen Job für die Sommerferien und hatte sich schon innerlich damit abgefunden, im Einkaufszentrum arbeiten zu müssen, an der Milkshake-Bar oder am Waffelstand vielleicht. Sie hatte nicht im Traum daran gedacht, dass sie einen Job bekommen könnte, der ihr Spaß machte. Etwas, das sie leidenschaftlich gern tat.

»Maeve, du kannst doch nicht einfach so stehen bleiben!«, hatte sich Otis beschwert. Er kam zu ihr zurückgerannt, während sie immer noch völlig verzückt den Aushang im Fenster anstarrte. »Ich bin einfach weitergelaufen und hab mich mit der Luft unterhalten. Und als ich mich nach dir umgedreht hab, wär ich fast gegen die Straßenlaterne gelaufen.«

Als Maeve an ihrem Daumennagel knabberte, ohne Otis anzusehen, bemerkte er die Stellenanzeige.

»Warum bewirbst du dich nicht? Das wäre der perfekte Job für dich!«, sagte er.

»Red keinen Scheiß.«

»Komm, wir gehen mal rein. Dann kannst du ein Bewerbungsformular ausfüllen.«

»Kann ich nicht.« Maeve starrte auf den Boden, dann schüttelte sie den Kopf und marschierte die Straße hinunter. Sie war schon ziemlich weit gekommen, als Otis sie einholte.

»Warum nicht?«, wollte er wissen. »Warum kannst du dich nicht auf den Job bewerben?«

»Weil sie jemanden wie mich nicht in ihrem Buchladen haben wollen.«

»Du meinst, jemanden, der superklug ist und gut mit Büchern kann?« Er wackelte mit den Augenbrauen.

Maeves Mundwinkel zuckten belustigt. »Jemand, der gut mit Büchern kann?«

»Ja, okay«, sagte er, verdrehte die Augen und steckte die Hände in die Taschen. »Du weißt, was ich meine. Aber ich finde wirklich, du solltest dich bewerben. Du könntest den Kunden den ganzen Tag was über brillante feministische Literatur erzählen. Das ist dein Traumjob.«

»Otis, sie werden mich eh nicht einstellen.«

»Warum nicht?«

»Weil …« Sie hob frustriert die Hände. »Sieh mich doch an! Ich bin nicht gerade der Typ, der einen Ferienjob im Buchladen ergattert. Ich hab einen Nasenring und gefärbte Haare.«

»Ach ja, richtig. Entschuldige. Mir war nicht klar, dass du dich für einen Job in den 1950ern bewirbst.«

Sie seufzte und zog einen Schmollmund.

»Du könntest wenigstens darüber nachdenken«, sagte Otis und gab ihr einen leichten Stups mit dem Ellbogen. »Morgen kannst du dich ja auch noch bewerben.«

»Okay.«

»Gut.« Er zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Tasche und gab es ihr. »Das ist das Bewerbungsformular.«

»Was zum …?«

»Ich bin reingegangen und hab eins geholt, die lagen an der Kasse aus. Der Laden ist wirklich toll. Riecht nach … Büchern.«

»Otis, es ist eine Buchhandlung.«

Er wedelte so lange mit dem Formular vor ihrem Gesicht herum, bis sie es ihm abnahm. Als Maeve den selbstzufriedenen Ausdruck in seinem Gesicht sah, warf sie ihm einen finsteren Blick zu.

»Du nervst.«

»Nein, ich nerve nicht. Ich motiviere dich. Aber ich kenne jemanden, der nervt: meine Mum. Sie hat heute Morgen um acht Uhr mit ihrem Vagina-Workshop angefangen und ich musste früher aufstehen und Tee für alle machen.«

Otis fing an, sich lang und breit über Jean, seine Mutter, zu beschweren, die als Sexualtherapeutin arbeitete. Maeve musste lachen und hatte sofort bessere Laune bekommen.

Nachdem sie sich gestern Nachmittag von Otis verabschiedet hatte, war sie nach Hause gegangen, hatte sich hingesetzt und das Formular ausgefüllt. Und aus irgendeinem Grund hatte sie sogar wirklich daran geglaubt, den Job zu bekommen.

Während Maeve jetzt im Wohnwagen ihren Eyeliner nachzog, wurde ihr klar, dass sie die ganze Zeit gelächelt hatte, als sie an den gestrigen Tag mit Otis gedacht hatte. Es war noch nicht lange her, da hatte Maeve gedacht, dass Otis sie gernhatte. Also, so richtig gern. Und ja, ein paarmal hatte sie ihm sagen wollen, was sie für ihn empfand. Was er sie empfinden ließ. Aber es war kompliziert; viel zu riskant. Wenn es schiefging, wenn sie – wie sonst immer – alles vermasselte und Otis nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte …

Das war es nicht wert. Sie waren Freunde. Gute Freunde. So funktionierte es. Und wer wusste schon, was er inzwischen für sie empfand. Sie war sich sicher, dass er längst über sie hinweg war.

Sie waren beide darüber hinweg. Oder?

Maeve riss sich zusammen, legte den Kajal weg und suchte nach ihrem Lippenstift. Dann kontrollierte sie kurz ihr Outfit: ein dunkelrotes Oberteil, dazu ein kurzer schwarzer Rock mit einer Netzstrumpfhose und schwarze Schnürstiefeletten mit Absatz. Es war ziemlich warm, trotzdem zog sie ihre Lederjacke über.

Nach einem letzten Blick in den Spiegel griff sie nach ihrem Handy und schickte Otis eine Nachricht.

Ich bewerbe michjetzt für den Job

Er antwortete sofort.

Was für ein Job?

Der im BuchladenIdiot

War ’n WitzDas ist tollSoll ich mitkommen?

Wenn du willst

Gib mir 20 MinutenWir treffen uns bei dirIch lasse mein Rad bei dir und wir laufenzusammen in die Stadt

Maeve lächelte und legte ihr Handy auf den Tisch. Dann stellte sie den Wasserkocher an und wartete auf Otis. Während sie mit ihrer Halskette spielte, malte sie sich aus, wie sie in die Buchhandlung marschierte und das Bewerbungsformular über den Tresen reichte. Ihr Blick blieb an ihrer Tasche auf dem Sofa hängen. Sie verzog gequält das Gesicht und griff danach, während sie sich zu erinnern versuchte, wie viel Geld sie noch im Portemonnaie hatte.

Als sie es öffnete, seufzte sie vor Erleichterung. Für die Miete, die jetzt fällig war, würde es gerade noch reichen. Aber für nächsten Monat brauchte sie unbedingt einen Job. Während der Ferien fand keine Sextherapie statt, deshalb verdiente sie im Moment nichts.

Die geheime Sexberatung für ihre Mitschüler war eine brillante Idee gewesen, wenn sie sich mal selbst loben durfte. Sie kümmerte sich um das Geschäftliche – Terminvereinbarung, Bezahlung und so – und Otis machte das, was er am besten konnte: Ratschläge zu Sex und Beziehungen geben. In Sachen Sexberatung war er ein Naturtalent. Irgendwie hatte er das Wissen und die therapeutischen Fähigkeiten seiner Mutter in sich aufgesogen und, wie sich herausgestellt hatte, brauchten die Jugendlichen an ihrer Schule dringend Hilfe. Das ganze Sextherapie-Ding war ein Riesenerfolg. Aber zurzeit fand keine Beratung statt und deshalb brauchte sie einen Ferienjob.

Maeve zuckte zusammen, als ihr Handy auf dem Tisch zu vibrieren begann und sie aus ihrem Tagtraum von der Buchhandlung riss. Es war vermutlich Otis, der ihr sagen wollte, dass er doch keine Zeit hatte. Sie versuchte, nicht allzu enttäuscht zu sein, aber als sie nach dem Handy griff, sah sie eine unbekannte Nummer auf dem Display. Sie runzelte die Stirn und zögerte, nahm den Anruf aber an, bevor er an die Mailbox weitergeleitet wurde.

»Hallo?«

»Halloo, Froschgesicht.«

Maeve holte tief Luft, als sie die Stimme ihres Bruders hörte. Na endlich.

»Wo zum Teufel bist du gewesen?«, fuhr sie ihn an.

»Dann hast du mich also vermisst?«

»Du bist abgehauen, ohne dich zu verabschieden.« Sie kochte vor Wut. »Schon wieder.«

»Maeve, hör zu, ich weiß, dass du sauer auf mich bist, aber ich brauch deine Hilfe.«

Sie schloss die Augen und seufzte. Sean klang angespannt und erschöpft. Irgendetwas stimmte nicht. Sonst hätte er mit Sicherheit nicht angerufen.

»Froschgesicht?«, versuchte er es noch einmal. »Komm schon. Ich stecke in Schwierigkeiten. Sag was.«

»Was brauchst du?«, fragte sie leise.

»Ich brauche dich.«

»Was meinst du mit ›du brauchst mich‹?«

»Du musst herkommen und mir helfen, etwas herauszufinden.« Er machte eine Pause. »Ich bin verhaftet worden.«

»Du bist was?«

»Ich schwöre, dass ich nichts ausgefressen habe. Maeve, ich schwöre es. Das ist alles nur ein Missverständnis. Angeblich habe ich eine Diamantkette gestohlen. Es geht um ein Mädchen, mit dem ich befreundet bin … Maeve, ich war das nicht. Und ich brauche deine Hilfe, um es zu beweisen.«

»Rufst du aus dem Gefängnis an?«

»Nein. Ich wurde vierundzwanzig Stunden festgehalten und dann gegen Kaution rausgelassen. Ich wohne vorübergehend bei einem Freund. Während ich in Haft war, hat die Polizei seine Wohnung durchsucht, aber nichts gefunden – weil ich die Kette nicht gestohlen habe –, aber ich weiß, dass sie mir den Diebstahl anhängen wollen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie wiederkommen.«

»Eine Diamantkette.« Maeve lief im Wohnwagen auf und ab und versuchte, nicht in Panik zu geraten. »Was meinst du damit? Echte Diamanten?«

»Jap. Du hättest das Ding sehen sollen. Es ist ein Vermögen wert.«

»Das Ganze hört sich wie ein schlechter Scherz an.«

»Es ist keiner.«

»Warum glauben sie, dass du es gewesen bist?«

»Das ist ein bisschen kompliziert, aber im Moment ist eigentlich nur wichtig, dass ich es nicht getan habe. Du musst herkommen und mir helfen, es zu beweisen.«

»Wie zum Teufel soll ich das denn anstellen? Scheiße, Sean! Das klingt verdammt übel.«

»Du sagst es und deshalb rufe ich ja dich an. Du bist der Intelligenzbolzen in der Familie. Hier ist niemand auf meiner Seite. Die Polizei versucht nicht mal, nach anderen Verdächtigen zu suchen, aber wenn wir irgendwie herausfinden können, wer die Kette tatsächlich gestohlen hat, bin ich aus dem Schneider. Bitte, ich hab sonst niemanden. Komm her und hilf mir, alles aufzuklären.«

Maeve zögerte. Ihr Gehirn versuchte, die Informationen zu verarbeiten und herauszufinden, wie sie am besten vorgehen sollte.

»Bitte, Froschgesicht«, flehte Sean erneut. »Wenn du herkommst, mache ich dir Pfannkuchen mit Smiley-Gesicht und Schlagsahne«, fügte er hinzu.

»Sean, das ist jetzt echt nicht der richtige Zeitpunkt für Pfannkuchen.«

»Für Pfannkuchen ist immer der richtige Zeitpunkt.« Er lachte. Nach einer kurzen Pause sprach er weiter, doch jetzt klang er anders, ernst und verängstigt. »Maeve, bitte, ich brauche deine Hilfe. Diese Leute haben Beziehungen und jede Menge Einfluss. Mir steht das Wasser bis zum Hals. Und wenn ich jetzt nicht aus der Sache rauskomme, komme ich nie mehr raus. Ich hab doch niemanden außer dir.«

Maeve biss sich auf die Lippe. »Also gut.«

»Du kommst?«

»Ja.«

»Danke«, stieß Sean hervor. Er klang erleichtert. »Jetzt hab ich wieder Hoffnung, Froschgesicht. Wenn jemand dieses Schlamassel aufklären kann, dann du.«

»Wo bist du?«

»Ich schreib dir die Details. Am besten packst du gleich für ein paar Tage. Es ist ziemlich weit. Kannst du dir von jemandem ein Auto leihen?«

»Das krieg ich schon hin.«

Er bedankte sich noch einmal, sagte, dass sie etwas gut bei ihm habe, und beendete das Gespräch. Maeve verschwendete keine Zeit und schickte Aimee – ihre einzige Freundin mit eigenem Auto – eine Nachricht, in der sie fragte, ob sie gleich vorbeikommen könne. Während sie auf die Antwort wartete, blieb ihr Blick an der Bewerbung für den Job in der Buchhandlung hängen. Sie zog das Blatt zu sich und überflog, was sie geschrieben hatte. Da vibrierte ihr Handy, als eine Nachricht von Aimee eintraf.

Maeve nahm das Formular, knüllte es zusammen und ließ es auf dem Tisch liegen.

Sie musste jetzt packen.

2

»He, wo willst du hin?«

Maeve schloss die Tür des Wohnwagens ab und drehte sich zu Otis um, der sein Rad auf sie zuschob. Er sah sie verwirrt an und Maeve war froh, dass Jeffrey sein Zumbatraining beendet hatte und weder er noch Cynthia in der Nähe waren.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass du nicht im Buchladen übernachten musst, um dein Engagement unter Beweis zu stellen«, sagte Otis mit Blick auf die Reisetasche, die Maeve sich über die Schulter gehängt hatte.

»Planänderung«, erwiderte sie lediglich und kam die Treppe herunter. »Tut mir leid. Ich hätte dir schreiben sollen. Ich muss weg.«

»Okay. Und wohin?«, fragte Otis. Er wendete sein Rad und schloss zu ihr auf, als sie an ihm vorbeiging.

»Zu Aimee.«

»Veranstaltet sie eine Pyjamaparty oder so?«

»Nein. Aus dem Alter sind wir raus. Ich muss mir ihr Auto leihen.«

»Warum?«

»Otis, zu viele Fragen.«

»Maeve, nicht genug Antworten.«

Sie ignorierte ihn und lief einfach weiter.

»Komm schon.« Er rannte ihr hinterher, wobei sein Helm heftig hin und her wackelte. »Was ist los?«

Otis griff nach ihrem Arm und Maeve blieb nichts anderes übrig, als stehen zu bleiben und sich umzudrehen. Er zog sich den Helm vom Kopf und wenn sie nicht gerade so wütend auf alles und jeden gewesen wäre, hätte sie sich über seine Haare lustig gemacht, die ihm jetzt wild vom Kopf abstanden.

»Red mit mir«, sagte er leise, als sich ihre Blicke trafen.

Mit Otis war das so: Die Art, wie er einen ansah, brachte praktisch jeden dazu, ihm einfach alles zu erzählen, so als könnte er zaubern und alles wiedergutmachen. Er war zwar kein ausgebildeter Therapeut – schließlich war er ja noch ein Teenager –, aber er hatte eine echte Begabung dafür. Maeve wusste nicht so genau, wie er es anstellte, doch man vertraute ihm einfach.

Otis Milburn war ein großer, schlaksiger Junge, der intelligent, nett und fürchterlich unbeholfen war und sich in seiner Haut ziemlich offensichtlich nicht wohlfühlte. Irgendwie hatte man immer den Eindruck, als wüsste er nicht, wohin mit seinen Armen und Beinen, und mit seiner gesamten Körpersprache schien er sich permanent dafür zu entschuldigen, einfach nur da zu sein.

Er war ein ungewöhnlicher Sex-Guru und ein noch ungewöhnlicherer Freund für Maeve Wiley. Als sie zum ersten Mal länger miteinander geredet hatten, war Maeve nicht so richtig schlau aus ihm geworden und Otis schien regelrecht Angst vor ihr gehabt zu haben. Doch irgendwann hatte es klick gemacht, einfach so.

»Also gut«, sagte sie, während sie feuchtes Gras von der Schuhsohle abstreifte. »Sean hat sich gemeldet.«

»Dein Bruder?« Otis bekam leuchtende Augen. »Das ist doch toll! Oder vielleicht … nicht so toll?«

»Er steckt in Schwierigkeiten.«

»Was für Schwierigkeiten?«, fragte Otis beunruhigt und legte die Stirn in Falten.

»Die Polizei glaubt, dass er eine wertvolle Kette gestohlen hat«, erklärte Maeve. »Und jetzt weiß er nicht, was er tun soll. Ich muss ihm helfen, die Sache aufzuklären, und beweisen, dass er unschuldig ist.«

»Und? Ist er unschuldig?«, fragte Otis vorsichtig.

Sie zögerte. »Ich weiß es nicht.«

Maeve bekam sofort ein schlechtes Gewissen, als sie es aussprach. Sie wollte ihrem Bruder ja glauben, aber es war nicht das erste Mal, dass Sean sie in so eine Situation brachte. Er machte oft Versprechungen, hielt sie aber nur selten. Außerdem hatte er die Angewohnheit, jegliche Verantwortung seinerseits mit lässigem Charme und überzeugenden Lügen wegzureden. Maeve war sich nicht sicher, wie weit ihr Bruder gehen würde, wenn er unbedingt Geld brauchte. Und eine Diamantkette würde sehr viel Geld bringen.

»Ich weiß es wirklich nicht«, sagte Maeve noch einmal und ärgerte sich über sich selbst, weil sie an Sean zweifelte. »Aber ich muss etwas unternehmen. Ich kann ihn jetzt nicht im Stich lassen.«

»Okay.« Otis nickte langsam. »Ich komme mit.«

»Wie bitte?«

»Ich komme mit«, wiederholte er.

»Nein. Auf keinen Fall.«

»Ich lass dich nicht allein dorthin«, sagte er entschlossen. »Die Sache hört sich nicht gut an und es ist durchaus möglich, dass du einen Freund brauchst.«

Maeve zögerte. »Das kann ich nicht von dir verlangen.«

»Tust du auch nicht.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich bestehe drauf. Das klingt wie eine Situation, die schwer und emotional für dich werden könnte, und du brauchst vielleicht jemanden, der sie objektiv beurteilen kann. Lass mich dieser Jemand sein.«

Maeve hob die Augenbrauen. »Also gut. Aber es ist wirklich ernst. Mein Bruder kommt vielleicht ins Gefängnis.«

»Das ist mir bewusst.«

»Otis, das wird kein Urlaub.«

»Davon gehe ich auch nicht aus. Ich fahre jetzt zu mir und packe ein paar Sachen. Wir treffen uns bei Aimee.«

Sie nickte und er drehte sich um, stieg auf sein Rad und fuhr wieder nach Hause. Maeve sah ihm nach. Sie war froh, dass er mitkommen wollte.

Irgendwie schien alles nicht mehr ganz so schlimm zu sein, wenn Otis bei ihr war.

»Oh mein Gott«, keuchte Aimee. Sie riss die Augen auf. »Das ist KARMA!«

Maeve fand die Reaktion ihrer Freundin mehr als seltsam. »Wie bitte?«

»Natürlich nicht das mit deinem Bruder. Das ist echt schlimm«, sagte Aimee schnell, die im Schneidersitz auf ihrem Bett thronte. Maeve hatte sich ans Fußende gesetzt. »Ich wollte dich gerade fragen, ob du mitkommst, weil ich auch dahin muss! In der Arena findet eine Backmesse statt und ich dachte, du könntest ja mit mir teilnehmen. Allein in einer großen Stadt zu sein, macht irgendwie keinen Spaß. Aber jetzt musst du ja sowieso hin und wir können zusammen fahren. Das ist Karma.«

Maeve blinzelte verwirrt. »Eine Backmesse.«

»Cool, oder? Perfekt für eine zukünftige Profibäckerin wie mich. Es gibt jede Menge kostenlose Scones und so.«

»Ja, echt cool«, erwiderte Maeve, die ihre Freundin lieber nicht daran erinnerte, dass sie beim letzten Versuch, eine Torte zu backen, fast die Küche abgefackelt hätte. Und ihr Biskuitkuchen war so steinhart, dass Maeve sich beinahe einen Zahn ausgebrochen hatte. »Dann können wir also dein Auto nehmen?«

»Kein Problem!« Aimee strahlte und warf ihre blonden Locken zurück. »Ich packe nur schnell ein paar Sachen, dann können wir los. Was meinst du, wie lange werden wir weg sein?«

»Ich weiß nicht. Kommt drauf an, würde ich sagen.«

»Dann packe ich für ein paar Tage. Sicher ist sicher«, verkündete Aimee. Sie kletterte vom Bett und lief zu ihrem Schrank. »Was trägt man eigentlich bei einer Backmesse?«

Maeve lächelte und zuckte mit den Schultern. Aimees gute Laune war ansteckend und Maeve, die sich Sorgen um Sean machte, fand das irgendwie tröstend. Sie war froh, dass ihre Freundin mitkommen wollte, auch wenn es sie nicht überraschte. Spontane Entscheidungen waren typisch für Aimee und Aimees Mutter, die sich kaum um ihre Tochter kümmerte, würde sie bestimmt nicht daran hindern, für ein paar Tage wegzufahren.

Die liebenswerte, naive Aimee gehörte zu Maeves besten Freunden. Sie glaubte unerschütterlich an das Gute in allem und jedem und war ein leuchtender Hoffnungsschimmer in einer Welt, die viel zu oft grau und trostlos war. Außerdem war sie rücksichtsvoll und einfühlsam und häufig zum Schreien komisch, ohne es zu wollen. Vor Kurzem hatte sie beschlossen, Bäckerin zu werden, obwohl sie bis dahin noch nie im Leben etwas gebacken hatte. Es war ziemlich offensichtlich, dass Aimee nicht gerade ein Naturtalent war, aber Maeve bewunderte ihre Entschlossenheit.

»Glaubst du, ich muss eine eigene Schürze mitbringen?«, fragte Aimee, während sie ein paar bunte Oberteile von den Kleiderbügeln zog und aufs Bett warf. »Ooooh, fast hätte ich Höschen vergessen. Die werde ich auf jeden Fall brauchen.«

»Auf jeden Fall.«

»Keine Angst, ich beeile mich mit Packen. Du machst dir bestimmt große Sorgen um Sean.«

Maeve starrte zu Boden. »Ein bisschen.«

»Wir bringen das wieder in Ordnung«, sagte Aimee energisch. »Versprochen.«

»Danke, Aimee.«

»Einer meiner Cousins hat es mal geschafft, aus dem Gefängnis zu kommen, nachdem er die Wärter mit ein bisschen Gras und einer Tüte Werther’s Original bestochen hat. Falls es so weit kommt, haben wir also schon mal einen Plan.«

Maeve sah ihre Freundin an, um herauszufinden, ob sie einen Scherz machte. Aimee meinte es todernst.

»Klasse«, erwiderte Maeve. »Das finde ich sehr beruhigend.«

Die Klingel für das Tor vor der Einfahrt ertönte. Maeve lief nach unten und öffnete, damit Aimee zu Ende packen konnte. Als sie Otis hereinließ und zusah, wie er den Kiesweg zum Haus heraufkam, dachte sie nicht zum ersten Mal, dass das Anwesen von Aimees Eltern einfach unglaublich war.

Es war ein großes altes Landhaus mit gepflegten Rasenflächen und einem schwarzen Eisentor vor einer langen, gewundenen Einfahrt. Im Haus gab es unzählige großzügige, geschmackvoll eingerichtete Räume mit offenen Kaminen, teuren Perserteppichen und alten Ölgemälden an den Wänden. Auf sämtlichen Beistelltischen und Kaminsimsen standen wertvolle Porzellanvasen und die Fenster wurden von schweren gemusterten Vorhängen eingerahmt, die aussahen, als stammten sie aus einem Schloss. Der Eingangshalle gegenüber lag ein Esszimmer, in dessen Mitte ein langer Tisch mit zwölf Stühlen stand.

Maeve musste an den winzigen Tisch in ihrem Wohnwagen denken und seufzte.

»Hallo«, begrüßte sie Otis, als sie die Tür öffnete. »Warum schwitzt du so?«

»Ähm … ich bin zu Fuß hergekommen und es ist heiß draußen.« Er ließ seinen Rucksack fallen. »Ich hole mir was zu trinken.«

»Ist deine Mutter einverstanden, dass du mitkommst?«, fragte Maeve und folgte ihm in die Küche.

Beide waren bereits mehrmals bei Aimee gewesen und kannten sich aus. Außerdem vermuteten sie, dass ihre Eltern wie immer nicht zu Hause waren, und bis jetzt hatten sie immer recht behalten.

»Definiere ›einverstanden‹.« Otis drehte den Kaltwasserhahn auf und ließ ein Glas volllaufen. »Das geht schon in Ordnung. Ich hab ihr gesagt, dass es wichtig ist.«

In letzter Zeit stritten sich Otis und Jean oft – sie war der Meinung, dass er ihr zu wenig aus seinem Leben erzählte, und er war der Meinung, dass sie zu viel aus seinem Leben wissen wollte. Und obwohl sich beide Mühe gaben, konnte es keiner von beiden vermeiden, den anderen zu analysieren.

Otis wusste, dass er seine Mutter auf Abstand hielt, aber das lag daran, dass er erwachsen wurde. Er konnte ihr nicht alles erzählen. Er wusste, dass er alles für sie war und dass sie nach der Scheidung von seinem Vater vielleicht unter Verlustangst litt und sich nicht damit abfinden konnte, dass Otis sein eigenes Leben hatte. Aber damit musste sie fertigwerden.

Jean machte sich Sorgen und glaubte, dass Otis mit einigen Aspekten des Heranwachsens Schwierigkeiten hatte. Außerdem hielt sie sein Verhältnis zu seinen Altersgenossen für problematisch. Sie versuchte angestrengt, ihm das Gefühl zu geben, dass ihr Zuhause ein sicherer Ort war und er ihr alles erzählen konnte, egal, ob es um seine Freunde oder um Sex ging. Schließlich war sie mehr als qualifiziert dazu, ihm durch die turbulenten Teenagerjahre zu helfen. Warum schüttete er ihr nicht sein Herz aus?

Seit Beginn der Sommerferien war die Stimmung bei den Milburns gereizt und Otis versuchte, sooft wie möglich unterwegs zu sein. Wenn er doch einmal zu Hause war, schloss er sich in seinem Zimmer ein, legte eine Platte auf und drehte die Lautstärke bis zum Anschlag, um Jeans höfliches, aber hartnäckiges Klopfen an der Tür zu übertönen. Seine Mutter lag ihm ständig damit in den Ohren, er solle nach unten kommen und sich »mal wieder ein bisschen mit ihr unterhalten«.

Otis tat es leid, dass Sean in Schwierigkeiten steckte, doch er freute sich, einen Grund zum Wegfahren zu haben.

»Es wird ihr guttun, wenn ich mal eine Weile nicht da bin«, fuhr Otis fort. »Sie muss doch nicht immer wissen, was ich tue, auch wenn ihr das am liebsten wäre. Vermutlich durchsucht sie jetzt gerade mein Zimmer, um herauszufinden, was ich vorhabe.«

»Sie kramt in deinen Sachen?«, fragte Maeve, während sie eine merkwürdige Krötenfigur auf der Arbeitsplatte anstarrte. Sie fragte sich, warum jemand mit so viel Geld so wenig Geschmack hatte und etwas derart Hässliches kaufte.

»Jap.« Er seufzte. »Sie glaubt, ich merke es nicht, aber es fällt mir jedes Mal auf.«

»Krass.«

Das war alles, was sie dazu sagte. Maeve lehnte sich an die Arbeitsplatte und knabberte an ihren Nägeln, während Otis sein Wasser trank. Am liebsten hätte sie ihm an den Kopf geworfen, er solle sich darüber freuen, jemanden zu haben, der so fürsorglich war, dass er über jedes kleine Detail seines Lebens Bescheid wissen wollte. Aber es ging sie nichts an.

Es fiel ihr schwer, nicht an ihre eigene Mutter zu denken, wenn andere sich über ihre beschwerten. Sie hätte sich gern darüber geärgert, dass ihre Mum sich Sorgen um sie machte. Maeve hatte keine Ahnung, wo ihre Mutter gerade war. Aber das war schon in Ordnung. Maeve konnte hervorragend für sich selbst sorgen.

Und sie hatte auch gar keine Zeit, vor Selbstmitleid zu zerfließen. Jetzt war das Wichtigste, die Wahrheit über Sean und diese Kette herauszufinden. Sie wollte nicht, dass es ihm so erging wie ihrer Mutter vor vielen Jahren und er im Gefängnis landete. Maeve würde ihn auf keinen Fall im Stich lassen, ganz im Gegensatz zu ihrem Vater, der einfach abgehauen war. Sean war fest davon überzeugt, dass sie auf sich allein gestellt waren, aber Maeve wollte ihm das Gegenteil beweisen. Immerhin hatten sie doch einander, oder nicht?

Maeve stellte fest, dass die Haut an ihrem Nagel zu bluten begann. Schnell nahm sie die Hand herunter. Otis trank das Glas aus und stellte es ab, verzog dann aber schmerzverzerrt das Gesicht.

»Alles okay?« Maeve sah ihn fragend an, als er die Augen zusammenkniff und sich zwei Finger gegen die Nase drückte.

»Hirnfrost«, krächzte er. »Das Wasser war definitiv zu kalt.«

»Otis, du lebst am Rand des Abgrunds«, sagte Maeve neckend, während sie sich darüber amüsierte, wie er immer wieder anders gequält sein Gesicht verzog.

»Leiht uns Aimee ihr Auto?«, fragte er, als es ihm wieder besser ging.

»Sie kommt mit. Sie wollte sowieso dorthin, zu einer Backmesse.«

»Oh … ähm … gut.«

Otis zappelte herum, räusperte sich und sah aus, als wollte er etwas sagen, schien es sich dann aber anders zu überlegen.

Maeve starrte ihn eindringlich an. »Otis, was ist?«

»Hm?«

»Du bist irgendwie … nervös.«

»Ich bin nicht nervös«, stritt er ab und wollte sich lässig mit dem Ellbogen auf die Arbeitsplatte stützen, rutschte dann aber ab und konnte gerade noch verhindern, dass er mit der Nase aufschlug.

»Komm schon«, drängte Maeve ungeduldig. »Spuck’s aus.«

»Na ja … Als ich meine Sachen gepackt hab, rief Eric an«, begann er.

Maeves Blick ließ nichts Gutes ahnen. »Und?«

»Und ich habe zufällig erwähnt, wo wir hinwollen.«

»Hast du ihm gesagt, warum?«

»Nein!« Otis sah schwer beleidigt aus, als wäre diese Frage komplett überflüssig. »Ich hab gesagt, dass wir ein paar Tage weg sein werden, und dann stellte sich raus, dass irgendwo namens The Courtyard eine bekannte Dragshow aufgeführt wird, die er schon immer mal sehen wollte …«

Otis schwieg und sah Maeve erwartungsvoll an, als hoffte er, dass sie von selbst erriet, worauf er hinauswollte, und sagen würde, es sei okay, gar kein Problem. Ihr finsterer Blick blieb.

»… und deshalb«, redete er zögernd weiter, »hab ich vorgeschlagen, dass er mitkommt.«

Maeve verschränkte die Arme vor der Brust.

»Es ist vielleicht gar nicht schlecht, mehr Leute zu haben, die uns helfen können«, rechtfertigte sich Otis. »Eric wird uns bestimmt nicht im Weg stehen … und ich konnte ihn einfach nicht nicht fragen.«

»Otis, hier geht es nicht um ein paar Freunde, die einen verdammten Roadtrip machen.«

»Ich weiß.«

»Mein Bruder steckt in der Scheiße. Und zwar bis zum Hals.«

»Das weiß ich doch.« Otis machte einen Schritt auf sie zu. »Ich nehme das wirklich ernst, glaub mir. Aber wir fahren sowieso hin und jetzt, wo Aimee mitkommt … können wir Eric doch auch mitnehmen. Natürlich nur, wenn du einverstanden bist«, fügte er hinzu, während er versuchte, ihren Gesichtsausdruck zu lesen.

Sie seufzte. »Also gut. Von mir aus.«

Otis lächelte sie dankbar an. Als Maeve hörte, dass Aimee die Treppe herunterkam, drehte sie sich um und ging in die Eingangshalle. Maeve mochte Eric, aber sie hatte das, was sie gesagt hatte, ernst gemeint: Es gab einen guten Grund für diese Reise und sie durften sich durch nichts ablenken lassen.

»Da bist du ja«, keuchte Aimee, die einen riesigen Koffer zur Haustür schleppte. »Du musst mir helfen.«

»Bei was?«

»Meinst du, ich muss eigene Küchengeräte mitnehmen? Einen Schneebesen, zum Beispiel? Ich hab nur einen elektrischen, aber der ist ziemlich groß. Und im Koffer wird er sich vermutlich in meinen BHs verheddern.« Aimee warf einen Blick über Maeves Schulter und ihr Gesicht leuchtete auf. »Hi, Otis!«

»Hallo, Aimee.« Otis winkte ihr ungelenk zu.

»Du brauchst keine Küchengeräte mitzunehmen«, klärte Maeve sie auf. »Du machst ja keine Backvorführung. Das übernehmen die Profis. Aber warum hast du so einen großen Koffer dabei?«

»Du hast doch gesagt, dass wir noch nicht wissen, wie lange wir weg sein werden! Woher soll ich dann wissen, was ich brauche? Jetzt bin ich jedenfalls auf alles vorbereitet. Seid ihr fertig? Ich hole nur schnell den Autoschlüssel. Ich bin mir nicht ganz sicher, wo ich ihn hingelegt habe, aber ich glaube, er ist in der Gästetoilette.«

Maeve und Otis wechselten einen verwirrten Blick, während Aimee an ihnen vorbeilief, um den Autoschlüssel zu suchen. Dann nahmen sie ihre Reisetaschen und gingen hinaus, um neben dem Wagen in der Einfahrt zu warten. Kurz darauf bemerkten sie Eric, der auf das Tor zukam. Man konnte ihn beim besten Willen nicht übersehen: Er trug Hemd und Shorts, beide mit einem geometrischen Muster in Froschgrün und Orange. Eric winkte ihnen aufgeregt zu.

»Hallo, ich bin da!«, rief er. »Könnt ihr mich bitte reinlassen?«

»Ich mach schon«, bot Otis an und lief ins Haus.

Während Eric durch das Tor trat, begrüßte er Maeve mit einem weiteren Winken, das nicht ganz so heftig, aber genauso begeistert ausfiel. In der einen Hand hielt er einen Rucksack, mit der anderen zerrte er einen großen Rollkoffer hinter sich her.

»Hallo, Maeve«, sagte Eric, als er sie erreicht hatte. »Wie waren deine Ferien bisher?«

»Enttäuschend. Und deine?«

»Oh, bestens.«

Was Maeve anging, lagen Ehrfurcht und Furcht für Eric sehr nah beieinander. Sie war so cool. Er war von Natur aus höchst gesprächig, doch wenn er sich mit Maeve unterhielt, war er häufig so nervös, dass er einfach drauflosplapperte, bis ihm irgendwann auffiel, dass sie während des ganzen Gesprächs noch kein Wort gesagt hatte.

In der Schule hatte er einmal mitbekommen, wie sie von Hunden gesprochen hatte, und daraufhin angefangen, von einem wahnsinnig tollen Dokumentarfilm zu erzählen, den er im Fernsehen gesehen hatte. Er erging sich ganze vier Minuten lang über Hunde, während sie ihn einfach nur mit ihrem typischen intensiven Blick anstarrte. Als er seinen begeisterten Monolog beendet hatte, meinte sie: »Ich sagte gebunden. Wie in gebundene Bücher.«

Er hatte versucht, es zu überspielen, und behauptet, dass er das selbstverständlich gewusst habe, aber sie hatte nicht sehr überzeugt ausgesehen.

Eric warf einen Blick Richtung Haus. »Wo ist Otis?«

»Er ist reingegangen, um das Tor für dich aufzumachen, und jetzt hilft er vermutlich Aimee bei der Suche nach dem Autoschlüssel«, erklärte sie. »Anscheinend ist er irgendwo in der Gästetoilette.«

Während sie warteten, holte Maeve eine Zigarette heraus und zündete sie an. Eric stand etwas verkrampft neben ihr und versuchte, so auszusehen, als würde er sich in ihrer Gegenwart wohlfühlen.

»Ich bin total aufgeregt«, sagte er. »Otis und ich reden schon seit einer Ewigkeit darüber, uns die Show anzusehen. Sie findet einmal im Monat im Courtyard statt. Ich hab noch nie eine Dragshow live gesehen und als Otis mir erzählt hat, dass ihr in die Richtung unterwegs seid, dachte ich, das ist die Chance, um endlich mal hinzugehen. Kommst du auch mit?«

Maeve atmete tief durch. »Ich glaube nicht, dass ich Zeit dafür haben werde.«

»Du musst dir die Show unbedingt ansehen. Sie muss spektakulär sein. Einer der Zuschauer war wohl derart beeindruckt, dass er einen Herzinfarkt bekommen hat und ins Krankenhaus gebracht werden musste. Ich glaube, ich hab sogar gelesen, dass er gestorben ist. So gut ist diese Show. Die Leute sterben dafür.«

Maeve zog die Augenbrauen hoch, sagte aber nichts und starrte Eric nur belustigt an, während er nervös von einem Bein aufs andere trat und schließlich ein paar Kieselsteine aus seinen Espadrilles pulte. Sie zog noch einmal an ihrer Zigarette und war erleichtert, als Aimee und Otis endlich aus dem Haus kamen. Sie wollte so schnell wie möglich losfahren.

Otis lächelte, während er auf seine beiden besten Freunde zuging, die auf den ersten Blick so gar nichts miteinander gemein hatten: Eric gab dem Wort knallbunt eine komplett neue Bedeutung, während Maeve wie immer Schwarz trug.

Otis hatte es keinem von beiden je gesagt, aber er dachte oft, dass Eric und Maeve sich auf seltsame Weise sehr ähnlich waren. Zwar waren sie das komplette Gegenteil voneinander: Eric war impulsiv, lebhaft und durch und durch positiv eingestellt, trug grundsätzlich schreiend bunte Sachen und hatte ein einmalig mitreißendes, lautes Lachen. Maeve dagegen war sarkastisch, zynisch und unerschütterlich pessimistisch, hatte einen knochentrockenen Humor und in ihrem Kleiderschrank hingen ausschließlich dunkle Farben neben anderen dunklen Farben.

Doch beide waren die mutigsten Menschen, die Otis kannte. Maeve war von ihrer ganzen Familie – Mutter, Vater, Bruder – verlassen worden, kam aber sehr gut allein zurecht. Und obwohl sie furchtbar enttäuscht worden war, war sie so fürsorglich und einfühlsam, dass alle anderen für sie an erster Stelle standen.

Eric, sein bester Freund, war selbstbewusst, stolz und zum Schreien komisch. Otis wusste, dass Erics tiefreligiöser nigerianisch-ghanaischer Vater sich Sorgen um seinen schwulen Sohn machte und der Meinung war, es wäre leichter für Eric, wenn er sich nicht ganz so schrill kleiden und geben würde. Aber konventionell und unauffällig kam für Eric nicht infrage und so brachte er seine Eltern und seine Freunde dazu, ihn so zu akzeptieren, wie er war – trotz der Demütigungen und Ignoranz, die manche Menschen ihm entgegenbrachten.

Otis hatte den beiden schon oft sagen wollen, wie sehr er ihre Stärke und ihren Mut bewunderte, doch irgendwie wusste er nie, wie er es formulieren sollte.

Aimee hielt den Autoschlüssel hoch und ließ ihn triumphierend hin- und herschwingen, während sie ihren Koffer über den Kies zerrte. »Ratet mal, wo ich ihn gefunden habe.«

»Auf der Toilette?«

»Falsch! Im Hundenapf! Keine Ahnung, wie er dahin gekommen ist.«

»Ich wusste gar nicht, dass ihr einen Hund habt«, wunderte sich Eric.

»Haben wir auch nicht«, erwiderte sie vergnügt. »Sollen wir unsere Sachen verstauen?« Sie öffnete den Kofferraum und wuchtete ihr Gepäck hinein, dann stapelten die anderen ihre Reisetaschen darauf. Aimee nahm Maeve die Zigarette aus der Hand und zog ein paarmal daran, während Eric und Otis die Taschen hin- und herschoben, damit Erics Koffer hineinpasste.

»Vielen Dank, dass du uns fährst, Aimee«, meinte Eric, als es ihnen endlich gelungen war, den Kofferraum zu schließen.

»Klar doch! Mein Großvater ist einmal rückwärts in einen See gefahren«, sagte Aimee, während sie die Zigarette austrat und aufhob. Sie wollte auf keinen Fall, dass ihre Eltern eine Kippe in der Einfahrt fanden. »Und als er dann wieder aus dem Wasser herausgekommen ist, lag ein Aal auf dem Rücksitz! Das ist doch lustig, oder?« Sie stopfte den Zigarettenstummel in den Aschenbecher und wandte sich an Maeve: »Kann’s losgehen?«

»Von mir aus gern«, erwiderte Maeve, die ein Lächeln unterdrückte.

»Ein Aal?«, flüsterte Eric schaudernd Otis zu.

Maeve fiel auf, dass Aimee mit der Hand auf ihrem Unterleib herumtastete, bevor sie sich ans Steuer setzte.

»Aimes, was machst du da? Alles okay mit dir?«

»Ich will nur feststellen, ob ich aufs Klo muss«, erwiderte sie, während sie noch einmal auf ihre Blase drückte. »Aber für eine Weile geht’s wohl noch. Lasst uns losfahren.«

»Ja!«, rief Eric aufgeregt und zwängte sich neben Otis auf die Rückbank. »ROADTRIP!«

Otis zuckte zusammen und bekam einen finsteren Blick von Maeve ab, die sich auf den Beifahrersitz fallen ließ und mit einem lauten Knall die Tür zuzog. Aimee startete den Motor, dann fuhren sie los. Maeve hatte ein flaues Gefühl im Magen und starrte aus dem Fenster. Es würde eine lange Fahrt werden.

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