Shadowrun: Nachtmeisters Erben - Bernd Perplies - E-Book

Shadowrun: Nachtmeisters Erben E-Book

Bernd Perplies

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Beschreibung

Sie sind die härtesten Transportfahrer der ADL: die Männer und Frauen von Überlandexpress, einer Schattenorganisation, die Personen und Waren befördert – schnell, unbemerkt und ohne Fragen zu stellen. In ihren aufgemotzten Fahrzeugen jagen sie über die Bundesstraßen der Allianz. Sie kennen auch die unscheinbarste Nebenroute und die letzte Tankstelle in der Einsamkeit. Cowboy und Nitro sind zwei dieser Fahrer. Als ihnen für eine Tour von Berchtesgaden nach Groß-Frankfurt eine Unsumme geboten wird, ahnen sie, dass sie dabei Ärger bekommen könnten. Hätten sie nur gewusst, wie viel! Denn das Artefakt, das sie befördern, stammt direkt aus dem Hort des ermordeten Drachen Nachtmeister. Und wenn es sein Ziel erreicht, könnte es das Gleichgewicht der Kräfte in der ganzen ADL ins Wanken bringen.

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EPUB

Seitenzahl: 444

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SHADOWRUN:

Nachtmeisters Erben

Bernd Perplies

Pegasus Press

35014G

Redaktion:

Tobias Hamelmann

Umschlagillustration:

Andreas Schroth

Umschlaggestaltung und Satz:

Ralf Berszuck

Lektorat und Korrektorat:

Lars Schiele

Umsetzung eBook:

SiMa Design

Shadowrun ist eine eingetragene Marke von Topps, Inc.

in Deutschland und anderen Staaten.

© der deutschen Ausgabe 2020 bei Pegasus Spiele.

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit vorheriger Genehmigung. Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-96928-001-0

Besuchen Sie uns im Internet: www.pegasus.de

Für Julian, Lukas und Yvonne –

die mit mir durch Licht und Schatten laufen.

Prolog

Metroplex Groß-Frankfurt

21.6.2062, 13:01 Uhr

Über Groß-Frankfurt tanzten zwei Drachen. Das Schuppenkleid des einen war golden wie die Morgendämmerung, der Körper des anderen von abgrundtiefer Schwärze. Ein grünlicher Schimmer irrlichterte darüber, wenn das Licht der Mittagssonne im richtigen Winkel auf den Giganten schien.

Es war ein Anblick, so wunderschön und grauenerregend zugleich, dass er alle Zuschauer in den Straßen und Hochhäusern der Me­tropole in seinen Bann schlug. Hätte Neil Armstrong in diesem Augenblick seinen berühmten ersten Schritt auf den Mond gemacht, hätte das zumindest in Frankfurt kaum jemand mitbekommen.

Seit am 24. Dezember 2011 als Erster der Großen Drachen Ryumyo über dem Berg Fuji in Japan erschienen war, hatten die geflügelten Weiswürmer diskret, aber mit Nachdruck die Kontrolle über viele Lebensbereiche des beginnenden Sechsten Zeitalters übernommen. Einige von ihnen waren im Laufe der Jahrzehnte bis an die Spitze multinationaler Konzerne gerückt. Trotzdem hielten sich die Drachen im Allgemeinen eher im Hintergrund und überließen es ihren Sprechern und Vertrauten, sie gegenüber der Metamenschheit zu vertreten. Man konnte auch heute noch ein ganzes Leben verbringen, ohne einem einzigen Drachen persönlich zu begegnen – Bilder und Trideoaufnahmen von ihnen gab es natürlich zuhauf.

Aus diesem Grund war das Geschehen, das sich über der Innenstadt von Frankfurt ereignete, ziemlich spektakulär, und jeder fragte sich in diesen Minuten, was Lofwyr den Goldenen, den berühmt-berüchtigten CEO des mächtigen Essener Triple-A-Konzerns Saeder-Krupp, dazu bewogen hatte, seinen Hort im Rhein-Ruhr-Metroplex zu verlassen und gemeinsam mit einem Geschwader Firmenhelikopter in die Finanzhochburg am Main zu fliegen.

Auch Monika Stüeler-Waffenschmidt, die junge Präsidentin des Frankfurter Bankenvereins, stellte sich diese Frage, während sie im obersten Stockwerk der Konzernzentrale am von außen verspiegelten Panoramafenster ihres Büros stand und fassungslos beobachtete, wie sich die beiden gewaltigen Geschöpfe höher und höher in den wolkenklaren Himmel über Frankfurt schraubten.

»Und er hat ganz sicher nichts gesagt?«, fragte sie den Mann an ihrer Seite.

Ihr Begleiter schüttelte den Kopf. »Nein, tut mir leid.« Manfred Freiherr zu Siedenstein, in Frankfurter Bankenkreisen »Der Freiherr« genannt, war Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Bank AG und einer ihrer treusten Gefolgsleute – nicht zuletzt deshalb hatte sie ihn vor fünf Jahren auf seine derzeitige Position berufen. Vor wenigen Minuten noch hatte er eine Audienz beim wahren Herrn des FBV, Nachtmeister, gehabt, dem schwarzen der beiden Kontrahenten jenseits der Panzerglasscheibe. »Wir sprachen eben über strategische Zukäufe in Nahost, als er eine Nachricht erhielt. Er hat mich sofort gebeten, zu gehen. Er müsse sich um etwas kümmern, sagte er. Das waren seine einzigen Worte. Dass Lofwyr in den Luftraum von Frankfurt eingedrungen war, erfuhr ich erst, als ich wieder Zugang zum Firmen-LAN hatte und die Eilmeldungen reinkamen. Es ist … oh, mein Gott!«

Zu Siedenstein riss die Augen auf, und Stüeler-Waffenschmidt wandte sich wieder dem Geschehen draußen zu. Unwillkürlich holte sie scharf Luft. Die beiden Drachen mussten sich nun in fast tausend Metern Höhe befinden und erinnerten auf diese Entfernung eher an zwei Adler als an Geschöpfe mit vierzig Metern Flügelspannweite. Einer der beiden Kontrahenten, Lofwyr, schoss gerade im Sturzflug auf den anderen, Nachtmeister, zu, der sich mit einer hektischen Rolle rückwärts außer Reichweite brachte. Der schwarze Drache geriet ins Trudeln und verlor sicher hundert Meter an Höhe, bevor er sich fangen konnte. Lofwyr warf den Kopf in den Nacken und stieß ein Brüllen aus, das selbst durch das Panzerglas zu hören war.

Stüeler-Waffenschmidt schaute über die Schulter und deutete mit einem Fingerschnippen auf die Trideowand, die ihrem großen Schreibtisch gegenüber lag. »Dominik, schalten Sie die Nachrichten ein. Egal, welcher Sender.«

»Ja, sofort.« Ihr Assistent Dominik Cenia, ein gut aussehender Enddreißiger mit teuren Headware-Modifikationen, wandte sich der Multimedianlage zu. Im nächsten Augenblick erschienen auf dem Kanal des Hessischen Rundfunks Bilder aus einem Übertragungshelikopter. Mehr als ein Dutzend von ihnen umkreisten mittlerweile gemeinsam mit Kameradrohnen die kämpfenden Ungetüme wie Insekten, um möglichst spektakuläre Bilder einzufangen.

»… nicht verletzt zu sein«, sagte gerade eine Frauenstimme, die hörbar Mühe hatte, professionelle Distanz zu dem Geschehen zu wahren. »Wir erkennen von hier aus keine Wunden. Anscheinend konnte er Lofwyrs Angriff knapp ausweichen. Und jetzt gewinnt er wieder an Höhe. Meine Damen und Herren, die Lage ist äußerst besorgniserregend. Nach wie vor liegt kein Statement der Konzernzentrale von Saeder-Krupp in Essen vor, was es mit diesem Besuch ihres Präsidenten in Frankfurt auf sich hat.«

Die Reporterin sprach weiter, aber Stüeler-Waffenschmidt hörte nicht mehr hin. Ihr Blick wechselte unruhig zwischen den Aufnahmen des Helikopters und dem Panorama jenseits des Panzerglases ihres Büros hin und her. Sie sah, wie sich die beiden Drachen in der Luft umkreisten, gewahrte, wie sich die ledrigen Backenfächer ihres Mentors Nachtmeister nervös spreizten. »Tut das nicht«, flüsterte sie, mehr zu sich selbst als zu irgendjemand anderem. »Lasst Euch nicht auf diesen Kampf ein, Meister.«

Doch sie fürchtete, dass Nachtmeister ihre Worte nicht erhören würde.

Im nächsten Augenblick wurde diese Sorge bestätigt, als sich der schwarze Drache auf seinen goldenen Kontrahenten stürzte.

»Nachtmeister geht zum Gegenangriff über!«, rief die Kommentatorin aufgeregt. »Muss der Herr von Frankfurt sein Revier verteidigen? Und da gehen sie auch schon wieder auseinander. Es hat wohl wieder nicht … halt, nein, ich muss mich verbessern: Nachtmeister blutet. Er blutet aus einer Halswunde. Das sieht nach bitterem Ernst aus.«

Stüeler-Waffenschmidt spürte, wie ihre Hände zu zittern anfingen, und sie faltete sie vor dem Bauch. Sie kannte nicht jedes Detail drachischer Rituale, wusste aber, dass es so etwas wie Positionskämpfe in der Drachengesellschaft gab. Wäre dieser Zusammenstoß im Luftraum von Frankfurt einer gewesen, hätte er spätestens jetzt vorbei sein müssen. Lofwyr hatte Nachtmeister als Erster eine Wunde beigebracht. Das sollte genügen, um seinen Anspruch zu zementieren, worum auch immer es bei diesem Konflikt ging.

Aber die zwei Giganten machten keinerlei Anstalten, ihren Kampf zu beenden. Zwar stieß der Goldene, der einmal mehr die Oberhand hatte, einen weiteren grauenhaften Triumphschrei aus, aber Nachtmeister gab mit keiner Faser seines Körpers zu erkennen, dass er sich als besiegt betrachtete. Stattdessen gewann auch er wieder an Höhe, und die beiden Drachen fingen an, sich zu umkreisen.

»Sollten wir nicht … ich weiß auch nicht … irgendwie eingreifen?«, meldete sich zu Siedenstein zögernd zu Wort. »Das hier ist eindeutig der Angriff eines anderen Konzerns. Wir haben das Recht auf Verteidigung.«

»Was schwebt Ihnen vor?«, fragte Stüeler-Waffenschmidt, ohne sich umzudrehen. »Wollen Sie die Bundeswehr anrufen und über der Innenstadt von Frankfurt Kampfjets zum Einsatz bringen?«

»Ich dachte eher an … Drohnen oder die Scharfschützen vom Sternschutz …«

Sie schüttelte den Kopf. »Ineffektiv. Bis die in Position sind, ist alles vorbei. Was immer geschieht, geschieht jetzt. Außerdem mischt man sich nicht in einen Drachenstreit ein. Das macht alles nur noch …« Sie unterbrach sich selbst, als sie sah, wie sich einer der Übertragungshelikopter den Drachen bis auf wenige Meter näherte. »Ist der Pilot lebensmüde?« Diese Frage galt mindestens ebenso für den Kameramann, der sich seitlich aus der Maschine beugte.

Auch Lofwyr wirkte alles andere als erfreut. Auf der Trideowand sah Stüeler-Waffenschmidt, wie er den leichtsinnigen Reporter anbrüllte. Offensichtlich wollte der CEO von Saeder-Krupp Tote unter den Zuschauern vermeiden.

Den Moment der Ablenkung nutzte Nachtmeister. Es war kein sportlicher Zug, aber dies war offensichtlich kein normales Duell unter Drachen. Mit weit aufgerissenem Rachen schoss der Schwarze vor, um sich im Nacken seines Gegners zu verbeißen. Lofwyr allerdings warf sich blitzschnell herum. Stüeler-Waffenschmidt zuckte unwillkürlich zusammen, als die beiden Giganten erneut aufeinanderprallten, ein riesenhaftes Knäuel aus schlagenden Schwingen, peitschenden Schwänzen und zuschlagenden Klauen. Wütend wirbelten sie herum und plötzlich wurde der Helikopter zur Seite geschlagen. Wer der beiden ihn getroffen hatte, vermochte Stüeler-Waffenschmidt nicht zu sagen. Es war alles zu schnell gegangen. Trudelnd sackte die Maschine in die Tiefe.

Zu Siedenstein stieß einen leisen Fluch aus. »Den hat es erwischt. Wenn da kein Top-Pilot am Steuer sitzt, wird er eine Bruchlandung direkt bei der Hauptwache hinlegen.«

Nichts hätte Stüeler-Waffenschmidt im Augenblick gleichgültiger sein können. Vollkommen gebannt beobachtete sie den brutalen Zweikampf der urtümlichen Geschöpfe. Von der metamenschlichen Fassade, die Große Drachen gern präsentierten, wenn sie sich in der Gesellschaft gewöhnlicher Sterblicher bewegten, war nichts mehr übrig. Hier kämpften zwei Bestien miteinander und die Bestie in ihrem eigenen Inneren reagierte darauf mit einer Mischung aus Erregung und Entsetzen. Sie ballte die Linke zur Faust und versuchte, diese Gefühle zu unterdrücken. Sie durfte nicht die Beherrschung verlieren, nicht vor ihren Untergebenen.

Die Drachen trennten sich wieder, wobei es eher so wirkte, als habe Lofwyr Nachtmeister freigegeben. Der schwarze Drache wankte und Stüeler-Waffenschmidt merkte, dass sich seine Flügel unrhythmisch bewegten.

»Nachtmeister scheint sich eine weitere Verletzung zugezogen zu haben«, kommentierte die Sprecherin in den Nachrichten. »Ja, die Bilder zeigen deutlich den tiefen Riss in seiner linken Schwinge. Er hat Schwierigkeiten, sich in der Luft zu halten. Lofwyr dagegen scheint nur oberflächliche Blessuren abbekommen zu haben. Er schwebt über Nachtmeister und beobachtet ihn einfach nur. Vielleicht kommuniziert er telepathisch mit ihm. Das wissen wir nicht. Aber es wäre denkbar, dass er ihn zur Kapitulation auffordert.«

Im Hintergrund stürzte der Helikopter den Hochhäusern entgegen und verschwand in einer der Straßenschluchten. Stüeler-Waffenschmidt beachtete ihn kaum. Furcht hatte sich in ihre Eingeweide gekrallt. Gebt nach, beschwor sie ihren Mentor im Geiste. Gesteht lieber jetzt eine Niederlage ein und kehrt später mit Macht zurück. Ihr könnt den Kampf gegen Lofwyr nicht weiterführen, wenn Ihr tot seid. Seid nicht zu stolz, um das zu erkennen.

»Es reicht«, ließ sich zu Siedenstein neben ihr vernehmen. »Ich kann nicht weiter tatenlos zusehen. Wir müssen dem ein Ende setzen. Ich rufe jetzt das Rathaus an und informiere die über einen taktischen Luftschlag gegen Lofwyr. Es gibt keine andere …«

Der Rest des Satzes blieb ihm im Halse stecken, denn unvermittelt kam Bewegung in den schwarzen Drachen. Doch er griff weder an noch präsentierte er sich in einer Geste der Unterwerfung. Vielmehr ließ er sich einfach in die Tiefe fallen.

Eine Sekunde lang setzte Stüeler-Waffenschmidts Herz aus. Hatte Nachtmeister das Bewusstsein verloren? Nein, erkannte sie einen Moment später. Er breitete die Schwingen aus und segelte hinter den Frankfurter Messeturm.

»Was ist denn jetzt los?« Irritiert starrte zu Siedenstein aus dem Fenster.

»Sehen Sie!«, rief Dominik und deutete auf die Trideowand.

»Das sind Raketen, meine Damen und Herren!«, entfuhr es der Berichterstatterin. »Ich wiederhole, Raketen. Ein Hubschrauber ist hinter dem Messeturm aufgetaucht und nimmt Lofwyr unter Beschuss. Mein Gott, was hat das zu bedeuten?«

Feuerblumen erblühten am Himmel über Frankfurt, genau an der Stelle, wo eben noch Lofwyr zu sehen gewesen war. Im nächsten Moment brach die Hölle los. Während die Übertragungshelikopter auseinanderstoben wie Fliegen, nach denen jemand geschlagen hatte, legte der goldene Drache die Schwingen an und ging in einen Sturzflug über, um sich aus der Schussbahn zu bringen. Gleichzeitig jagten von überall S-K-Hubschrauber heran und nahmen den unerwarteten Angreifer unter Feuer. Der fremde Hubschrauber drehte ab und suchte sein Heil in der Flucht, doch ein halbes Dutzend Maschinen aus Lofwyrs Eskorte heftete sich an seine Fersen. Das Hämmern von Maschinengewehren erfüllte die Luft mit infernalischem Lärm, wie ein Hagelschauer auf ein Blechdach.

Das Brüllen von Lofwyr ging darin beinahe unter – aber nur beinahe. Er hatte die Schwingen wieder ausgebreitet und seinen Sturz abgefangen. Unbeschadet hatte er die Attacke nicht überstanden, aber seine Verletzungen schienen nicht schwer genug zu sein, um seinen Zorn zu dämpfen. Mit kräftigen Flügelschlägen schraubte er sich wieder in die Höhe. Dabei blickte er sich nach Nachtmeister um.

Fassungslos sahen sich Stüeler-Waffenschmidt und zu Siedenstein an. »Waren wir das?«, fragte ihr Gegenüber, das Kommlink noch in der Hand.

»Auf meinen Befehl war niemand draußen«, erwiderte sie. Ihre Gedanken überschlugen sich. Konnte Nachtmeister selbst für Rückendeckung gesorgt haben? Damit hätte er den Kodex für Drachenduelle grob verletzt, noch weitaus mehr als durch seinen Überraschungsangriff im Moment von Lofwyrs Ablenkung. Das sah ihrem Mentor überhaupt nicht ähnlich. Aber wie gut kannte sie Nachtmeister wirklich? Wie gut konnte man einen Drachen überhaupt kennen?

Es spielte keine Rolle, ob Nachtmeister tatsächlich für den Angriff verantwortlich war oder nicht – Lofwyr hielt ihn für schuldig. Und er stürzte sich ohne Erbarmen auf seinen bereits angeschlagenen Gegner. Der versuchte zu fliehen, aber der Herr von Saeder-Krupp war schneller. Mit einem machtvollen Schlag seiner gewaltigen Schwingen warf sich Lofwyr auf seinen Feind, verkrallte sich in dessen Rücken und hieb ihm die langen Reißzähne in den dunkel geschuppten Hals.

Ein grauenvoller Schrei hallte weit über Frankfurt hinweg, der Schrei eines tödlich getroffenen, uralten Geschöpfes. Stüeler-Waffenschmidt keuchte auf. »Nein.« Jede Faser ihres Körpers verkrampfte sich und ihr Blut schien in den Adern zu Eis zu gefrieren. »Nachtmeister!«

Aber noch war er nicht tot. Sie sah, wie sich ihr Mentor in Lofwyrs Klauen wand, wie er mit all der Wildheit eines in die Ecke gedrängten Tieres um sein Leben kämpfte. Doch er war zu schwer verwundet. Er konnte nicht mehr gewinnen. Es wirkte vielmehr so, als zögere er das Unvermeidliche nur hinaus.

Lofwyr kannte kein Erbarmen. Auf den verwackelten Aufnahmen des Übertragungshelikopters ließ sich mehr erahnen als erkennen, wie er seinen Gegner schüttelte, um seine Kehle zu zerfetzen. Seine Krallen gruben sich tief in Nachtmeisters ledrige schwarze Schwingen und rissen klaffende Löcher hinein. Nachtmeister stürzte der Erde entgegen – und Lofwyr mit ihm. Er schien zu sehr im Blutrausch zu sein, um sich daran zu erinnern, dass es einen Gegner gab, der auch ihn bezwingen würde, und dieser Gegner war ein Aufprall auf Asphalt aus zweihundert Metern Höhe.

»Sie bringen sich gegenseitig um!«, rief zu Siedenstein.

»Nein.« Stüeler-Waffenschmidt schüttelte den Kopf. »So viel Glück haben wir nicht.« Ihre Worte wurden gleich darauf bestätigt, als Lofwyr knapp über der Häusergrenze von seinem Opfer abließ und seine Schwingen ausbreitete, um sich abzufangen. Es gelang ihm mit Mühe und Not.

Nachtmeister schaffte es nicht. Lautlos und schlaff fiel sein riesiger Leib zwischen die Häuser. Seine Schwingen flatterten über ihm in der Luft wie die zerfetzten Fahnen einer besiegten Armee. Dann war er verschwunden, irgendwo in der Nähe des Palmengartens.

Stüeler-Waffenschmidt starrte reglos auf die Absturzstelle.

»Lofwyr fliegt weg.« Sie vernahm die Stimme ihres Begleiters nur wie aus weiter Ferne. »Er zieht sich in Richtung Taunus zurück. Sollen wir ihn verfolgen lassen? Jetzt wäre die beste Gelegenheit. Er scheint verwundet und …«

»Gehen Sie«, sagte Stüeler-Waffenschmidt mit leiser, aber fester Stimme. »Gehen Sie alle beide. Ich … muss einen Augenblick allein sein.« Sie wandte sich vom Fenster ab und blickte die zwei Männer an. Dominik neigte stumm den Kopf. Zu Siedenstein öffnete den Mund und schien noch etwas einwenden zu wollen, aber der Ausdruck in ihren Augen sorgte dafür, dass er mit verkniffener Miene ebenfalls nickte. »Wir reden später weiter.«

»Ja.«

Stüeler-Waffenschmidt wartete, bis Dominik die Tür hinter sich geschlossen hatte und sie ganz allein in ihrem Büro stand. Dann schloss sie die Augen und ließ sich gegen die Panzerglasscheibe sacken. »Meister …«, flüsterte sie. »Warum habt Ihr das getan? Warum habt Ihr den Kampf auf diese Weise enden lassen? Ihr hättet nicht sterben müssen.« Dass er tot war, daran hegte sie keinen Zweifel. Sie konnte die Leere in ihrer Brust und ihrem Kopf spüren, die sein Ableben in ihr hinterlassen hatte. Die geistige Verbindung, die immer zwischen ihnen existiert hatte, war fort, zerschlagen wie mit einer scharfen Klinge. Mühsam kämpfte sie gegen aufsteigende Tränen an, doch es war ein Kampf, den sie verlor.

»Was habt Ihr Euch nur dabei gedacht? Wie sollen wir ohne Euch bestehen?«

Ihre Fragen verhallten in der Stille des großen, einsamen Büros. Sie bekam keine Antwort. Sie würde nie wieder Antworten bekommen, nicht von ihm, ihrem Gönner, Mentor und heimlichen Geliebten.

Inmitten ihrer unendlichen Trauer reifte eine Erkenntnis heran. Nachtmeister hatte kein Testament hinterlassen, zumindest keins, von dem sie je gehört hätte. Nach der drachischen Tradition gehörte der Hort dem Sieger, aber sie wollte verdammt sein, wenn sie dem Mörder Lofwyr Nachtmeisters Erbe überließ. Diese Erbe stand nur einer Person zu: ihr! Aber wenn sie es schützen wollte, musste sie rasch handeln und die Zügel fest in die Hand nehmen, sonst würde der Frankfurter Bankenverein ins Chaos stürzen. Als CEO hatte sie gewisse Möglichkeiten, aber diese genügten nicht, um ihre Position in den turbulenten Wochen, die kommen würden, zu sichern.

Ihr wurde klar, was sie tun musste.

Monika Stüeler-Waffenschmidt öffnete die Augen wieder und richtete sich auf. Sie wischte sich mit einem Finger die Tränen von den Wangen und ihre Miene verhärtete sich. »Ich werde Euch nicht enttäuschen, Meister. Das schwöre ich.«

Dann zückte sie ihr Kommlink, aktivierte die stärkste Verschlüsselungsstufe und wählte eine ganz bestimmte Nummer.

18 Jahre später

Kapitel 1

Landstraße von Feldkirchen nach Bad Aibling

22.9.2080, 22:32 Uhr

Shadowrunner verdankten ihren Namen dem Umstand, dass sie sich vorzugsweise in den Schatten bewegten, in den schummrigen Gassen zwischen den schäbigen Rückseiten hoch aufragender Häuserblocks und den unzureichend beleuchteten Vorstadtvierteln, in denen man froh war, wenn man nachts nicht jede Einzelheit erkennen konnte. Doch damit Schatten entstehen konnten, musste es auch Licht geben, das Licht hell erleuchteter Boulevards, funkelnder Arkologien, fassadengroßer Werbe-Trids und einer allgegenwärtigen Augmented Reality, die jede Stadt mit einem grellbunten, virtuellen Schleier aus Werbung und Informationen, Warnungen und Unterhaltung überzog.

Hier in der bayrischen Einöde südlich von München gab es kein Licht und es gab keine Schatten. Es existierte bloß Finsternis, eine Schwärze, die so tief war, dass sie in einem Stadtmenschen ein Gefühl der Beklemmung auslöste. Früher hatten hier zahlreiche kleine Dörfer, die Gehöfte lokaler Bauern und Gasthäuser am Straßenrand die Dunkelheit mit Lichtinseln der Zivilisation gesprenkelt. Doch im Laufe der Landflucht, die nun schon bald ein Jahrhundert andauerte, war es in manchen Gegenden der Allianz Deutscher Länder sehr einsam geworden. Das Alpenvorland zählte, abseits der touristischen Hotspots, dazu.

Cowboy hatte kein Problem mit der Dunkelheit und auch keins mit der Einsamkeit. Beide waren seine Freunde, wenn er mit seinem GMC Commodore auf einer der zahlreichen Nebenstraßen der ADL unterwegs war, um diskret Waren oder Personen von einem Ort zum anderen zu bringen. Sein Wagen und er gehörten zum Überlandexpress, einer Organisation, die freischaffende Schattenkuriere zu einem lockeren Netzwerk verknüpft hatte, das von einer geheimen Service-Leitstelle aus zusammengehalten wurde. Man teilte Ressourcen – vor allem lokale Werkstätten und Schieber – miteinander, gab sich Tipps und aktuelle Hinweise die besten Schmuggelrouten betreffend, und an einem guten Tag kam einem vielleicht auch mal ein in der Nähe fahrender Kollege zu Hilfe, wenn man Probleme, beispielsweise mit einer Go-Gang oder Straßenduellanten, hatte.

Der Express war noch keine fünf Jahre am Markt, und Cowboy fuhr erst seit zwei Jahren für ihn. Trotzdem hatte er in der Zeit mehr abgelegene Orte der ADL kennengelernt als in den fast vierzig Jahren zuvor, die er mehrheitlich im Metroplex Groß-Frankfurt verbracht hatte.

Die ersten Fahrten durch die Dunkelheit außerhalb der ständig glühenden und pulsierenden Megastädte hatten ihn mehr Überwindung gekostet, als er je zuzugeben bereit gewesen wäre. Die Fantasie spielte einem Streiche, wenn man zu lang in die Finsternis jenseits der scharf gebündelten Lichtkegel der Autoscheinwerfer blickte, und es half auch nichts, wenn man die Restlichtverstärkung der Wagenkameras aktivierte oder auf Infrarot umschaltete und feststellte, dass dort draußen in der Erwachten Natur wirklich Dinge lebten, große und unheimliche Dinge. Sie hatten den Commodore noch nie angegriffen, sondern waren meist geflohen, wenn er das Motorröhren-Soundfile durch die Außenlautsprecher jagte. Aber Cowboy wusste, dass es sie gab.

Mittlerweile schreckte ihn hier draußen kaum noch etwas. Er hatte sich angewöhnt, in Dosen zu pinkeln, und wenn er doch die schützende Panzerhaut des Fahrzeugs verlassen musste, sah er sich vorher genau um und traf entsprechende Sicherheitsvorkehrungen.

Abgesehen davon fuhr er auch nicht mehr allein. Nachdem ein paar seiner Solo-Fahrer-Kollegen unschöne Zusammenstöße mit Wildnisbewohnern gehabt hatten, die sie beinahe – oder tatsächlich – umgebracht hatten, war von Überlandexpress die Ansage gemacht worden, dass zukünftig mindestens im Team unterwegs sein musste, wer weiter für sie arbeiten wollte. Man wollte keine Passagiere oder Waren verlieren, weil sich jemand zu fein war, einen Partner ins Auto zu holen.

Also hatte Cowboy in seiner alten Nachbarschaft in Mainz eine der wenigen Personen rekrutiert, denen er vertraute: Nitro, einen Ork mit türkischen Wurzeln. Nitros Geschmack hinsichtlich Musik und Frauen ließ zu wünschen übrig, aber er war loyal und zuverlässig und für Cowboy, dessen Eltern beide schon seit zehn Jahren tot waren, die Person, die einer Familie am nächsten kam. Darüber hinaus fuhr er wie der Teufel und was Bordelektronik und Matrixzaubereien anging, konnte Cowboy sogar noch von ihm lernen. Nitro war es zu verdanken, dass der Commodore mittlerweile keinen manuellen Überbrückungsschalter mehr brauchte, um sich gegen Hackerübergriffe zu wehren. Stattdessen wurde seine gesamte Karosserie von Metallbändern durchzogen, die wie ein faradayscher Käfig wirkten, also alle Funksignale ablenkten und zerstreuten. Keine Chance für jemanden, der glaubte, Cowboys Wagen durch die Matrix übernehmen zu können. Die Kehrseite der Medaille war, dass sie ihr Kommlink zum Fenster hinaushalten mussten, wenn ein Glückstreffer die einzige Außenantenne abrasiert hatte.

Im Augenblick saß Nitro zurückgelehnt auf dem Beifahrersitz und nippte an einer Dose Dawai, während er durch seine Sonnenbrille scheinbar entspannt ins Leere starrte. In Wahrheit war er draußen unterwegs, wie Cowboy wusste. Über das dünne Kabel, das von der Riggerkontrolle in seiner linken Schläfe bis zur Mittelkonsole des Commodore verlief, war der Ork mit Bee verbunden, der kugelförmigen Dodge-Daihatsu Beholder, die zur Aufklärung rund um den Wagen kreiste. Nitro war allerdings nicht in die Flugdrohne hineingesprungen, sondern nutzte nur die Fernsteuerung. Ansonsten hätte er nicht gleichzeitig trinken können, weil er zu sehr damit beschäftigt gewesen wäre, die Drohne zu sein. Und der Ork hatte praktisch ständig Hunger oder Durst.

In kritischen Situationen bot es unbestreitbare Vorteile, mit der Maschine zu verschmelzen, mit dem Commodore, der kleinen Drohne oder sonst einem Fahrzeug mit Riggerinterface. Man spürte alles intensiver, konnte schneller reagieren und präziser steuern. Aber der eigene Körper war auch anfälliger für die sensorisch weniger erfreulichen Aspekte einer solchen Situation, beispielsweise für den Pseudoschmerz, den in die Karosserie einschlagende Kugeln verursachten. Gegenwärtig hätte Cowboy allerdings bloß den harten, von Rissen durchzogenen Asphalt unter den Reifen und die kalte Nachtluft auf der Metallhaut gespürt.

Manche Rigger liebten diesen Kick der Unmittelbarkeit, waren regelrecht süchtig danach, ungeachtet aller Nachteile. Cowboy und Nitro gehörten nicht dazu. »Nenn mich altmodisch«, hatte Cowboy damals zu seinem Freund gesagt, als diese Sache bei einem Soybier zur Sprache kam, »aber ich mag das Gefühl des Lenkradleders unter meinen Händen.«

Nitro hatte ihn angegrinst. »Gib es zu: Wenn du könntest, würdest du noch einen dieser antiken Schaltbenziner fahren, oder?«

Das hatte Cowboy nicht abstreiten können, allerdings wusste er die Beschleunigung und den leisen Motor von Elektrofahrzeugen durchaus zu schätzen. Wenn man nicht auffallen wollte, war es gut, mit einem Wagen unterwegs zu sein, der ein geringes Lärmprofil hatte. Und wenn man doch aufflog, dann hing das eigene Überleben mitunter davon ab, binnen drei Komma vier Sekunden von dreißig auf hundertdreißig Stundenkilometer beschleunigen zu können. Der Commodore war dazu imstande.

Im Augenblick glitt der Wagen mit gemächlichen achtzig km/h über die vereinsamte Landstraße. Niemand außer ihnen war hier unterwegs und das nicht nur, weil es spät am Abend war. Die Leute in der ADL blieben bevorzugt in ihrem Metroplex, egal ob Groß-Frankfurt, Rhein-Ruhr, Hamburg oder Berlin. Wenn sie sich doch von einem Plex zum anderen bewegten, nahmen sie die Autobahn oder die doppelgeschossige Euroroute mit all den Annehmlichkeiten, die das dazugehörige »Autofahrerleit- und Informationssystem« – kurz ALI – bot. Da ALI allerdings, genau wie sein internationales Pendant GridGuide, ausgesprochen neugierig war und Cowboy kein Interesse daran hatte, dass das Amt für Zentrale Verkehrsleitung oder der Großkonzern Renraku, der Betreiber sowohl von GridGuide als auch von ALI, jede seiner Fahrtrouten nachvollziehen konnte, mieden Nitro und er Fernstraßen, wann immer es ging.

Der Haken an den Landstraßen: Sie waren, weil kaum noch genutzt, in einem stellenweise erbärmlichen Zustand. Das zeigte sich in diesem Moment wieder, als unvermittelt ein großes Schlagloch im Licht der Scheinwerferkegel auftauchte. Mit einer raschen Lenkradbewegung wich ihm Cowboy aus.

Neben ihm gab Nitro ein ersticktes Geräusch von sich und hustete dann, weil er sich an seinem Dawai verschluckt hatte. »Pass doch auf, Chummer!«, beschwerte er sich.

»Tut mir leid«, erwiderte Cowboy. »Miese Straße.«

»Ist ja mal ganz was Neues.« Nitro bleckte die Ork-Hauer. »Wenn das so weitergeht, brauchen wir bald eine Geländeaufhängung und so fette Profilreifen, um noch ans Ziel zu kommen. Oder wir binden dem Commodore eine weibische Hoovercraftschürze um.« Sein Partner gluckste. »Mann, sähe das scheiße aus.« Er nahm einen weiteren Schluck seines Getränks.

Im nächsten Moment gab er einen Laut der Überraschung von sich und richtete sich ruckartig auf.

»Was ist los?«, fragte Cowboy.

»Da kommt jemand hinter uns her!« Nitro rammte die halbleere Dose in die Getränkehalterung am Sitz, bevor er zusätzlich zu seinen AR-Kontrollen die manuelle Steuerkonsole heranzog.

Cowboy überprüfte die Sensoren. Wie so viele der Systeme und Bauteile des Commodore waren auch diese umgerüstet worden, allerdings kostete Top-Ware auf dem Schwarzmarkt ein halbes Vermögen. Für mehr als gutes Mittelmaß hatten seine Finanzen nie gereicht. Aus diesem Grund war im visuellen Spektrum gar nichts auszumachen und auch im Infrarotbereich ließen sich bloß ein paar winzige Flecken erkennen, die ebenso gut von einem kleinen Schwarm Vögel stammen konnten.

»Ich sehe nichts«, sagte er. »Gib mir mal den Feed von Bee rein.«

Nitro kam der Aufforderung nach und plötzlich hing Cowboy unmittelbar über dem dunklen Schatten, der ohne Licht im fahlen Schein eines bauchigen, von Wolkenfetzen halb verhangenen Halbmonds über die Landstraße dahinjagte. »Die fahren abgedunkelt …«, murmelte er.

»Jep«, bestätigte Nitro. »Das gefällt mir nicht, Mann.«

Es gab Methoden, um auch nachts ohne Licht zu fahren. Man konnte Infrarotscheinwerfer und dazu passende Kameras einbauen, sich auf Radar oder Lichtecho verlassen, oder vielleicht besaß die Person am Steuer auch teure Cyberaugen mit Top-Restlichtverstärkern. Doch so oder so verzichtete niemand zum Spaß auf normales Licht, erst recht nicht auf einer Straße wie dieser.

»Sieht aus wie ein Sportwagen«, meinte Cowboy, während die Analysesoftware der Beholder-Drohne die Konturen ihres Verfolgers in Falschfarben verstärkte.

»Stimmt«, erwiderte der Ork. »Ein BWM 400GT?«

»Zu kantig. Eher ein Eurocar Mirage 3500.« Eine plötzliche Ahnung beschlich Cowboy, aber bevor er den Gedanken in Worte fassen konnte, ploppte ein Hinweis in seinem AR-Sichtfeld auf. »Na, sieh mal einer an.« Sein Verdacht hatte sich soeben bestätigt.

»Eddies Pizza?« Nitro klang ungläubig. »Was machen die denn hier?«

»Wir können sie ja mal fragen.« Cowboy verlangsamte den Commodore und hielt dann auf freier Strecke an, damit ihre Verfolger aufschließen konnten.

Die gaben jede Heimlichkeit auf und ließen die starken Frontscheinwerfer sowie die Unterbodenbeleuchtung ihres Fahrzeugs aufflammen. Der Mirage war eine Bestie von einem Wagen, einer der wenigen Vertreter auf dem schrumpfenden Markt der Benziner-Muscle-Cars und mit genug PS unter der Haube, um selbst Cowboys Commodore das Fürchten zu lehren – oder zumindest die Version des Commodore, die man bei den Auto­händlern in Frankfurt-Griesheim kaufen konnte. Der Wagen war beliebt unter Straßenduellanten und Gangmitgliedern, was Anlass zur Sorge hätte geben können. Aber es gab wohl nur ein einziges dieser Fahrzeuge, das sich als »Eddies Pizza« auswies, obwohl sich kein Pizzabote der Welt so einen Wagen hätte leisten können. Kurioserweise war damit tatsächlich ein einziges Mal eine Pizza ausgeliefert worden – an einen Yakuza-Kobun in Düsseldorf. Es hatte sich damals um irgendeine symbolische Geste der ebenfalls im Rhein-Ruhr-Megaplex ansässigen Gasperi-Familie gehandelt.

Der mitternachtsblaue Wagen kam auf der Gegenspur neben ihnen zum Stehen. In der AR dampften finstere Wolken aus seiner Karosserie und Blitze zuckten von der Front zum Heck. Es war eine ziemlich eindrucksvolle Simulation und hatte die Besitzerin des Fahrzeugs, das in Wahrheit unter dem dramatischen Namen »Tempest« bekannt war, eine schöne Stange Geld gekostet, wie Cowboy wusste. Aber wenn man, wie sie alle, fürs Fahren lebte, schnallte man auch mal den Gürtel ein paar Wochen lang enger, damit man sich die schicke neue Mod leisten konnte, über die man auf einem der Szenetreffen oder in einem der Schrauberfeeds gestolpert war.

Cowboy ließ die verstärkte Seitenscheibe herunter, und sein Gegenüber tat es ihm gleich.

Ein Zwerg mit geflochtenem Bart und großflächigen Tätowierungen auf dem kahlen Schädel grinste sie an. Er trug ein weißes Unterhemd, das seine eindrucksvollen Oberarmmuskeln zur Schau stellte, und auf seiner Brust baumelte, halb durch den Bart verdeckt, ein silbernes Kreuz. Auf dem Fahrersitz im Hintergrund war eine Frau mit kurzen blonden Haaren und ausrasierten Schläfen zu sehen. Sie war in schwarzes, gepanzertes Leder gekleidet, und eine schmale, silbern verspiegelte Brille verdeckte ihre Augen.

»Lightning und Donar«, begrüßte sie Cowboy. »Was führt euch in diese lauschige Gegend?«

Donar deutete ein Schulterzucken an. »Hatten einen Job im Süden von München zu erledigen und danach Lust auf ein Bier und ein bisschen Ärger. Und da dachten wir, pingen wir mal rum, wer auf den Straßen unterwegs ist. Wie es aussieht: ihr.«

»Und jetzt wollt ihr uns in die BMW Oktan Lounge in Milbertshofen einladen?«, mischte sich Nitro grinsend ein.

»Wir dachten an den Pösling Desperado – und es zahlt, wer zuletzt dort eintrifft.«

Wie um seine Worte zu unterstreichen, ließ Lightning den Motor aufgrollen und schaffte dabei das Kunststück, trotz Brille und ausdrucksloser Miene einen Anflug von spöttischer Herablassung zu vermitteln.

Cowboy und Nitro wechselten einen Blick. Der Ork nickte kaum merklich. Herausforderung angenommen. Ein Lächeln zupfte an Cowboys Mundwinkel, als er sich dem anderen Riggerpaar zuwandte. »Hoffentlich habt ihr Rücklagen. Nitro trinkt normalerweise aus Eimern, nicht aus Gläsern.«

Donar fuhr das Fenster wieder hoch. »Wir werden sehen, wer Rücklagen braucht!«, rief er.

Cowboy wandte sich den Instrumenten zu. »Nitro, schick Bee vor. Ich will einen Feed der Straßenlage.«

»Geht klar, Chummer.« Sein Beifahrer machte sich an der Konsole zu schaffen.

Das Funksystem blinkte auf, und Cowboy öffnete den Kanal.

»Seid ihr startklar?«, fragte Donar.

»Ich übernehme den Commodore und bin es«, erwiderte Cowboy.

»Okay. Wir geben euch einen Countdown auf vier.«

»Verstanden.« Cowboy aktivierte die Riggerkontrolle in seinem Schädel. Eingestöpselt war er aus Sicherheitsgründen während einer Fahrt immer, aber er rief das volle Potenzial seiner Fahrzeugsteuereinrichtung nur im Notfall ab – oder wenn es um die Ehre ging.

Er spürte einen kurzen Moment der Desorientierung, als sich sein Körperempfinden veränderte. Seine Beine wurden zu Reifen, seine Arme zu Türen, seine Augen und Ohren zu den Sensoren des Commodore. Der MSI-Sentinel-Aufmerksamkeitsbooster in seinem präfrontalen Kortex erweiterte sein Wahrnehmungsfeld und legte einen AR-Filter über die Straße sowie ihre unmittelbare Umgebung. Gleichzeitig brachte sein Transys-Neuronet-Reaktionsverstärker seine Nerven zum Zittern, als hätte er eine Literdose BOOM geleert. Cowboy wechselte am Smartschild des Wagens das Kennzeichen auf eine willkürliche Kombination und passte den Schleierchip des Commodore daran an. Dann jagte er ein Motorröhren durch die Anlage. Er war so bereit wie ein Hundertmetersprinter vor dem Startschuss.

»Los gehtʼs«, knurrte er.

Ein ARO in Form einer Signallampenleiste tauchte vor ihm in der Dunkelheit auf. Die erste der roten Lampen schaltete auf Grün, dann die zweite und die dritte. Als die letzte der vier Lampen grün wurde, schoss Cowboy los. Die Beschleunigung beider Wagen war annähernd ähnlich, aber als Elektrofahrzeug kam der Commodore aus dem Stand besser weg, sodass sie sofort eine Wagenlänge in Führung gingen. Nitro johlte begeistert.

Cowboy ließ sich von dieser Begeisterung nicht anstecken. Er musste sich ganz auf die Straße konzentrieren. Rennen in der Stadt zu fahren, war eine Sache. Selbst in den Industriegebieten, in denen oft illegale Rennveranstaltungen stattfanden, war der Straßenzustand besser als hier draußen in der Einöde auf lange vernachlässigten Bundesstraßen. Hier gab es Sprünge im Asphalt, Schlaglöcher, und gelegentlich drückten sich sogar die Wurzeln naher Bäume durch den Belag. Wenn man nicht aufpasste, war im Handumdrehen ein Reifen hinüber – oder mehr.

Cowboy spürte den Fahrtwind, der über die Karosserie strich, spürte die unebene Straße, die Reifen und Radaufhängungen beanspruchte. Vor allem aber spürte er die Kraft, die der hochgezüchtete Induktionsmotor des Commodore ausströmte. Es fühlte sich an, als hätte er sich von einem Moment zum anderen in einen muskelbepackten Leistungssportler verwandelt, dessen Beine rennen wollten, einfach nur rennen.

Ihre speziellen Navigationskarten zeigten auf einer Länge von fast fünf Kilometern eine annähernd gerade Strecke an, und Bees Sensordaten zufolge war sie zumindest bis auf fünfhundert Meter vor ihnen frei von Hindernissen. Cowboy warf einen raschen Blick zur Seite. Neben ihnen raste Tempest grollend dahin und in der AR zog der Wagen Spuren aus Blitzen hinter sich her. Lightning und Donar waren solche Selbstdarsteller.

Aber ein bisschen Show gehört auch dazu. »Schalte Power-Set 1«, informierte er Nitro. »In drei, zwei, eins, jetzt!«

Er wechselte in den nachgerüsteten zweiten Gang, wodurch sich die Drehgeschwindigkeit der Räder sprunghaft erhöhte. Gleichzeitig drückte einer der zwei Turbo-Kondensatoren seine Energie in den Motor, um die benötigten PS zur Verfügung zu stellen. Ein sattes Soundfile und ein blaues Stichflammen-ARO aus dem Heck boten dem Manöver den würdigen Rahmen, indem sie an den Effekt von Lachgaseinspritzung bei den Rennbenzinern vergangener Zeiten erinnerten.

Der Commodore schoss nach vorn.

»Schnüffelt an unserem virtuellen Auspuff!«, schrie Nitro lachend.

Der Randstreifen verwischte und der Eindruck eines dunklen Tunnels entstand, der bei weniger geübten Fahrern womöglich Panik erzeugt hätte. Eine falsche Wurzel und sie würden durch die Landschaft segeln. Doch Cowboy blieb ruhig und konzentriert, den Blick starr auf die Straße gerichtet.

Sein Seitensensorfeed zeigte ihm, dass der Mirage zurückblieb. Dann jedoch änderte sich unvermittelt die Unterbodenbeleuchtung auf ein aggressives Rot und er beschleunigte ebenfalls stark.

»Die haben ihren Lachgastank aufgedreht!«, rief Nitro.

»Yep«, bestätigte Cowboy. Er hatte damit gerechnet. Lightning ließ sich nie zu weit abhängen. Vermutlich würde sie ihn sogar überholen. Der Lachgastank hielt länger vor als der Turbo-Kondensator. Schon wechselte die Power-Set-Programmierung wieder auf die normale Übersetzung zurück und sie verloren einiges an Geschwindigkeit.

Fauchend holte Tempest auf und zog mit ihnen gleich. Cowboy hätte sie blockieren können, aber es gab eine Handvoll Regeln bei Straßenrennen, und eine lautete, dass man einem Fahrzeug im Turbomodus nicht absichtlich den Weg verstellte, weil die Unfallgefahr viel zu hoch war. Sie wollten hier ja nur ihre Fahrkünste messen und sich nicht umbringen.

»Schlaglöcher!«, warnte Nitro, der Bee überwachte. »200 Meter.«

Cowboy hatte sie schon gesehen. Seine computergestützten Sinne legten Warnfelder auf die in der Dunkelheit kaum auszumachenden Hindernisse, und der Steuerrechner des Commodore bot farbige Führungslinien an, um dem Hindernis sicher auszuweichen. Die hätte Cowboy nicht gebraucht. So sicher, wie ein laufender Mensch über Schlaglöcher hinwegzusetzen vermochte, umfuhr er die gefährlichen Stellen mit seinem vierrädrigen Körper in voller Geschwindigkeit. Um einen Rigger ins Schwitzen zu bringen, bedurfte es schon größerer Herausforderungen.

Tempest hatte sich um eine knappe Wagenlänge vor sie gesetzt. Das Duell der Turbo-Einsätze hatte Lightning für sich entschieden. Aber das machte nichts. Tatsächlich hatte Cowboy darauf gebaut. Denn er wusste, dass sie nur eine Lachgasflasche in ihr Auto integriert hatte. Der Turbo-Kondensator des Commodore ließ sich aber während der Fahrt wieder aufladen. Bei einem kurzen Rennen brachte das keinen Vorteil. Von hier bis zum Pösling Desperado waren es allerdings noch fast vierzehn Kilometer. Das reichte für einen zweiten Einsatz. Und dann würde der Commodore seinem Kontrahenten davonschießen.

Neben ihm fluchte Nitro. »Baustelle auf unserer Spur, 500 Meter.«

Cowboy knurrte bloß unwillig. Genau genommen handelte es sich um die vergessenen Absperrungen einer Baustelle, die seit Längerem nicht mehr in Betrieb zu sein schien. Trotzdem blockierten sie die Straße einseitig sehr effizient. Ihm blieb keine Zeit, sich vor Tempest zu setzen, also sah er sich gezwungen, abzubremsen und sich hinter dem anderen Wagen einzuordnen. Das verschaffte Lightning und Donar einen ärgerlichen Vorteil.

Knapp einen Kilometer jagten sie dicht hintereinander an dem unvollendeten Unterfangen, den Straßenbelag zu erneuern, vorbei. Cowboy nutzte den Moment, um sich die Straße weiter vorn im Feed von Bee genauer anzuschauen. Sie näherten sich dem Kreisverkehr, an dem sie rechts abbiegen mussten, wenn sie nicht mitten durch die Überreste von Bad Aibling jagen wollten – ein Weg, der etwas kürzer sein mochte, aber mit vielen Hindernissen gespickt war. Jenseits des Kreisels war die Landstraße wieder weit und frei. Wenn er zu einem Überholmanöver ansetzen wollte, kam dort die nächste Gelegenheit.

Die Baustelle endete und Cowboy zog den Commodore zurück auf die rechte Spur. Lightning tat es ihm gleich. Das konnte er ihr nicht vorwerfen. Anders kam man nicht in den Kreisverkehr.

Sie erreichten das Straßenrund mit seiner wild wuchernden zentralen Grünfläche, und mit quietschenden Reifen schleuderten die beiden Wagen in die Kurve. Cowboy spürte, wie seine Reifen seitlich wegglitten, aber es gelang ihm, gegenzusteuern und eine unsanfte Landung im Gebüsch zu vermeiden.

Dann war die Straße frei. »Jetzt sind wir dran«, knurrte er und zog den Commodore auf die linke Spur. Er nutzte den Umstand, dass sie beide vor dem Abbiegen hatten abbremsen müssen und der E-Motor seines Wagens die bessere Anschlussbeschleunigung hatte, um sich neben Tempest zu schieben.

»Netter Versuch, Cowboy«, meldete sich Lightning über Komm zu Wort. »Aber daraus wird nichts.«

Im nächsten Moment wechselte die Unterbodenbeleuchtung erneut auf Rot, der Motor des Eurocar Mirage röhrte auf und der Wagen schoss mit flammenden Auspuffrohren sowie einer Spur aus zuckenden AR-Blitzen davon.

»Was zum Teufel?«, entfuhr es Cowboy.

»Drek, Mann, die haben eine zweite Lachgasflasche eingebaut«, regte sich Nitro auf. »Seit wann haben die das denn?«

»Gute Frage.« Cowboy prüfte den Ladestand des Turbo-Kondensators. Er war noch nicht einsatzfähig. Zähneknirschend musste er zusehen, wie Lightning und Donar fast einen halben Kilometer Vorsprung rausholten.

»Wenn die noch eine dritte Ladung an Bord haben, warʼs das«, schimpfte Nitro. »Dann kannst du schon mal unseren Kontostand checken, Chummer. Und selbst wenn nicht, wirdʼs schwer genug.«

»Weiß ich selbst.« Cowboys Gedanken überschlugen sich. Ihnen musste etwas einfallen. Es ging ihm nicht mal so sehr ums Geld, aber Donar gehörte zu den Metamenschen, die einem ein verlorenes Rennen wochenlang hämisch unter die Nase rieben. Darauf konnte er verzichten.

»Was machen wir jetzt?«, wollte Nitro wissen.

Sie passierten ein verrostetes Straßenschild, das auf eine Geschwindigkeitsbegrenzung vor zwei Abfahrten und einem kurzen Tunnel hinwies. Plötzlich kam Cowboy ein Gedanke. »Check mal ihre ECMs. Haben die eine Vollverteidigung wie wir?«

»Du willst Tempest hacken?« Der Ork klang ungläubig.

»Nicht ich, du«, verbesserte ihn Cowboy.

»Ich werde den Steuercomputer niemals rechtzeitig übernehmen können, selbst wenn ihre ECMs der reine Drek sind.« Trotz seiner Worte fing Nitro pflichtschuldig an, seine Konsole zu bearbeiten.

»Das sollst du auch gar nicht.« Rasch erklärte ihm Cowboy, was er stattdessen erwartete.

Der Ork brach in herzhaftes Gelächter aus. »Das gefällt mir. Ich schalte Bee auf Autopilot. Damit musst du in der Zwischenzeit klarkommen.«

»Werde ich.«

»Und wenn du dich neben deiner Fahrerei nützlich machen willst, lenk mal Lightning und Donar ab, damit die nicht mitbekommen, was wir vorhaben.«

»Mal sehen, was sich da machen lässt.« Cowboy schaltete die Sendesperre des Komm-Systems ab. »He, Lightning, Donar, das war nicht nett von euch, eine zweite Lachgasflasche unter Tempests Bauch zu schrauben.«

»Hältst du uns für dämlich, Cowboy?«, erwiderte Lightning. »Wir fordern doch niemanden mit Turbo-Kondensatoren heraus, ohne ein Ass im Ärmel zu haben.«

»Damit dürfte klar sein, wer die Zeche zahlt.« Donar lachte siegessicher.

»Noch sind wir nicht am Ziel«, erinnerte ihn Cowboy. »Am Ende gewinnt der bessere Fahrer. Und der bin ja wohl ich.«

»Du?«, meldete sich Lightning zu Wort. »Der bessere Fahrer?«

Sie brach ab, denn sie erreichten einen weiteren dieser elenden Kreisverkehre, die zu Beginn des Jahrtausends, lange vor Errungenschaften wie Autopilot und GridGuide, so beliebt gewesen waren, um an kritischen Stellen den Verkehr zu regeln. Die Bremslichter von Tempest flammten auf, als Lightning gezwungen war, langsamer zu werden, um nicht von der Fliehkraft aus der Kurve getragen zu werden. Der Vorteil, den Cowboy dadurch erlangte, war allerdings minimal, denn ihm ging es nicht anders.

»Wenn du darauf abzielst, dass ich vor Lachen im Straßengraben lande, hast du Pech, Chummer«, fuhr Lightning fort. »Ich kann beides: fahren und lachen.«

»Das zu erleben, wäre es mir beinahe wert, das Rennen zu verlieren.« Cowboy hatte noch nie erlebt, dass Lightning lachte. »Aber eigentlich hatte ich auch eher gehofft, Donar zu einem dummen Spruch zu verleiten.«

»Wennʼs nur das ist, damit kann ich dienen«, tönte der Zwerg. »Wenn wirklich der bessere Fahrer dieses Rennen gewinnt, dann würden wir sogar gewinnen, wenn meine Mutter am Steuer von Tempest sitzen würde.«

»Ja, ich hab schon gehört, dass deine Mutter immer für ʼne flotte Nummer zu haben sein soll«, mischte sich Nitro ein, der die Steilvorlage nicht ungenutzt verstreichen lassen konnte.

»Klappe auf den billigen Plätzen, kapiert?«, knurrte Donar. »Mir könnte sonst der Finger ausrutschen und auf dem Abzug unseres Heckgeschützes landen.«

»Ruhig Blut, Chummer«, sagte Cowboy. »Die Nacht ist viel zu schön für eine Schießerei. Will doch keiner von uns mit Löchern in der Karosserie vor dem Pösling Desperado parken.«

Donar brummte mürrisch. »Ich weiß jetzt schon, dass ich trinken werde, bis ich kotzen muss – nur um euch zu ärgern.«

Ein Chatfenster ging in Cowboys Sichtfeld auf. Bin drin, verkündete Nitro mit einem triumphierend die Faust reckenden Emoticon.

»Tja«, erwiderte Cowboy. »Tu, was du nicht lassen kannst, Donar. Es ist dein Geld.« Los, befahl er Nitro, und der Ork setzte den Befehl in die Tat um.

Der Zeitpunkt hätte nicht günstiger ausfallen können. Soeben rauschten sie am Ortsschild einer Satellitengemeinde von Rosenheim vorbei, die sie durchfahren mussten, wenn sie keinen riesigen Umweg auf sich nehmen wollten. Ein automatisch eingeblendetes ARO warnte sie eindringlich, die Geschwindigkeitsbegrenzung einzuhalten. Weder Lightning noch Cowboy wurden merklich langsamer. Zumindest im ersten Moment.

Dann leuchteten plötzlich Tempests Bremslichter hell auf und der Wagen verlor mehr als die Hälfte seiner Geschwindigkeit, als der von Nitro aktivierte – und dann gesperrte – Tempomat die Kontrolle übernahm. Über Funk waren die überraschten Schreie von Lightning und Donar zu vernehmen. Einen Moment später schossen Cowboy und Nitro an ihnen vorbei.

»Vorbildliches Fahrverhalten, Lightning.« Cowboy grinste. »Erinnere mich daran, dir dafür nachher einen auszugeben. Ach, warte: Ihr seid ja dran mit zahlen.«

»Wir sehen uns später, Loser!«, grölte Nitro.

Dann ließen sie ihre Kontrahenten hinter sich zurück, während Tempest mit vorschriftsmäßigen fünfzig Stundenkilometern die Straße entlangzuckelte.

Kapitel 2

Pösling Desperado, am Rand von Rosenheim

22.9.2080, 22:55 Uhr

Der Pösling Desperado war vor beinahe vierzig Jahren als Clubheim für eine Biker-Gang desselben Namens entstanden. Ende der 2060er hatten sich die Desperados dann aufgelöst. Es war kein spektakuläres Ende gewesen, weder eine Polizeirazzia noch eine Entscheidungsschlacht gegen eine feindliche Bande – auch wenn die Beziehungen zu den Thorns, einer Elfen-Go-Gang im benachbarten Rosenheim, stets angespannt gewesen waren. Tatsächlich war das Ende, so erzählte man sich, eher schleichend gekommen. Manche Mitglieder hörten der Familie wegen auf, andere zogen aus beruflichen Gründen aus der Gegend fort, ein paar starben. Und irgendwann fanden die Verbliebenen, dass es an der Zeit sei, Schluss zu machen.

Die letzten zwei »Überlebenden« der Gang, der Anführer der Desperados, ein kräftiger Hüne mit lichter werdendem Haar namens Jürgen, und seine Orkfreundin Lina, hatten das Clubheim übernommen und eine offene Bar für die Biker- und Straßenduellanten-Szene daraus gemacht. Sie hatten ein paar Regeln eingeführt: zum Beispiel, dass Waffen zwar getragen, aber nicht gezogen werden durften und dass niemand illegale Geschäfte in ihrem Laden durchziehen sollte. Und so lief der Schuppen – von den Ordnungskräften beobachtet, aber mehr oder weniger geduldet – seit mehr als zehn Jahren und hatte sich in den einschlägigen Kreisen einen leidlich guten Namen erworben.

Auch Cowboy kam gern hierher. Der Tonfall mochte etwas rauer sein und Jürgen kaschierte seine bescheidenen Kochkünste vorzugsweise mit besonders viel Würze, aber das Soybier war stets kalt, die Musik aus der Soundanlage erfreulich handgemacht und die meisten Gäste folgten einem angenehm altmodischen Ehrenkodex, wie man ihn in den Schatten der Plexe nur noch selten fand. Cowboy war in den letzten Jahren zu viel unterwegs gewesen, um eine eigene, ordentliche Wohnung zu unterhalten. Der Pösling Desperado gehörte zu den Orten, an denen es sich anfühlte, als kehre er nach Hause zurück, wann immer er den Schankraum betrat.

Das war heute nicht anders. Er hatte den Commodore auf dem Parkplatz vor der gut besuchten Bar geparkt und war dann mit Nitro im Schein eines grinsenden Neon-Mexikaners durch die grün gestrichene Eingangstür des heruntergekommenen Industrie­gebäudes getreten. Ungeachtet ihres Tricks hatten sie nicht viel Vorsprung vor Lightning und Donar, und Cowboy wollte unbedingt mit einem Bier in der Hand am Tisch sitzen, wenn die beiden eintrafen.

Passend zum Image der Desperados war der Innenraum der Bar wie eine Mischung aus Cantina und Heavy-Metal-Schuppen dekoriert. In das warmgelbe Licht von Hängelampen mischte beleuchteter Nippes, der an den Wänden hing, rote und blaue Lichtakzente. Ventilatoren drehten sich träge unter der Decke, aus einer Retro-Jukebox dröhnte ein Klassiker von Grim Aurora, auf einem Flachbildschirm lief stumm Combatbiking. An den Wänden reihte sich Sitznische an Sitznische, ihnen gegenüber befand sich ein langer Tresen mit abgewetzten Holzhockern. Im Regal dahinter standen Gläser und Flaschen mit Hochprozentigem, außerdem starrten den Betrachter ein gutes halbes Dutzend Tierschädel an, in deren Augenhöhlen Jürgen kleine Lämpchen eingesetzt hatte – alles echt, kein AR-Zauber. Um was für Tiere es sich mal gehandelt hatte, wusste Cowboy nicht. Gerüchten zufolge um Erwachte Fauna, die Jürgen in den Voralpen selbst erlegt hatte.

»Na, sieh mal an, wen der Nordwind reingeweht hat! Cowboy und Nitro.« Jürgen, der gerade hinter dem Tresen Soybier zapfte, wischte sich die Hände an der Lederweste ab und hielt Cowboy dann die schwielige Rechte hin. Der schlug ein. Nitro tat es ihm gleich. »Euch zwei habe ich ja seit Monaten nicht mehr gesehen.«

Cowboy zuckte mit den Schultern. »Du weißt ja, wie das ist: Wir sind da, wo das Geld ist. Hier in der Gegend war eine Weile keins.«

Der ergraute Biker lachte. »Ich hoffe, ihr glaubt nicht, deswegen bei mir anschreiben lassen zu können. Wer trinkt, zahlt.«

Aus dem Augenwinkel gewahrte Cowboy, wie Lightning und Donar den Raum betraten. So viel zu seinem Plan, sie mit einem lässig gehobenen Bierkrug zu begrüßen. »Oh, keine Sorge, wir zahlen«, sagte er stattdessen. »Die zwei kommen heute Abend für alles auf.«

Die bronzefarbenen Iriden von Jürgens Zeiss-CLC-Cyberaugen drehten sich, als er die blonde Amazone in der schwarzen Panzerkluft und den muskulösen Zwerg im Unterhemd genauer in Augenschein nahm. »Freunde von euch?«

»Kollegen von Überlandexpress«, erklärte Cowboy.

»Ihr habt aber gebraucht«, begrüßte Nitro das Duo grinsend.

Lightning hob warnend einen Finger »Hack noch einmal meinen Wagen und ich breche dir die Hauer aus dem Maul und mache mir eine Halskette daraus.«

Nitro warf Cowboy einen Seitenblick zu. »Da ist aber jemand schlecht gelaunt.«

Entspannt lehnte sich Cowboy an den Tresen. »Gib es doch zu, Lightning. War ʼne gute Idee.«

Sie erwiderte seinen Blick einen Moment lang finster. »Ja, warʼs. Und dank euch weiß ich immerhin, in was ich mein nächstes Geld investieren werde.«

»Bier, hoffe ich.« Nitro klopfte auffordernd auf den Tresen. »So war es abgemacht.«

Sie bestellten ihre Getränke und begrüßten auch Lina, die gerade mit einem frischen Metallfass Rosenheimer Soy-Bräu auf der Schulter durch die Küchentür in den Schankraum kam. Der Händedruck der Orkfrau war noch fester als der von Jürgen, und ihr Lächeln einnehmend wie eh und je. »Ihr solltet das Soja-Chili probieren, das Jürgen heute gekocht hat. Sind noch Reste übrig.«

Cowboy hob sein Bier. »Ich komme darauf zurück, sobald ich eine ordentliche Grundlage habe.«

Die vier begaben sich in eine freie Nische und setzten sich. Dort hoben sie die Gläser, prosteten sich zu und tranken.

»Alles okay zwischen uns?«, fragte Cowboy Lightning.

Sie sah ihn durch ihre verspiegelte Sonnenbrille an. Irgendwie nahm sie die nie ab. Selbst in dämmrigen Spelunken wie dem Desperado war das ihre persönliche Mauer, mit der sie sich vor zu viel Vertraulichkeit schützte. »Wir kommen drüber hinweg, von euch ausgetrickst worden zu sein«, erwiderte sie nach vielsagenden drei Sekunden Schweigen. »Aber glaubt nicht, dass ihr uns auf diese Weise noch einmal besiegt.«

»Tun wir nicht. Beim nächsten Mal denken wir uns etwas Neues aus. Herausforderungen halten den Geist wach.«

»Schöner Kalenderspruch«, brummte Donar.

Sie schwiegen einen Moment. Cowboy ließ den Blick schweifen. Für einen späten Sonntagabend war der Desperado gut besucht; gut drei Viertel aller Plätze waren besetzt. Andererseits sahen die wenigsten Anwesenden so aus, als müssten sie am Montag in aller Frühe zur Arbeit fahren. Bekannte Gesichter fielen ihm nicht auf, was ganz gut war, denn es gab mehr Leute, die Cowboy ans Bein pinkeln wollten, als solche, die ihn auf einen Drink eingeladen hätten.

Er wandte sich wieder seinen Begleitern zu. »Und? Wie läuft es so?«, fragte er Lightning und Donar.

»Wir sind beschäftigt«, erwiderte Lightning. »Heute München. Morgen eine Tour vom Starnberger See nach Mainz. Nichts Spektakuläres. Schnelles Geld.«

»Kommst du nicht aus der Ecke?«, warf Donar ein.

Cowboy nickte. »Stimmt. Wenn ihr nach dem Job einen Laden zum Abhängen sucht, schaut beim alten Humbi vorbei, der die Pizzeria Rustika oben an der alten Stadionruine betreibt. Ist klein, entspannt, da kriegt man keinen Stress. Nicht so wie in der Neustadt.«

»Danke für den Tipp«, sagte Lightning.

»Und wie siehtʼs bei euch aus?«, wollte Donar wissen.

»Wir sind auf dem Weg zu einem Schrauber-Kontakt in Rosenheim, der uns Hardware für den Commodore verkaufen will.« Er sprach nicht laut aus, dass sie im Begriff waren, sich als »Bordkanone« ein auf Drehlafette montiertes, versenkbares Ares-Alpha-Sturmgewehr mit Unterbau-Granatwerfer ins Heck des Wagens zu setzen. Manche Dinge ließ man auch im Desperado lieber ungesagt. Aber weder Lightning noch Donar hakten nach. Fahrzeug-Mods waren Privatsache, insbesondere, wenn es sich um illegale handelte.

»Danach suchen wir noch ’nen Anschlussjob«, fügte Nitro hinzu. »Ihr habt nicht zufällig was klingeln hören, dass jemand ein Taxi Richtung Norden braucht?«

Lightning schüttelte den Kopf. »Ruft die Zentrale an. Vielleicht haben die was.«

»Zur Not machen wir auch das«, sagte Cowboy. Sich einen Auftrag über die Vermittlungsagentur von Überlandexpress zu besorgen, ersparte einem das lange Rumfragen in den einschlägigen Runner-Locations. Allerdings musste man ganz ordentliche Provisionssummen abdrücken.

Sein Blick fiel beiläufig auf den Flachbildschirm – und er stutzte. Dort lief mittlerweile eine Nachrichtensendung, vermutlich die Late-Night-News, und in dem Beitrag schien eine attraktive Elfenfrau in einem modischen Businesskostüm eine Pressekonferenz zu geben. Monika Stüeler-Waffenschmidt, CEO FBV wurde unter ihr eingeblendet. Neben ihr in einem Bildkasten war ein drachenartiges Ungetüm zu sehen, das etwa so groß wie ein Troll war und sich auf zwei Beinen hielt – ein Drake.

»Was ist denn da los?« Cowboy klinkte sich in den Feed ein, um das Geschehen über die Musik und die sich unterhaltenden Gäste verstehen zu können.

»… habe vollstes Verständnis dafür, dass andere Drakes ihre wahre Existenz nach wie vor geheim halten. Ich bin mir bewusst, dass meine privilegierte soziale Stellung Schutz vor jenen Ewiggestrigen bietet, die sich den ständigen Veränderungen verschließen, denen eine Gesellschaft notwendigerweise unterworfen ist. Viele andere genießen diesen Schutz nicht. Sie wurden und werden Opfer von Hassverbrechen durch anti-metamenschliche Bewegungen wie den Humanis Policlub oder selbst ernannte Drachentöter wie den Siegfriedbund. Es braucht mehr Stimmen, die sich für die Rechte und Würde der Drakes in der ADL und auf der ganzen Welt einsetzen. Eine dieser Stimmen möchte ich zukünftig sein.«

»Was geht denn beim Frankfurter Bankenverein ab?«, wunderte sich Nitro, der die Nachrichten ebenfalls bemerkt hatte.

»Habt ihr den ganzen Tag nur Volksmusik gestreamt?«, fragte Donar. »Die Sache geht doch seit dem Morgen schon überall hoch und runter. Die Chefin vom FBV hat sich als Drake geoutet. Warum sich alle darüber so aufregen, kapiere ich aber nicht. Wird doch schon seit Jahren gemunkelt, dass der ehemalige Betthase von Nachtmeister eine Drake sein könnte.«

»Erstens bewegen wir uns in den Schatten«, bemerkte Lightning. »Wir wissen zwangsläufig mehr als der kleine Sarariman auf der Straße. Und zweitens: Fick dich. Von wegen Betthase. MSW hat echt was drauf und in den letzten zwanzig Jahren verdammt viel erreicht, auch ohne dass ihr ein Drache Händchen gehalten hätte.«

»Dass sie in Wahrheit eine Drake ist, macht sie jedenfalls eher stärker als schwächer«, meinte Cowboy. »Man erzählt sich ja auch, sie wäre eine ziemlich begabte Magierin. Kein Gegner, mit dem ich mich gern anlegen würde, so viel ist klar.«

»Was ist sie denn jetzt genau?«, wollte Nitro wissen. »Ist sie ʼne Elfe, die sich in einen Drachen verwandeln kann? Oder ein Drache, der sich als Metamensch tarnt?«

»Irgendwie beides«, erwiderte Cowboy. »Drakes sind Metamenschen, deren Drachengestalt sich irgendwann im Laufe ihres Lebens zeigt, wenn sie einem entsprechend hohen Magieniveau ausgesetzt sind. Seit 2061, als dieser Komet hier vorbeiflog und überall Chaos anrichtete, tauchen sie immer häufiger auf. Sobald sie aber einmal zu Drakes geworden sind, ist das ihre wahre Gestalt – und ihre alte bloß noch Fassade, um sich ungestört auf der Straße bewegen zu können.«

»Na ja, das konnte die Waffenschmidt als Konzern-Exec ohnehin nie«, sagte Donar. »Jetzt ist es halt noch ein wenig schlimmer geworden.«

Lightning lehnte sich auf ihrem Platz zurück. »Ich wüsste gern, was der Aufsichtsrat vom FBV zu dieser Enthüllung sagt. MSW hat nicht unrecht, dass Drakes noch mehr Feinde haben als andere Metamenschen.«

»Drachen beispielsweise«, warf Cowboy ein. »Betrachten Drachen Drakes nicht als ihre natürlichen Diener? Lofwyr hat sich den FBV ja nie einverleibt, nachdem er Nachtmeister gegeekt hat, aber jetzt, da sich die Stüeler-Waffenschmidt als freier Drake geoutet hat, der auch noch an der Spitze eines Doppel-A-Konzerns steht, dürfte das ein verführerischer Happen für eine Menge Weiswürmer in der zweiten Reihe werden. Ich frage mich, ob sie das bei ihrer Entscheidung bedacht hat.«

»Die hat sich doch nicht freiwillig geoutet«, entgegnete Donar. »Dieses ganze Gerede, dass sie sich von dem Geheimnis befreien wollte und dass die Gesellschaft mittlerweile tolerant genug für Drakes sei, ist doch alles totaler Drek. Die musste rauskommen. Irgendwas hat sie in derben Zugzwang gebracht. Wahrscheinlich eine Konzernintrige.«

Cowboy neigte zustimmend den Kopf. »Denkbar wäre es.«

Bedächtig nahm Lightning einen Schluck ihres Softdrinks. Anders als die Männer trank sie kein Bier. Es wunderte Cowboy nicht, dass sie zu Stüeler-Waffenschmidt aufblickte. Er kannte die Präsidentin des FBV nicht sonderlich gut, aber was er über sie gehört hatte, deckte sich mit dem, was er über die blonde Frau ihm gegenüber wusste. Beide waren Eisköniginnen, immer im Dienst und in Alarmbereitschaft, nie bereit, die Deckung fallen und sich einfach mal gehen zu lassen. Aber vielleicht waren sie deshalb so erfolgreich.

»Ich frage mich, wie das in Frankfurt weitergeht«, sagte sie mit nachdenklicher Miene.

Diese Frage schien auch Thema der Diskussionsrunde zu sein, die in diesem Augenblick auf dem Bildschirm einsetzte, der Einblendung zufolge eine Wiederholung vom frühen Abend. Cowboy schaltete den Feed ab. So interessant die magisch hochbegabte Elfe, die früher der Zögling eines Drachen gewesen war und sich nun als Drake zu erkennen gab, auch sein mochte, die Teesatz­leserei sogenannter Experten, was das Schicksal der Konzern-Exec anging, brauchte er jetzt nicht.

»So viel kann ich dir prophezeien«, erwiderte Donar. »Es wird in Zukunft eine Menge Arbeit für gewisse Kreise im Plex geben – und nicht allzu schlecht bezahlt, möchte ich behaupten.«

»Spionage und Schmutzkampagnen, das sehe ich auch kommen«, meinte Cowboy. »Nicht gerade unser Spezialgebiet. Was ich nicht bedaure.«

Der glatzköpfige Zwerg grinste. »Aber wenn die Waffenschmidt irgendwann vor ihren Feinden ins Ausland fliehen muss und einen diskreten Transport braucht, stehen wir mit laufendem Motor bereit.«

Cowboy verzog die Miene. »Ich weiß nicht, ob ich mich in den Kampf einmischen will. Die Frau wird von Fanatikern und Drachen umkreist. Sie hat den Siegfriedbund selbst erwähnt. Dass sie Stress mit Lofwyr hat, seit der ihren Mentor über Frankfurt vom Himmel geholt hat, ist auch kein Geheimnis. Und wer weiß, was in den Schatten noch alles an Ärger lauert.«

»Ist eh nicht unsere Preisklasse«, meinte Lightning und nahm einen weiteren Schluck. Sie schien etwas über Cowboys Schulter hinweg zu entdecken, denn sie zögerte kurz, bevor sie das Glas absetzte. »Sag mal, euch ist nicht zufällig eine Verkehrskontrolle zwischen Bad Aibling und hier aufgefallen?«

»Wieso?« Cowboy war zu klug, um sich in diesem Moment auffällig umzudrehen.

»Weil sich am Eingang zwei Schwarze Sheriffs herumdrücken, die euer Rennkennzeichen in die AR abstrahlen.«

Cowboy sah Nitro an. »Du hast unser Kennzeichen geändert, als wir hier geparkt haben, oder?«

Der Ork erwiderte den Blick entrüstet. »Klar habe ich das. Ich bin doch nicht blöd.«

»Dann haben sie nicht viel gegen uns in der Hand.«

»Außer einem Foto eures Wagens«, bemerkte Lightning. »Und wenn sie nicht total inkompetent sind, wissen die auch, was ein Smartschild ist. Abgesehen davon haben die euch mit Sicherheit von der Kontrollstelle aus mit einer Drohne getrackt. Oder habt ihr auf Verfolger geachtet?«

Cowboy seufzte. »Das schaffen echt nur die Bayern: mitten in der Nacht und mitten in der Pampa Verkehrskontrollen durchzuführen.« Nun riskierte er doch einen Blick über die Schulter und sah, dass die beiden Polizisten am Tresen in ein Gespräch mit Lina verwickelt waren. Die Kerle hatten echt Nerven, zu zweit um diese Uhrzeit in einer Bar wie dem Desperado aufzutauchen. Viele Freunde hatten die Schwarze Sheriffs in der Straßenszene nicht. Aber die beiden Männer trugen auch gepanzerte Kombinationen, und bei Ärger war Verstärkung hier am Rand von Rosenheim keine fünf Minuten entfernt.

Langsam erhob sich Cowboy und bedeutete Nitro, ihm zu folgen. »Okay, vielleicht sollten wir versuchen, uns unauffällig zu verdrücken.«

»Schlage ich auch vor«, sagte Lightning. »Es ist nicht nötig, dass man uns zusammen sieht.«

Er wandte sich an Nitro. »Wir nehmen die Seitentür hinten bei den Toiletten. Vielleicht gelingt es uns, vom Parkplatz zu verschwinden, bevor sie uns bemerken.«

Donar schenkte den beiden ein breites Grinsen. »Manchmal zahlt es sich doch aus, in Ortschaften die Richtgeschwindigkeit einzuhalten, nicht wahr?«

»Ja, schon gut. Genieß ruhig deine Schadenfreude.« Cowboy nickte der Menschenfrau und dem Zwerg zum Abschied zu. »Man sieht sich.« Dann bewegte er sich mit Nitro so beiläufig wie möglich zum Nebenausgang. Niemand hielt sie auf.

Kapitel 3

Pösling Desperado, am Rand von Rosenheim

22.9.2080, 23:21 Uhr

Sie kamen unbemerkt bis zum Parkplatz. Dort allerdings stellte sich die Lage als unerfreulicher heraus als erwartet. Ein Knight-Ares-Charger, eine bullige Limousine mit blinkendem Blaulichtbalken und in der Lackierung der Schwarzen Sheriffs, stand quer hinter dem Commodore und blockierte – zusammen mit den Natursteinblöcken an der Stirnseite des Parkplatzes – jede Flucht. Neben dem Wagen wartete ein dritter Polizist in gepanzerter Uniform. Der Mann mochte zehn Jahre älter als Cowboy sein, aber die breiten Schultern und das kantige Gesicht ließen ihn kein bisschen schwach wirken. Mit verschränkten Armen lehnte er an seinem Fahrzeug und grinste wissend.

»Ihr könnt rauskommen«, rief er Cowboy und Nitro zu, die verstohlen hinter der Hausecke hervorspähten. »Mein kleiner Freund hat euch angekündigt.«

Etwas surrte in Cowboys Rücken, dann gewahrte er eine winzige Flugdrohne, die an ihnen vorbeischoss und sich zu dem Schwarzen Sheriff gesellte.

»Die wollen uns echt am Arsch kriegen, was?«, murmelte Nitro.

»Sieht so aus«, brummte Cowboy.

»Was machen wir jetzt? Hauen wir ab?«

»Zu Fuß?« Cowboy warf seinem nervösen Ork-Freund einen sarkastischen Blick zu. »Da kämen wir nicht weit. Außerdem lasse ich den Commodore nicht zurück. Ich fürchte, da müssen wir jetzt durch.«

Nitro legte seine Hand an die Jacke, unter der er seine Ares Crusader, eine leichte Pistole, verbarg. Doch Cowboy schüttelte den Kopf. »Nicht so. Noch nicht. Lass uns erst mal reden. Diese Typen streunen nicht kurz vor Mitternacht in der Gegend herum, weil sie ihre Quote an Tagesfestnahmen nicht erreicht haben. Mit etwas Glück wollen die bloß ein paar Euro nebenher verdienen.«

»Arschlöcher«, knurrte Nitro.

»Cops«, meinte Cowboy leichthin.

»Ich warte!«, rief der Mann auf dem Parkplatz.

Cowboy hob die Stimme. »Schon okay, wir kommen raus.« Er schaltete sein meist von der Kommlink-Software verstecktes Personal Area Network in den passiven Modus und wies Nitro an, es ihm gleichzutun.

---ENDE DER LESEPROBE---