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Sechzehn Jahre ist es her, seit die Westlichen Reiche vom Hexenmeister Calvas und seinen Wolfling-Horden in die Knie gezwungen wurden. Seitdem trägt Ritter Anreon von Agialon, der dem Bösen damals ungewollt zum Sieg verhalf, den Beinamen Fluchbringer. Sein Sohn Tarean, der in den Stunden der entscheidenden Schlacht geboren wurde, sehnt sich danach, die Ehre seiner Familie wieder herzustellen. Und so zieht er eines Tages aus, um Calvas zur Rechenschaft zu ziehen. Bewaffnet mit dem magischen Schwert Esdurial und begleitet von dem Irrlicht Moosbeere, der Albin Auril und dem Werbären Bromm begibt er sich auf ein Abenteuer, das die Welt veränden wird.
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Seitenzahl: 563
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TAREANSOHN DES FLUCHBRINGERS
1. AuflageVeröffentlicht durch denMANTIKORE-VERLAG NICOLAI BONCZYKFrankfurt am Main 2018www.mantikore-verlag.de
Copyright © der deutschsprachigen AusgabeMANTIKORE-VERLAG NICOLAI BONCZYKText © Bernd Perplies 2008
Lektorat: Anja KodaIllustrationen: Hauke KockSatz & Bildbearbeitung: Karl-Heinz ZapfCover- und Umschlagsgestaltung: Rossitsa Atanassova, Matthias Lück
VP: 217-141-01-04HS-0818
eISBN: 978-3-96188-020-1
Bernd Perplies
– SOHN DES FLUCHBRINGERS –
Roman
Für meine Mitstreiter im Geiste.
Haltet an euren Träumen fest –ich will sie gedruckt sehen!
VORWORT ZU DIESER JUBILÄUMSAUSGABE
PROLOG DIE ZEIT DER WÖLFE
1 DAS LEBEN IM ZWIELICHT
2 DER VOGELMENSCH
3 ÜBERFALL DER WOLFLINGE
4 DAS ERBE DES VATERS
5 EIN IRRLICHT IN DUNKLER NACHT
6 ZWEI GLORREICHE HALUNKEN
7 FLUSSFAHRT MIT BÄR
8 DURCH FEINDESLAND
9 DIE ZWÖLF ZINNEN
10 ASTRIA
11 ÜBER DEN WOLKEN
12 UNTER DER ERDE
13 BEI DEN GREIFENREITERN
14 CALVAS
15 DIE SCHLACHT UM AT ARTHANOC
EPILOG EIN NEUER MORGEN
DANKSAGUNG
DANKSAGUNG ZU DIESER JUBILÄUMSAUSGABE
BONUSMATERIAL
PERSONENREGISTER
THE MAKING OF TAREAN
STATT EINES AUDIOKOMMENTARS
DELETED SCENE
Immer wieder werde ich von Lesern gefragt, welches Buch denn mein liebstes wäre. Und meine Antwort lautet eigentlich jedes Mal: Das kann ich unmöglich sagen. Alle Werke, die ich als Autor geschaffen habe, sind meine Kinder, und ich finde an jedem etwas, das mich auch Jahre später noch in Begeisterung versetzt, und etwas, das mich im Nachhinein die Stirn runzeln lässt.
Doch mit dem Romaneschreiben ist es wie mit vielen Dingen auch: Das erste Mal ist irgendwie etwas Besonderes. Und so war die Zeit zwischen September 2006, als ich mit dem Schreiben von »Der Sohn des Fluchbringers« begann, und August 2008, als das nun in »Tarean – Sohn des Fluchbringers« umbenannte Buch herauskam, für mich ein echtes Abenteuer voller »erster Male«. Erstmals ein Romanmanuskript beendet. Erstmals Kontakt mit einer Literaturagentur. Erstmals Angebote von richtigen Verlagen. Und am 18. August 2008 dann: erstmals ein Buch, auf dessen Cover mein Name stand, in allen Buchhandlungen Deutschlands (nun, zumindest fast allen).
Das war damals der Anfang – der Anfang eines Jahrzehnts, in dem ich, allem Deadline-Stress und aller Rückschläge zum Trotz, vielleicht glücklicher war als in irgendeiner Lebensphase zuvor, denn ich habe meine Berufung gefunden und einen Traum, den ich seit Kindheitstagen immer wieder hegte (im Wechsel mit Astronaut, Meeresbiologe und Filmregisseur), erfolgreich zum Beruf gemacht.
In den Jahren seitdem habe ich als Autor eine Menge erlebt. Ich habe fast vierzig Romane geschrieben, Genre-Preise gewonnen, meine Werke wurden als Hörbuch, szenische Lesung und Theaterstück adaptiert sowie in mehrere Sprachen übersetzt. Es gab Tage, da wollte ich alles hinschmeißen, und solche, an denen ich ganz sicher war, den besten Job der Welt zu haben. Doch egal, was seit 2008 alles geschehen ist, mein Debüt-Roman – oder sagen wir: meine Debüt-Trilogie – hat nach wie vor einen speziellen Platz in meinem Herzen.
Als mit »Tarean – Erbe der Kristalldrachen«, dem zweiten Band der Trilogie, im Dezember 2014 erstmals ein Buch von mir plötzlich verlagsvergriffen war – eines der unschöneren »ersten Male« meines Autorenlebens –, fühlte sich das sehr seltsam an. Zwei Jahre später verschwanden auch die übrigen beiden »Tarean«-Bände offiziell vom Markt. Mir ist klar, dass sie dieses Schicksal mit zahllosen anderen Büchern jedes Jahr teilen, dennoch bedauerte ich den Umstand, dass ausgerechnet »Tarean« nun bloß noch auf dem (virtuellen) Flohmarkt erhältlich sein sollte. Und weil ich ein Mensch bin, der Dinge ändert, die ihm missfallen, begann ein kühner Plan in meinem Kopf zu reifen.
Inspiriert hat mich der DVD-Markt. Man kennt das: Jeder größere Film erhält zu einem runden Geburtstag eine neue, hübsche Silberling-Edition. Das kann dazu führen, dass der eingefleischte Fan am Ende manchen Film drei- oder viermal im Regal stehen hat – ja, ich sehe dich an, »Blade Runner« –, aber der Reiz einer schick gemachten Anniversary-Edition ist immer wieder aufs Neue da. Genau das wollte ich »Tarean« zum nahenden runden Geburtstag auch spendieren: eine neue Ausgabe, eine 10-Jahre-Jubiläums-edition! Also streckte ich meine Fühler aus und führte Gespräche, und schließlich fand ich im Mantikore-Verlag den perfekten Partner für mein Unterfangen.
Und so erscheint »Tarean – Sohn des Fluchbringers« am 18. August 2018 erneut, auf den Tag genau zehn Jahre nach seiner Erstveröffentlichung. Oder vielmehr ist er bereits erschienen, schließlich haltet ihr das Buch in den Händen und lest dieses Vorwort. Und wie es sich für eine Special Edition gehört, wird hier einiges geboten. Der komplette Text wurde für diese Ausgabe einer kritischen Durchsicht unterzogen. Außerdem findet sich in jedem Band zusätzliches Bonusmaterial in Form einer exklusiven Kurzgeschichte und eines Blicks hinter die Kulissen. Darüber hinaus bekamen alle drei Bände neue, extra angefertigte Cover spendiert und erstmals (!) wird »Tarean« außerhalb einer Club-Ausgabe als Hardcover angeboten. Als besonderes Highlight schließlich sind alle drei Bände illustriert! Ja, blättert ruhig mal durch die Seiten, und ihr werdet staunen, wie die Welt von Tarean visuell zum Leben erwacht.
Ich bin froh über dieses Geburtstagsgeschenk für Tarean und seine Freunde. Es ist wirklich gelungen. Und so bleibt mir nur zu hoffen, dass auch ihr euren Spaß mit den Büchern haben werdet – nicht ausschließlich, aber insbesondere dann, wenn ihr erstmals in Tareans Welt aufbrecht. Spannende Abenteuer erwarten euch, das kann ich euch versprechen. Los geht‘s!
Besigheim, im Juni 2018
Bernd Perplies
Über dem Drakenskal-Pass braute sich ein Unwetter zusammen. Dunkle Wolkenberge türmten sich am Himmel über dem östlichen Horizont auf, gewaltige, schiefergraue Massive, die von schwefelgelben Dunstfeldern durchzogen waren. Immer wieder erhellte Wetterleuchten weite Bereiche der Gewitterfront, und ferner Donner rollte über die karge Landschaft. Dies alles vollzog sich in einer so unheimlichen Geschwindigkeit, dass selbst ein in Wetterkunde Ungeübter erkannt hätte, dass die Dunkelheit, die von Osten her näher rückte, nicht auf natürlichem Wege entstanden sein konnte.
Anreon beobachtete voll Sorge das sich ihm bietende Schauspiel. In einen schweren, dunkelblauen Mantel gehüllt, stand der Ordensritter auf einer flachen Anhöhe am westlichen Zugang des Passes, und obschon zahllose andere Pflichten seiner Aufmerksamkeit bedurften, vermochte er sich von dem Anblick der ebenso schrecklichen wie schönen Urgewalten nicht loszureißen.
Zu seinen Füßen erstreckte sich der annähernd kreisrunde Talkessel des Drakenskal. Felsig, baumlos und überhaupt dem Anschein nach bar jeden Lebens lag die Landschaft im Zwielicht da. Zur Linken und zur Rechten ragten die hohen Gipfel der Zwölf Zinnen auf, einer Gebirgskette, die ihren Namen den zwölf Bergen verdankte, die sich trutzig wie die Zinnen einer Wehrmauer erhoben und Endars Kernlande von Norden nach Süden teilten.
Mit seinen sanft ansteigenden Rändern, die einst harte Abbruchkanten gewesen sein mochten, bevor das jahrtausendelange Einwirken von Wind und Wetter sie abgeschliffen hatte, erinnerte der Drakenskal aus der Nähe betrachtet an einen gewaltigen Krater. Von ferne aber wirkte er beinahe wie ein Loch in einer titanischen Zahnreihe, so als habe die riesige Hand eines zornigen Gottes die dreizehnte Zinne, die hier einst gen Himmel gestrebt war, mit brutaler Gewalt herausgerissen.
Gemeinsam mit dem Unwetter war ein schneidender Wind aufgekommen, der sich seinen Weg durch Stoff und Rüstzeug suchte und dem Ritter mit kalten Fingern über den Leib strich. Anreon lief ein Schauer über den Rücken, und er zog den Wollmantel, auf dessen Rückseite das silberne Wappen der Kristalldrachen prangte, enger um sich. Er wusste jedoch, dass dies nur eine leere Geste war, denn die Kälte, die er verspürte, hatte nichts mit dem eisigen Atem des Ostwinds zu tun, der seine von vielen Schlachten gezeichnete Plattenrüstung auskühlte. Die wahre Kälte kam von innen. Wie eine Schicht glitzernden Raureifs, die meine Eingeweide überzieht …
Denn Anreon gab sich keinen Illusionen darüber hin, was die dunklen Wolken zu bedeuten hatten, die über der atemberaubenden Gebirgskulisse dräuten. Das Unwetter war ebenso wenig dem Zufall geschuldet wie seine eigene Anwesenheit hier oben auf dem Drakenskal-Pass.
Hier und heute wurde die entscheidende Schlacht geschlagen. Hier und heute würde sich zeigen, ob die Menschen und die Vasthari – Grauelfen, wie man sie auch nannte – oder aber die Wölfe aus At Arthanoc und ihr finsterer Herr und Gebieter in diesem unseligen Krieg triumphieren würden. Auf Tausende tapfere Frauen und Männer wartete in dieser Nacht der Tod. Und ihr brechender Blick würde sich auf der Suche nach einem tröstenden Stern vergeblich gen Himmel heben, denn die schwarze Magie des Hexenmeisters Calvas überzog das Land mit Finsternis. Und ob wir glorreich den Sieg davontragen oder eine vernichtende Niederlage erleiden, liegt ganz allein in meiner Hand …
Die Bürde dieser Gewissheit lastete schwer auf seinen Schultern, die zwar kräftig sein mochten und von silbernem Metall umschlossen waren, aber letztlich doch nur einem Menschen gehörten.
»Herr?«
Blinzelnd, als erwache er aus einem Traum, riss Anreon den Blick von den Gewitterwolken los und wandte sich dem Krieger zu, der die Anhöhe erklommen hatte und neben ihn getreten war. Es handelte sich um einen jungen Mann, der zwar hochgewachsen, aber von schlanker Gestalt war und ein schmales Gesicht besaß. Hätte er nicht den blauweißen Waffenrock eines Knappen der Kristalldrachen getragen, so wäre vermutlich kaum jemand in Versuchung geraten, ihn für einen Krieger zu halten. Doch tatsächlich hatte er in den wenigen Jahren seines Dienstes für den Orden bereits mehr Kampferfahrung gesammelt, als viele Männer am Ende eines ganzen Lebens.
»Wilfert.«
»Der Großmeister schickt mich. Hochkönig Jeorhel und er erwarten Euch.«
Anreon nickte. »Ich komme.« Er warf einen letzten, prüfenden Blick zum Himmel hinauf, dann wandte er sich ab, um Wilfert den schmalen Trampelpfad hinab ins Heerlager zu folgen.
Ein leises, langgezogenes Heulen erhob sich in der Ferne, hinter den Anhöhen, die den Drakenskal gen Osten begrenzten. Der Ritter hielt inne und sein Gesicht verfinsterte sich. Es war nicht der Wind, der dieses Geräusch verursachte.
Das Heerlager hatte gewaltige Ausmaße. Hunderte von Zelten übersäten die sanft abfallende Westflanke der Zwölf Zinnen, die sich über zwei Tagesmärsche bis hinab nach Tahl erstreckte, das östlichste der noch freien Länder des Westens. Die schlichten, weißen Rundzelte der agialonischen Garde unter Fürst Kalander beherrschten den mittleren Teil des Lagers. Darum gruppierten sich die mit Fellen behängten Behausungen der wilden Norlasker, die grünen Wohnstätten der Rebellen aus Tahl und die aus edlem, rotblauem Tuch gefertigten Zelte der Gildensöldner aus Bristaja.
Am südlichen Ende des Lagers standen die schlanken, graugrünen Zelte des Vasthari-Heeres unter Hochkönig Jeorhel von Albera. Dorthin wandte Wilfert seine Schritte, und Anreon folgte ihm.
Der Ordensritter bemerkte, dass eine unübersehbare Betriebsamkeit das Lager ergriffen hatte, seit er heute am frühen Abend auf die Anhöhe gestiegen war. Krieger legten ihre Rüstungen an, gürteten ihre Waffen um und sattelten ihre Reittiere. Anreon wusste, dass bald der Befehl zum Aufbruch gegeben würde.
»Herr?«, sprach der Knappe ihn an, während sie an den Zeltreihen vorbeischritten.
»Ja, Wilfert.«
»Ihr seht aus, als plagten Euch düstere Gedanken. Glaubt Ihr, wir sind nicht bereit für die bevorstehende Schlacht?« Wilferts Stimme war fest, doch als Anreon ihm einen Blick zuwarf, glaubte er in den Augen des Knappen die gleiche dumpfe Angst zu erkennen, die auch an seinem eigenen Herzen nagte – allen seiner Mühen, sie zu verbannen, zum Trotz.
»Ich bin mir nicht sicher, ob das Licht, für das wir stehen, jemals wirklich darauf vorbereitet sein kann, der absoluten Finsternis zu begegnen, die Calvas ausgespien hat«, erwiderte der Ritter. »Aber das ist es nicht. Es will mir einfach nicht gefallen, dass mein Platz auf einem fernen Feldherrenhügel sein soll, während sich jeder, der ein Schwert zu tragen vermag, der Brut des Hexers entgegenwirft.«
Wilfert schüttelte den Kopf. »Wenn Ihr dort vollbringt, was wir uns alle erhoffen, so erreicht Ihr tausendmal mehr, als wenn Ihr uns mit der blanken Klinge anführen würdet. Und vergesst nicht die anderen Recken, die uns zur Seite stehen. Heymdrahl von Norlask mit Malm, dem Donnerhammer, Aíren Solard und seine Graue Garde, Zaeena Tsaar und Lord Orten aus unseren eigenen Reihen …«
Anreon hob abwehrend die behandschuhte Linke. »Halt ein, Wilfert. Ich wollte den Ruhm und die Tapferkeit dieser Männer und Frauen keineswegs infrage stellen, genauso wenig wie den Glauben und die Beherztheit aller, die sich entschlossen haben, Calvas die Stirn zu bieten.«
»Ihr seht also ein, dass der Weg, der vor uns liegt, der einzig gangbare ist?«
Anreons Mundwinkel verzogen sich zu einem verkniffenen Lächeln. »Das tue ich, Wilfert, aber deswegen muss er mir nicht gefallen.«
Unterdessen hatten sie ein Zelt erreicht, das sich in der Mitte des alberanischen Lagers erhob. Seine schiere Größe und die Standarten und Banner mit dem Zeichen des Sturmfalken, die den Eingang und die Spitzen des Zeltdaches schmückten, zeugten von der Bedeutung des Mannes, dessen Unterkunft es war. Allerdings hatte Anreon schon erheblich prunkvollere Felddomizile gesehen, in denen weitaus unwichtigere Männer gewohnt hatten. Geltungssucht konnte man dem Hochkönig der Vasthari keineswegs vorwerfen.
Anreon passierte die beiden Gardisten, die vor Jeorhels Lager Wache hielten, schlug die Zeltplane zurück und trat ein. Wilfert folgte schweigend zwei Schritte hinter ihm.
Das Innere wurde von einer Hand voll immerleuchtender Feenfeuer erhellt. Ein halbes Dutzend Männer und eine Frau hatten sich hier versammelt. Anreon sah Hochkönig Jeorhel von Albera in seiner kunstvoll geschmiedeten, smaragdgrünen Rüstung. Neben ihm standen der in Blau und Silber gewandete Großmeister des Kristalldrachenordens, Ulrik von Agialon, und die beiden Ritter Lord Orten und Zaeena Tsaar. Anreon nahm an, dass die übrigen Anwesenden drei kleineren Bündnisparteien vorstanden, auch wenn er mit ihren Gesichtern keine Namen verbinden konnte.
Bei seinem Eintreten blickten sie von einem Tisch auf, der den rechten Teil des Zeltes einnahm und auf dem zahllose winzige Einheitsabzeichen zu einem komplizierten Schlachtplan aufgestellt worden waren. Der Ritter entbot den Anwesenden mit einem Nicken seinen Gruß. »Ihr habt nach mir gerufen?«
»Ja, Herr Anreon«, ergriff der Hochkönig der Vasthari das Wort. Das edel geschnittene, fahlgraue Gesicht, das von langem, silberweißem Haar umflossen wurde, zeigte keinerlei Gefühlsregung, nur seine bernsteinfarben glühenden Augen erweckten den Eindruck, als brenne ein inneres Feuer in ihnen. »Unsere Späher berichten, dass sich der Feind in Bewegung gesetzt hat. Der Sturm, auf den wir warten, wird schon bald über uns hereinbrechen.«
»Was hat Calvas aufzubieten?«, fragte Anreon.
»Die Zahl des Feindes ist schwer zu bestimmen, denn sein Heer ist weit verstreut und es wird von einem Mantel aus Dunkelheit geschützt. Doch wenn unsere Schätzungen der Wahrheit entsprechen, so übertrifft Calvas’ Armee die unsere um fünffache Kopfstärke.«
»Fünfzigtausend Mann?«, entfuhr es Wilfert erschrocken, der bislang schweigend hinter seinem Ritter ausgeharrt hatte.
Jeorhel schien den Knappen nur widerwillig zur Kenntnis zu nehmen. »Es sind nicht diese fünfzigtausend, die uns Sorgen bereiten. Der überwiegende Teil seines Heeres besteht aus Wolflingen, die zwar voller Wildheit und Todesverachtung kämpfen, doch der Hass der einzelnen Stämme untereinander entzweit sie und nimmt ihnen einen Großteil ihrer Stärke. Nein, der eigentliche Schrecken …« Er wechselte einen Blick mit dem Großmeister und sprach dann an Anreon gewandt weiter. »Der eigentliche Schrecken geht von dem aus, der sie eint. Denn solange sie dem Einen folgen, sind sie wie eine Flut, die alles, was in ihrem Weg steht, in Blut ertränkt.«
Anreons Miene verhärtete sich. »Der Grimmwolf.«
»Ganz recht.«
»Wurde er gesehen?«
Ulrik von Agialon ergriff das Wort. »Nein, aber das ist ohne Belang. Er wird an Calvas’ Seite in die Schlacht ziehen.« Der weißhaarige Mann schritt um den Tisch herum auf den Ordensritter zu. »Darum müsst Ihr, Anreon, das Buch jetzt an Euch nehmen. Ich spüre, dass es, noch bevor die Nacht zu Ende geht, seinen Wert unter Beweis stellen muss.« Mit einer einladenden Geste deutete er auf den hinteren Teil des Zeltes, der mit einem schweren Vorhang abgetrennt war. »Kommt.«
Gemeinsam traten sie durch den Vorhang. In dem angrenzenden Bereich des Zeltes war es dunkler und dank zweier Kohlepfannen, die einen quer durch den Raum gelegten Läufer flankierten, auch wärmer. Ulrik und Anreon schritten über den aus festen Fasern geknüpften Teppich, dessen Bilder die Geschichte einer noch nicht allzu lange zurückliegenden Heldentat erzählten. »Den Weg des Helden« nannte man in Anreons Heimat derlei von einer ruhmreichen Tat kündenden Webstücke. Der Ordensritter vermochte nicht zu sagen, wie oft er diesem hier bereits gefolgt war. Nur an das eine, das erste Mal, konnte er sich in allen Einzelheiten erinnern. Damals waren der scheinbar endlose Sumpf, die schroffen Gebirgsgrate, die menschenfressenden Trolle und die uralte, verfallene Feste, die er in einer pechschwarzen Gewitternacht erreicht hatte, Wirklichkeit gewesen.
Der Läufer führte zu einem kleinen Altar, auf dem ein altes Buch lag. Der lederne Einband war von der Farbe geronnenen Blutes, Beschläge aus mattschwarzem Metall zierten die Ecken und auf der Vorderseite des Einbands fand sich eine Prägung, die eine stilisierte, schwarze Flamme zeigte.
Ein Mönch, der über seiner weißen Robe den dunkelblauen Überwurf der Kristalldrachen trug, erwartete sie. Der Ordensbruder war jedoch kein Ritter, sondern einer der Gelehrten, die in der Stammburg der Kristalldrachen in Agialon in großer Zahl lebten und dort das Wissen der Welt sammelten, katalogisierten und behüteten.
»Bruder Lanfert.«
»Herr Anreon.« Der Mönch deutete eine Verbeugung an. »Hiermit gebe ich Euch das Buch der Verbannung zurück, das Ihr aus der Feste Nyrdheim geborgen habt. Wir haben es studiert, so lange es uns möglich war, und versucht, die Worte der alten Sprache zu entschlüsseln, in der es einst verfasst wurde.« Er wandte sich um, schlug das Buch mit gewichtiger Miene auf und suchte eine Passage im hinteren Teil der Schrift heraus, bevor er dem Ritter bedeutete, näherzutreten.
»Das Ritual ist kaum zu bewerkstelligen, wenn es über eine große Entfernung hinweg wirksam sein soll, doch einfach, sofern man der Kreatur, die man zu bannen wünscht, direkt gegenübersteht. Ihr müsst nur die Zeilen, die hier geschrieben stehen, klar und in aller Deutlichkeit rezitieren, und die Kraft des Wortes wird den Dämon zwingen, die Gestalt aufzugeben, die er in dieser Welt angenommen hat.«
Anreons Augen flogen über die fremdartig geschwungenen Schriftzeichen auf dem dunkelbraunen Pergament. Und obschon er nicht verstand, was dort niedergelegt war, so bildeten sich doch auf einmal Worte in seinem Kopf, Worte der Alten Macht, die ausgesprochen werden wollten. Für einen kurzen, verwirrenden Moment schienen die Schriftzeichen im dämmrigen Licht der Kohlepfannen auf den Seiten lebendig zu werden, sich zu winden und neue Formen anzunehmen. Einen Lidschlag später war der Spuk allerdings schon wieder vorüber.
Der Ordensritter schlug das Buch zu und nahm es an sich. Das Gewicht des Folianten, so vertraut es ihm war, überraschte Anreon jedes Mal aufs Neue, wenn er das Buch in den Armen hielt. Die Magie, die innerhalb dieser Buchdeckel ruhte, musste wahrlich schwer wiegen.
Ulrik von Agialon nickte. »Gehen wir. Ein Dämon wartet darauf, ins Dunkelreich zurückgejagt zu werden, und ein Hexer, seine schlimmste Niederlage zu erleiden.«
Hoch aufgerichtet stand Anreon auf dem verzierten Streitwagen an der Spitze des Bündnisheeres und blickte gen Osten. An seiner Seite war Wilfert, die Zügel des Zweispänners in der Hand, und tat es ihm gleich.
Der Himmel über dem Drakenskal hatte sich mittlerweile völlig zugezogen und heftige Böen ließen ihre Umhänge flattern. Grelle Blitze, die in den Wolkenbergen aufleuchteten, tauchten die Szenerie in ein gespenstisches Licht und Donner rollte über die öde Landschaft – Vorboten des kommenden Sturms.
Der Streitwagen stand am Fuße der Anhöhe, die den Passeingang bildete. Deren felsige Buckel waren nicht länger leer, wie noch am Abend, als Anreon hier oben die einsame Wacht gehalten hatte. Zehntausend Soldaten waren im Schein von Feenfeuern in der letzten Stunde aufmarschiert. Grimmige Gesichter, mal von elegant geschwungenen Spitzhelmen umrahmt, mal von schweren Eisenhüten gekrönt, schauten an Anreon vorbei auf die weite, leere Fläche des Drakenskal. Kettenhemden rasselten, Lederrüstungen knarrten, und Plattenteile verschoben sich mit metallischem Knirschen, während die Männer und Frauen mit der Ruhelosigkeit, die einen befällt, wenn man bereits viel zu lange auf das Eintreten eines bestimmten Ereignisses gewartet hat, der Schrecken harrten, die ihnen Calvas schon bald entgegenwerfen würde. Über den Köpfen der Krieger erhob sich ein Wald von Lanzen. An vielen waren farbige Wimpel und Banner angebracht, die im Wind flatterten, während sie davon kündeten, dass alle Städte und Reiche der verbliebenen freien Welt des Westens ihre Abgesandten geschickt hatten, um unter dem Drachenbanner der Ordensritter von Agialon und dem Sturmfalken des Hochkönigs der Vasthari in die Schlacht zu ziehen.
Der Anblick erfüllte Anreons Herz mit Zuversicht, als sie den Streitwagen wendeten und den geschlossenen Linien aus Kriegern entgegenfuhren.
Doch als hätte Calvas, der Hexenmeister, diesen Anflug von Hoffnung inmitten einer Welt aus Dunkelheit gespürt, erhob sich hinter dem östlichen Rand des Drakenskal erneut ein Heulen, näher, lauter und vielstimmiger als noch wenige Stunden zuvor. Tausende und Abertausende Kehlen schienen, zu grenzenlosem Hass getrieben, ihrer animalischen Wut Luft zu machen. Vor dem inneren Auge des Ritters nahm ein endloses Meer zum Himmel gereckter Schnauzen Gestalt an, die albtraumhafte Vision eines Zorns, der mit dem Toben der Elemente hoch über ihren Köpfen wetteiferte. Die Steppen und Wälder des Ostens waren weit und wild und boten viel Raum für die kriegerischen Stämme der wolfsähnlichen Grawls. Und wie es schien, hatte Calvas sie alle zu sich gerufen.
»Sie kommen«, sagte Wilfert, und er konnte ein leichtes Beben in seiner Stimme nicht verhindern.
Anreon nickte. »Ja. Also los, Wilfert.«
Mit einem Zügelschlag trieb der Knappe die Pferde an, und in Windeseile preschten sie vor den Linien des Heeres entlang. Die Gesichter der Soldaten in den ersten Reihen huschten an ihnen vorüber, und Anreon sah den Zweifel in ihren Augen, den das wahnsinnige Gejaule des noch unsichtbaren Wolfsheeres in ihnen geweckt hatte. Da legte er das Buch der Verbannung, das er seit der Zusammenkunft im Zelt des Hochkönigs nicht mehr aus der Hand gegeben hatte, vor sich in den Streitwagen, riss sein Schwert Esdurial aus der Scheide, und ein einzelnes Wort der Macht ließ die silbern glänzende Klinge in weißem Drachenfeuer entflammen. »Fürchtet euch nicht!«, schrie er. »Die Kristalldrachen sind mit uns!«
Und obwohl ihm der Wind die Worte aus dem Mund riss und das Donnern der Pferdehufe und Rattern der Wagenräder seine Stimme übertönten, sahen die Krieger das Feuer in seiner Hand und in seinen Augen und ihre Furcht schwand. Sie begannen zu jubeln, und der Jubel trug Anreon wie eine Welle, auf der er dahinjagte, bis sie sich an den schweren Panzerreitern brach, die um die Stellung der beiden Heerführer und ihres Stabes einen unüberwindbaren Wall aus Leibern und Metall gebildet hatten.
»Wohl gesprochen, Herr Anreon«, rief Ulrik von Agialon dem Ordensritter von seinem Pferd herab zu. Er trug jetzt eine prachtvolle Rüstung und sein Haar wurde von einem eisernen Stirnreif zusammengehalten.
Neben ihm ragte das riesenhafte, weiße Schlachtross des Hochkönigs auf, das wie sein Herr in smaragdgrünes Rüstzeug gehüllt war. Jeorhels Gesicht lag halb im Schatten eines schmalen Helmes verborgen, dessen Spitze ein silbernes Haarbüschel zierte, und an seiner Seite hing ein glänzendes, mit Vasthari-Runen verziertes Langschwert.
»Mir scheint, als habe der Hexer auf jedes Eurer Worte die rechte Antwort«, sprach der Vasthari und deutete mit unheilvoller Miene gen Osten.
In diesem Augenblick zerteilte ein Blitz den Himmel über dem Drakenskal und für einen Moment schien es, als bleibe das Licht in der Luft stehen, bevor es wie eine verlöschende Laterne langsam verblasste. Im Nachschein des Wetterleuchtens konnte Anreon erkennen, dass die Hügellinie auf der fernen Seite des Passes nicht mehr leer war. Über die gesamte Breite des Einschnitts zwischen den himmelstürmenden Bergmassiven war Bewegung in den Horizont gekommen. Mit der Unerbittlichkeit eines Lavastroms, der langsam aber unaufhaltsam über Stock und Stein talwärts fließt, ergoss sich das Bestienheer von Calvas, dem Hexenmeister, über die felsigen Anhöhen hinweg in den weiten Talkessel hinein. Reihe um Reihe, Rudel um Rudel übermannsgroßer Wolfskrieger kam in Sicht und marschierte japsend und geifernd und mit zornig erhobenen Äxten, Spießen und Krummsäbeln unter den Blicken des Bündnisheeres auf. Und obwohl er wusste, dass dies unmöglich war, glaubte Anreon das bösartige Glitzern in ihren eitrig gelben Augen wie auch das fahle Weiß ihrer tollwütig gebleckten Zähne sehen zu können.
Zwischen den Grawls, die das Rückgrat der Armee des Hexers bildeten, wurden vereinzelt andere Abscheulichkeiten sichtbar. Eineinhalb Manneslängen große Trolle drängten sich mit langen Schritten durch die Flut der Wolfskrieger, und es scherte sie dabei nicht im Geringsten, ob diese ihren massigen Leibern rechtzeitig auszuweichen vermochten. Hünenhafte, an aufrecht gehende Echsen erinnernde Wesen, deren breite Körper nur aus Muskeln zu bestehen schienen und deren schmutzigblaue Haut von dicken Hornplatten und Stacheln verunstaltet war, ließen die Erde unter dem Stampfen ihrer schweren Schritte erbeben. An einigen Stellen aber – Anreon kniff die Augen zusammen – schien es, als habe die Dunkelheit selbst hagere, schattenhafte Gestalt angenommen und stakse auf langen, dünnen Beinen und mit schlenkernden Armen den Verteidigern der freien Länder des Westens entgegen.
Ein weiterer Blitz tauchte die Ebene in grelles Licht und ein gewaltiger Donnerschlag ließ Himmel und Erde erzittern. Mit dem Verhallen des Donners in der Ferne setzten die Kriegstrommeln ein, dumpf und treibend, wie der vielfache Herzschlag eines riesenhaften Ungeheuers, dessen Blut im Zorne heiß durch die Adern rauscht.
Der Großmeister des Kristalldrachenordens trieb sein Schlachtross aus dem Kordon der Panzerreiter heraus und vor die Linien des Bündnisheeres. Er richtete sich im Sattel auf, und mit einer Stimme, die trotz des Unwetters und des Lärms der anrückenden Feinde weithin zu hören war, brüllte er: »Wie ich sehe, traut sich Calvas, der Hexer, tatsächlich hierher, und wie ich sehe, hat er ein paar Getreue mitgebracht, die für ihn diese Schlacht schlagen sollen, denn er selbst fürchtet sich vor dem Kampf!«
Raues Gelächter und vereinzelte Hochrufe antworteten ihm. Der Aufmarsch des Feindes mochte dazu angetan sein, den Mut selbst beherzter Kämpfer auf die Probe zu stellen, aber noch wärmte das Feuer Anreons die Herzen der Soldaten. Ein blonder Hüne trat nach vorn, einen Hammer über der Schulter, der selbst für einen Mann mit seiner Körperkraft viel zu groß zu sein schien, und er grölte: »Vielleicht sollte ich nach At Arthanoc gehen, bei ihm anklopfen und fragen, ob er zum Spielen rauskommt!« Dabei schwenkte er unter weiteren Beifallsbekundungen den massiven Eisenkopf der furchtbaren Hiebwaffe.
»Wohl gesprochen, Heymdrahl!«, rief Ulrik zurück. »Ich aber sage euch: Es wird Zeit, diesen Ausgeburten der Dunkelreiche zu zeigen, dass der Wille der freien Völker Endars, ihnen entgegenzutreten, ungebrochen ist!«
»Ja!«, brüllten die Männer und Frauen aus dem Westen zur Bekräftigung wie aus einer Kehle.
»Es wird Zeit, ihnen zu zeigen, dass wir kämpfen können!«
»So ist es!«
Ulrik riss sein Schwert in die Höhe. »Es wird Zeit, ihnen ein Zeichen zu setzen, dass hier und jetzt ihr Vormarsch endet!«
»Und es ward Licht über den hohen Gipfeln«, sprach der Hochkönig der Vasthari, doch die Worte gingen im Jubel der Soldaten unter.
»Katapulte!«, befahl Ulrik mit donnernder Stimme. Hinter ihnen, im Sichtschatten des Hügelkamms, war das Poltern von Dutzenden von Katapultarmen zu hören, dann flogen strahlende Bälle aus reinem Licht über die Köpfe der Soldaten hinweg.
In einem weiten Bogen jagten die Lichtkugeln dem Bestienheer entgegen. Einige von ihnen wurden dabei auf dem Scheitelpunkt ihrer Flugbahn wie von Geisterhand gepackt in der Luft aufgehalten und tauchten den Pass, winzigen Sonnen gleich, in ihren warmen, gelben Schein. Die übrigen schlugen in die ersten Reihen der Wolfsmenschen ein und platzten dort wie wassergefüllte Tierblasen. Kaskaden aus grellem, zähflüssigen Licht explodierten in alle Richtungen, schwappten über die überraschten Wolflinge hinweg, und wo sie, einem Schwall heißen Pechs gleich, auf diese herniedergingen, erhob sich ein Jaulen und Toben unter den Schergen des Hexenmeisters, das ihr Zorngeheul noch übertönte.
»Trompeten!«
Schon erschallten silberhell die Fanfaren aus den schlanken Trompeten der Herolde von Albera, Breganorien und Tahl, während das gewaltige Kriegshorn von Norlask mit einem dunklen, langgezogenen Dröhnen, das durch Mark und Bein ging, die Seinen in die Schlacht rief.
»Geordnet vorrücken«, befahl der Hochkönig, und sein Befehl wurde brüllend an alle Teile des Bündnisheeres weitergetragen.
Nun kam Bewegung in die Soldaten, die bis dahin, ungeachtet der auf sie zurollenden Flut des Bösen, an Ort und Stelle ausgeharrt hatten. In der vordersten Reihe des Hauptheeres hoben die Schildträger aus Tahl ihre Turmschilde und marschierten in geschlossener Front den tobenden Wölfen entgegen. Krieger mit langen Spießen, die den ersten Ansturm der Bestien brechen sollten, hielten sich direkt hinter ihnen. Danach folgten mehrere Reihen Axt- und Schwertkämpfer aus Breganorien, während Vasthari-Langbogenschützen im hinteren Teil der Schlachtformation Pfeile auf die Sehnen legten. Die linke Flanke wurde durch wilde Norlasker verstärkt, die ihre Gesichter mit blauer und roter Farbe bemalt hatten und johlend ihre Hämmer und Äxte schwangen. An der rechten Flanke tänzelten unterdessen die gehörnten Rösser der Grauen Garde vor mühsam gezügelter Angriffslust.
Anreon blickte auf die Reihen von Kriegern, die nun mit grimmiger Entschlossenheit an ihm vorüberschritten, sah, wie sich der Heerhaufen trotzig und scheinbar ohne jede Furcht der Bestienarmee näherte, und für einen kurzen Augenblick gönnte er sich die Illusion eines schnellen, vernichtenden Sieges.
Nach wie vor herrschte Unordnung in den Reihen der Wolfsmenschen, die noch verstärkt wurde, als ein weiteres Mal die Katapulte weit hinter den Linien donnerten und Glutbälle aus gleißendem Licht durch die Luft über dem Drakenskal schleuderten. Dann hoben die Vasthari-Bogenschützen ihre Langbögen und auf einen unhörbaren Befehl hin schickten sie einen Schauer tödlicher Geschosse in den wolkenverhangenen nächtlichen Himmel hinauf, der gleich darauf wie ein verheerender Hagelsturm auf die Wolflinge niederprasselte. Ungeachtet ihrer enormen Wut und Körperkraft wurden sie in Scharen zu Boden gerissen.
Doch wo war Calvas? Wo sein dämonischer Verbündeter, der Grimmwolf? Irgendetwas stimmte hier nicht.
Und erneut war es, als habe der Hexenmeister die Gedanken des Mannes, der seinen Untergang einläuten sollte, gelesen, denn just in dem Augenblick, da Anreon sich diese Frage stellte, ergriff ein seltsames Treiben das Bestienheer. Unvermittelt verstummten die Kriegstrommeln und die Wölfe zogen sich aus den Lichtinseln, die das Feenfeuer aus dem Meer aus Dunkelheit gehoben hatte, zurück.
Dann geschah das Unheimliche. Wo immer sie zum Stehen gekommen waren, dehnten die seltsam schlaksigen Schattenwesen ihre Glieder zu unmöglicher Länge, und ihre Finger reckten sich den Lichtkugeln entgegen, die am Boden lagen oder hoch über dem Schlachtfeld schwebten. Als sie danach griffen, schienen ihre Fingerkuppen zunächst zischend zu verdampfen, doch die Körper der Schattenwesen wurden immer länger und dünner, strebten den Feenfeuern entgegen, und auf einmal begannen die Bälle aus Licht sich zu verdunkeln. Der Vormarsch des Bündnisheeres geriet ins Stocken, als die Soldaten erschrocken und verwirrt die Köpfe hoben. Die winzigen Sonnen, die Vasthari-Magie und menschliche Handwerkskunst über ihnen hatten erblühen lassen, trübten sich wie ein Glas Wasser, in das jemand schwarze Tinte geschüttet hatte, bis das Licht am Himmel wie auf der Erde vollständig erloschen war. Die Schattenwesen, die sich von den Feenfeuern hatten aufsaugen lassen, wie von einem Schwamm, hatten ihnen jedwede Leuchtkraft genommen.
Einmal mehr herrschte Dunkelheit über dem Schlachtfeld.
Und dann kam der Grimmwolf.
Der Dämon war ein wahres Monstrum von einem Wolf. Vom Boden bis zur Schulter maß er sicher vier Schritt, und sein kohleschwarzes Fell stand struppig vom mächtigen Körper ab. Dort, wo er seine Pfoten hinsetzte, verbrannte das braune Gras zu schwarzer Asche und der Fels knackte vor Hitze. Flammen züngelten an seinen Flanken empor, als sei er durch Lava gewatet, und über seinen Rücken bis hin zum Schwanz schlug ein Kamm aus Feuer fauchend um mehr als eine Armeslänge in die Höhe. Der Grimmwolf hielt den riesigen Schädel gesenkt, und in seinen glutroten Augen lag ein alles verschlingender Hass, während er das Schlachtfeld zu seinen Füßen überblickte.
»Bei den Drachen«, murmelte Anreon fassungslos. Er hatte gewusst, dass der Dämon furchtbar sein würde, doch die Wirklichkeit übertraf all seine heimlichen Ängste.
Einen Augenblick lang lag Totenstille über dem Schlachtfeld. Die Grawls waren in Ehrfurcht verstummt, die Menschen und Vasthari vor Schrecken.
Dann hob der Grimmwolf den Kopf, entblößte ein Maul voll dolchlanger Zähne, und ein Knurren entrang sich seiner Kehle, dunkel und grollend wie das Mahlen gewaltiger Felsen in lichtlosen Erdestiefen. Er setzte sich in Bewegung, folgte einer breiten Gasse, die seine Wolfskrieger für ihn gebildet hatten.
Erst schritt er langsam dahin.
Dann verfiel er in einen leichten Trab.
Schließlich hetzte er, die eigenen Reihen verlassend und die vielleicht hundert Schritt, die beide Heere jetzt noch trennten, in gewaltigen, raumgreifenden Sätzen überwindend, auf die Streiter des Westens zu, die ihm wie gelähmt entgegenblickten. Kurz bevor er die erste Schildreihe erreicht hatte, sprang er.
Ein hundertfacher Angstschrei zerriss die Stille.
Dann landete der Grimmwolf mitten unter den Soldaten des Bündnisheeres. Mit dieser Tat entfesselte er das Chaos.
Fünfzigtausend Schnauzen reckten sich gen Himmel und hoben zu einem Heulen an, als hätten die Dunkelreiche selbst alle Seelen der Verdammten auf die Erde losgelassen. Wie eine Springflut schwappte das Bestienheer den Streitern aus dem Westen entgegen. Die geschlossenen Schildreihen und standhaft aufgepflanzten Lanzen aber, die es gerade eben noch erwartet hatten, gab es nicht mehr, denn der Grimmwolf wütete unter den Soldaten aus Tahl und Breganorien und machte jede geordnete Gegenwehr zunichte.
Und so brachen die Grawls in das Bündnisheer ein, wie eine tobende See durch einen nachlässig aufgeschütteten Damm. Binnen weniger Augenblicke hatten sich Freund und Feind zu einem unentwirrbaren Durcheinander aus Leibern und blitzenden Klingen vermengt, und immer mehr Wolfskrieger drängten heran, um die Verteidiger durch ihre schiere Masse zu bezwingen. Zorngebrüll, Jaulen, das Klirren von Waffen und das Geschrei Sterbender vermischten sich zu einer ohrenbetäubenden Kakophonie aus Tod und Verdammnis. Unterdessen bildeten Blitz und Donner über dem Schlachtfeld die Kulisse, vor der sich der Untergang der alten Weltordnung abspielte.
»Nein«, hauchte Anreon. »So darf es nicht enden. So nicht.«
Der Ordensritter entriss seinem Knappen die Zügel und fegte ihn mit einem heftigen Stoß vor die Brust vom Wagen.
»Herr!«, entfuhr es Wilfert erschrocken.
»Was habt Ihr vor?«, rief Ulrik neben ihm.
Anreon riss den Kopf herum und funkelte den Großmeister aus wilden Augen an. »Ich muss diesem Wahnsinn ein Ende bereiten! Ich muss der Bestie Einhalt gebieten!«
Ulrik schüttelte den Kopf. »Es ist zu früh. Wir haben uns nach dem Ansturm noch nicht wieder neu formiert. Ihr müsst warten, bis wir Euch eine Bresche geschlagen haben.«
»Dafür ist es jetzt zu spät!«, widersprach Anreon heftig und wollte die Pferde antreiben.
Der Ordensobere mit seinem mächtigen Streitross stellte sich ihm in den Weg. »Wartet, Herr Anreon. Setzt unsere Pläne nicht leichtfertig aufs Spiel.«
Der Ritter sah ihn grimmig an. »Ich muss es versuchen.«
»Nehmt mich mit«, jammerte Wilfert, der sich hinter ihm vom schlammigen Boden aufrappelte, Haarsträhnen im Gesicht und den Waffenrock voller Schmutz.
Bedauernd schüttelte Anreon den Kopf. »Nein, Wilfert. Wäre dieser Kampf anders verlaufen, hätte mich nichts stolzer gemacht, als mit dir Seite an Seite dem Feind entgegenzutreten. Doch das hier«, er deutete auf das wogende, tobende Meer aus Fleisch, Blut und Stahl, »das ist der sichere Tod.«
»Haltet Ihr mich für einen Feigling, Herr?« Wilfert schrie jetzt, wie sie alle, um das Unwetter und den Schlachtenlärm zu übertönen, und auch, um dem Zorn in seinem Inneren Luft zu machen.
»Nein.«
»Dann gebt mir ein Pferd!«
»Allein werdet Ihr es niemals schaffen, Herr Anreon«, mischte sich nun auch Jeorhel ein, der seine Stimme als Einziger niemals erheben musste und dennoch Gehör fand.
»Wollt nun auch Ihr mich aufhalten?«, knurrte der Ordensritter.
»Nein, ich werde Euch begleiten und den Weg zum Grimmwolf bahnen.«
Für einen Herzschlag fehlten Anreon die Worte.
»Ulrik?«, wandte sich der Hochkönig an den Großmeister des Kristalldrachenordens.
Dieser zögerte, dann nickte er. »Also gut. Ich werde in der Zwischenzeit versuchen, das Heer wieder zusammenzuziehen und unsere Verteidigung zu organisieren. Auf mehr können wir in dieser verzweifelten Stunde wohl nicht hoffen.«
»Was ist nun, Ritter Anreon?« Jeorhels goldene Augen glühten wie Bernstein im Licht von Drachenfeuer. »Reiten wir gemeinsam? Oder streben wir allein unserer Vernichtung entgegen?«
Anreon blickte den Hochkönig schweigend an, diese hochgewachsene Gestalt, prachtvoll gepanzert und gewappnet und auf einem hohen, stolzen Ross thronend wie ein Held aus den alten Liedern. Wie wir alle es werden, hier und jetzt, dachte er, Helden, deren Taten dereinst in alten Liedern besungen werden. Er nickte. »Es ist mir eine Ehre, mit Euch zu reiten, Hochkönig Jeorhel von Albera.«
»Dann soll kein weiterer Moment durch Worte vergeudet werden«, gab dieser zurück. »Leibgarde zu mir! Wir greifen an und niemand soll uns aufhalten, wenn nicht der Grimmwolf selbst!«
Damit riss er sein Pferd herum und sprengte voran in die Schlacht. Zwölf gepanzerte Reiter, wie er in Silber und Grün gewandet und mit Lanzen und langen Schwertern bewaffnet, formierten sich an seiner Seite, und gemeinsam bildeten sie einen Keil, in dessen Mitte Anreons Streitwagen dahinraste.
Aus den Augenwinkeln sah der Ordensritter, dass sich Wilfert ein Pferd – ein Packpferd! – schnappte und ihm nachsetzte. Doch er konnte jetzt nichts mehr für den Jungen tun. Es lag in dessen eigener Hand und in der Gnade der Kristalldrachen, ob er überleben würde oder nicht.
In wilder Jagd preschten sie in den Talkessel hinein. Zunächst passierten sie die hinteren Reihen des eigenen Heeres, und wo das Banner des Kristalldrachen und der Sturmfalke von Albera vorübergetragen wurden, jubelten die Männer und Frauen, denn sie sahen, dass noch nicht alles verloren war. Dann hob Jeorhel an der Spitze sein Langschwert, eine der Schwesterklingen Esdurials, entfachte ihr grünes Feuer, und sie stürzten sich mit einer Gewalt ins Schlachtengetümmel, die dem Angriff des Grimmwolfs nur um weniges nachstand.
Ohne Rücksicht auf die Kämpfenden in ihrem Weg donnerten sie dahin, in gerader Linie auf die furchtbare, brennende Wolfsbestie zu, die vor ihnen Soldaten mit ihren mächtigen Pfoten beiseitefegte, mit ihrem in Flammen stehenden Schwanz erschlug und mit ihrem klaffenden Maul in Stücke riss. Wann immer sich ihnen ein Wolfling todesmutig in den Weg stellte, hob und senkte sich das blitzende Schwert des Hochkönigs und setzte dem Leben des Feindes ein Ende.
Aber so kraftvoll die Pferde auch ausgriffen, so tödlich die Hiebe auch waren, die ihre Reiter nach links und rechts austeilten, irgendwann geriet ihr Vormarsch in der schieren Masse an Gegnern doch ins Stocken.
Hilflos sah Anreon, wie ein Ritter seiner Vasthari-Eskorte von einem Troll, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war, mit einem gewaltigen Schlag aus dem Sattel gehoben wurde. Bevor sich der Grauelf auch nur aufrappeln konnte, sprangen ihn die Grawls von allen Seiten her an, und das Letzte, was der Ordensritter von seinem Mitstreiter gewahrte, war ein Aufblitzen seines silbernen Brustharnischs in einem Wust aus haarigen Leibern und schwarzen, mit rasender Wut geschwungenen Äxten.
Ein anderer Vasthari ging mit seinem Pferd zu Boden, als ein Grawl mit einem zwei Meter langen Spieß auftauchte und die schwere Zweihandwaffe mit einem animalischen Knurren in einer kraftvollen Bewegung dem Streitross mitten in die Brust rammte. Das Monstrum, dessen rechtes Ohr eingerissen war und dessen Fell und Lederharnisch durchtränkt vom Blut seiner Opfer waren, japste triumphierend. Nur einen Herzschlag später machte es einen kleinen Satz, keuchte überrascht auf und kippte vornüber in den Schlamm, eine norlaskische Wurfaxt im Rücken.
Plötzlich erzitterte der Streitwagen, und Anreon, der vom Schicksal seiner Gefährten abgelenkt gewesen war, sah, dass ein Wolfling die Seite des dahinrasenden Wagens angesprungen hatte. Ohne nachzudenken riss er Esdurial herum und versetzte dem grinsenden Scheusal mit dem Knauf einen Hieb zwischen die Augen. Jaulend verschwand es im Getümmel.
Erneut gab es einen Schlag, und der Wagen geriet bedenklich ins Schlingern, als von hinten ein weiterer Grawl aufsprang. Unfähig, auf so engem Raum sein Schwert richtig schwingen zu können, verpasste der Ordensritter dem Untier stattdessen mit der gepanzerten Rechten einen Fausthieb auf die spitze Wolfsschnauze und schickte es schmerzvoll aufheulend dahin zurück, wo es hergekommen war.
Näher und näher kämpften sie sich an den Grimmwolf heran. Ein dritter Vasthari fiel dem Chaos der Schlacht zum Opfer, dann ein vierter, ein fünfter. Schließlich brachen sie durch die Kampflinie und erreichten eine freie Fläche inmitten der Schlacht, die sich kreisförmig rings um den wütenden Dämon gebildet hatte. Einige Soldaten aus Tahl duckten sich furchtsam hinter schützend erhobenen Turmschilden, derweil geifernde Wolfsmenschen ihren Heerführer aus den Dunkelreichen begeistert anfeuerten.
Anreons Eskorte bahnte sich gerade rechtzeitig mit Streitkolben und Schwert ihren Weg durch die Grawl-Horde, um Zeuge eines denkwürdigen Schauspiels zu werden. Heymdrahl von Norlask, der blonde Hüne mit dem Donnerhammer Malm, hatte sich irgendwie von der linken Flanke des Schlachtfeldes bis zu der flammenden Bestie durchgekämpft und forderte den Grimmwolf nun mit einem irren Grinsen auf dem breiten, bärtigen Gesicht zum Duell. Einen Wolfling, der ihn aufzuhalten versuchte, schickte er mit zertrümmertem Schädel zu Boden. Dann schwang er Malms massiven Eisenkopf und verpasste dem Dämon einen schwungvollen Hieb in die rechte Flanke, der ein geringeres Wesen auf der Stelle getötet hätte.
Damit hatte er sich die ungeteilte Aufmerksamkeit des Grimmwolfs gesichert.
Knurrend wirbelte die Bestie herum, und ihr Schwanz zog einen Feuerschweif durch die Luft.
»Komm her, du Ungetüm! Malm dürstet nach deinem kochenden Blut!«, brüllte der Norlasker herausfordernd.
Der Hochkönig zügelte sein Streitross und drehte sich zu Anreon um. »Jetzt oder nie, Herr Anreon. Eine bessere Ablenkung wird Euch keiner hier verschaffen.«
Der Ordensritter nickte, nahm das Buch vom Boden des Streitwagens und sprang ab. Seltsam losgelöst von der ringsum stattfindenden Schlacht und doch nur deshalb unbehelligt, weil ihn die verbliebenen Mannen Jeorhels wie auch der Hochkönig selbst abschirmten, schritt er den beiden Kontrahenten in der Mitte des Kreises entgegen.
Blitzschnell schlug der Grimmwolf mit der Pfote nach dem dreisten Menschen, der ihn anzugreifen gewagt hatte, und riss Heymdrahl von den Beinen. Der Hüne, dem man nachsagte, unverrückbar wie eine breganorische Eiche selbst einem Orkan zu trotzen, überschlug sich mehrfach, bevor er im Schlamm zur Ruhe kam. Doch ungeachtet der zerfetzten Brünne und der blutigen Wunde, die der Dämon ihm gerissen hatte, kam der Krieger sofort wieder auf die Beine »Ist das alles?«, schrie er. »Ist das alles, was du Schoßhündchen eines Hexers zustande bringst?«
Dann machte er zwei schnelle Ausfallschritte auf den riesenhaften Wolf zu, wirbelte dabei um die eigene Achse, um Schwung zu holen, und verpasste dem Dämon einen Donnerschlag gegen den schweren Wolfsschädel, der diesen zur Seite riss. Blut und Speichel regneten zischend auf die umstehenden Grawls nieder.
»Asz vah yszduriot. Asz vah braen’haighto. Asz yzdurna bael o varysz’daal.«
Anreon hatte sich einige Schritte von den Kämpfenden entfernt niedergekniet. Sein Schwert steckte im Boden neben ihm. Das Buch aufgeschlagen in der Linken und die Rechte wie beschwörend dem Grimmwolf entgegengereckt, intonierte er die Bannformel, die dem Wüten des Dämons Einhalt gebieten sollte.
Langsam und mit einem tiefen Grollen in der Kehle wandte sich die Bestie Heymdrahl wieder zu. Seine rechte Gesichtshälfte war teilweise zerschmettert und eine Flüssigkeit, die wie Lava glühte, troff zähflüssig zu Boden.
»Asz vah yszduriot. Asz vah braen’haighto. Asz hydrunaen brun o zoriszaal.«
Die Welt um Anreon herum versank. Alle seine Sinne, alle seine Gedanken richteten sich auf den Grimmwolf, und er spürte, wie die Macht der Beschwörung eine Verbindung zwischen ihm und dem Ungetüm herstellte.
Einen Moment lang loderte das Feuer auf dem Rücken des Dämonenwolfs hell auf, und eine Hitzewelle fegte über die Köpfe der Umstehenden hinweg.
Dann fing er an zu wachsen.
Anreon blinzelte. Irgendetwas stimmt hier nicht.
»Asz vah yszduriot. Asz vah braen’haighto«, intonierte er mit lauter Stimme, blickte auf die Buchseiten hinab und blinzelte erneut verwirrt. Wie schon zuvor im Zelt des Hochkönigs begannen die Buchstaben vor seinen Augen zu verschwimmen, die Worte schienen in Bewegung zu geraten und für einen Moment etwas anderes zu enthüllen, eine tiefere Bedeutung, die sich den forschenden Blicken der Gelehrten entzogen hatte.
»… Asz yzdurna beor…«
Nein, nein, nein, das war nicht richtig. Das war nicht, was er sagen sollte.
»… o zai’szrador…«
Erneut flammte der Dämon auf. Er hob die Schnauze und ließ ein Heulen hören, das durch Mark und Bein ging. Anreon sackte mit einem Keuchen nach vorn. Er fühlte sich auf einmal, als habe seinen Körper alle Kraft verlassen.
»Was tut Ihr da?«, rief der Hochkönig der Vasthari.
»… o zai’hruhan.« Anreon wollte den Blick vom Grimmwolf abwenden, Jeorhel um Hilfe anflehen, aber er konnte es nicht. Etwas hatte die Kontrolle über seine Glieder und seinen Geist übernommen. Er selbst war nur noch ein Gefäß, durch das die Worte der Macht, an denen sich der Grimmwolf zu laben schien, ausgegossen wurden.
Zu laben schien …
Der mächtige Wolfsdämon wandte sich Anreon zu, und in seinen Augen brannte das Inferno der Dunkelreiche.
»Yszt voh yszduriot …«
Es war eine Falle gewesen. Eine Täuschung von Calvas, dem finsteren Herrn und Gebieter des Grimmwolfs. Das alles …
Anreon sah wie durch einen roten Nebel hindurch, dass Heymdrahl den Grimmwolf erneut angriff, doch mit einem Hieb, der beinahe beiläufig wirkte, fegte der Dämon den norlaskischen Helden zur Seite, und diesmal stand der blonde Hüne nicht wieder auf.
… war nur …
»Yszt voh braen’haighto …«
»Ritter Anreon von Agialon!« Wie gegen eine unsichtbare Kraft ankämpfend tauchte die Gestalt Jeorhels vor ihm auf, das von grünem Drachenfeuer leuchtende Langschwert zum Schlag hoch erhoben.
… der Anfang …
»Myasz o GRYMVULF …«
»Nein, Herr!« Vor dem in tosenden Flammen stehenden Monstrum, das mit dumpfen, den Erdboden erschütternden Schritten näher kam, warf sich Wilfert, der treue Wilfert, in Anreons Blickfeld. Mit Esdurial in den Händen fing er den gewaltigen Schwertstreich Jeorhels im letzten Moment ab. Armer, törichter Wilfert.
»… zyszdurnadain!«
… vom Ende.
Anreon fiel mit dem Gesicht voran in den kalten Schlamm. Der Grimmwolf heulte triumphierend auf, und die Welt – wie sie bis dahin gewesen war – ging unter …
Das wirst du mir büßen, du Hund!«
Voller Zorn ließ Tarean das Schwert auf den Kopf seines Gegners hinabsausen. Klirrend schlugen die Klingen aufeinander, als sein Gegenüber zur Verteidigung seine eigene Waffe hochriss. Der andere Junge kippte die Schneide, um Tareans Schwert daran abgleiten zu lassen. Doch dieser hatte seine Waffe bereits wieder zurückgerissen. Gleich darauf führte er sie zuerst von rechts, dann von links gegen den Oberkörper des anderen. In einer raschen Serie wütender Attacken trieb Tarean seinen Gegner quer über den Burghof vor sich her, doch er fand in dessen Abwehr keine Blöße.
Schließlich duckte sich der andere Junge, Silas, ein drahtiger Bursche mit karottenrotem Haar, unter einem waagerecht geführten Hieb hindurch, wirbelte herum und holte Tarean mit gestrecktem Bein von den Füßen. Sofort war er über ihm, entwaffnete ihn mit einem kurzen Schwertstreich aus dem Handgelenk und hielt ihm dann die Klinge an die Kehle.
Tarean lag keuchend auf dem Rücken und funkelte seinen Bezwinger wütend an.
»Wer ist hier ein Hund, hm?«, höhnte Silas, und verpasste Tareans Wange einen leichten Klaps mit der Breitseite seines Schwertes. »Du Versager!«
»Nimm die Klinge weg, oder du wirst es bereuen«, knurrte Tarean.
»Tatsächlich?« Silas grinste breit und drückte die Spitze der Waffe leicht in Tareans Hals.
»Silas!« Der Name knallte wie ein Peitschenschlag über den Hof. »Es reicht.«
Die beiden Jungen wandten den Kopf und blickten zu dem stämmigen Mann in dem dunkelbraunen Lederharnisch hinüber, der sich ihnen mit strenger Miene näherte. Sein Gesicht war bärtig und wettergegerbt, und mehrere Narben auf seinen nackten, muskulösen und unglaublich behaarten Armen zeugten davon, dass er bereits eine Menge Kämpfe erlebt – und überlebt – hatte.
Breitbeinig baute sich Ilrod, der Waffenmeister von Burg Dornhall, vor ihnen auf und stemmte die Hände in die Hüften. Unter buschigen Augenbrauen sah er die beiden Jungen tadelnd an. »Silas, pack die Waffe weg. Tarean, steh auf.«
Der rothaarige Junge gehorchte mit sichtlichem Widerwillen. Tarean rappelte sich auf und klopfte sich den Staub von dem schlichten weißen Wollhemd und dem grauen Lederbeinkleid, das er am Leib trug.
»Was glaubt ihr, was ihr hier treibt, ihr Burschen?«, verlangte der Waffenmeister zu wissen.
»Wir üben uns im Schwertkampf, Meister Ilrod, wie Ihr es uns befohlen habt«, erwiderte Silas mit einem gewissen Trotz in der Stimme.
Zwei Tage später ließ Ilrod Tarean zu sich rufen.
»Hör zu, Junge, ich brauche jemanden, der einen Botengang für mich ausführt. Es gibt einige beunruhigende Neuigkeiten aus dem Kernland, und es ist äußerst wichtig, dass jemand hinauf zu den Posten auf dem Wallhorn steigt, um sie davon in Kenntnis zu setzen. Ich würde einen meiner Soldaten schicken, aber es sind nicht mehr so viele übrig, seit der Than und Ritter Wilfert nach Cayvallon geritten sind.«
Der Junge nickte und versuchte dabei, seine Aufregung zu unterdrücken. Es geschah nicht oft, dass der Waffenmeister ihn mit einem Auftrag betraute, der über das Striegeln der Pferde der Soldaten oder das Reinigen von Rüstungsteilen hinausging. Vielleicht wollte er Tarean damit zeigen, dass er nicht mehr über ihn verärgert war, oder, wichtiger noch, dass er ihn trotz seines mitunter ungestümen Wesens für einen Mann hielt, dem man Verantwortung übertragen konnte. »Ihr könnt Euch auf mich verlassen.«
»Gut, das wollte ich hören.« Zufrieden griff der alte Krieger in die Schublade seines schweren, schmucklos aus Holz gezimmerten Schreibtischs und holte eine Pergamentrolle hervor, die zusammengerollt und mit dem Siegel des Thans verschlossen war. »Hier, überbringe diese Botschaft Hauptmann Fenjal. Und eile dich; es könnten viele Leben davon abhängen. Doch vor allem werde keinen Augenblick unaufmerksam. Es heißt, vereinzelte Wolfling-Banden streifen seit Kurzem durch die Gemarkung und überfallen Wanderer. Also nimm dein Schwert mit und halte die Augen offen.«
»Ich verstehe, Meister Ilrod.«
Damit war er entlassen. Die Pergamentrolle in eine lederne Umhängetasche gesteckt, rannte er durch den Hauptkorridor und den Speisesaal bis in die Küche, wo er sich von Esmera, der Köchin, ein wenig Proviant für den Weg einpacken ließ. Anschließend stürmte er, immer zwei Treppenstufen auf einmal nehmend, hinauf in den zweiten Stock des Haupthauses, wo sein Schlafgemach neben denen der Bediensteten lag. Aus der Truhe, die neben seinem Bett stand, zog er seine braune Gugel hervor und streifte sie sich über den Kopf. Dann hob er das Schwertgehänge mit der Klinge, die ihm Wilfert vor zwei Jahren zum vierzehnten Geburtstag geschenkt hatte, vom Haken und schnallte es sich um.
Die Waffe war an sich schlicht, aber gut verarbeitet. Sie war einem Jungen durchaus angemessen, der sich zwar einerseits erst in der Ausbildung zum Krieger befand, sich andererseits jedoch in harten Zeiten wie diesen verteidigen und dabei auf sein Handwerkszeug verlassen können musste. In den scheibenförmigen Knauf hatte Wilfert einen stilisierten weißen Drachenkopf einschnitzen lassen – Tareans Ansicht nach verlieh dies dem Schwert etwas Besonderes, auch wenn es sich nur um eine winzige Verzierung handelte.
Dergestalt vorbereitet wanderte der Junge kurz darauf durch das Tor der heimatlichen Burg hinaus. Kurz folgte er der sonnenbeschienenen Fuhrwerkstraße, doch schon nach wenigen Schritten bog er nach rechts ab, um einen schmalen Pfad durch die Wiesen zu nehmen, der sich, anfangs noch sanft ansteigend, dann zunehmend abenteuerlicher an der Bergflanke des Wallhorns entlangzog.
Schon nach einer halben Stunde schwitzte der Junge in der an diesem Tag noch einmal ungewöhnlich kraftvoll vom strahlend blauen Himmel auf ihn herabscheinenden Spätsommersonne, und er befürchtete, dass es eine ziemliche Qual werden würde, das Wallhorn zu erklimmen. Der schmale Gebirgspfad, dem er folgte, war für Packpferde nur mit Mühe und für Wagen überhaupt nicht passierbar. Es dauerte sicherlich drei Stunden, bis er zu Fuß den kleinen Wachturm erreichte, der auf einem schmalen Felsplateau an der Nordostwand des Berges errichtet worden war. Vielleicht hatte er sich doch ein bisschen zu früh auf diese besondere Aufgabe gefreut.
Aber dann tauchte der Weg in ein lichtes Nadelgehölz ein, zerzauste Tannen und Fichten, die es geschafft hatten, auf dem felsigen Untergrund Wurzeln zu schlagen, und in ihrem Schatten ließ sich der Weg gleich viel leichter bewältigen. Es dauerte nicht lange, da schritt Tarean beschwingt aus, pfiff dabei vor sich hin und war im Großen und Ganzen der Meinung, dass er es an einem Tag wie diesem doch kaum besser hätte treffen können. Silas und die anderen mussten jetzt vermutlich den Burghof fegen oder beim Ausbessern des Mauerwerks helfen oder was auch immer Hofmeister Dinral für eine unsinnige Arbeit einfallen mochte, wenn er das Gefühl bekam, die Jungs hätten zu wenig zu tun. Der Gedanke an Silas, der mit hochgekrempelten Ärmeln und vor Anstrengung gerötetem Gesicht den Reisigbesen schwang, zauberte ein schadenfrohes Grinsen auf Tareans Züge.
Plötzlich knackte ein Zweig im Gebüsch zu seiner Rechten und mit einem Schlag war seine Ausgelassenheit wie mit Silas’ riesigem Reisigbesen buchstäblich weggefegt. Siedend heiß kamen ihm Ilrods Worte über Wolflinge und einsame Wanderer in den Sinn und dass er eigentlich die Augen hätte offen halten sollen, statt verträumt die fernen Schäfchenwolken am Himmel zu zählen. Bevor er noch sein Schwert ziehen konnte, brach ein großer Körper aus dem Unterholz!
Doch er hatte Glück. Es war nur ein wildes Braunfelk, das mit furchtsam angelegten Ohren auf schlanken Beinen anmutig über den Weg sprang und dann bergab im Dickicht verschwand.
Tareans Herz schlug ihm bis zum Hals, als er vorsichtig seine schweißfeuchte Hand, mit der er den lederumwickelten Schwertgriff umklammert hatte, lockerte. »Wenn das ein Wolfling gewesen wäre, hätte dein letztes Stündlein geschlagen, du junger Tor«, murmelte er zu sich selbst, und er hatte dabei Ilrods Gesicht vor Augen.
Deutlich vorsichtiger als bisher setzte er seinen Weg fort.
Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt bereits überschritten, als er schließlich aus dem Wald heraus auf das Felsplateau trat, auf dem schon der Vater von Than Urias vor vielen Jahrzehnten einen kleinen, zweistöckigen Wachturm mit einem Leuchtfeuer an der Spitze hatte errichten lassen.
Es war, wie ihm einer der Soldaten einmal erzählt hatte, zu Zeiten des Bauernaufstandes gewesen, als die Landwirtschaft betreibende Bevölkerung der Gemarkungen Bergen, Helveant und Ost-Arden gegen neue Steuerlasten, erlassen von Althan Remiras II., zu Axt und Pike gegriffen hatte. Damals hatte Than Uriel befürchtet, der Althan könne mit der Agialonischen Garde ausziehen, um die Aufständischen – und ihren Landadel – mit einem raschen, harten Schlag zur Räson zu bringen. Und so hatte er eine ständige Wacht an einem der Aussichtspunkte des Wallhorns einrichten lassen, von dem aus man sowohl das Tal selbst als auch die sich weit nach Osten hin erstreckenden, einst blühenden Kernlande Breganoriens hervorragend überblicken konnte.
Der Wachtberg selbst bildete die südöstliche Spitze des Helvenkamms, der sich gen Nordwesten weit bis in die Arden hinaufzog, bis er sich mit dem nahen Antallarzug vereinte. Zwischen diesen beiden gebirgigen Schenkeln eines spitzen Dreiecks lag gut geschützt das Almental. Remiras sollte es nie betreten.
Wenn man an einem klaren Tag hier oben stand, an der Nordostflanke des Wallhorns, war am Horizont sogar Agialon zu erahnen, das sich Berichten vereinzelter Flüchtlinge zufolge dieser Tage in einen Ort der Unterdrückung und des Leids verwandelt hatte. Tarean kniff die Augen zusammen, doch heute vermochte er die ehemals geschäftige Metropole durch den Dunstschleier, der über den Kernlanden lag, nicht zu erkennen.
Er wandte sich dem gedrungenen Bauwerk zu, das am Rand des Plateaus stand. Es handelte sich um einen trutzigen, viereckigen Turm von vielleicht sechs mal sechs Schritt Kantenlänge und zehn Schritt Höhe. Gekrönt wurde er von einem offenen, wenngleich von Tareans Standort aus nicht einsehbaren Dachbereich, auf dem sich, wie er wusste, unter einem vor Regen schützenden Schindeldach ein sorgsam aufgeschichteter Holzstoß befand – das Alarmfeuer. Zweimal in seinem Leben hatte der Junge von Dornhall aus das Feuer in der Ferne brennen und die Menschen zu den Waffen rufen sehen. Beide Male waren Wolfling-Heere der Anlass gewesen, die einen Vorstoß hinauf in die Arden gewagt hatten, um Alberas Widerstand zu brechen. Doch so wie die Hochmoore von Norlask jeden Vormarsch erfolgreich aufhielten – das hatte Tarean im Unterricht bei Bruder Ingold gelernt –, so rannten sich die Wölfe auch schon seit Jahren die Schnauzen an den Felswänden des majestätischen Gebirgsmassivs und den tropfenförmigen Schilden der es verteidigenden Vasthari blutig. Tarean dachte an das Pergament in seiner Ledertasche, und er hoffte inständig, dass dies nicht bedeutete, in den nächsten Wochen einmal mehr zu jeder Tag- und Nachtstunde furchtsam gen Wallhorn Ausschau halten zu müssen, um zu sehen, ob das Feuer entfacht worden sei.
Langsam schritt er auf den Wachturm zu. Er wunderte sich, dass ihn noch keiner der vier Männer begrüßt hatte, die hier oben auf Posten waren. Schließlich bekamen sie selten genug Besuch. Tarean überlegte, ob er Hauptmann Fenjal rufen sollte, aber eine innere Stimme riet ihn zur Vorsicht.
Die Hand auf dem Knauf seines Schwerts umrundete er den Turm, und unvermittelt wurde ihm klar, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Der Holztisch und die zwei Bänke, die vor dem Turm standen und an denen die Soldaten, wenn es das Wetter zuließ, ihre Mahlzeiten einzunehmen pflegten, lagen umgestürzt auf der Erde. Die stabile Holztür, die nur des Nachts, bei strömendem Regen oder bitterer Kälte geschlossen wurde, hing schief in den Angeln, zersplittert und halb herausgerissen von einer gewaltigen Kraft. An einigen Stellen aber war der felsige Boden von dunklen Flecken gesprenkelt, Flecken, die aussahen wie getrocknetes Blut …
Langsam und mit zitternden Fingern zog Tarean sein Schwert. Einmal mehr schien sein Herz bestrebt, ihm aus der Brust zu springen, doch diesmal, das wusste er ganz sicher, würde kein Felk das schlanke Haupt um die Ecke strecken, um ihn in erleichtertes Lachen ausbrechen zu lassen.
Verschwinde von hier, raunte ihm seine innere Stimme zu. Lauf weg! Keine Heldentaten! Ilrod muss erfahren, was passiert ist!
Aber was ist denn passiert?, gab Tarean stumm zurück, und auch wenn er sich die Antwort ziemlich gut ausmalen konnte, ging er weiter.
Schritt für Schritt näherte er sich der dunklen Öffnung des Türrahmens, in dem die Holzsplitter der Tür hingen wie eingeschlagene Zähne. Er lauschte, doch außer dem Zwitschern einiger Vögel und dem Rauschen der Tannen, durch die der Ostwind fuhr, war nichts zu hören.
Dass die Vögel noch sangen, war ein gutes Zeichen. Wären die Ungeheuer, die das hier angerichtet hatten, noch in der Nähe gewesen, hätten Bergfink und Tannenmeise gewiss angstvoll geschwiegen – zumindest versuchte sich Tarean das einzureden, allerdings ohne großen Erfolg.
Vorsichtig trat er durch die Überreste der Eingangstür. Er hielt die Schwertklinge schützend vor sich ausgestreckt, und seine weit aufgerissenen Augen suchten nach Anzeichen für einen Hinterhalt. Durch die schmalen Schießscharten fiel trotz des hellen Tages nur wenig Sonnenschein, sodass in der Wachstube kaum mehr als Dämmerlicht herrschte. Trotzdem sah Tarean, dass auch hier heftig gewütet worden war. Die Einrichtung – ein Kessel auf einem Dreibein, ein Regal, ein weiterer Tisch und vier Stühle – war umgestoßen, von der Wand gerissen und zerschlagen worden. Wachleute erblickte Tarean keine. Nirgendwo rührte sich etwas.
Mit klopfendem Herzen näherte er sich der hölzernen Stiege, die nach oben führte. Sein Instinkt drängte ihn panisch, zu verschwinden, aber er blieb standhaft. Als er mit der Hand nach dem Geländer griff, spürte er etwas Feuchtes unter seinen Fingern und zuckte zurück. Es war Blut, ob von einem Menschen oder einem Wolfling, konnte er nicht sagen. »Sie sind in den ersten Stock geflohen, nachdem die Bestien die Tür aufgebrochen haben«, murmelte er zu sich selbst. »Dort konnten sie sich besser verteidigen … aber sie saßen in der Falle …«
Tarean verspürte ein flaues Gefühl im Magen, während er langsam Stufe für Stufe die schmale, steile Treppe hinaufstieg. Eine hervorragende Verteidigungsposition, hätte Meister Ilrod sicher gesagt, und dass Blutspritzer sowohl auf den Stufen als auch an der Wand zu erkennen waren, schien dies zu bestätigen. Aber irgendwie bezweifelte er, dass es den vier Männern letztlich viel geholfen hatte.
Langsam, Fingerbreit für Fingerbreit, schob er den Kopf in die Höhe und lugte über den Rand. Dabei befürchtete er halb, im nächsten Moment in die aufgerissenen Augen eines niedergestreckten Soldaten zu starren. Aber der Schlafraum der Soldaten, der aus vier Pritschen an den Wänden und einem Tisch mit einer Waschschüssel bestand, war ebenso leer wie das Erdgeschoss. Breite Blutspritzer an den Wänden und ein zerbrochenes Schwert auf dem Boden zeugten jedoch davon, dass auch hier heftig gekämpft worden war.
Im Halbschatten unter einem der Betten lag ein runder Gegenstand. Für einen Augenblick würgte der Junge, als ihm der Gedanke kam, es könne der abgeschlagene Kopf eines der Männer sein, der unters Bett gerollt war. Doch auf den zweiten Blick erkannte er seinen Irrtum. Es handelte sich nur um einen Helm – und dieser war leer.
Sie müssen sie mitgenommen haben. Bilder von blutrünstigen Wolfsmenschen, die sich geifernd über ihre besiegten Opfer hermachten und sie mit schartigen Äxten zerhackten, um sie zu fressen oder sich mit den Gliedern ihrer Feinde zu schmücken, stiegen vor seinem inneren Auge auf. Auf einmal wurde ihm die Luft in dem Turm, die ohnehin schon muffig und vom süßlichen Geruch des Blutes geschwängert war, unerträglich. Hastig stolperte er die Stiege wieder hinunter und durch die zerstörte Eingangstür hinaus ins Freie, wo er sich vornüberbeugte und, die Hände auf die Oberschenkel gestützt, zwei-, dreimal tief durchatmete. Ganz ruhig bleiben. Nur nicht den eigenen Hirngespinsten erliegen.