Shelter - Ursula Poznanski - E-Book
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Shelter E-Book

Ursula Poznanski

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Beschreibung

Die Idee war völlig verrückt und sie wären niemals darauf gekommen, wenn die Party nicht so aus dem Ruder gelaufen wäre. Aus einer Katerlaune heraus erfinden Benny und seine Freunde eine irre Geschichte über außerirdische Besucher und verbreiten sie im Internet. Gespannt wartet die Clique ab, was passiert. Zu ihrer eigenen Überraschung nehmen immer mehr Menschen die Sache für bare Münze und Bennys Versuche, alles aufzuklären, bringen ihn schon bald in Lebensgefahr. Was, wenn du dir eine völlig absurde Geschichte ausdenkst, sie zum Spaß in die Welt setzt und plötzlich glauben alle daran? Ein schockierender Thriller über einen Streich, der zur verwirrenden Realität wird. Ursula Poznanskis neuer und hochaktueller Bestseller ist eine wache Analyse der Mechanismen moderner Verschwörungstheorien und ihrer Auswirkungen.

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Seitenzahl: 494

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Inhalt

Kapitel 1 – Es war halb …

Kapitel 2 – Der erste Vorschlag …

Kapitel 3 – »Lisa Aigner«, schlug …

Kapitel 4 – Am Nachmittag hatte …

Kapitel 5 – Sechs Tage später …

Kapitel 6 – Am nächsten Morgen …

Kapitel 7 – »Habt ihr letzte …

Kapitel 8 – Keine Klopfzeichen in …

Kapitel 9 – Auf dem Heimweg …

Kapitel 10 – Benny wäre ohnehin …

Kapitel 11 – Da habt ihr …

Kapitel 12 – Der Typ mit …

Kapitel 13 – Es bestand kein …

Kapitel 14 – Benny las die …

Kapitel 15 – Er stürzte hinaus …

Kapitel 16 – Liv ging nicht …

Kapitel 17 – Er begriff nicht, …

Kapitel 18 – Meine Chefin …

Kapitel 19 – »… abstruse Geschichte, …

Kapitel 20 – Er hatte kaum …

Kapitel 21 – Der nächste Morgen …

Kapitel 22 – Es dauerte eine …

Kapitel 23 – Nachdem er die …

Kapitel 24 – Ich weiß jetzt, …

Kapitel 25 – Das erste Mal …

Kapitel 26 – Thomas kam ein …

Kapitel 27 – Benny saß an …

Kapitel 28 – Denke an meinen …

Kapitel 29 – Es dauerte keine …

Kapitel 30 – Thomas war als …

Kapitel 31 – Eine gefühlte Ewigkeit …

Kapitel 32 – Am nächsten Morgen …

Kapitel 33 – Als sie die …

Kapitel 34 – Seine Nummer war …

1

Es war halb zwei Uhr morgens, als die Nachbarn begannen, gegen die Wand zu hämmern. Nando stoppte die Playlist mitten in Kick you when you’re down von AC/DC und hämmerte zurück. »Es ist mein Geburtstag!«, rief er, bevor Liv ihn am Arm schnappte und wieder zum Tisch zog. »Komm, lass, die wollen schlafen.«

»Aber … Geburtstag. Und die wissen auch nicht, WAS ICH GERADE DURCHGEMACHT HABE!« Nando blickte Hilfe suchend in Bennys Richtung, doch der schüttelte den Kopf, sosehr er seinem Freund das Feiern auch gönnte. Ihre Wohngemeinschaft war im Haus ohnehin nicht sehr beliebt – Benny lag im ständigen Clinch mit den Sochors aus dem zweiten Stock, weil er sein Fahrrad angeblich zu nah an der Kellertreppe parkte. Geparkt hatte, besser gesagt, denn es war vor drei Wochen auf mysteriöse Weise verschwunden. Das hatte den alten Sochor aber nicht besänftigt, und sie würden nun auch noch die restlichen Mieter gegen sich aufbringen, wenn sie das ganze Haus mit australischem Hardrock beschallten.

»Die Verrückten sind doch jetzt weg«, sagte er. »Und wenn du Lust auf Musik hast, könnten wir noch ins Shriek gehen, hm?« Er fing einen warnenden Blick von Liv auf, die den Laden hasste. »Oder wir spielen eine Runde … irgendetwas. Scrabble. Oder Kings Cup.«

Nando hatte sich auf seinen Stuhl fallen lassen und betrachtete traurig die Reste der Schokoladentorte, die Darya für ihn gebacken hatte. Sie war riesig gewesen, ein dreistöckiges Kunstwerk mit Dekorationen aus gesponnenem Zucker, aber die zwanzig Gäste, die bis vor Kurzem noch hier gewesen waren, hatten von dem Prachtstück kaum etwas übrig gelassen. Dafür gab es auf Instagram jetzt ein paar grandiose Tortenfotos mehr.

Inzwischen waren sie nur noch zu neunt, und nach dem ernüchternden Klopfen brachen vier weitere Leute auf – Nandos Freunde aus dem Medizinstudium, die ihm ein lebensgroßes Plastikskelett geschenkt hatten. Zu Beginn des Abends hatten sie es alle gemeinsam mit Apfelsaft auf den Namen Ludwig getauft.

Jetzt saß nur noch der engste Kreis um den großen Tisch – Nando, Darya, Liv, Till und Benny selbst –, wenn man Ludwig nicht mitzählte. Till hatte ihn wirkungsvoll auf dem Ehrenplatz an der Stirnseite platziert. Sie teilten sich die letzte Flasche Sekt, der viel zu warm geworden war. Benny fragte sich, wer später das Chaos in der Wohnung beseitigen und vor allem die Massen an Gläsern spülen würde. Nando wohl kaum, er war ja das Geburtstagskind, und Liv zu bitten würde in Streit enden. Darya wohnte nicht hier – leider –, ebenso wenig wie Till.

Die Putzaktion würde also Bennys Samstag versüßen. Tolle Aussichten. Immerhin Till war hilfreich, er kratzte gedankenverloren Kerzenwachs von der Tischplatte, mit einem billig aussehenden Schmuckstück, das an einer Kette hing. Einer goldfarbenen Spirale, die in einer schweren Spitze zulief. Benny blinzelte. »Was ist das?«

»Keine Ahnung.« Ohne aufzublicken, kratzte Till weiter. »Eines von Nandos Geschenken. Christbaumschmuck vielleicht.«

»Genau!«, grinste Nando. »Christbaumschmuck im Mai. Nein, liebe Freunde, das ist ein Pendel. Und jetzt ratet mal, wer mir das geschenkt hat, damit ich meine Nahrungsmittelunverträglichkeiten auspendeln kann. Zusammen mit einem Set Heilsteine.« Er seufzte schwer.

Liv blickte verlegen auf die Tischplatte. »Noch mal, tut mir leid, dass ich mich nicht beherrschen konnte.«

»Muss dir nicht leidtun. Es war echt nicht mehr auszuhalten.« Nando angelte nach einem transparenten Säckchen, in dem sich grüne, weiße und orangefarbene Brocken befanden.

»Ich werde jetzt für immer irre gesund sein. Die Heilsteine legt man ins Wasser, wisst ihr, und dann wird es … tadaa! Edelsteinwasser! Gibt Kraft und Mut und macht wunderschön!« Er schielte, streckte die Zunge seitlich aus dem Mund und sah trotzdem immer noch gut aus, wie Benny nicht ohne Neid feststellte.

Liv nahm ihm das Säckchen aus den Händen. »Du bist undankbar, Nando. Dabei haben sie dir so geduldig erklärt, wie sinnlos dein Studium ist. Wer braucht Medizin, wenn er Heilsteine hat?«

»Und ein Pendel«, warf Till ein.

»Genau, und ein Pendel.«

»Ihr habt recht.« Nando rieb sich die Augen und begann, mit den Fingern auf dem Tisch zu trommeln. »Hey, wenn ich meine nächste Prüfung nicht schaffe, kann ich immer noch Schamane werden.«

Mit einer ihrer tänzerisch wirkenden Bewegungen wandte Darya sich Benny zu. »Ich habe es vorhin nicht mitbekommen – aber die Sachen sind von den beiden, die so rumgeschrien haben, bevor sie gegangen sind?«

Wie immer, wenn er mit Darya sprach, bemühte Benny sich, seine Stimme so voll und tief wie möglich klingen zu lassen. »Genau, Dennis und Sarina. Sie war die mit dem langen blonden Zopf und dem Sonnen-Tattoo. Er der Typ im gestreiften Sweater.«

»Dachte ich mir.« Darya wog die Steine in der Hand. Ihre dunklen Locken, die sie gerne mit bunten Tüchern hochband, ließen sie selbst wie eine Schamanin wirken. Eine Priesterin, dachte Benny, eine wunderschöne.

Aus den Augenwinkeln sah er, dass auch Till sie wehmütig betrachtete. Er reichte ihr das goldene Spiralding. »Willst du mal versuchen? Bisschen pendeln?«

Darya griff danach, stand auf und klemmte die Kette zwischen Ludwigs Zähne, dann strubbelte sie Nando durchs dunkle Haar. »Schau nicht so traurig, Ferdinand. Kannst ja nicht nur so vernünftige Freunde haben wie mich.«

Nando, der seinen vollen Namen nicht ausstehen konnte, verzog das Gesicht. »Dass die Geschenke Quatsch sind wäre mir ja egal«, sagte er. »Was mich viel mehr stört: Man kann mit Dennis kein normales Gespräch mehr führen. Nicht mehr, seit er mit Sarina zusammen ist. Sie haben ernsthaft wieder mit dem Chemtrail-Quatsch angefangen und mit den Chips, die man angeblich bei Impfungen eingepflanzt kriegt. Große, grooooße Weltverschwörung.« Er seufzte. »Ehrlich, ich kenne Dennis seit der Schule, und ich mag ihn, aber einladen werde ich ihn nicht mehr.«

»Ich wette sowieso, er wird den Kontakt zu dir abbrechen«, murmelte Liv. »Erstens studierst du etwas richtig Wissenschaftliches, und zweitens wohnst du mit mir unter einem Dach.«

Punkt zwei wog wahrscheinlich sogar schwerer, denn Liv hatte das Gespräch, das immer mehr in Streit ausartete, auf ihre eigene Weise beendet. Sie hatte zwei Hüte aus Alufolie gefaltet und sie Dennis und Sarina aufs Haar gedrückt. »Sorry, ich habe vorhin versehentlich eure Gedanken gelesen, und mein IQ ist sofort um fünf Punkte gesunken. Besser, wir schirmen eure Köpfchen ab.«

Klar, dass die beiden beleidigt abgezogen waren; Dennis stumm und mit finsterer Miene, Sarina lauthals schimpfend. Da war es noch nicht einmal elf gewesen.

»Tja, Liv, das war ein bisschen grob, aber vor allem war es witzig.« Darya hielt sich einen der Heilsteine vors linke Auge. »Hübsch sind die schon.«

»Aber einfach nur ganz normale Steine«, murmelte Benny.

Sie lachte, ihre Zähne blitzten. »Das denkst du.« Sie griff nach einem weißen Stein und ließ ihn in Bennys Glas plumpsen. »Hier. Heilsekt.«

Benny pustete sich eine seiner roten Haarsträhnen aus der Stirn, nippte und angelte sich einen Löffel vom Tisch. Eingehend betrachtete er darin sein verzerrtes Spiegelbild. »Nein. Schöner wird man davon nicht«, stellte er fest. »Schade. Aber wer weiß, vielleicht wachsen mir Hörner.«

Gemeinsam prosteten sie Ludwig zu, dann begann Benny, den Tisch abzuräumen. Was er heute erledigte, blieb ihm morgen erspart.

Wider Erwarten erwies Liv sich als hilfreich, sie stapelte schmutzige Teller zusammen und deponierte sie im Spülbecken. Zur Feier des Tages hatte sie sich das kurze hellblonde Haar mit Gel zu stachelartigen Spitzen geformt. Wie ein Albinoigel, dachte Benny nicht zum ersten Mal. Er sah ihr dabei zu, wie sie begann, mit wütender Gründlichkeit Tortencreme von den Tellern zu schrubben.

»Schade, dass Gedankenlesen nicht wirklich funktioniert«, sagte er nach ein paar Sekunden. »Deine würden mich gerade echt interessieren.«

Liv knallte den seifendurchtränkten Schwamm ins Becken. »Ach, nichts Wichtiges. Ich rege mich bloß immer noch über das Chemtrail-Pärchen auf. Ich hätte die beiden so gerne in Grund und Boden diskutiert, aber es war, als würde man gegen eine Gummiwand laufen. Die wären coole Forschungsobjekte für eine psychologische Studie. Logik prallt total an denen ab.« Unsanft beförderte sie einen Teller in die Abtropfhalterung. »Bei mir an der Uni ist auch einer, der so tickt und immer versucht, mich zu bekehren. Wahrscheinlich habe ich deswegen überreagiert. Ich hätte so viel Spaß dran … ach, egal.«

»Spaß woran?«, hakte Benny nach.

Sie schüttelte erst den Kopf, dann griff sie nach dem Schwamm und verdrehte ihn zwischen den Händen, als wollte sie ihn erwürgen. »Ich würde diesen Leuten gerne Beweise vor die Nase halten, die so klar sind, dass sie nichts dagegen sagen können. Aber genau das ist das Problem, die Wahrheit ist denen zu langweilig und zu kompliziert, Tatsachen interessieren sie nicht. Die lassen sich durch nichts den Wind aus den Segeln nehmen, und …«

Till trat zu ihnen. »Wer segelt?«

Müde wischte Liv an einem Weinglas herum. »Niemand. Ich krieg nur den Frust über Dennis und Sarina nicht aus meinem System. Außerdem habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich Nandos Party ruiniert habe. Vielleicht sollte ich einen dieser Heilsteine schlucken, dann weiß ich wenigstens, was mir im Magen liegt.«

»Oder …«, begann Benny, bremste sich aber sofort wieder ein. Die Idee war albern.

»Oder was?«

»Oder du zeigst ihnen auf eine andere Art, wie naiv sie sind. Das wird wahrscheinlich wehtun, aber sie werden es kapieren. Und dich für immer hassen.«

»Also, das ist mir dann egal.« Sie nahm ein Geschirrtuch vom Haken und begann, damit die sauberen Teller abzutrocknen.

»Na, dann hättest du das vielleicht gleich machen sollen!« Benny stupste sie von der Seite an. »Ihnen eine total bescheuerte eigene Verschwörungstheorie präsentieren, und sobald sie darauf eingestiegen wären, hättest du haha gesagt, ätsch, alles bloß meine persönlichen Hirngespinste, und ihr kauft sie genauso wie den anderen Quatsch.«

Liv zog den Mund schief. »Ja, das wäre cool gewesen. Ist mir aber leider nicht eingefallen, und so schnell hätte ich sicher auch keine Weltverschwörung aus dem Ärmel geschüttelt.« Sie holte sich einen weiteren Teller vom Abtropfgestell. »Ich war heute nicht in Bestform. Meine Dozentin hat das Thema für meine Bachelorarbeit abgelehnt, ich kann noch mal bei null anfangen, aber ich habe bloß noch fünf Wochen Zeit, um mir etwas Neues einfallen zu lassen. Ist zum Kotzen.«

»Tja, dann kannst du nicht auch noch eine Weltverschwörung anzetteln.« Er versenkte zwei Sektgläser im Spülwasser. »Das verstehe ich.«

Gedankenverloren polierte sie weiter an dem längst trockenen Teller. Benny konnte sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete.

»Andererseits«, sagte sie, »warum nicht? Da ließe sich auf jeden Fall etwas draus machen. Also ein Thema für die Uni, meine ich. So was wie: Alternative Wirklichkeiten: Psychologische Profile überzeugter Verschwörungstheoretiker. Oder so ähnlich.« Sie räumte den Teller in den Schrank, lächelnd. »Das wäre saucool.«

Till hatte ihnen die ganze Zeit über zugehört, und mittlerweile folgten auch Darya und Nando dem Gespräch; Nando mit wachsendem Interesse. »Unikram beiseite, ich finde die Idee auch so nicht schlecht. Das wäre doch ein Riesenspaß, oder? Witziger, als jetzt noch ins Shriek zu pilgern.« Er beugte sich vor. »Wir könnten uns etwas überlegen. Etwas echt Abgedrehtes, das bringen wir dann unters Volk – mal sehen, ob es irgendwo kleben bleibt.«

Darya zog die Nase kraus, was hinreißend aussah. »Du meinst, wir entwickeln unsere eigene Verschwörungstheorie?«

»Genau!« Nando griff sich ein paar verstreute Erdnüsse vom Küchentisch und sprach kauend weiter. »Wir verbreiten zum Beispiel … dass ich aus der Zukunft komme und demnächst die Herrschaft über die Erde übernehmen werde. Wer sich mit mir gut stellen möchte, soll Geschenke vorbeibringen, aber zackig. Ich teile dann auch mit euch.«

»Also wenn, dann sollte Benny diese Rolle übernehmen«, warf Darya ein. »Er ist ein richtig guter Schauspieler, hat er euch schon seine Prüfungsmonologe vorgespielt?«

Benny wurde innerlich erst warm, dann heiß. Er wusste, er war jetzt sicher knallrot im Gesicht, und sosehr er sich über Daryas Lob freute, so sehr wünschte er sich, er hätte es gelassener hinnehmen können.

»Wir hören seine Monologe jeden Tag mehrmals, sogar wenn seine Tür zu ist.« Nando verzog das Gesicht zu einer dramatischen Grimasse. »Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht?« Er griff sich mit beiden Händen an die Kehle und ließ die Zunge seitlich aus dem Mund hängen. »Klar ist Benny ein guter Schauspieler, und er wird die Prüfung sicher schaffen, aber der Herrscher der Welt bin trotzdem ich.«

Liv hatte das Geschirr im Stich gelassen; sie trocknete sich die Hände ab und setzte sich zu den anderen an den Tisch. »Also, ich bin dabei. Und ich überlege mir wirklich, ob ich die Aktion nicht für meine Bachelorarbeit verbraten kann. Die Story darf bloß nicht allzu lächerlich sein.«

»Doch!« Nando war wieder bester Laune. »Genau das muss sie! So irre wie nur möglich – und du wirst sehen, es werden trotzdem genug Leute darauf reinfallen. Hey, es gibt welche, die glauben an Echsenmenschen.«

Liv nickte, langsam anfangs, dann immer schneller. »Versuchen könnten wir es. Wir sehen dann ja, ob Leute wie Dennis und Sarina den Köder schlucken. Oder der Typ bei mir am Institut.«

Benny registrierte Tills Grinsen, das unternehmungslustige Aufleuchten in Daryas Augen, Livs kampflustige Miene und Nandos blitzartig erwachte Begeisterung. Nur er selbst bereute plötzlich, dass er seine Idee nicht für sich behalten hatte. Er war so froh darüber, in der neuen Stadt neue Freunde gefunden zu haben. Es war nun eineinhalb Jahre her, dass sein Leben so brutal umgekrempelt worden war, und er träumte immer seltener davon. Das lag sicher auch an seiner Clique – und daran, dass sie nichts davon wussten.

Was sie gemeinsam unternahmen, war wunderbar normal; weder bedauerten sie ihn, noch machten sie ihm Vorwürfe, und Benny wünschte sich sehr, dass das so blieb. »Wir tun das nicht wirklich, oder?«, sagte er. »Weil, so richtig wohlfühlen würde ich mich nicht dabei, Leute bewusst aufs Glatteis zu führen und sich dann über sie lustig zu machen.«

»Ach was, nein!« Nando war aufgesprungen, um Papier und Stifte zu holen. »Ist nur ein Spiel! Ich finde es total spaßig, sich so was auszudenken, wir müssen ja nicht Ernst machen.« Er schob Papierservietten, verbliebenes Geschirr und zerrissenes Geschenkpapier zur Seite, um Platz für sein Schreibzeug zu schaffen.

»Also.« Er blickte in die Runde. »Wer beherrscht die Welt?«

2

Der erste Vorschlag kam von Till. Er schob seine Brille zurecht und verschränkte die Hände auf der Tischplatte. »Wie wäre es damit: Die geheime Weltregierung hat einen Weg gefunden, die Schwerkraft aufzuheben, gezielt, versteht ihr? Auf diese Weise können sie Leute verschwinden lassen, die werden einfach in die Atmosphäre hinaufgesogen, und schon sind sie weg. Zapp. Unauffindbar.«

Liv hatte begonnen, mitzuschreiben, hielt jetzt aber inne. »Nette Idee, nur leider zu auffällig. Da hätte es doch schon Beobachtungen gegeben von Leuten, die plötzlich in Richtung Himmel schießen.«

Till nickte. »Stimmt.«

»Ich fände etwas mit einem unterirdischen Höhlensystem cool«, überlegte Darya. »Mir fällt nur nicht ein, was der große Plan dahinter sein könnte. Hm.«

»Höhlensystem hat aber schon viel Schönes.« Liv wischte auf ihrem Handy herum. »Wartet mal, es gibt Studien dazu, welche Eigenschaften so eine Theorie haben sollte …«

»Oh nein!« Nando tat, als wollte er sich vom Stuhl stürzen. »Wir sind nicht in der Uni! Am Montag darfst du wieder die Psychologiestudentin machen, aber nicht heute!«

Unbeirrt scrollte Liv weiter. »Ah, hier. Also: Verschwörungstheorien, die funktionieren sollen, müssen drei Merkmale haben. Erstens: Was geschieht, geschieht im Geheimen. Nichts ist Zufall, alles geplant. Zweitens: Nichts ist so, wie es scheint. Die Wirklichkeit hat gewissermaßen einen doppelten Boden. Was zur Theorie passt, wird als Beweis gewertet, was ihr widerspricht, wird ignoriert.« Sie nahm einen Schluck aus Bennys Glas mit dem Heilstein und verzog das Gesicht. »Drittens: Alles ist miteinander verbunden. Die Verschwörer erkennen einander an geheimen Zeichen, aber im Grunde könnte jeder dazugehören. Jeder ist verdächtig.« Sie blickte auf. »Der eigene Nachbar zum Beispiel. Oder die Lehrerin. Der Mann, der neben dir im Bus sitzt. Oder die Kassiererin im Supermarkt. Ein unsichtbares Netz. Eine geheime Elite.«

Auf Daryas Stirn hatten sich tiefe Denkfalten gebildet. »Atlantis«, sagte sie.

»Ah, lustige Idee.« Till strahlte sie an. »Und die Verschwörer sind erkennbar an den Schwimmhäuten zwischen den Zehen? Aber was wollen die an der Oberfläche?«

»Gegen die Verschmutzung der Meere protestieren?«, schlug Nando vor.

»Zu freundlich.«

»Zu ungefährlich.«

»Ja, da denkt man gleich an Delfine und Aquaman und Arielle …«

Jetzt sprachen alle durcheinander, lachend, nur Benny hielt sich raus. Er hatte schon wieder eine Idee, und sie war reizvoll, da konnte man alles reinpacken, was Liv aufgezählt hatte. Ein bisschen radikal vielleicht, aber es war ja ohnehin nur ein Spiel. Als die anderen ein paar Sekunden lang schwiegen, blickte er auf. »Aliens«, sagte er.

»Mit Schwimmhäuten!«, rief Nando. Er war wieder bester Laune. »Hört mal, können wir uns als Erstes darauf einigen, dass ich der heimliche Herrscher der Welt bin? So als Geburtstagsgeschenk?«

»Wer sonst?« Till salutierte spöttisch. »Ferdinand der Erste, Herrscher der Seepferdchen. Wie sollen wir dir huldigen?«

»Ich finde Bennys Alien-Idee wirklich nicht übel«, warf Liv ein. »Invasion aus dem All. Außerirdische übernehmen die Erde, und keiner merkt es.«

»Außer, wenn sie grün sind.« Nando begann, Piepsgeräusche von sich zu geben wie ein Lkw im Rückwärtsgang; wenn man ihm zusah, war es schwer, sich vorzustellen, dass er eines Tages mal Arzt sein würde.

»Okay, und woran erkennt man die Aliens?« Till griff nach einer Salzbrezel.

»Überhaupt nicht«, sagte Benny. »Sie … übernehmen normale Menschen. Setzen sich in ihnen fest wie Parasiten und steuern sie, versteht ihr? Dann ist wirklich jeder verdächtig, so wie Liv sagt.«

»Unheimlich«, stellte Darya fest. »Aber warum machen die das? Was wollen sie?«

Nando hob die Hand, wie ein Schüler. »Uns versklaven, zum Beispiel?«

»Zu viel Aufwand«, fand Darya. »Lohnt sich nicht, dafür quer durch den Weltraum zu gondeln.«

»Okay, dann … wie wäre es, wenn sie uns jagen, um sich Nahrung zu beschaffen?« Nando platzte förmlich vor neuen Ideen. »Oder sie brauchen einen bestimmten Wirkstoff? Was wäre, wenn das Eiweiß unserer Gehirne sie von einer tödlichen Krankheit heilen kann?«

»Aliens«, erinnerte Liv ihn. »Keine Zombies. Und so funktioniert unsere Idee wahrscheinlich nicht, denn es wird ja niemandem das Hirn rausgefressen, und damit greift unsere Verschwörung nicht richtig. Es müsste etwas sein, das wirklich passiert. Das man beobachten kann und dann denkt – ha, die Aliens.«

»Erderwärmung.« Während die anderen diskutiert hatten, war Benny im Kopf diverse Möglichkeiten durchgegangen. »Sie sind auf der Suche nach einem neuen Planeten und haben die Erde gefunden. Die gefällt ihnen zwar, aber sie ist ihnen ein bisschen zu kühl. Deswegen schrauben sie die Temperatur rauf.«

Liv nickte langsam, dann begann sie zu schreiben. »Das ist nicht schlecht. Da steigen garantiert eine Menge Leute drauf ein.«

»Gefällt mir auch.« Darya wickelte sich eine ihrer schwarzen Locken um den Zeigefinger. »Ich frage mich nur, wie wir die Geschichte verbreiten sollen. Rumlaufen und sagen, hey, ich habe ein Raumschiff gesehen? Hm, ich könnte etwas photoshoppen und es auf Instagram und TikTok posten. Mit einem Fake-Account. Aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass das reicht.«

Benny ertappte sich dabei, wie er Darya anstarrte – ihre lebhaften Gesten, ihre dunkel schimmernden Augen. Hastig wandte er den Blick ab, in der Hoffnung, dass niemand etwas bemerkt hatte. »Reichen wird es nicht, aber ein paar falsche Social-Media-Accounts sollten wir uns trotzdem zulegen«, sagte er. »Jeder zwei oder drei, das genügt, um Diskussionen anzustoßen, in die dann auch andere einsteigen.« Er hielt kurz inne, horchte in sich hinein. Suchte nach den Bedenken von vorhin, doch die waren verschwunden. »Wenn ihr wollt«, schlug er vor, »kümmere ich mich darum, erstelle Mailadressen und das ganze Drum und Dran.«

Sie nickten alle, nur Nando verzog das Gesicht. »Klingt, als würde das Arbeit werden. Drei Fake-Accounts bespielen? Puh.«

»Das wird nur ganz zu Anfang nötig sein«, meinte Liv. »Sobald die Sache rollt, müssen wir gar nichts mehr tun. Erst am Schluss alles aufklären.« Wieder notierte sie etwas, mit geröteten Wangen tief über ihren Zettel gebeugt. Keine Frage, sie hatte ein Ersatzthema für ihre Arbeit gefunden. »Wir brauchen noch ein Zeichen«, sagte sie. »Irgendwas Grafisches, so wie das Templerkreuz. Oder das Q von QAnon.«

Ächzend verdrehte Till die Augen. »Stimmt, den Verein hatte ich völlig verdrängt.« Er kaute grüblerisch an seiner Unterlippe. »Vielleicht ein griechischer Buchstabe? Sigma sieht hübsch aus, finde ich.«

»Einen Buchstaben haben schon die echten Irren für sich gepachtet«, widersprach Darya. Sie griff nach einem von Livs Blättern und einem Stift. Mit geübten, schnellen Strichen kritzelte sie etwas hin, das wie eine Gabel mit geschwungenen Zinken aussah. »Neptuns Dreizack. Was haltet ihr davon?«

Nando nickte beifällig, Liv kratzte sich am Kinn. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Wirkt ein bisschen gewollt. Und sehr irdisch, finde ich.«

»Hast recht.« Darya zeichnete etwas Neues, einen horizontalen Strich mit einem aufwärtsweisenden Bogen am rechten Ende und einem abwärtsweisenden am linken. Es erinnerte an ein spiegelverkehrtes S. »So ähnlich sehen Balkengalaxien aus, ich habe letztens Fotos im Netz gesehen. Würde thematisch doch besser passen, oder?«

»Schon«, befand Liv und reichte den Zettel an Till weiter, der ihn skeptisch betrachtete. »Hm, korrigiert mich, wenn ich mich irre, aber das sieht doch auch wie ein Buchstabe aus, oder? Bloß verkehrt rum.«

Benny nickte. Einen Punkt druntersetzen, und man hatte ein Fragezeichen. Gar nicht so einfach, die Sache, selbst für eine Kunststudentin wie Darya. Alle einprägsamen Symbole waren schon vergeben.

»Am besten fände ich etwas total Bedeutungsloses«, warf Nando ein. »Irgendein Zufallsgebilde, in das jeder etwas anderes hineindichten kann und …« Er hob ratlos die Hände, gleichzeitig lachte Darya auf.

»Du hast ja so recht. Und wir haben sogar schon einen Kandidaten. Schaut mal.« Sie griff sich eine gebrauchte Papierserviette vom Tisch und hielt sie hoch. Jemand musste sein Glas darauf abgestellt haben, denn auf dem cremefarbenen Zellstoff war ein roter Ring eingetrocknet und schräg rechts oben davon noch einer, der sich mit dem ersten überschnitt. Allerdings musste das Glas zu dem Zeitpunkt schon fast trocken gewesen sein, denn es hatte nur noch einen halbkreisförmigen Abdruck hinterlassen.

Ein ganzer Kreis und ein halber, die wie locker ineinander verhakt wirkten. »Das gefällt mir«, stellte Liv fest.

»Ich finde es auch perfekt«, schloss Benny sich an. »Völlig sinnbefreit, es könnte alles bedeuten. Ich bin schon sehr gespannt auf die Theorien, die es dazu geben wird. Falls wirklich jemand auf unsere Story reinfällt.«

»Wollen wir wetten?« Darya legte die Serviette auf den Tisch und strich sie glatt. »Jetzt muss unser Zeichen nur noch geheimnisvoll auftauchen. Aus dem Nichts, über Nacht.«

Eine halbe Stunde später waren sie unterwegs, in zwei Gruppen: Liv und Nando mit einer Dose Weihnachtslackspray; Darya, Till und Benny mit drei dicken Edding-Stiften. »Keine Sachbeschädigung, okay?«, mahnte Liv. »Aber Plakatwände oder Graffiti-Mauern können ruhig dran glauben.«

Die Aussicht auf ein nächtliches Abenteuer hatte sie alle wieder in Partylaune versetzt, auch Benny. Sie zogen los, lachend und voller Tatendrang. Darya hatte aus Karton zwei Schablonen geschnitten, damit die aufgemalten Symbole alle gleichmäßig aussahen: um die vierzig Zentimeter hoch, die Striche gut fünf Zentimeter dick.

Erst war es gar nicht so einfach, passende Stellen zu finden, doch nach kurzer Zeit bekamen sie ein Auge dafür, wo das Zeichen auffallen und gleichzeitig keinen Schaden anrichten würde. Benny und seine Gruppe hinterließen es auf Plakaten, in Unterführungen, auf Zebrastreifen. Es war mittlerweile halb vier Uhr nachts, und die Straßen waren wie ausgestorben. Wenn doch einmal ein Auto vorbeikam, unterbrachen sie ihre Aktion sofort und warteten, bis es außer Sichtweite war.

»Bisher haben wir vierundzwanzig«, verkündete Till, als der Horizont sich aufzuhellen begann. »In drei Bezirken. Wir sollten Schluss machen, die Stadt wacht auf.«

Zu Bennys Enttäuschung stimmte Darya sofort zu. Aber offenbar waren die beiden anderen müde, nur er hätte gerne noch weitergemacht. Nicht, weil er unbedingt noch mehr Kringel auf Mauern malen wollte, sondern weil er das Zusammensein mit Darya so sehr genoss. Wie sie sich mit kurzen Blicken und Gesten verständigten. Wie Daryas Hand immer wieder seine streifte, wenn er die Schablone hielt und sie das Zeichen ausmalte.

Sie teilten ein Geheimnis. Natürlich war auch Till dabei, doch der beschränkte sich meistens darauf, Wache zu halten. Benny und Darya bestimmten die Route, wählten die Plätze aus und brachten das Symbol an. Sie arbeiteten perfekt zusammen, sie waren ein Team. Er wollte das so lange wie möglich auskosten.

»Was denkt ihr, sollen wir noch gemeinsam frühstücken gehen?«, schlug er vor.

Darya strahlte. »Gute Idee! Ich rufe Nando an, vielleicht wollen er und Liv auch dazustoßen.«

Sie wollten. Nando kannte ein Café, das auch am Samstag schon um sechs Uhr morgens aufsperrte, nicht weit vom Stadtzentrum entfernt. Als Benny eintrat, roch er Kaffee und frische Croissants; Nando und Liv saßen bereits am größten der Ecktische.

»Vierundzwanzig«, rief Till und warf sich auf die rotplüschige Bank.

»Zweiunddreißig«, konterte Nando, dessen Hände sichtbare Goldlackspuren aufwiesen. »Aber wir waren im Vorteil, mit Spray geht es einfach schneller.«

»Wir haben ein paar perfekte Tatorte gefunden«, ergänzte Liv, zückte ihr Handy und zeigte Benny die Fotos, die sie geschossen hatte. »Direkt bei drei U-Bahn-Stationen, absolut unübersehbar. Viermal haben wir auch auf den Boden gesprayt – in Fußgängerzonen. Sieht mega aus und wird in ein paar Wochen verschwunden sein, wenn genug Leute drübergelaufen sind.«

»Wir haben ein paar Zebrastreifen bemalt«, rief Till, dämpfte auf Livs warnenden Blick hin aber umgehend seine Stimme. »Sieht auch stark aus.«

Sie bestellten Frühstück, und Benny sah Darya mehrmals gähnen. Er überlegte fieberhaft, wie er den Moment, in dem er in die WG und sie in ihre Wohnung zurückkehren würde, weiter hinauszögern könnte. »Ich richte dann später unsere neuen Accounts ein«, sagte er. »Habt ihr Lust, dabei zu sein? Dann könnt ihr euch eure Fake-Namen selbst aussuchen.«

»Erst mal sollten wir schlafen«, fand Liv. »Ich bin völlig hinüber. Die Accounts können wir doch am Abend machen, oder? Und dann vielleicht eine zweite Runde drehen, sechsundfünfzig Kringel sind noch ein bisschen wenig für eine überzeugende Weltverschwörung.«

»Klingt gut.« Darya winkte der Kellnerin. »Dann lasst uns doch schnell noch frühstücken vor dem Schlafengehen. Wann soll ich heute Abend bei euch sein?«

Benny war mit Liv und Nando in die Straßenbahn gestiegen und hatte wehmütig zugesehen, wie Darya und Till abwärts in Richtung U-Bahn verschwanden. Hundertprozentig würde Till versuchen, bei ihr zu landen. Im schlimmsten Fall stieg Darya darauf ein. Im zweitschlimmsten Fall war sie von seinen Annäherungsversuchen so abgestoßen, dass sie heute Abend nicht in die WG kommen würde.

Benny wünschte sich mit aller Kraft eine Wiederholung des letzten Abends herbei. Nicht dass er unbedingt die Party noch einmal durchleben wollte – die hatte durchaus ihre unangenehmen Momente gehabt. Nein, die zwei Stunden davor waren viel besser gewesen. Darya war früher aufgetaucht, um bei den Vorbereitungen zu helfen, und für eine halbe Stunde hatten sie sich in sein Zimmer zurückgezogen, weil sie wissen wollte, welche Monologe er für die Aufnahmeprüfung in die Schauspielschule vorbereitete.

Zuerst war es ihm unfassbar peinlich gewesen, sich so vor ihr gehen zu lassen. Er hatte ihr den Monolog des Rosenkranz aus »Rosenkranz und Güldenstern sind tot« vorgespielt. Das Stück war gewissermaßen ein Spin-off von Shakespeares »Hamlet«, es drehte sich um zwei Nebenfiguren und war ziemlich witzig. Benny musste drei Textstellen für die Prüfung vorbereiten – den Rosenkranz wollte er auf jeden Fall dabeihaben.

Er hatte auf seinem Zimmerboden gekniet und Darya aus großen Augen angesehen. »Stellst du dir manchmal vor, dass du wirklich tot bist, du liegst in einer Kiste, der Deckel ist zu?« Dann hatte er heftig den Kopf geschüttelt, wie ein kleines Kind, das seinen Brei nicht essen wollte. »Ich auch nicht. Wirklich nicht … Es ist lächerlich, deswegen Depressionen zu kriegen. Ich meine, man stellt sich das so vor, als wäre man in der Kiste lebendig, und vergisst dabei, die Tatsache in Betracht zu ziehen, dass man tot ist … was ein erheblicher Unterschied ist … oder nicht?« Sie hatte gelacht und er innerlich gejubelt. Nach den ersten paar Sätzen hatte er sich freigespielt, das Schamgefühl war verschwunden, Daryas ungeteilte Aufmerksamkeit beflügelte ihn. Sie reagierte an den richtigen Stellen, lauschte mit schief gelegtem Kopf, wandte keine Sekunde lang den Blick von ihm. »Ich meine, man würde es ja nie erfahren, dass man in einer Kiste liegt. Oder? Es wäre einfach so, als ob man in einer Kiste schläft – nicht dass ich gern in einer Kiste schlafen würde, du verstehst, jedenfalls nicht so ganz ohne Luft –, und man würde aufwachen und wäre erst einmal tot – und wo wäre man da? Außer – in einer Kiste?«

Er hatte ihr den ganzen, langen Monolog ohne ein einziges Stocken vorgespielt. War in Rosenkranz eingetaucht, in diesen jungen Mann, der nicht übers Sterben nachdenken wollte und trotzdem von nichts anderem reden konnte. Er war auf Knien herumgerutscht, hatte gegen einen Sarg geklopft, der nicht da war und erstmals gespürt, dass er es wirklich konnte.

Am Ende hatte Darya gestrahlt und applaudiert. »Du bist gut, Benny. Wirklich, wirklich gut. Das sage ich nicht einfach nur so, das weißt du, ja? Du hast echt Talent. Ganz großes Kino!«

Es war vielleicht der beste Moment der letzten eineinhalb Jahre gewesen, aber natürlich hieß das nicht, dass Darya sich für ihn interessierte. Nicht auf die gleiche Art wie er sich für sie.

Würde sie sich stattdessen auf jemanden wie Till einlassen? Er studierte Rechtswissenschaften, er war gewissermaßen die personifizierte sichere Zukunft. Es wäre kein Wunder gewesen, wenn Darya sich nach so jemandem sehnte. In Bennys Augen war sie perfekt – schön, klug, manchmal unglaublich witzig. Dann aber wieder von einer tieftraurigen Ernsthaftigkeit, die er von sich selbst kannte, die bei ihr aber wohl in ihrer Familiengeschichte begründet lag. Und Till? Ein verlässlicher Freund, als Typ aber bloß netter Durchschnitt.

Von außen betrachtet, musste Benny sich unwillig eingestehen, war er das auch. Groß, schlaksig, mit diesem grauenvoll feuerroten Haar. Frauen konnten Sommersprossen überschminken, bei Männern wirkte das dämlich, also trug er sie wohl oder übel vor sich her, während er sie insgeheim voller Inbrunst hasste.

Tja, wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte er bei Darya genauso wenig Chancen wie Till. Aber sie mochte ihn als Freund. Das wusste er. Grund genug, sich auf heute Abend zu freuen.

In der Wohnung herrschte immer noch Chaos. Benny seufzte. Auf der Heimfahrt war er zweimal beinahe eingeschlafen, er sehnte sich schmerzhaft nach seinem Bett. Trotzdem räumte er noch den Tisch ab, spülte notdürftig die verbliebenen Teller und Gläser und schichtete sie in den Abtropfständer.

Die Serviette mit den roten Kreisen – einer vollständig, einer unterbrochen wie ein Halbmond – nahm er an sich und verstaute sie in der obersten Schublade seines Schreibtischs. Egal, was andere in dieses Zeichen hineininterpretieren würden, für ihn symbolisierte es Darya und ihn selbst: sie perfekt, eine abgerundete Persönlichkeit, an der alles stimmte; er dagegen orientierungslos, unschlüssig, unsicher und ohne jeden Plan, falls das mit der Schauspielschule nicht klappte. Unfertig, so fühlte er sich.

Und schwer vor lauter Erschöpfung. Die Beine, der Kopf, die Lider, alles. Er zog die Vorhänge zu und legte sich auf sein Bett. Zehn Uhr zweiunddreißig zeigte der Wecker an, als Benny die Augen schloss und der Schlaf ihn mit sich forttrug.

3

»Lisa Aigner«, schlug Darya vor. »Mein drittes Ich.« Sie saßen zu fünft um den Computer herum, wo Benny seit einer Stunde E-Mail-Adressen und Fake-Accounts auf Facebook, Instagram und TikTok anlegte. Facebook war tot, da waren sich alle einig, trotzdem plädierten Nando und vor allem Liv dafür, sich auch dort zu registrieren. »Wir wollen ja an alle Altersgruppen heran, und meine Oma zum Beispiel ist dort sehr aktiv.«

»Lisa Aigner gibt es allein auf Instagram schon über fünfzig Mal«, wandte Benny ein.

»Ist doch gut. Dann verschmelze ich mit der Masse.« Sie angelte sich die Schüssel mit dem Popcorn vom Tisch, das Nando eben aus der Mikrowelle geholt hatte.

Die anderen waren dabei, ihre neuen Accounts mit Inhalten zu füllen. Leuten zu folgen, die allem Anschein nach gern zurückfolgten. Beiträge zu liken. Ein erstes Instagram-Foto hochzuladen.

»Das Problem an neuen Profilen ist, dass man ihnen ansieht, wie neu sie sind«, murmelte Till, der sich zwei männliche und ein weibliches Alter Ego zugelegt hatte. »Keine Freunde, keine Bilder, keine Glaubwürdigkeit.«

»Meinem ersten Profil sind schon acht Leute zurückgefolgt«, stellte Liv fest, während sie gleichzeitig auf ihrem Smartphone tippte. »Ich habe auf Insta ungefähr zwanzig Katzenaccounts abonniert und suche gerade nach Impfgegnern. Auf Twitter, dort ist das einfacher als anderswo.«

Die nächste Viertelstunde herrschte fast durchgängig Schweigen; alle waren über ihre Handys gebeugt und wechselten zwischen ihren verschiedenen Identitäten hin und her. Benny selbst hatte auf Instagram schon seit drei Jahren ein zweites Konto unter dem Namen Lattissimo, wo er Fotos seiner Milchschaumkünste postete. Schwäne und Rosen, Tannenbäume, Wale, Osterhasen und Eichhörnchen. In seinem Nebenjob als Barista hatte er eine echte Leidenschaft für Latte-Art entwickelt. Seit er vor über einem Jahr aus seiner alten Heimat fortgezogen war und nicht mehr im Café Max arbeitete, waren aber kaum neue Bilder dazugekommen.

Doch der Account war vorhanden, hatte 3894 Follower, und es sprach nichts dagegen, ihn jetzt für neue Zwecke zu benutzen. Benny suchte eines der Fotos von letzter Nacht heraus – das Zeichen schwarz glänzend auf einem blauen Plakat, angestrahlt von einer Straßenlaterne. Die Umgebung versank im Dunkel. Kontrast erhöhen, einen Filter drüber, und es sah wirklich mysteriös aus.

Dieses Zeichen habe ich letzte Nacht auf meinem Weg nach Hause drei Mal gesehen!, schrieb er dazu. Jemand eine Ahnung, was es bedeutet?

Die ersten Likes kamen schnell, und nach fünf Minuten traf auch der erste Kommentar ein: Nein, keine Ahnung, aber cooles Foto, schrieb Fuxo1211.

Zufrieden legte Benny das Smartphone beiseite und wandte sich wieder dem Computer zu, auf dem seine Facebook-Timeline geöffnet war. Ein früherer Schulfreund hatte ein Auto gekauft. Ein Mädchen, das er mal im Skiurlaub kennengelernt hatte, feierte Geburtstag. Jemand namens Ellie Richter, von der er nicht wusste, wer sie war oder warum er mit ihr befreundet war, postete Sinnsprüche: Gehe immer der Sonne entgegen, und du lässt die Schatten hinter dir. Umrandet mit Sternchen und Blümchen.

Ach du liebe Güte. Naserümpfend klickte Benny auf das Profil dieser Ellie, um sie zu entfreunden, doch sein Finger verharrte über der Maustaste. Vielleicht war es gar nicht schlecht, Leute wie sie in der Freundesliste zu haben, denn so wie sie stellte er sich die Zielgruppe ihrer Aktion vor.

Gegen Mitternacht zogen sie wieder los, zu dritt, wie zuletzt, diesmal aber mit zwei nagelneuen Spraydosen im Gepäck. »Wir nehmen das Auto«, verkündete Till und lotste sie zu seinem alten Toyota.

Bennys Laune sank schlagartig, aber er schwieg. Setzte sich auf die Rückbank und legte den Gurt an, halb bedrückt, halb verärgert über sich selbst. Er würde nicht selbst fahren, er würde bloß hinten sitzen und notfalls die Augen schließen. Niemand von den anderen kannte seine Geschichte, er konnte also nicht erwarten, dass jemand Rücksicht auf ihn nahm, trotzdem verübelte er Till die Gelassenheit, mit der er hinters Steuer glitt.

»Wir lassen das Zeichen heute auch außerhalb der Stadt auftauchen – bei Tankstellen zum Beispiel, oder an Landstraßen.« Darya klang eifrig. »In Parks!« Sie hatten ihr Symbol Doppelmond getauft – Nandos Idee, die sie alle gut gefunden hatten. Die Bezeichnung passte zum Alien-Thema und traf optisch ins Schwarze: ein voller und ein halber Mond, die einander überschnitten.

Von seinem Rücksitz aus beobachtete Benny, wie Darya das Heft zückte, das sie von Liv in die Hand gedrückt bekommen hatte, um darin alle markierten Orte einzutragen. »Dann kann ich später nachvollziehen, aus welchen Gegenden die meisten Reaktionen kommen«, hatte Liv mit strahlendem Gesicht erklärt.

Livs Tatkraft zog sie alle mit. Wenn Benny ehrlich zu sich selbst war, dann wäre er heute Nacht lieber zu Hause geblieben, und das lag nicht nur daran, dass er die Autofahrt gern vermieden hätte. Sie investierten sehr viel Energie in eine Sache, die wahrscheinlich demnächst im Nichts verpuffen würde.

Aber das Experiment schenkte ihm mehr Zeit mit Darya. Sie hatte sichtlich Freude dabei, clevere Orte zu finden, an denen sie das Zeichen aufsprayen konnten, und fotografierte jedes ihrer Werke. Zweimal übersprühten sie ein Hakenkreuz – erst ließen sie es hinter einer Schicht aus schwarzem Spray verschwinden, dann brachten sie das Zeichen in schimmerndem Silber an.

»Kringel statt Haken«, hörte Benny Darya flüstern, als sie wieder ins Auto stiegen. Till hatte das Radio laut aufgedreht, es lief People Say von Don Diablo, und er summte mit, während er den Wagen zurück auf die Straße lenkte. »Was haltet ihr davon, wenn wir uns geeignete Plätze in der Nähe von Schulen suchen?«, schlug er vor. »Den Kids fällt sofort auf, wenn sich etwas verändert hat, und ein paar von ihnen posten es bestimmt.«

»Ich weiß nicht.« Benny verstaute die beiden Spraydosen in seiner Tragetasche. »Willst du wirklich Kinder da mit reinziehen?«

»Die würden ja nur für die Verbreitung sorgen«, beharrte Till. »Auf die dazugehörige Story würden sie sowieso nicht reinfallen, die meisten sind dafür viel zu wach im Kopf.«

»Vielleicht nicht direkt vor einer Schule, aber in der Nähe?«, überlegte Darya. Sie scrollte durch die Fotos auf ihrem Handy. »Wir stehen im Moment bei fünfzehn neuen Graffiti. Gar nicht schlecht, finde ich.«

»Und gleich kommen noch ein bis zwei dazu«, sagte Till, der eifrig auf Google Maps herumsuchte. Die Schule, die er schließlich ansteuerte, erreichten sie in knapp zehn Minuten. Sie befand sich in einer Sackgasse, das Gelände selbst war eingezäunt und versperrt, aber ein paar Meter vom Eingang entfernt befand sich eine Bushaltestelle.

Till parkte das Auto eine Straße weiter und blieb als Wache bei der Einfahrt zur Sackgasse stehen, während Darya und Benny das Häuschen der Haltestelle in Augenschein nahmen.

Es war bereits von oben bis unten beschmiert, die wartenden Schüler hatten sich auf alle erdenklichen Arten an den Blechwänden verewigt. Darya schüttelte die Spraydose. »Wir machen wieder schwarzen Untergrund und silbrigen Doppelmond, ja?«

»Ja.« Benny stieg der charakteristische Lackgeruch in die Nase, als Darya zu arbeiten begann. Er blickte sich um. Es gab in Sichtweite auch Wohnhäuser, doch hinter keinem der Fenster brannte Licht. Trotzdem hatte er das Gefühl, sie sprachen zu laut. Machten zu viel Lärm.

»So, jetzt die Schablone«, sagte Darya.

Benny drückte sie auf die schwarze Fläche, die noch klebrig war. Darya öffnete den Silberspray und legte los. Das Zeichen glitzerte im Licht der Straßenlaterne.

»Fertig«, rief Benny gedämpft in Tills Richtung, während Darya ihn schon zurück zum Auto zog. Sie waren kaum eingestiegen, als ein Mann mit einem Schäferhund an der Leine in die Straße einbog.

Er hatte sie vermutlich nicht gesehen, aber er sah Till, der bei der Bushaltestelle stand und Fotos ihres neuen Werks schoss. Dass der Mann auf ihn zusteuerte, bemerkte er offenbar nicht. Benny ließ das Seitenfenster nach unten, um ihm Zeichen zu geben oder notfalls zu rufen, doch da hatte der Mann ihn schon erreicht.

»Was tun Sie da?«

Sichtlich erschrocken fuhr Till herum und versteckte in einer schuldbewussten Geste das Telefon hinter dem Rücken. »Ich – wieso? Nichts.«

»Sie haben doch gerade etwas auf das Wartehäuschen geschmiert.« Er tippte mit dem Finger auf das Zeichen. »Färbt ja sogar noch ab. Das ist Vandalismus, wissen Sie das?«

Mit einem schnellen Griff hatte Till das Handy in die hintere Hosentasche gesteckt und zeigte nun seine Hände, leer. »Womit soll ich das denn gemacht haben, Ihrer Meinung nach?«

Der Hund winselte und zog an der Leine, doch der Mann war noch nicht bereit, sich zu verziehen. Misstrauisch beäugte er den Mülleimer neben dem Häuschen. »Dann haben Sie die Beweisstücke eben schon verschwinden lassen.« Er klang nicht mehr ganz so anklagend wie zuvor, und Benny entspannte sich. Hätte er Till zu Hilfe eilen müssen, wäre beim Anblick seiner lackverklebten Finger alles klar gewesen.

»Was soll das überhaupt sein?« Der Mann zog den Reißverschluss seiner Jacke höher. »Irgendwelche Kreise? Oder Buchstaben? OC? Ist das eine Abkürzung?«

Benny sah, wie Till den Rücken straffte. »Sie kennen das nicht?«, fragte er.

»Nein. Wieso, sollte ich?«

»Kommt darauf an.« Till legte jede Menge Gewicht und Überlegenheit in seine Stimme. »Aber wenn Sie es nicht kennen … wenn Sie nicht wissen, was es bedeutet, darf ich es Ihnen nicht verraten.«

Till war in die andere Richtung davongegangen und erst zum Auto zurückgekehrt, als der Mann verschwunden und die Luft wieder rein gewesen war. »Boah, mich hat vorhin fast der Schlag getroffen, als der Typ mit seinem Hund plötzlich aufgetaucht ist«, ächzte er, als sie auf die Hauptstraße einbogen.

»Aber deine Reaktion war so cool.« Voller Anerkennung tätschelte Darya Tills Arm. »Wenn Sie nicht wissen, was es bedeutet, darf ich es Ihnen nicht verraten. Perfekt, echt! Du bist ja dann gegangen und hast es nicht mehr gesehen, aber der Kerl hat ein paar Fotos geschossen, dem lassen deine Bemerkungen sicher keine Ruhe mehr.«

Till lachte auf. »Glaubst du?«

»Na sicher. Der hat völlig gebannt auf die Ringe gestarrt und dann auf sein Handy – er hat nicht einmal mich und Benny im Auto sitzen gesehen, obwohl er direkt an uns vorbeigelaufen ist.« Sie strahlte Till an, und Benny blickte auf die Gummimatte zu seinen Füßen.

Später, nachdem sie noch weitere zehn Zeichen gesprayt hatten und in die WG zurückgekehrt waren, servierte er Darya einen Cappuccino mit dem schönsten Milchschaum-Einhorn, das er je zustande gebracht hatte, doch das entlockte ihr nicht halb so viel Bewunderung wie zuvor Tills Schlagfertigkeit.

Der Hashtag, der sich am Montagmorgen durchsetzte, lautete #Oc. Als Benny gähnend aus seinem Zimmer kam, saß Liv schon am Küchentisch. Sie hatte ihr Notebook vor sich, gleichzeitig das Smartphone in der Hand und scrollte durch die Social Media. Als sie Benny sah, pustete sie gut gelaunt den Dampf von ihrem Tee in seine Richtung. »Achtzehn Fotos habe ich bisher auf Instagram gefunden. Ein Mädchen hat auf seinem Schulweg drei fotografiert – eines bei der U-Bahn, eines auf einem Fußgängerübergang und eines auf einer Plakatwand vor der Schule.« Sie drückte Benny ihr Telefon in die Hand. Zwei der Orte glaubte er wiederzuerkennen.

Weiß jemand, was das sein soll?, stand unter dem Posting. Habe heute auf dem Schulweg drei davon gesehen, die sind alle neu. @rikky_sally sind sie auch schon aufgefallen, aber wir haben keine Ahnung, was sie bedeuten. Ihr vielleicht? Anyone? #signs #komischesgraffito #Oc

»Na, immerhin hat jemand etwas bemerkt.« Lächelnd gab Benny Liv das Handy zurück. Sie nahm einen Schluck von ihrem Tee und begann, blitzschnell auf der Tastatur des Notebooks herumzutippen.

Benny tappte zum Kühlschrank. »Gießt du Öl ins Feuer? Gibt’s schon erste Verschwörungstheoretiker, die du auf den Arm nehmen kannst?«

»Nein, ich lege eine Tabelle an, mit allen Erwähnungen und den dazugehörigen Texten. Ich will außerdem dokumentieren, wo die Zeichen am ehesten auffallen und am häufigsten fotografiert werden.«

Na, da nahm jemand sein Studium ja richtig ernst. Benny durchforstete den Kühlschrank, das Ergebnis war deprimierend. Zwei Becher Joghurt mit Ablaufdatum vom letzten Monat, ein angebrochenes Glas Himbeermarmelade und ein Restchen Butter. Wer war mit Einkaufen dran, er selbst etwa?

Das bisschen Brot, das er auf der Anrichte fand, war so hart, dass er es kaum durch die Schneidemaschine brachte, aber es war besser als nichts. Er bestrich es mit Butter und Marmelade, bevor er sich zu Liv setzte. »Hat schon irgendjemand eine Theorie aufgestellt?«

»Nein. Bisher sind alle bloß ratlos und neugierig. Jemand meint, das Zeichen erinnert ihn an gesprengte Ketten, da hat er nicht ganz unrecht. Außerdem habe ich etwas Cooles auf Instagram gefunden!« Sie wechselte auf die entsprechende App, suchte ein wenig herum und hielt wieder Benny das Handy hin.

Jemand namens Cheri_Reich hatte ein Foto gepostet, von dem Haltestellenhäuschen, das er und Darya bearbeitet hatten.

Bei unserer Schule, stand dabei. Keine Ahnung, was es darstellen soll, aber mein Dad war nachts mit Schlumpf unterwegs und hat gesehen, wie jemand um diese Bemalung herumgeschlichen ist.

Er hat gefragt, was das Zeichen bedeutet, aber der andere hat voll auf geheimnisvoll getan. »Wenn Sie es nicht wissen, darf ich es Ihnen nicht verraten.« Total schräg. Lässt Dad keine Ruhe. Weiß die Schwarmintelligenz mehr?

Die Schwarmintelligenz hatte keine Ahnung, wie die Kommentare unter dem Thread bezeugten. Klingt geheimnisvoll, klingt spooky, nein leider – kein Plan, was das sein soll. Mehr Ausbeute hatte Cheri nicht vorzuweisen.

»Denkst du auch, was ich denke?«, fragte Liv, genüsslich lächelnd.

»Wahrscheinlich nicht. Was denkst du?«

»Dass dieser Thread der perfekte Ort ist, um einen ersten Köder auszuwerfen.« Sie loggte sich mit einem neuen Fake-Account ein, den sie selbst angelegt haben musste. WelcometoP3, damit hatte sie es immerhin schon auf vierundzwanzig Follower gebracht. Benny warf einen schnellen Blick auf die Postings – es waren alles Bilder. Einmal Sternenhimmel, einmal die unscharfe Aufnahme von weißen Kristallen.

»Zucker«, erklärte Liv auf seinen fragenden Blick hin. »Und das darunter ist die Großaufnahme von ein bisschen Straßenmatsch.«

Das hätte er nie erkannt, es sah einfach wie eine graubraune, schimmernde Masse aus. Welcome to P3. Erst jetzt begriff er den Sinn des Namens: P3, Planet 3, der dritte Planet im Sonnensystem. Liv hatte einen Begrüßungsaccount für die Aliens eingerichtet, das war ja nett. Der Text zu beiden Bildern lautete: Nicht mehr lange. Not much longer.

»Aha«, sagte Benny. »Sehr mysteriös.«

Liv grinste übertrieben breit und rief wieder Cheris Beitrag auf. Er hat gefragt, was das Zeichen bedeutet, aber der andere hat voll auf geheimnisvoll getan. »Wenn Sie es nicht wissen, darf ich es Ihnen nicht verraten.«

Sie dachte kurz nach, dann begann sie zu tippen:

Wer es kennen soll, der kennt es. Für euch andere ist es ohne Bedeutung. Sag deinem Vater, er soll sich nicht weiter darum kümmern.

Sie tippte auf Senden und legte das Smartphone auf den Tisch. »Du wirst dir an deinem Frühstück die Zähne ausbeißen, Benjamin. Geh doch besser einkaufen. Und bring Pudding mit.«

4

Am Nachmittag hatte Livs WelcometoP3-Fake-Account auf Twitter bereits hundertzweiundreißig Follower, die alle neugierige Fragen stellten. Sie selbst war niemandem zurückgefolgt und hatte sämtliche Fragen unkommentiert gelassen.

Dafür hatte sie wieder ein Foto gepostet: zwei Wachstropfen auf der Tischplatte, darunter der gleiche Text wie bei den anderen Bildern: Nicht mehr lange. Not much longer.

Die neuen Follower reagierten teils verwirrt, teils spöttisch. Soll das Kunst sein?, fragte einer.

Nö, das kann weg, schrieb jemand anders darunter und fügte einen Kotzsmiley an.

War vielleicht ein guter Zeitpunkt, um sich selbst mit ins Spiel zu bringen. Benny fotografierte einen Sprung im Holz des Fensterrahmens, wählte einen seiner neuen Accounts aus – mordreds_engel, zwölf Follower – und überlegte ein paar Minuten, bevor er zu schreiben begann.

Wir sind bereit. Wir warten. #Oc #P3

Er tippte auf Senden und bereute es im nächsten Moment. Das war ja total lächerlich. Wir warten, na klar.

Andererseits waren lächerliche Formulierungen unter Umständen genau richtig, um die passenden Leute anzulocken. Würde er ja bald sehen. Wenn überhaupt jemand auf seine kryptische Andeutung reagierte.

Er zog sich in sein Zimmer zurück, stellte das Handy lautlos und überlegte sich, welchen Monolog er heute üben sollte. Der von Mordred aus »Merlin« von Tankred Dorst saß noch am wenigsten gut. Es war ein starker Text, aber es nahm Benny jedes Mal mit, wenn er ihn sprach. Trotzdem wollte er ihn nicht austauschen, auch wenn er nicht sagen konnte, warum.

Er stellte sich in die Mitte des Zimmers, die Fäuste geballt, den Blick zu Boden gerichtet. »Engel! Hast du meinen Namen gerufen? Ich habe deine Stimme nicht gehört.« Er schluckte, hob den Kopf. »Ich habe deine Flügel nicht rauschen hören. Bist du da?« Engel, wiederholte sein Hirn, und da war es, das Bild des blutig verschmierten Gesichts. Er griff sich an den Kopf, sank auf die Knie. »Ruht dein Auge auf mir – ich spüre es nicht in meinem Rücken brennen! Ich müsste es doch spüren wie eine brennende Wunde!« Die letzten Worte hatte er herausgeschrien, aber nun fiel ihm die nächste Zeile nicht ein. Kälte, es war irgendetwas mit Kälte. »Oder … bist du die Kälte, die … die –«

Mich überfällt? Über mich kommt? Er wusste es nicht mehr. Schwerfällig stand er auf, ging die drei Schritte bis zum Bett und ließ sich auf die Matratze fallen. Ob Darya schon begonnen hatte, die Verschwörung mit anzuheizen? Sie hatte sich heute noch nicht gemeldet, zumindest nicht bei ihm.

Er griff nach dem Handy, öffnete Instagram – und sah voller Erstaunen, dass es drei Antworten auf sein Posting gab.

Ihr seid bereit? Wozu seid ihr bereit? Und wer seid überhaupt IHR?, schrieb eine Tanja, die statt ihrem eigenen Gesicht ein Katzenfoto als Profilbild hatte.

Kannst du vielleicht Klartext reden?, schrieb ein anderer. WTF ist #Oc?

Ich hasse diese Art von Wichtigtuerei, lautete die dritte Antwort. Aber es gibt genug Idioten, die so einen Schwachsinn liken.

Das stimmte, wie Benny feststellte. Dreiundachtzig Likes für das Foto eines Holzrisses und dreißig neue Follower, die fast alle in den letzten Stunden Fotos des Doppelmonds gepostet hatten, weil er ihnen in der Stadt mehrfach untergekommen war. Was bedeutet das?, lautete die häufigste Frage unter diesen Bildern. Aber niemand wirkte beunruhigt oder bohrte großartig nach, es war eher so, als wollten die Leute nicht aus Versehen einen Trend verpassen.

Und dann, unter einem der Postings, hatte eine lisa_aigner1212 geantwortet – dieses Profil hatte Benny selbst eingerichtet, für Darya. Er klickte auf ihr Profil. Sie hatte ein Foto gepostet, von einer der Plakatwände, die sie gemeinsam verziert hatten. Der ganze und der halbe Ring, in Silber auf Blau. Das Bild musste sie zusätzlich bearbeitet haben, denn es strahlte eine bedrohliche Düsternis aus.

Begreift ihr jetzt?, hatte sie dazugeschrieben und fünfzehnfach missmutiges Unverständnis geerntet. mordreds_engel verfasste die sechzehnte Antwort: Natürlich begreifen wir. Es dauert nicht mehr lange. #Oc

Er lehnte sich zurück, viel entspannter als zuvor. Das Projekt nahm Fahrt auf, und es begann Spaß zu machen.

Es entwickelte sich sogar viel schneller, als er zu hoffen gewagt hätte. Am Abend stürzte Liv aus ihrem Zimmer in die Küche und hielt Benny ihr Notebook unter die Nase. »Da! Siehst du? Jetzt schau doch, siehst du das?«

Sie hatte Facebook geöffnet und deutete auf ein Foto, gepostet von jemandem namens Jan Brocher. Das Zeichen, in Grün auf eine rote Backsteinwand gesprayt. Allerdings ohne Schablone und deshalb relativ unregelmäßig, aber es waren ganz klar die beiden Ringe.

Dazugeschrieben hatte Jan Brocher nichts, außer #oc und #Hamburg.

»Ist das nicht großartig? Hamburg ist tausend Kilometer entfernt, aber es gibt schon Nachahmer dort.« Liv legte das Notebook auf den Tisch, öffnete eine Online-Europakarte und setzte ein virtuelles rotes Fähnchen in die Mitte der Stadt.

Benny, der gerade eine seiner Jumbo-Tassen mit Apfeltee gefüllt hatte, blickte ihr über die Schulter, ein wenig missgestimmt, weil ihr Zeichen nun doch als Buchstaben interpretiert wurde. »Da ahmt uns jemand nach, ohne überhaupt zu wissen, wofür das Symbol steht? Wir haben noch nicht einmal etwas angedeutet, nur geheimnisvoll herumgeschwurbelt.«

»Ja, ist das nicht faszinierend?« Liv strahlte ihn an. »Aber du hast recht, wir müssen jetzt anfangen, ein bisschen konkreter zu werden, sonst ist das Interesse bald futsch.« Sie winkte Nando heran, der gerade mit zwei Einkaufstaschen zur Tür hereinkam. »Schau, ist das nicht toll? Wir sind in Hamburg gelandet.«

Am nächsten Tag landeten sie in Innsbruck, Stuttgart, Leipzig und – Liv explodierte beinahe vor Begeisterung – Zürich. »Das dritte Land!« Sie setzte ein neues Fähnchen auf ihre Europakarte und betrachtete sie voller Stolz.

Darya war am späten Nachmittag mit Pizzaschnitten vorbeigekommen, und auch Till hatte sich angekündigt. Sie saß neben Benny auf der Couch und scrollte abwechselnd durch Facebook und Instagram, immer auf der Suche nach dem Hashtag. In Hamburg gab es mittlerweile Fotos von fünf Graffiti, kreuz und quer über die Stadt verteilt. Eines der Bilder betrachtete Darya länger; der Sprayer hatte sich wirklich Mühe gegeben. Kurz verharrte ihr Daumen über dem Display, dann begann sie zu tippen.

Gelandet in Hamburg. Wir grüßen dich. #oc #wärmer

»Das ist … ziemlich gut«, sagte Benny, bemüht darum, nicht allzu bewundernd zu klingen. »Unsere ganze Alien-Erderwärmungsverschwörung in einer einzigen Zeile.«

»Ja, nicht wahr?« Man konnte Darya ansehen, wie stolz sie auf ihre Idee war. »So, und jetzt machen wir die Pizza wärmer.«

Till tauchte eine halbe Stunde später auf, bewunderte Livs Fähnchen und deutete auf die Stelle der Karte, wo Salzburg lag. »Von dort gab es heute auch zwei Postings. Da war jemand sehr künstlerisch am Werk. Hat den Doppelmond dreifarbig aufgesprayt, mindestens einen Meter hoch.«

Liv ließ sich die Bilder erst zeigen, bevor sie auch Salzburg markierte. »Wenn ich eine Arbeit darüber schreiben will, muss ich schon genau sein«, erklärte sie.

»Okay, dann solltest du mein Werk auch dokumentieren.« Till öffnete YouTube und startete ein Video. Einen Zusammenschnitt von mindestens dreißig Fotos des Zeichens; die meisten davon waren auf ihren nächtlichen Trips entstanden, aber es waren auch einige Graffiti von Nachahmern dabei. Das Ganze hatte Till mit Herzschlagrhythmus unterlegt, es wirkte dramatisch. Bisher hatten vierhundertzweiundzwanzig Leute das Video gesehen; zwölf hatten ratlose Kommentare hinterlassen.

- Was soll das bitte sein?

- Eine Erklärung dazu wäre nett gewesen.

- OMG, was für ein Bullshit.

- Ich kapier’s nicht? Kann jemand mir sagen, was das bedeuten soll?

In dem Ton ging es weiter. Zufrieden schloss Till die App. »Gut, nicht wahr? Was machen wir als Nächstes?«

Am besten eine Facebook-Gruppe, beschlossen sie, obwohl niemand von ihnen die Plattform noch regelmäßig nutzte. Ihre Eltern und Tanten dagegen schon – und Nando wusste, dass auch Dennis und Sarina sich täglich dort tummelten. »Da haben sie eine große, internationale Esoterik-Community. Ach ja, und Reddit sollten wir auch nicht vernachlässigen.«

Alle Blicke richteten sich auf Benny. »Na komm, du Computerguru.« Darya stupste ihn freundschaftlich in die Seite. »Leg los.«

Er richtete eine öffentliche Facebook-Gruppe mit dem Titel OC – gelandet ein und schickte Einladungen an die Fake-Accounts der ganzen Runde. »Soll ich Dennis auch eine schicken?«

»Besser Sarina«, fand Nando. »Wenn sie anbeißt, schleppt sie ihn sowieso mit.«

Das erste Posting überließen sie Darya, die erneut den richtigen Ton traf:

Ich bin froh, dass wir endlich einen Ort haben, um uns auszutauschen. Wer etwas Neues erfährt, kann es den anderen hier erzählen. Ich fange gleich mal an: Drei neue Sichtungen heute in Wien. Macht ganz den Eindruck, als ginge es los. Ich bin gespannt wie noch nie in meinem Leben.

Dazugestellt hatte sie eines ihrer eigenen Graffiti-Fotos, das aus einer Straßenunterführung am Stadtrand stammte und Düsternis verströmte.

Fünf Minuten später antwortete Liv mit einem ihrer männlichen Fake-Accounts.

- Hallo! Danke an den Admin für die Einladung! Es tut so gut, endlich reden zu können! Habt ihr bemerkt, wie warm es heute wieder war?

– Ja!, schrieb Benny darunter. Es ist fast alles bereit für die Übernahme. Ich habe gestern Nachricht bekommen.

»Übernahme?« Darya hatte ihm beim Tippen über die Schulter gesehen und hob nun erstaunt die Augenbrauen.

»Na ja, die Übernahme des Planeten.« Er blickte in die Runde. »Sonst haben wir ja keine Verschwörung, oder? Wir sind die, die jetzt die Außerirdischen beherbergen. Wie Parasiten, erinnerst du dich? Wir helfen ihnen, den Planeten aufzuheizen, und dafür … kriegen wir von ihnen Macht und Geld.«

»Geld würde mir fürs Erste schon reichen«, warf Nando ein.

Liv zog ihre Unterlippe zwischen die Zähne. »Das Konzept müssen wir noch besser verkaufen. Bis jetzt ist noch keinem klar, wie das mit den Außerirdischen funktioniert, dass es eine Invasion gibt und die Aliens auf der Suche nach menschlichen Wirten sind.« Sie legte die Stirn in Querfalten. »Dafür brauchen wir dann noch einen coolen Begriff – ha!« Sie begann zu schreiben, und Sekunden später sah Benny einen neuen Beitrag im Thread erscheinen.

Ich bin so froh, dass ich euch gefunden habe! Bei mir wurde die Übernahme gestern vollzogen. Ihr müsst keine Angst davor haben, es tut nicht weh. Im Gegenteil. Es ist angenehm, es kribbelt nur ein wenig in den Schultern und im Rücken. #shelter

»Was?« Nando ließ sein Handy sinken. »Wieso denn shelter? Was heißt shelter?«

»Das ist das englische Wort für Unterschlupf«, erklärte Liv. »Ich finde es schöner, wenn wir uns etwas Eigenes einfallen lassen und nicht einfach ›Wirte‹ zu denen sagen, die von einem Alien bewohnt werden.«

Benny fing einen Blick von Nando auf, irgendwo zwischen zweifelnd und unbehaglich. »Wird das nicht langsam ein bisschen zu … schräg?« Nando kratzte sich am Ohr. »Was tun wir, wenn Leute Panik kriegen, weil sie denken, sie sind von Aliens besessen, bloß weil es sie ein bisschen im Nacken kribbelt?«

»Erstens war das deine Idee mit den Parasiten und den menschlichen Wirten. Und zweitens: Das wäre doch genau das, was wir erreichen wollen!« Livs Augen leuchteten auf. »Es reicht, wenn sie es ein paar Wochen lang glauben. Vier oder fünf, das würde mir als Beobachtungszeitraum genügen. Darüber könnte ich sogar meine Doktorarbeit schreiben, wenn es so weit ist.«

»Puh.« Nando kratzte sich nicht nur den Nacken, sondern den ganzen Hals. »Aber treibt das Spiel nicht zu weit; nicht dass jemand ausflippt, Panik kriegt und auf die Idee kommt, an sich herumzuschneiden, um ein Alien herauszuoperieren.«

»Das wird nicht passieren«, beruhigte ihn Liv, aber Benny hatte ganz den Eindruck, dass sie sich im Geiste schon Notizen für ein entsprechendes Kapitel in ihrer Arbeit machte.

»Na gut.« Gähnend schob Nando seinen Stuhl zurück. »Ich gebe dann später noch mein bisschen Senf an dein Posting, jetzt treffe ich mich mit ein paar irdischen Kumpels. Viel Spaß beim Verschwören.«

Doch wie sich herausstellte, war Nandos Mitarbeit gar nicht mehr nötig, als er kurz nach zwölf wieder in der WG eintraf. Die Facebook-Gruppe war in kürzester Zeit auf stolze zweihundertdreißig Mitglieder angewachsen. Viele stumme Mitleser, die wohl einfach neugierig waren oder sich auf Kosten der Gutgläubigen krummlachten. Von Letzteren gab es mehr, als Benny für möglich gehalten hätte. Aufgeregte User aller Altersgruppen, die Mitteilungen über ihre Beobachtungen austauschten.

- Habe heute Mittag zwei Männer mit Hoodies neben einem der Zeichen stehen sehen. Glaubt ihr, ich hätte sie ansprechen sollen?

- Was bedeutet das Zeichen eigentlich? Ist das ein Planet und ein Mond?

- Könnt ihr mir sagen, von welcher Übernahme ihr da redet?

Liv hatte mit Feuereifer und drei verschiedenen Accounts auf die Fragen geantwortet, Till war beinahe ebenso fleißig gewesen, und auch Darya hatte ab und zu einen Kommentar abgegeben.

Im Vergleich dazu hatte Benny sich ziemlich zurückgehalten. War eigentlich nur wegen Darya dabeigeblieben, denn im Grunde hatte er sich den Ablauf ihrer Aktion anders vorgestellt: Sie malten die Zeichen auf, gaben der Sache einen leichten Stups, damit sie ins Rollen kam, und ließen ihr dann freien Lauf. Doch jetzt artete das plötzlich in Arbeit aus, und obwohl der Begriff »Übernahme« von ihm selbst gekommen war, fühlte er sich nicht sehr wohl damit. Sie ließen die Sache nicht laufen, sie steuerten sie in eine Richtung. Sie legten die Leute bewusst rein.