Sherlock Holmes - Neue Fälle 08: Sherlock Holmes jagt Hieronymus Bosch - Martin Barkawitz - E-Book

Sherlock Holmes - Neue Fälle 08: Sherlock Holmes jagt Hieronymus Bosch E-Book

Martin Barkawitz

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Beschreibung

Welche Verbindung besteht zwischen einem mittelalterlichen holländischen Maler wie Hieronymus Bosch und einer unheimlichen Mordserie im London des Jahres 1895? Keine, meint Inspektor Lestrade von Scotland Yard. Doch Sherlock Holmes ist anderer Ansicht. Gemeinsam mit Dr. John Watson ermittelt er in finsteren Opiumhöhlen und einem geheimnisvollen Wasserschloss. Dabei lernt er eine zwielichtige Opernsängerin, einen rätselhaften Gnom und einen heruntergekommenen Engelmacher kennen.

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DIE NEUEN FÄLLE DES MEISTERDETEKTIVS

SHERLOCK HOLMES

In dieser Reihe bereits erschienen:

3001 – Sherlock Holmes und die Zeitmaschine von Ralph E. Vaughan

3002 – Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge von J. J. Preyer

3003 – Sherlock Holmes und die geheimnisvolle Wand von Ronald M. Hahn

3004 – Sherlock Holmes und der Werwolf von Klaus-Peter Walter

3005 – Sherlock Holmes und der Teufel von St. James von J. J. Preyer

3006 – Dr. Watson von Michael Hardwick

3007 – Sherlock Holmes und die Drachenlady von Klaus-Peter Walter (Hrsg.)

3008 – Sherlock Holmes jagt Hieronymus Bosch

Martin Barkawitz

SHERLOCK HOLMES

jagt Hieronymus Bosch

Basierend auf den Charakteren von

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Lektorat: Dr. Richard Werner

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Satz: Winfried Brand

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

Print ISBN: 978-3-89840-394-8 E-Book ISBN: 978-3-95719-207-3

Im Blutkeller

Wenn ein Mann müde an London wird, ist er müde am Leben, denn es gibt in London alles, was das Leben bieten kann. Diese Worte unseres großen Gelehrten und Dichters Samuel Johnson gingen mir durch den Sinn, als ich an einem schönen Frühsommermorgen des Jahres 1895 zur Times griff. Mrs Hudson hatte soeben das Frühstück gebracht, das ich gerne gemeinsam mit meinem besten Freund einnehmen wollte, aber die geschlossene Schlafzimmertür legte die Vermutung nahe, dass mein Mitbewohner noch nicht aufgestanden war.

Mein Blick schweifte durch unseren Salon. Wie üblich hatte Holmes seine Korrespondenz mithilfe eines Taschenmessers am Kaminsims befestigt, und die zerfetzte Tapete sowie der abgebröckelte Verputz zeugten von seinen nachmittäglichen Schießübungen mit dem Revolver. Sein Tabak steckte wie gewohnt in der Spitze eines persischen Pantoffels. An den bestialischen Gestank, der von den Chemikalien meines Gefährten ausging, hatte ich mich sehr schnell wieder gewöhnt.

Nach dem Tod meiner geliebten Gattin Mary war ich wieder in der Baker Street 221B eingezogen, und die gemeinsame Detektivarbeit mit Holmes hatte sich als der beste Balsam für meine wunde Seele erwiesen. Doch nun hatten wir vor Kurzem einen spektakulären Kriminalfall zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht, und ich musste mir eingestehen, dass sich in meinem Inneren bereits eine gewisse Leere breitzumachen begann. Ich ertappte mich schon seit einigen Tagen dabei, dass ich die Morgenzeitung mit der Hoffnung auf ein möglichst abscheuliches Verbrechen aufschlug.

Derartige Gefühlsregungen widersprachen eigentlich den ethischen Grundsätzen, die für mich als Mediziner eine Notwendigkeit und Verpflichtung sein sollten, aber der geneigte Leser wird mir diese Emotionen hoffentlich nachsehen. Die Lebenserfahrung beweist schließlich, dass Kriminalität ein ständiger und unvermeidlicher Begleiter unserer Kultur ist, verweist doch schon der Konflikt zwischen Kain und Abel, den jeder in der Heiligen Schrift nachlesen kann, auf die latent vorhandene dunkle Seite in jedem Menschen.

London jedenfalls – um dem bedeutenden Samuel Johnson auch in dieser Hinsicht recht zu geben – war eine Stadt, in der jedes nur vorstellbare Verbrechen geschehen konnte. Wo viel Licht ist, findet sich auch viel Schatten, wie es so schön heißt. Seit den Zeiten des finsteren Mittelalters waren unsere Straßen nicht unbedingt sicherer geworden. An diesem Tag jedoch, da mein vorliegender Bericht beginnt, war es wie verhext. Gewiss, es hatten sich wieder zahlreiche Schandtaten in der Hauptstadt des britischen Empires ereignet, allerdings handelte es sich offenbar ausschließlich um Schurkereien, die durch einen Inspektor von Scotland Yard oder sogar durch einen einfachen Konstabler im Streifendienst aufgeklärt werden konnten. Vom Handtaschendiebstahl bis zur Wirtshausrauferei, von der Falschmünzerei bis zum Mädchenhandel fanden sich zahlreiche Meldungen über verbrecherische Umtriebe, doch zu meinem größten Missfallen war keine dieser Untaten dazu geeignet, den Intellekt und die Phantasie der Scotland-Yard-Beamten zu überfordern.

„Nicht Kunst und Wissenschaft allein, Geduld will bei dem Werke sein. Dieses Goethe-Zitat sollten Sie sich zu Herzen nehmen, mein lieber Watson.“

Ich zuckte zusammen, als ich Sherlock Holmes’ Stimme vernahm. Mein Freund hatte lautlos seine Schlafzimmertür geöffnet und war ebenso geräuschlos in unseren Salon getreten. Er war bereits komplett bekleidet, lediglich anstelle des Gehrocks trug er noch einen bequemen samtenen Schnürrock, der als Hausjacke Verwendung fand.

Natürlich wusste ich als gebildeter britischer Gentleman, wer der von Holmes erwähnte deutsche Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe gewesen war, doch mich trieb vielmehr die Frage um, auf welche Weise mein Freund meine Ungeduld bemerkt hatte. Konnte man in meinem Gesicht wirklich lesen wie in einem offenen Buch?

Da ich nach mehreren Jahren an der Seite des Meisterdetektivs inzwischen mit seiner Deduktionsmethode vertraut war, sagte ich: „Sie haben bemerkt, dass ich die Seite mit den Polizeiberichten aufgeschlagen habe, nicht wahr, Holmes?“

Er nickte lächelnd und trat näher. Zuvor hatte der Abstand zwischen uns noch ungefähr acht Fuß betragen. Für einen scharfäugigen Mann wie Holmes war es trotzdem ein Leichtes gewesen zu erkennen, auf welcher Seite ich meine Zeitungslektüre unterbrochen hatte. „Elementar, Watson. Außerdem wechselte ihr gereizter Blick mehrmals zwischen der aufgeschlagenen Zeitungsseite und dem Regal mit Ihren Aufzeichnungen über unsere Kriminalfälle hin und her. Berücksichtigt man außerdem, dass Sie grundsätzlich ein sehr ausgeglichener Mensch sind, so muss man kein Hellseher sein, um Ihre Ungeduld zu erkennen. Aber ich kann Sie beruhigen, mein Freund. Der verwitwete Schuhmachermeister dort auf der Baker Street will garantiert zu uns. Ein neuer Fall rückt also in greifbare Nähe.“

Holmes hatte die Stores ein wenig zur Seite geschoben, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Bevor ich mich aus meinem Sessel erheben und mich zu ihm gesellen konnte, waren unten im Haus und auf der Treppe bereits Geräusche und Stimmen zu hören. Gleich darauf klopfte Mrs Hudson an unserer Wohnzimmertür, um einen Besucher zu melden, und der Mann, den Holmes unten auf der Straße erblickt hatte, trat ein.

Man musste kein Meisterdetektiv sein, um zu erkennen, dass der Ärmste in Trauer war. Die schwarze Armbinde an seinem Tweed-Jackett war nicht zu übersehen. Doch wie hatte Holmes herausgefunden, dass er seine Gattin und nicht etwa ein Kind oder einen Elternteil verloren hatte? Ich schätzte den Besucher auf Mitte fünfzig. Als Mediziner wusste ich natürlich, dass die Lebenserwartung eines Mannes nur rund sechzig Jahre betrug, zumal wenn er aus der Arbeiterschicht stammte, was bei diesem Trauernden offenbar der Fall war. Es war also eher unwahrscheinlich, dass seine Eltern noch am Leben beziehungsweise erst vor Kurzem verstorben waren. Und ein totes Kind? Hätte er wirklich den Verlust eines Sohns oder einer Tochter zu beklagen gehabt, dann würde er wohl seine Frau mit zu uns genommen haben. Also konnte nur seine Gattin verstorben sein, und zwar nicht auf natürliche Weise, sonst hätte er wohl nicht Holmes aufgesucht.

Insgeheim war ich stolz auf meine eigene kleine Schlussfolgerung. Aber woran hatte mein Freund erkannt, dass es sich bei unserem Besucher um einen Schuhmachermeister handelte?

„Ich bin Tobias Merrick.“ Die Stimme des Mannes hatte den unverkennbaren Cockney-Akzent der Londoner Unterschicht, außerdem klang sie rau wie eine Sturmbö über dem Ärmelkanal. Ob der Schmerz Merricks Stimme diese Färbung gab oder ob er üblicherweise so redete, konnte ich natürlich noch nicht beurteilen.

„Un’ wer von den Gentlemen ist Mister Sherlock Holmes?“, fuhr er fort.

Merrick hörte sich wirklich so an wie ein Arbeiter, der versuchte, mit höhergestellten Personen Queens English zu reden. Es klappte mehr oder weniger gut. Offenbar war der Trauernde es gewohnt, mit Gentlemen zu verkehren. Auch diese Tatsache passte zu Holmes’ Vermutung, einen Schuhmachermeister vor sich zu haben.

Unwillkürlich senkte ich meinen Blick hinunter zur Fußbekleidung unseres Besuchers. Merrick trug erstklassige Zugstiefel aus Büffelleder, die er vermutlich selbst angefertigt hatte. Sein Anzug hingegen war leicht abgetragen und von einem findigen Schneider mehrmals aufgebessert worden. Kein Gentleman hätte sich in dieser Kleidung zu einem Besuch begeben, schon gar nicht ohne eine eigene Visitenkarte.

Die Riesenhände, die aus den Ärmeln ragten, gehörten einem Mann, der im Schweiße seines Angesichts sein Brot verdiente. Zahlreiche kleine Narben und Verfärbungen zeugten davon, dass Merrick sein ganzes Leben lang Bekanntschaft mit Zwickzangen, Täckshebern, Spitzknochen und anderem Schusterwerkzeug gemacht hatte. Andererseits war sein Teint bleich, er konnte also nicht unter freiem Himmel arbeiten, sondern schuftete wahrscheinlich im spärlichen Licht einer Schusterkugel. Merrick blinzelte unaufhörlich. Vermutlich war er kurzsichtig, besaß aber keine Brille.

Während mir diese Beobachtungen durch den Kopf gingen, hatte Holmes sich selbst und auch mich vorgestellt und dem Besucher einen Platz angeboten. Merrick nahm dankend an, setzte sich aber nur auf die äußerste Kante eines Lehnstuhls.

„Sehr freundlich, Mister Holmes, aber ich wär’ Ihnen dankbar, wenn Se gleich mit mir kommen könnten. Meine Frau … sie wurde von irgend so ’nem Lumpenhund massakriert!“

„Haben Sie bereits die Polizei verständigt, guter Mann?“

Merrick quittierte Holmes’ fürsorgliche Bemerkung mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Die Bobbys sind schon vor Ort, aber diese Plattfüße haben doch keine Ahnung. Ich bin ein ehrlicher Handwerker, Mister Holmes. Ich erkenn’ sofort, wenn jemand seine Arbeit versteht. Oder eben auch nicht. Und dieser Inspektor Lestrade ist ein Holzkopf, mein’ ich.“

Obwohl Holmes ein Meister der Selbstbeherrschung ist, glaubte ich in seinem mageren asketischen Gesicht den Anflug eines unterdrückten Lächelns zu erkennen. Ich selbst würde nicht so weit gehen, den rattengesichtigen Scotland-Yard-Beamten als nicht intelligent zu bezeichnen. Aber Lestrade fehlten bedauerlicherweise sowohl der Weitblick als auch die Kombinationsgabe, die für den Meisterdetektiv so signifikant waren.

Holmes stand auf und schenkte unserem Besucher höchstpersönlich einen Brandy ein.

„Ich verstehe Ihre Unruhe und Ihren Kummer, Mister Merrick. Trotzdem schlage ich vor, dass Sie mir zunächst die Fakten präsentieren, bevor wir gemeinsam zum Leichenfundort fahren. Die sterblichen Überreste Ihrer Gattin wurden doch bereits gefunden, nicht wahr?“

Merrick stürzte den Brandy hinunter und schaute meinen Freund überrascht an. „Stimmt, Mister Holmes. Woher wissen Sie?“

„Das habe ich geschlussfolgert. Sie sind ein Mann, der es zu bescheidenem Wohlstand gebracht hat, das sehe ich Ihrer Kleidung an. Sie war einst teuer, wurde aber immer wieder aufgebessert. Wer so handelt, ist sparsam, und das ist üblicherweise eine Grundvoraussetzung zur Vermehrung des Besitzes. Außerdem greifen Sie immer noch selbst zum Schusterhammer, obwohl einige Gesellen und Lehrlinge bei Ihnen in Lohn und Brot stehen. Also ist es für einen Mann wie Sie unvorstellbar, an einem Dienstagvormittag nicht in der Werkstatt zu arbeiten, es sei denn, etwas Furchtbares ist geschehen.“

„Das stimmt, Mister Holmes. Und woher wissen Se, dass ich Schuster bin?“

„Das tut jetzt nichts zur Sache, Mister Merrick. Erzählen Sie uns bitte, was heute geschehen ist.“

Merrick kniff seine hellen Augen noch stärker zusammen. Ich dachte schon, seine Gefühle würden ihn übermannen, aber er gehörte offenbar zu den Naturen, die auch größte Trauer und Bestürzung mit trockenen Augen überstehen können. Vielleicht half ihm ja Holmes’ ruhige und konzentrierte Art dabei, sich zu beherrschen.

„Das ist schnell erzählt, Mister Holmes. Ich hab’ heut’ Morgen um sieben Uhr in der Werkstatt angefangen, zusammen mit meinen Gesellen Tom und Mike. Meine Frau wollte zur Charterhouse Street gehen, zum Wochenmarkt.“

„Richtig, der Smithfield Wochenmarkt findet dort immer dienstags statt. Wo befindet sich Ihr Wohn- und Arbeitshaus, Mister Merrick?“

„In der Clerkenwell Road. Es sind keine zehn Minuten von dort bis zum Wochenmarkt.“

„Zweifellos. Was geschah dann?“

„Nichts. Das heißt, meine Männer und ich haben in der Werkstatt gearbeitet. Plötzlich kam ein Peeler hereingestürzt, ohne anzuklopfen, und …“

„Sie meinen einen uniformierten Polizisten“, vergewisserte sich Holmes. Er wusste natürlich auch, dass die Beamten in den unteren Volksschichten gern mit dem Spitznamen Peeler bedacht werden, in Anspielung auf Sir Robert Peel, den Begründer der Metropolitan Police.

Der Schuhmachermeister nickte betrübt. Meine ärztliche Erfahrung sagte mir, dass dieser Mann unter Schock stand. Momentan konnte er noch funktionieren wie einer dieser neumodischen Automaten. Erst später würde er den Verlust seiner Gattin richtig realisieren. Und Merrick war offenbar ein Mann der Tat. Deshalb hatte er meinen Freund aufgesucht, um die Aufklärung des Verbrechens aus eigener Initiative voranzutreiben. Aber was genau war eigentlich geschehen?

Merricks raue Stimme riss mich aus meinen Grübeleien. „Der Peeler erklärte uns, mit meiner Frau wäre ein Unglück geschehen. Ich sollte gleich mit ihm kommen. Natürlich löcherte ich den Kerl, aber er wollte nicht mit der Sprache herausrücken. Er wirkte auf mich wie eine lebende Leiche, bleich und schweißnass.“

„Interessant“, bemerkte Holmes und stopfte seine Bruyère-Pfeife. „Sie sind ein guter Beobachter, Mister Merrick. Fahren Sie bitte fort.“

„Natürlich wollte ich wissen, was passiert war, also ging ich mit ihm raus. Draußen wartete eine Polizeikutsche. Sie brachte uns zum Bloomsbury Hotel.“

„Das ist in Holborn, ziemlich weit vom Smithfield Wochenmarkt entfernt.“

„Richtig, Mister Holmes. Jedenfalls brachte mich der Peeler dort in den Weinkeller, wo ich Inspektor Lestrade kennenlernte. Und ich sah Harriett … zumindest das, was von ihr noch übrig war.“ Der Schuhmachermeister presste die Lippen aufeinander, um seiner inneren Qualen Herr zu werden. Seine Augen begannen feucht zu schimmern. Es war für mich offensichtlich, dass ihm der Anblick seiner ermordeten Gattin schwer zugesetzt hatte. Mir lag die Frage auf der Zunge, auf welche Art und Weise Harriett Merrick denn ums Leben gekommen war, aber ich wollte mich nicht einmischen, solange ich nicht nach meiner Meinung gefragt wurde. Schließlich war es ja Sherlock Holmes und nicht ich, an den sich der brave Schuhmachermeister mit seinem Hilfeersuchen gewandt hatte.

Mein Freund schlug entschlossen mit der flachen Hand auf die Sessellehne, legte seine Pfeife zur Seite und erhob sich. „Ich werde mir am besten selbst einen ersten Eindruck verschaffen. Würden Sie uns das Vergnügen bereiten, uns zu begleiten, lieber Watson?“

Holmes wartete meine Antwort nicht ab, sondern verschwand schnell in seinem Schlafzimmer. Im Handumdrehen war er wieder da, er hatte seine Hausjacke nur schnell gegen einen schwarzen Gehrock vertauscht. Holmes griff außerdem zu Spazierstock, Handschuhen und Zylinder. Ich folgte seinem Beispiel. Dann eilten wir gemeinsam mit dem bedauernswerten Tobias Merrick die Treppe hinunter.

Schnell fanden wir ein freies Hansom Cab, und nachdem wir in die Droschke gestiegen waren und ich dem Kutscher das Bloomsbury Hotel als Fahrtziel genannt hatte, stellte Holmes unserem zukünftigen Klienten noch eine Frage. „Wie ist es der Polizei überhaupt gelungen, Ihre Gattin zu identifizieren, Mister Merrick? Da sie sich auf dem Weg zum Wochenmarkt befand, führte sie gewiss keine Personalpapiere mit sich.“

„Nein, Mister Holmes, das stimmt. Aber Harriett hatte einen Brief an ihre Schwester dabei, den sie bei der Post aufgeben wollte. Da stand natürlich als Absender unsere Adresse drauf. Deshalb hat der Peeler direkt zu mir gefunden.“

Holmes nickte. Der Blick seiner hellen Augen war in die Ferne gerichtet, und sein schmales Gesicht erinnerte mit seinem meditativen Ausdruck an das eines buddhistischen Meisters. Ich kannte meinen Freund und wusste, dass er sich nun auf die uns bevorstehenden Eindrücke konzentrierte.

Das Bloomsbury Hotel war ein prachtvoller Bau mit stolzen Zinnen und Erkern sowie hohen, gotisch anmutenden Panoramafenstern für die Zimmer der exklusiven Gästeschar. Wir betraten den weitläufigen Beherbergungsbetrieb jedoch nicht durch das repräsentative Portal, sondern von der Hofseite her durch den Lieferanteneingang, wo mehrere Polizeikutschen abgestellt waren. Ein uniformierter Beamter salutierte sofort, als er Holmes erblickte. Der Mann hieß Konstabler Warren und gehörte zu Lestrades Leuten.

„Guten Tag, Konstabler“, grüßte mein Freund und nickte dem Uniformierten zu. „Wo finden wir den Inspektor?“

Warren schluckte schwer, als ob ein Ziegelstein quer in seiner Kehle sitzen würde. „Er ist im … Weinkeller, Mister Holmes.“

Das Antlitz des Polizisten war unnatürlich bleich, während er diese Auskunft gab. Er schien froh zu sein, dem Hotel den Rücken zukehren zu dürfen, aber das war nur meine bescheidene Meinung.

Holmes nickte abermals. Unter seiner Führung betraten wir das labyrinthische Innere des Dienstbotentrakts. Hier sorgten unzählige fleißige Hände dafür, dass es den illustren Gästen aus aller Welt an nichts mangelte. In diesen Kellergewölben unter dem Straßenniveau gab es nur wenige Luftschächte und keinerlei Fenster, daher sorgten zahlreiche fahle Gaslampen dafür, dass trotzdem genügend Helligkeit herrschte.

Mein Freund drehte sich zu unserem Klienten um. „Mister Merrick, Sie müssen sich dem Anblick Ihrer ermordeten Gattin nicht noch einmal aussetzen. Ich ahne bereits, dass er schockierend sein wird.“

„Ich werde es ertragen, Mister Holmes. Für mich ist nur wichtig, dass Sie diese Bestie erwischen, die Harriett das angetan hat.“

Natürlich fragte ich mich innerlich, wie Holmes schon jetzt zu seinem rücksichtsvollen Angebot kam. Noch konnten wir schließlich nicht einmal einen Rockzipfel von der Frauenleiche erblicken. Aber da ich seine Konzentration nicht unnötig stören wollte, versuchte ich, das Rätsel selbst zu lösen. Wenig später wurde es mir klar. Uns schlug ein appetitlicher Weingeruch entgegen, der sich allerdings immer stärker mit penetrantem Blutgestank vermischte, je weiter wir in die steinernen Eingeweide des Hotels vordrangen.

Irgendwann war der Odem von vergossenem Lebenssaft so dominierend, dass auch die feinste Nase selbst den kräftigsten Burgunder nicht mehr wahrgenommen hätte. Und das, obwohl wir nun die großen, bauchigen Weinfässer erblickten. Vor uns lag ein Gewölbe, das Bacchus geweiht war, doch diese Kulisse, die an unbeschwerte Tafelfreuden denken ließ, verblasste angesichts des Grauens mitten im Raum. Nicht Bacchus, sondern Orkus schwang hier sein düsteres Zepter.

An Holmes’ Seite hatte ich ja schon viele Leichen gesehen, und der Blutgestank war mir seit meiner Zeit als Militärarzt in Afghanistan nur allzu sehr vertraut. Dennoch stand ich stumm da und betrachtete kopfschüttelnd das makabre Machwerk. Ich konnte nur ahnen, wie sich Tobias Merrick beim Anblick des blutüberströmten Körpers seiner Frau fühlen musste. Der satanische Täter hatte sich nicht damit begnügt, die Gattin des Schuhmachermeisters einfach zu erstechen, was an sich schon entsetzlich genug gewesen wäre. Der Mörder hatte das Gesicht der Toten mit seinem Messer so bearbeitet, dass ihr Mund zu einem grotesken Grinsen verzerrt war, und ihr einen Nonnenschleier über den Kopf gestülpt, der ihr Haar verdeckte. Und neben der Leiche lag ein junger Birkenbaum, der in einem Weinkeller garantiert fehl am Platz war.

Alle Anwesenden verharrten steif und starr wie einst Lots Weib in der Wüste. Einzig mein Freund umrundete leichtfüßig den leblosen Körper, während er seine Lupe aus der Tasche zog, und beugte sich dann über das Gesicht der Ermordeten, um die Schnittränder des Mördermessers genauer in Augenschein zu nehmen. Erst jetzt bemerkte ich Inspektor Lestrade, der sich einen Ruck gab und aus dem Hintergrund der weitläufigen Kellerei auf uns zukam. Er hatte seine Melone in den Nacken geschoben und sah aus, als ob er sich nicht besonders wohl in seiner Haut fühlen würde, was ich ihm nicht verdenken konnte.

„Mister Holmes, Doktor Watson … seien Sie gegrüßt. Mister Merrick hatte bereits angekündigt, dass er Sie hinzuziehen wollte. Meiner Meinung nach ist das unnötig, aber wenn ein Hinterbliebener alles tun will, um den Mörder seiner Frau zu fassen, dann werde ich ihm keine Steine in den Weg legen. Für mich allerdings ist dieser Fall schon so gut wie gelöst.“

„Was Sie nicht sagen, Inspektor“, entgegnete Holmes. „Und wer ist der Täter?“

Lestrade tat, als ob er die Frage nicht gehört hätte. Stattdessen nahm er Holmes und mich beiseite. Wir steckten die Köpfe zusammen. „Dieser Mord folgt einem gewissen Muster, Gentlemen. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit will ich Ihnen anvertrauen, dass es nicht die erste Tat dieser Art ist.“

Ich erschrak. „Sie meinen also …?“

Lestrade nickte düster. „Es hat bereits zwei weitere vergleichbare Morde gegeben. Die Bluttaten wurden von uns aus ermittlungstaktischen Gründen bis jetzt vor der Presse geheim gehalten.“

Leben imitiert Kunst

Diese Nachricht musste ich erst einmal verdauen.

Holmes hingegen blieb gelassen. „Als Systematiker bin ich es gewohnt, mich zunächst mit einem einzelnen Verbrechen zu befassen. Gestatten Sie mir also, dass ich mir hier im Hotel einen allgemeinen Überblick verschaffe?“

„Tun Sie, was Sie nicht lassen können, Mister Holmes“, erwiderte der Scotland-Yard-Beamte und hob die Schultern. „Meine Konstabler haben schon mit dem Personal und den Gästen gesprochen. Keiner von ihnen kannte das Opfer, und den Täter hat auch niemand gesehen.“

Holmes nickte, doch ich hatte nicht den Eindruck, dass Lestrades Worte zu ihm durchgedrungen wären. Ich wusste aus Erfahrung, dass mein Freund alles ausblendete, was ihn bei der Beurteilung eines Verbrechens irritieren konnte. Er betastete die feuchten Wände, die aus mächtigen Granitquadern bestanden, roch an den einzelnen Weinfässern und deutete schließlich auf eine schmale Tür an der Westseite des Gewölbes. „Auf diesem Weg ist das Opfer in den Keller gebracht worden. Sehen Sie die Kratzer, die seitlich auf den Schuhabsätzen von Misses Merrick zu erkennen sind, Watson? Sie entstanden durch den Kontakt mit diesen grob behauenen Treppenstufen. Die Frau war vermutlich schon tot oder zumindest betäubt, als sie hierher in den Keller geschleift wurde.“

„Die Tür führt auf den Hof hinaus“, brummte Lestrade. „Das haben zumindest die Hotelangestellten ausgesagt.“

„Und diese Information wird sicherlich zutreffen“, sagte Holmes. „Wenn der Innenhof nicht gerade durch Polizeikutschen blockiert ist, dann werden hier allerlei Vorräte und Lebensmittel angeliefert, von lebenden Muscheln bis zu importiertem Parmaschinken. Den Gästen dieses Luxushotels soll es an nichts fehlen. Daher herrscht ein ständiges Kommen und Gehen von Pferdegespannen. Es fällt überhaupt nicht auf, wenn ein Wagen bis vor den Kellereingang fährt. Misses Merrick war eine zierliche Person. Der Mörder hat die Leiche vermutlich in ein Tuch eingeschlagen, und wenn der Täter stark war, konnte er sie sich einfach auf die Schulter laden und hier heruntertragen. Da der Türsturz jedoch sehr niedrig und schmal ist, musste der Verbrecher den Leichnam wieder zu Boden lassen und hinter sich her schleifen. So kamen die Kratzspuren an den Schuhen zustande.“

„Das ist natürlich alles sehr interessant, Mister Holmes“, warf Lestrade ungeduldig ein. „Und was hat die Blutbestie damit bezweckt?“

„Darüber habe ich mir noch kein abschließendes Urteil gebildet“, erwiderte mein Freund reserviert.

„Aber ich!“ Lestrades kleine Knopfaugen leuchteten. „Ich habe ja schon angedeutet, dass es zwei weitere vergleichbare Mordtaten gegeben hat. Für mich steht fest, dass es sich in allen drei Fällen um denselben Täter handelt.“

„Und wie heißt die Kanaille, Inspektor?“

„Das kann ich Ihnen jetzt noch nicht sagen, Mister Holmes. Aber es ist nicht zu leugnen, dass es sich um einen brutalen Geisteskranken handelt. Ich habe noch keinen Zusammenhang zwischen Misses Merrick und den beiden anderen Toten feststellen können. Es gibt keine Logik, nach der dieser Killer vorgeht. Hinzu kommt seine bizarre Veränderung an den toten Körpern. So eine Vorgehensweise kann nur einem kranken Hirn entsprungen sein. Ich werde deshalb meine Ermittlungen auf entlaufene Patienten aus Londoner Irrenanstalten konzentrieren.“

Holmes’ Miene war so undurchdringlich wie die eines amerikanischen Pokerspielers. Selbst ich, der ich mich ohne Übertreibung als den besten Freund und Kenner des Meisterdetektivs bezeichnen darf, hätte nicht sagen können, ob Holmes Lestrades Fahndung für eine Eselei oder für einen brauchbaren Ansatz hielt.

Natürlich ließ es sich auch Holmes nicht nehmen, mit allen infrage kommenden Zeugen im Hotel zu reden, aber in diesem Fall hatte sich Lestrade einmal nicht getäuscht. Keiner von ihnen hatte eine Beobachtung gemacht, die unsere Ermittlungen weiter voranbringen konnte. Merrick verfolgte unsere Bemühungen aus respektvoller Entfernung. Inzwischen waren Helfer vom gerichtsmedizinischen Institut eingetroffen, um die sterblichen Überreste seiner Gattin abzuholen.

Holmes ging zu unserem Klienten hinüber. „Ihre Anwesenheit hier ist nicht weiter nötig, Mister Merrick. Sie haben jetzt gewiss mit der Bestattung zu tun, sobald die Polizei den Körper Ihrer Frau freigegeben hat. Ich übernehme den Fall und verspreche Ihnen, dass ich den Mörder Ihrer Gattin seiner gerechten Strafe zuführen werde.“

Merrick nickte nur und wischte sich mit einem großen Schnupftuch den Schweiß von der Stirn. Er war am Ende seiner Kräfte, das konnte ich als Mediziner ihm deutlich ansehen. Grußlos taumelte er davon.

„Armer Teufel“, murmelte Holmes, als der Schuhmachermeister außer Hörweite war. „Er selbst hat seine Frau nicht getötet, so viel steht für mich fest.“

„Hatten Sie das denn angenommen, Holmes?“, fragte ich verblüfft.

„Anfangs habe ich diese Möglichkeit zumindest nicht ausgeschlossen. Die Tatsache, dass uns Merrick mit der Lösung des Rätsels beauftragt hat, muss nicht zwangsläufig für seine Unschuld sprechen. Aber ich bin sicher, dass unser wackerer Handwerksmeister ein Rechtshänder ist. Der hauptsächliche Tötungsschnitt bei seiner Gattin wurde hingegen mit einer Bewegung ausgeführt, wie sie für einen Linkshänder typisch ist.“ Holmes machte mit seiner linken Hand und einem imaginären Messer eine schneidende Bewegung durch die feuchte und modrige Kellerluft.

Lestrade schüttelte den Kopf. „Falls sich unter den flüchtigen Geisteskranken ein Linkshänder befindet, werde ich an Ihre Worte denken, Mister Holmes.“ Dann lachte der Inspektor meckernd, als ob irgendetwas komisch wäre.

Holmes ließ sich davon nicht irritieren. „Wäre es wohl möglich, einen Blick auf die beiden anderen Mordopfer zu werfen, Inspektor?“

„Selbstverständlich, Mister Holmes. Scotland Yard will sich nicht nachsagen lassen, dass wir einen Amateurdetektiv bei seinen Nachforschungen hindern würden. Es lässt sich ja auch nicht leugnen, dass Sie in der Vergangenheit den einen oder anderen nützlichen Hinweis geben konnten. Doch in diesem Fall bin ich sicher, dass die Spur zu einem gefährlichen Geisteskranken führen wird.“

Holmes war diplomatisch genug, Lestrades Theorie im Raum stehen zu lassen. Schließlich hatte sich ja schon oft genug gezeigt, dass der wackere Inspektor mit seinen Einschätzungen auf dem Holzweg gewesen war.

Ich konnte mir angenehmere Betätigungen vorstellen, als ähnlich schlimm zugerichtete Leichname wie den von Mrs Merrick ansehen zu müssen, doch war diese Bürde zweifellos notwendig, um den schurkischen Täter seiner gerechten Strafe zuführen zu können.

Lestrade erteilte seinen Untergebenen noch einige Befehle, dann stieg er mit Holmes und mir in eine Polizeikutsche, die uns zum gerichtsmedizinischen Institut brachte.

Der Anatomiesaal war mit modernen Gaslampen hell beleuchtet worden. Holmes warf einen unwilligen Blick auf die leblosen Körper, die dort aufgebahrt worden waren. „Ich hätte es vorgezogen, die Opfer am Leichenfundort inspizieren zu können. Und es wäre auch hilfreich gewesen, wenn man sie nicht ihrer Kleider entledigt hätte.“

„Das mag schon sein, Mister Holmes“, entgegnete der Inspektor gespreizt. „Doch beim Auffinden der Mordopfer war uns nicht bewusst, dass den Leichen eine Sonderbehandlung widerfährt.“

Holmes zog zwar unwillig die Augenbrauen zusammen, zeigte aber ansonsten die stoische Ruhe, wie sie einem Gentleman angemessen sein sollte. Lestrade konnte manchmal fürchterlich impertinent sein; gleichwohl musste ich ihm zugestehen, dass er momentan, vermutlich wegen dieser grässlichen Bluttaten, unter einem enormen Druck stand.

Holmes deutete auf den bizarren Toten auf dem rechten Stahltisch. „Konnte die Identität dieses Opfers schon nachgewiesen werden?“

Die Frage war aus meiner Sicht berechtigt, denn der Mörder hatte aus irgendeinem finsteren Grund schwarzes Pech in die Augenhöhlen des Toten gegossen. Der Mund des Verblichenen war weit aufgerissen, sodass ich unwillkürlich an einen Vogel denken musste. Auch das fliehende Kinn und die scharf hervorstehende Nase des Opfers ließen meine Vorstellungskraft in diese Richtung schweifen. Eine weitere Veränderung bestand darin, dass die Haut der Leiche mit blauer Farbe bemalt worden war. Unwillkürlich war ich dazu geneigt, Lestrade recht zu geben. Welcher Mensch, der seine fünf Sinne beisammen hatte, würde einen toten Körper auf diese Weise zurichten? In welchen Mahlstrom an Grausamkeiten war dieses bedauernswerte Individuum nur geraten?

Die Stimme des Inspektors riss mich aus meinen sinisteren Grübeleien. „Das Opfer hieß Charles Rosenbloom. Er war der Inhaber einer kleinen galvanischen Anstalt in der Addington Street. Seine Spezialität war das Versilbern von Tafelgeschirr. Mister Rosenbloom hatte ein Paket bei sich, das eine von ihm galvanisierte Teekanne enthielt. Diese Schlussfolgerung stammt übrigens nicht von mir, sondern von einem meiner Konstabler.“

„Überaus scharfsinnig, Ihr Mitarbeiter“, bemerkte Holmes und beugte sich über die bleiche rechte Hand des Leichnams. „Bimsstein, immer wieder Bimsstein. Zweifellos, dieser Mann hat Gegenstände versilbert, und das seit vielen Jahren.“ Dann zeigte Holmes auf die sterblichen Überreste einer schönen jungen Frau. „Und was ist mit dem bedauernswerten Opfer zu unserer Linken?“

Mir lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, als ich die blutigen Male an Händen und Füßen bemerkte, nachdem ein Assistent das weiße Laken zurückgezogen hatte. Das bisher einzige weibliche Opfer des monströsen Täters war offenbar gekreuzigt worden.

„Meine Konstabler fanden die Tote in einem verlassenen Schuppen im East End. Sie war mit langen Zimmermannsnägeln an die Wand genagelt worden.“

„Sie war nicht nackt, oder?“