Sich mehrende Leben - Zygmunt Wielowiejski - E-Book

Sich mehrende Leben E-Book

Zygmunt Wielowiejski

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Beschreibung

Rascheln Das, was so raschelt, ist Papier im Kopf: das Papiergehirn. Zerknitternde Seiten: handgeschrieben, durchgestrichen, unvollendet. Neu angefangen. Das, was so im Kopf raschelt: die Wörter, auf Papier eingekerkert. Unleserlich, aus dem Kontext herausgerissen, ineinander geschlungen. Das, was so im Kopf raschelt: Gedanken, den Wörtern verkauft. Verraten? Bodenlos, naiv. Hilferufend?

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DEUTSCHER LYRIK VERLAG (DLV)

Zygmunt Wielowiejski

Sich mehrende Leben

Gedichte

deutscher lyrik verlag (dlv)

Vorweggenommen

Neidduell

Seit du bei mir bist,

ist mein Leben voller Neid.

Ah! Wir wollen wissen,

wer weiter schaut,

wer schmückt diesen Tag

mit verführerischsten Geschenken.

Wir hadern zuerst

und sehen trüb,

die Geduld spricht die Wende

und

die Bilder der zeitlich unerforschten

Ferne

formen einen schwarzen Punkt

in der Mitte des Herzens.

Wir wollen wissen,

wer fern bei der Ferne bleibt,

wer zögert

und wer von uns die Welt wird.

Als wir stolpern

ist das nur

eine nervöse Windböe

die in uns herumirrt.

Die Ferne bricht zusammen

und das Duell

besteht aus der Ewigkeit, die

unseren Neid am Leben hält.

Ruhe

Du schluckst die Welt,

das zählt, du machst das

ordentlich, mit all dem

Schmerz, der die Welt

durchnässt. Du magst

der Luft zuerst etwas

vorzukauen und wenn du

die Ereignisse nach deinem

Willen ordnest,

sind wir in Ruhe eingeschlafen.

Kirche an dem Fjordküste

Die Vergänglichkeit

prüft die Wachsamkeit.

In einer Kirche mit

sechs erblindeten Fenstern

küssen sich zwei Engel.

Die Leidenschaft

durchdringt den Sandstein.

Nackte Magie aufblüht,

bei dem Anblick nicken

die meterhohen Brennsesseln.

Tiefe Fjorde schicken einen

rebellischen Wind bis hierher,

das Regentuch erwacht und die

Magie schaut durch die Erde.

Schrei

der Schrei brach wie ein wahrer Schrei aus,

als ich Munch ins Gesicht schrie,

es war nur eine kurze Entkalkung der Gefühle

am Ende der unendlichen Brücke von Avignon.

Male mich nicht, schrie ich, passe …!

Schwarze Lichter in der Rhone

gaben keine Farben wieder,

sie behalten, was sie stahlen

in dem fallend-dunklen Strom.

In dem scheinbar kochenden

Wasser havariertes Geisterschiff,

das die Tage entführte.

Male nicht, zeige deinen Großmut!, schrie ich

am Rande der Verzweiflung.

Sein Pinsel ritzte blutrote Wunden

in der Welt, die so viel gibt: (mit meinen Augen

aber jetzt nicht zu ersehen).

Auf diesem Hang, wo die Zeit sich aus Verzweiflung

in die Tiefe warf, schrie ich: Zeit, was bedeutet

Zeit, wenn die geschlossenen Augen

die Sekunden nicht erkennen!

Verunfallt bin ich hier, in meinen entrindeten Träumen.

In dem Schrei gefangen, werfe ich

in das ausgetrocknete Flussbett

gedrechselte Worte.

Der Tag zerkratzt mir das Gesicht. Und er,

er malte auf allen Brücken der Welt

das Leben.

Premiere

Und wenn die Baumkronen an den niedrig

schleichenden Wolken zupfen,

zupfe ich leicht an deinem Rock.

Kleine Wolkenfetzen bleiben zwischen

den Bäumen wie erschrockene weißgraue

Geister hängen.

– Und wenn ich an deinem Rock zupfe,

zupfst du deine Augenbrauen –

… wir müssen los.

Ohne den Kopf zu bewegen,

richtest du deinen Geisterblick nach unten …

in dem

ich hängen bleibe.

Es ist die Frage der Zeitreichweite, die Frage

des Durchblicks, das die Wolkendecke

durchdringt.

Auf der kleinen Bühne nicht ausgeräumte,

stumpfe Gedanken, verbrauchte Requisiten,

verrutschte Bilder,

zerrissene Fotoerinnerungen.

Verflachte Pause, vom Vorhang zerdrückt.

So braust der Schluss vor sich hin.

Die Lichter dunsten noch,

noch sprechen die Umkleiden.

Die Putzfrau richtet ihren Blick

auf den verspäteten Tubaspieler,

es passiert das Unerwartete.

Zwei Künstler mit starken Fingern

und unser Zeuge am Tatort, der

die vierte Reihe fest im Griff hat

(So sind die Klänge,

wenn der Anfang mit dem Ende flirtet).

Wenn aber in den Gedanken eine Aura entsteht,

werden die Wörter schwer

und bleiben meistens stumm.

Als die Reihenlichter nacheinander auslöschten,

mussten wir uns mit den schönen Gedanken beeilen:

Man kann sie nicht in dieser Viktorianischen Konserve

festhalten.

Wir konsumieren nicht mehr, nervöse Beine

und statt schöner Künste Mopp und Tuba.

Ja, so waren wir einmal auch,

bevor wir angefangen haben

an unseren Herzen zu zupfen.

Gestrickt mit warmer Wolle

Ich schneide mir eine Metapher zurecht,

wenn sicher ist, in welchem Teil des Satzes

ich verweile. Der Raum ist hell und offen.

Vor- und Nachwort strömen mit warmer Wolle

gestrickt. Die Grenzgebiete voran, die

Maskenbälle immer wieder unerforscht.

Ich baue das Gefühl, das der Ingenieur

braucht. Geduld vom Knochen, wenn …

Ich schmiede das WENN.

Mit warmer Wolle gestrickt den Scheitel in mir,

ein guter Rat, in die beiden Richtungen geführt.

Die Fugen eingesetzt, platziert der Kachelofen.

In der warmen Wolle, Gesichter rötlich vom

Kaminfeuer.

Dem Rückgrat steht geschrieben, seit es

aufrecht stehen kann: Platziere deine

Wachen in den Gedankenaufbau.

Es schimmert, und blau ist die Wolle,

die über uns strickt.

Tränen von Libanon

Die Pfütze vom Himmel überfallen,

starr und liegend, … blau getroffen.

Mir sind die Gedanken in die Himmelspfütze

schwimmend entwischt. Sie blödeln und

knistern.

Die Locken vom Gefieder im Sturzflug.

Der Regenbogen schwarz und nur vorüber

dauernd.

Ich bin ein Spross, wenn ich so entzückend

von den Backen tropfe. Ein Spross

der gezackten Vorfahren.

Die Behälter, die wir jetzt aufsammeln sollen,

sind für meinen Vorrat auf die Lebensdauer bestimmt.

Verkalkte Vorahnung und an der Glocke hängend,

wenn die Purpurnächte kommen.

Es wird wieder Blut in die blaue Pfütze tropfen.

An dem Leid der anderen wird gestaunt.

Heidelbeeren

Ich schmecke es mit panzerhaftem Groll,

vollgeschmierte XXL-Taillen, ein Rubikon

der Unfreundlichkeit in mir.

Ach, die leicht gekratzten Luder! … Ich

bleibe in meinem liederlichen Sog durchaus naiv.

Den volllackierten Taillen sage ich: Vollkommen

seid ihr in der Gunst des Hungers.

Die strategisch genormte Sichtlage,

gewollt beleidigend, und das alles bleibt

von einer Welle angeschwemmt.

Was gebe ich euch, ihr perfiden Achsenhaare,

die Hartnäckigkeit den gedämpften Gedanken?

Die Heidelbeeren färben dieses Jahr

besonders bläulich,

es reflektiert in euren blauen Augen.

Aber diese eine Nacht! Ihr verbeißt euch

mit ruhigem Ruck an Fingerspitzen …

Ihr verbüßt diese Nacht so kurvig.

Die Wölfe, deren Vormärsche an den Städteperipherien

ein Signal geben, locken in das Rudel hinein.

Kein Problem, ich bringe meine panzerlose Braut mit.

Verkindert

Die Kinder, die vergaffen sich zum Tode

in allem, was nach Kindheit schmeckt.

Unsere Kinder und die der anderen.

Die Kinder,

die vergriffen …

sind. So viel weiß ich. Weil man sie

melken will, und weil man so denkt,

das denk ich auch.

So höllisch dominant, aber nur wenn

sie die Lust des Spiels wiedergeben.

Die VERKINDERUNG: Womit wir uns

gleichen: die

Miterwachsenen im Sandkasten.

Mit mehreren Fingern gezeigt,

die Sandburgen …

und mehr.

Als die Schwarmgeister kommen, sind wir

dermaßen ungeübt, dass die routinierten

Formationen zu bröckeln beginnen.

Das ist aber notwendig, um den Appetit

auf dominante Unschuld zu stillen.

Eine maskierte Flamme wärmt unsere

VERKINDERUNG, setzt die Wellen in

Bewegung und tropft in uns voran.

Wir haben alte Hände, und den Händen

wird das gerecht: die Müdigkeit.

Wir schaffen also nicht, uns zu transformieren,

eher lesen wir selber eine

Gutenachtgeschichte vorm Einschlafen.

Stockholm

Tönendes Dunkel, man muss sich das

als schwüle Nächte prägen. Einatmen

auf den Stockholmer Gehwegen.

Modedesigner mit glatt-rasierten Beinen.

Der Grundriss der

Vorstellungskraft!

Ich zähle sie alle (vor- und rückwärts),

die Modedesigner mit einem Bart,

als gebe es keine Nachtschwärmer.

Und die Schäfchen, die noch die Bänke

belagern … Nach wie vor auf der Schwelle.

Diese Stockholmer Coolness. Ach, die

Schokoküsse! (die Richtige). Über zehn

oder sogar mehr Brücken schleppt der

tote Wind den Fischstäbchen-Dunst

von den Häfen.

Das ist sogar

(vor Jahren beschrieben)

in einem sauberen Buch mit kaputtem

Buchrücken geblieben.

Aus den fettigen Haaren, das Blond.

Ich nehme das Maß von der ganzen

blondierten Gesellschaft.

Verblaute Augen, durchblond