Siegfried Der Roman - Martin Allwang - E-Book

Siegfried Der Roman E-Book

Martin Allwang

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Beschreibung

Siegfried van Bowdendonk ist ein Junge mit einer Schwäche für Technik und mit einem abgründigen Hass für den Superhelden Galaktoman, der seinen Vater Arnold auf dem Gewissen hat. Als der zwielichtige Doktor von Stackelmann Siegfried das Angebot macht, an der Schule von Darnwolt die Dinge zu lernen, die ein Superschurke wissen muss, denkt der Junge nicht zweimal nach. Zumal seine Mutter Cornelia ein Geheimnis vor ihm zu verbergen sucht. Dass an der Schule die wunderschöne Lisa die Fächer Amoral und Narzissmus unterrichtet, erleichtert die Entscheidung. Und so gerät Siegfried in ein haarsträubendes Abenteuer, das ihn am Ende erwachsen werden lässt.

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Impressum

Siegfried Der Roman

Martin Allwang

Copyright: © 2014 Martin Allwang

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-8442-9430-9

Inhaltsverzeichnis

01. It Ain´t Over Till It´s Over (Lenny Kravitz)

02. Never Wait Or Hesitate (Rod Stewart)

03. We´re not in Kansas anymore (Judy Garland)

04. Step on the Gas and Wipe that Tear away (Beatles)

05. Castles In The Sand (Jimi Hendrix)

06. I Love To Live So Pleasantly, Live This Life of Luxury (Kinks)

07. In The Clearing Stands A Boxer (Simon and Garfunkel)

08. In My Room (Beach Boys)

09. Everybody Was Kung Fu Fighting (Carl Douglas)

10. Out Here in The Woods (My Morning Jacket)

11. Doin´ A Thing Called The Crocodile Rock (Elton John)

12. I´m Driving A Stolen Car (Bruce Springsteen)

13. Get Your Motor Running (Steppenwolf)

14. Never Looked Into a Science Book (Sam Cooke)

15. Some Like It Hot (Marylin Monroe)

16. Here I Am At A Famous School (Frank Zappa)

17. Milk It (Nirvana)

18. The Night Has Darkness On Its Side (Elbow)

19. I Want Muscles (Donna Summer)

20. Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral (Bert Brecht)

21. You and Me, We Toil and Strain (Paul Robeson)

22. If I Had A Hammer (Trini Lopez)

23. Maccheroni, canneloni, peperoni, eccola per me: Zuppa Romana (Schrott nach acht)

24. By the Light of The Night (Tim Curry)

25. Like a Worm on a Hook (Leonard Cohen)

26. Gone fishing (Chris Rea)

27. The Sound of Silence (Simon and Garfunkel)

28. It´s the Eye of the Tiger, It´s the Thrill of the Fight (Survivor)

29. Back in the USSR (Beatles)

30. Before the Deluge (Jackson Browne)

31. You Can´t Resist Her, She´s in Your Bones (Weezer)

32. Father, You Had Me, But I Never Had You (John Lennon)

33. We Are Family (Sister Sledge)

34. When It All Comes Down To Dust, I Will Help You If I Must, I Will Kill You If I Can (Leonard Cohen)

35. She´s the Kind of Girl You Want so Much It Makes You Sorry (Beatles)

36. All Hands on Deck, We Run Afloat (Procul Harum)

37. It´s Been A Long Time, Now I´m Coming Back Home (Beatles)

38. Even Though You Cannot Hear My Voice I´ll Be Right Beside You, Dear (Leona Lewis)

39. It´s so noisy at the Fair, And All Your Friends Are There (Neil Young)

01. It Ain´t Over Till It´s Over (Lenny Kravitz)

Die bleierne Tür zum inneren Bezirk öffnet sich ohne ein Geräusch. Siegfried van Bowdendonk tritt mit selbstzufriedenem Gesichtsausdruck in die mit kaltem Neonlicht erfüllte Sicherheitsschleuse. Routiniert schlüpft er in den Vakuumanzug aus gelbem Gummi. stülpt die Arbeitshandschuhe über seine Hände und prüft, ob der luftdichte Verschluss auch wirklich eingerastet ist. Dann betätigt er den Türöffner auf der anderen Seite der Schleuse und betritt den Korridor des inneren Bezirks. Etwa vierhundert Fuß unter der amerikanischen Erde hat Siegfried seine Labors angelegt, in denen mit allem experimentiert wird, was das Kriegswaffenkontrollgesetz verbietet.

Sofort tritt Kuno, Siegfrieds buckliger Diener, herbei und grüßt seinen Meister mit einer tiefen Verbeugung. „Wie geht es unserem Gast?“ erkundigt sich Siegfried. „Den Umständen entsprechend. Wir haben Galaktoman seiner Superkräfte beraubt und ihn mit Pentothal betäubt. Er hängt gefesselt mit den Füßen nach oben über der Öffnung des Materiedesintegrators. Noch ein paar Minuten und das Narkotikum hört auf zu wirken. Chef, ich will nicht drängeln, aber wir sollten den Kerl so schnell wie möglich materiedesintegrieren.“ Siegfried ignoriert Kunos Worte. Mit triumphierendem Schritt geht er den Korridor entlang auf eine gelb-schwarz gestreifte Tür zu. Er tippt einen Code in das Zahlenschloss neben der Tür, worauf eine sinnliche Frauenstimme „Willkommen“ haucht und die Tür nach oben wegzischt.

Siegfried blickt in eine dreißig Meter hohe Höhle von der Größe eines Fußballfeldes. Der Boden ist mit weißer Keramik ausgelegt, an einigen Stellen zeigen sich schwarze Flecken von Fledermauskot. In der Mitte der Höhle gähnt ein Loch im Boden, aus dem das gelbe Licht des Materiedesintegrators dringt. Die Maschine ist eine von Siegfrieds zahllosen infernalischen Erfindungen. Alles was darin landet, wird in seine Elementarteilchen zerlegt und nach Protonen, Neutronen und Elektronen sortiert gelagert. Über dem Schlund des Materiedesintegrators hängt kopfüber ein Mann von etwa 45 Jahren. Nichts deutet mehr darauf hin, dass es sich um den Superhelden Galaktoman handelt.

Das gelblich grüne Licht, das aus dieser Öffnung dringt, lässt Galaktomans Gesicht ungesund fahl erscheinen. Galaktoman hat sein kobaltblaues Leuchten verloren, weil ihnSiegfried mit Glyptozin abgesprüht hat, der Substanz, die Galaktomans übernatürliche Kräfte zum Verschwinden bringt. Aus dem leuchtenden Schrecken der Unterwelt ist ein kraftloser Mann geworden, der mit einem Hozfällerhemd und Blue Jeans bekleidet ist. Weil Galaktoman kopfüber an der Kette hängt, sind die Beine der Jeans nach unten gerutscht und man erkennt einstmals weiße Puma-Socken, die ebenfalls mit der gelb leuchtenden Flüssigkeit getränkt sind, sodass sie wie vollgepisst aussehen.

Mit triumphierendem Schritt geht Siegfried um seinen gefesselten Erzfeind herum. Obwohl er erst vierzehn Jahre ist,  hat er es geschafft, Galaktoman zu überwältigen. Nach einer Glyptozindusche war von Galaktomans Kräften nichts mehr übrig. Ihn mit einem Pentothalpfeil zu betäuben und dann in der geheimen Grotte aufzuhängen war ein Kinderspiel gewesen.

Lächelnd genießt Siegfried den Anblick des Superhelden, der über dem matt leuchtenden Schlund des Materiedesintegrators baumelt. Noch ist Galaktoman vom Pentothal betäubt. Alles was Siegfried in diesem Moment tun müsste, ist den Knopf zu drücken, der die Kette an der Grottendecke ausklinkt. Dann würde sein Erzfeind  unweigerlich durch das Loch im Boden in den Schlund des Materiedesintegrators fallen. In wenigen Millisekunden hätte die Höllenmaschine den Superhelden in seine Elementarteilchen zerlegt.

Aber irgendetwas hält Siegfried zurück den Schalter zu drücken. Er hört eine Art Sirenengesang in seinem Kopf, der ihn dazu verführt zu warten, bis Galaktoman aufwacht, um dem Superhelden vor seinem Ableben ein für alle Mal die Meinung zu sagen. Als Siegfried van Bowdendonk den hilflosen Galaktoman kopfüber an der Kette hängen sieht, ist er sicher, alle Trümpfe in der Hand zu haben. Diesmal würde es für Galaktoman keine Rettung geben. Diesmal ist endlich Zeit für ein kleines Gespräch. Die Wahrscheinlichkeit, dass Galaktoman Siegfrieds selbstgefälligen Monolog nutzen könnte, um sich zu befreien und den Jungen ins Verderben stürzen, beträgt nicht einmal  eins zu einer Million. Hinzu kommt, dass dies hier die Realität ist und kein vor Unlogik strotzender Superheldenfilm, in dem der Superschurke durch sein Gequatsche am Ende alles vermasselt.

Siegfried schaut auf den hilflosen Superhelden. Es erklingt ein tausendstimmiges „Freude, schöner Götterfunken“  in seinem Kopf. Die Musik wird immer lauter und triumphaler, je länger er Galaktoman betrachtet. Irgendwann findet Siegfried, das Vergnügen, dem arroganten Helden seinen Plan zur Übernahme der Weltherrschaft zu erläutern, sei ein kleines Risiko wert. Und mit jeder Sekunde wird sein Triumphgefühl übermächtiger.

In wenigen Augenblicken würde er dem Superhelden in den Arsch treten, der seinen Vater auf dem Gewissen hatte. Das heißt, es würde gar kein Arsch zum Treten da sein, es würde überhaupt nichts mehr von Galaktoman da sein. Die kosmische Kraft, die in Galaktomans Körper gebündelt war, würde die Startenergie liefern, um den Materiedesintegrator in eine Waffe von unerreichter Vernichtungskraft zu verwandeln.

In diesem Augenblick beginnt Galaktoman zu blinzeln und seine Gesichtsmuskeln zucken wie bei einem Teenager, der sein erstes Drogenexperiment hinter sich hat. Galaktoman hustet und würgt, dann kotzt er seinen Mageninhalt in die Öffnung des Materiedesintegrators. Einen Augenblick später dringt ein Lichtblitz aus der Öffnung im Boden und ein heißer Luftstrom aus der Tiefe stellt Galaktomans Haare auf. „Ich hoffe, du hängst bequem, Galaktoman,“ ruft Siegfried dem Superhelden zu, während er mit großen schnellen Schritten um seinen Gefangenen herumschreitet.

Eine Zeitlang herrscht Schweigen. Dann hört Siegfried Galaktoman sagen: „Hey, das ist doch der Junge mit den Pickeln im Gesicht und den fetten schwarzen Haaren, die so aussehen, als wären sie mit Talg auf den Kopf gepappt. Du hast mir doch immer die Zeitung gebracht.“ Siegfrieds böses Lachen hallt von den Wänden der Grotte wider. „Nachdem ich deine geheime Identität aufgespürt hatte, war alles ein Kinderspiel. In eurer geheimen Identität seid ihr Superhelden so arglos wie Rentner auf einer Kaffeefahrt. Ich frage mich heute, warum ich dir nicht auch noch eine Rheumadecke angedreht habe.“ Mit beträchtlicher Mühe dreht sich Galaktoman um seine Achse, sodass er Siegfried im Auge behält. „Wie hast du mich gefunden?“ will er wissen. „Du ziehst kosmische Energie an. Das erzeugt kleine Anomalien in der Frequenz von Neutrinoeinschlägen in deiner Umgebung. Mit einem Glas Wasser und einem geringfügig manipulierten iphone kann man das messen. Damit findet man dich wie man eine Kerze findet, die auf einem Baumstumpf in einem dunklen Wald brennt. Der Rest war einfach. Einer meiner Männer legte ein Feuer im Nachbarhaus. Die anderen kamen als Feuerwehrleute verkleidet angebraust. In dem Moment, als du vor die Tür tratest, um zu sehen, was los ist, sprühten wir dich mit der Glyptozinlösung ein, die im Tank des Spritzenwagens untergebracht war. Dich mit Pentothal zu betäuben und hierher zu bringen, war danach kinderleicht.“ Siegfried wendet sich von Galaktoman ab und geht auf ein Kontrollbord zu, dass sich wenige Schritte von der Bodenöffnung entfernt befindet. „Entschuldige, aber jetzt muss ich mich sputen, denn wie du sicher weißt, ist Glyptozin photochemisch instabil.“ „Photochemisch instabil?“ fragt Galaktoman mit einer weiteren zuckenden Bewegung. „Oh mein Gott, ihr Superhelden habt ja nicht die blasseste Ahnung von den Naturwissenschaften. Aber warum sollte euch auch eine Natur interessieren, deren Gesetze ihr ständig außer Kraft setzt? Photochemisch instabil bedeutet, dass sich Glyptozin am Licht zersetzt und dabei Schwefelsäure frei wird.“ „Ach, tut es das?“ fragt Galaktoman hämisch und mit einer weiteren Wendung seines Körpers.

Obwohl es ziemlich anstrengend sein muss, sich kopfüber an einer Kette hängend im Kreis zu drehen, lässt der Superheld Siegfried nicht aus den Augen.

„Äh, Siegfried, eine Frage noch, die du mir, so wie ich euch Superschurken kenne, gerne beantworten wirst: Wozu das alles?“ fragt Galaktoman matt. „Der Nebengrund ist, dass du Schweinehund meinen Vater ermordet hast. Errinnerst du dich nicht an Arnold van Bowdendonk?“ „Arnie van Bowdendonk war dein Vater? Junge das tut mir Leid. Aber er war im Begriff die Welt zu zerstören und hatte eine Strahlenwaffe auf mich gerichtet. Wenn ich nicht gewonnen hätte, könnten wir beide jetzt nicht dieses Gespräch führen.“ Ich soll mich bedanken, dass er meinen Vater umgebracht hat, denkt Siegfried. Perverses Schwein. „Auf jeden Fall hast du die Waffe umgepolt, als mein Vater seinen Monolog hielt und dir seinen Plan erklärt hat“, schreit Siegfried. „Du sagst es doch selbst“, erwidert Galaktoman, „ich habe nur in einem unbeobachteten Moment die Waffe umgepolt. Er hat sich selber damit erschossen.“ „Wie dem auch sei, heute wirst du dafür büßen, Galaktoman“. schreit Siegfried außer sich vor Zorn. „Und der Hauptgrund?“ fragt Galaktoman nach einer Pause. Und wieder dreht er seinen Körper unter größter Anstrengung. „Ach ja, der Hauptgrund“, erwidert Siegfried. „Ich brauche die Elementarteilchen, die dein Körper im Laufe der Jahre eingefangen hat, um meine Spezialwaffe zu aktivieren. Du bist eine Art lebendige Batterie. Sobald du dich im Materiedesintegrator in deine Elementarteilchen zersetzt hast, werde ich über die Energie des Kosmos verfügen. Die Russkis werden mir alle Diamanten Sibiriens geben, damit ich ein paar amerikanische Großstädte einäschere. Die Amis werden das Gold in Fort Knox für die umgekehrte Dienstleistung lockermachen. Aber ich scheiße auf das Geld. Ich will die Weltherrschaft und Rache für meinen Papa.“ Siegfried schreit die beiden letzten Sätze so laut, dass die Fledermäuse an der Grottendecke verängstigt aufflattern. Erschrocken schaut er nach oben. Als er gleich darauf wieder zum hängenden Galaktoman schaut, rutscht sein Herz ein Stückchen Richtung Hosenboden. Galaktoman hat die Hände frei, aus der Stahlkette, die seine Hände fesselte, ist ein bräunliches Stück Rost geworden, das im Schlund des Materiedesintegrators verschwindet.

Siegfried könnte sich ohrfeigen, dass er so dumm war zu warten, bis die aus dem Glyptozin entstehende Säure Galaktomans Fesseln verätzt. Mit Entsetzen sieht er, dass auch die Fußfesseln leicht zu rauchen beginnen. Von Galaktomans weißen Pumasocken sind nur noch ein paar löchrige Fetzen übrig, und das Metall seiner Fußfesseln sieht mächtig korrodiert aus. „Kein Grund zur Sorge“, denkt sich Siegfried, Sobald die Säure die Fußfesseln durchgefressen hat, stürzt er in den Materiedesintegrator.“ Noch immer sind die Chancen des Helden schlecht. Er baumelt kopfüber oberhalb des Materiedesintegrators. Doch im selben Moment ertönt ein lauter Knall. Felsbrocken lösen sich krachend von der Grottendecke und fallen nach unten. Dreihundert Meter über der Grotte fallen die Tropfen eines Gewitterregens auf die Erde. Und nochmals tausend Meter weiter oben hat sich ein Blitz in einer Wolke entladen und ist über der Grotte in den Boden eingeschlagen. Siegfrieds Magen rutscht nochmals ein Stück nach unten. Die Triumphmusik in seinem Kopf ist mit einem Mal verstummt.

Beim nächsten Blitzeinschlag befällt ihn die Panik. Er hat sich verquasselt, so wie alle Superschurken. Das Wetter ist umgeschlagen, Galaktomans Fesseln rosten vor sich hin, und plötzlich hat Siegfrieds Gegner eine winzige Chance. Es ist, wie gesagt, nur eine winzige Chance, eine „ich weiß, es klingt verrückt, aber ...“-Chance. Dummerweise ist eine solche Chance alles, was Leute wie Galaktoman brauchen. Siegfried hastet zur Bedienkonsole, um endlich das zu tun, was er schon seit geraumer Zeit hätte tun sollen: Die Verankerung der Kette an der Grottendecke auslösen, um Galaktoman in den Materiedesintegrator zu stürzen. Weil seine Hände feucht sind und zittern, verfehlt Siegfried den roten Auslöseknopf.

Wieder schlägt über der Grotte der Blitz ein. Warum eigentlich muss immer während des Schurkenmonologs das Wetter umschlagen? Siegfried verkriecht sich unter der Bedienkonsole des Krans, um vor den Steinen geschützt zu sein, die von der Decke krachen.

Als er wieder nach Galaktoman schaut, verweigert sein Blasenschließmuskel vor Angst den Dienst. Siegfried van Bowdencomb, der hyperintelligente Superschurke, fühlt, wie eine warme Flüssigkeit seine Hosenbeine tränkt.

Siegfried sieht, wie die Kette blau aufleuchtet. Ein Blitz, der oben in den Boden eingeschlagen ist, jagt seine Energie von einem Metallglied zum nächsten. Das geschieht natürlich annähernd mit Lichtgeschwindigkeit, aber Siegfried kommt es so vor, als würde ein Kettenglied nach dem anderen bläulich aufleuchten, bis der Strom Galaktoman erreicht. Im gleichen Augenblick verwandelt sich der unscheinbare Mann im Holzfällerhemd zurück in den blau leuchtenden Superhelden Galaktoman. Der Starkstrom des Blitzes verleiht ihm Superkräfte, die auch der Wirkung des Glyptozins widerstehen. Einen normalen Menschen hätte der Blitzschlag gegrillt. Aber Galaktoman kommt dank der zwei Millionen Volt aus dem Blitz wieder zu Kräften, zu Superkräften, um genau zu sein.

Halb irre vor Panik rennt Siegfried los zum Ausgang der Grotte. Dabei nimmt er einen Geruch wahr, den er zuletzt vor zehn Jahren gerochen hatte. Damals hatte er sich geweigert, aufs Klo zu gehen, und seine Mutter hatte ihn eine Stunde in seiner Scheiße stehen lassen, weil sie es nicht einsah, einen Vierjährigen zu wickeln. Derselbe Geruch steigt in seine Nase, als er um sein Leben rennt. In seinem hermetisch dichten Gummianzug ist er mit seinen Körperausscheidungen eingesperrt.

Plötzlich fühlt er, wie zwei Hände ihn von hinten packen und langsam in die Luft heben.

Galaktoman hat Siegfried erwischt. Schmerzhaft fühlt Siegfried, wie sich Zeige- und Mittelfinger des Superhelden in seinen Achselhöhlen verkrallen. So hebt ihn Galaktoman in die Höhe und trägt ihn ganz gemächlich durch die Luft zur Öffnung des Materiedesintegrators. Einen Moment lang hält Galaktoman den Jungen über dem leuchtenden Schlund, dann lässt er los.

Siegfried fühlt, wie er fällt, erst langsam, dann immer schneller. Galaktoman sieht er durch die Öffnung im Grottenboden grinsen und winken. Dann umfängt ihn das grünliche Licht des Materiedesintegrators und Siegfried zerfällt in seine Elementarteilchen. Es ist ein Geräusch, als würde Luft durch ein Abflussrohr entweichen.

02. Never Wait Or Hesitate (Rod Stewart)

Siegfried van Bowdencomb erwachte mit einem Schrei. Er lag in einem Bett, das er nicht kannte, in einem Zimmer, das nach Desinfektionsmittel und Medizin roch. Es musste Nachmittag sein, denn durch die zugezogenen weißen Gardinen fiel gedämpftes Sonnenlicht. „Endloser Monolog. Den Plan erklären, statt abzudrücken“, flüsterte er zu sich selbst. Wie viele Schurken waren schon durch diesen Fehler zu Tode gekommen, hatten in letzter Sekunde noch alles vergeigt. Wenn es eine Sache gab, die er lernen musste, dann war es der schnelle Abschluss ohne Monolog, ohne Erklären des Planes. Eines Tages würde er Galaktoman, den Mörder seines Vaters, zur Strecke bringen, das war sein fester Entschluss. Bis dahin galt es jedoch noch viel zu lernen. In Gedanken ging er seinen Traum nochmals durch, und drückte nach zehn Traumsekunden den Auslösemechanismus. Auch wenn er dreimal drücken musste, hatte Galaktoman nicht den Hauch einer Chance. Siegfried sah den Superhelden vor seinem geistigen Auge in die Tiefe sausen, genau in die Mündung des Materiedesintegrators.

Nicht quatschen, sondern handeln, dann hätte Siegfried eine Chance gegen den Superhelden. Langsam beruhigte sich sein Puls.

Er war so damit beschäftigt, seinen Traum durchzugehen, dass ihm erst nach einigen Minuten auffiel, dass er keine Ahnung hatte, wo er war. Er lag in einem fremden Bett in einem weiß getünchten Raum. Über sich sah er einen Bettgalgen, neben dem Bett stand ein Nachtkästchen aus Stahlblech, darauf ein Pappbecher und eine Flasche Bonaqua. Für Siegfried sah es so aus, als läge er in einem Krankenhauszimmer. Erst jetzt bemerkte Siegfried, dass sein rechtes Auge ganz zugeschwollen war. Er tastete nach seiner Schläfe, doch im selben Moment schrie er vor Schmerzen auf. Und nun fiel ihm auch wieder ein, wie er hierher gekommen war. Und es fiel ihm ein, warum er in seinen Händen einen Taschenrechner festhielt.

Er hatte Ärger mit Ron Bruckner gehabt, dem Schularsch. Ron war ein Kerl, der jüngere und schwächere Kinder terrorisierte. Siegfried hatte er den Taschenrechner weggenommen. Weil der Taschenrechner seinem Vater gehört hatte und ein paar Extras enthielt, die man dem Ding von außen nicht ansah, hatte Siegfried seine Angst vergessen und sich mit Ron darum geschlagen. Ron hatte ihm ganz schön Prügel verabreicht, aber Siegfried hatte nicht aufgegeben. Er hatte einfach immer weiter auf Ron eingeschlagen. Als er merkte, dass das nichts nutzte, weil seine wütenden Schläge entweder nicht durchkamen oder Ron nichts ausmachten, hatte er getreten, gekratzt und gespuckt. Als Ron den Taschenrechner immer noch nicht losließ, hatte Siegfried Rons Arm gepackt und hineingebissen. Er erinnerte sich jetzt wieder an den seltsamen Geschmack von fremdem Fleisch und Blut. Im selben Moment hatte Ron den Taschenrechner fallen gelassen. Als Siegfried sich nach dem Rechner bückte, traf ihn Rons Knie an der Schläfe. Siegfried war schwarz vor Augen geworden. Und jetzt lag er hier in diesem Krankenhausbett mit einem zugeschwollenen Auge, aber im Besitz seines Taschenrechners.

Mit einem Mal kroch ein seltsames Gefühl in Siegfrieds Magengrube. Es war genau das Gefühl, das man hat, wenn man aus einem Albtraum erwacht und zu ahnen beginnt, dass man nicht alleine im Zimmer ist. "Mama?" fragte Siegfried unsicher, aber es war nicht die Stimme seiner Mutter, die ihm antwortete.

"Nein, Siegfried, deine Mutter wartet draußen auf dem Flur, dass du aufwachst", hörte er eine angenehme kultivierte Männerstimme sagen. "Bevor sie hereinkommt, möchte ich mit dir etwas besprechen. Damit wir eine Zeit lang ungestört miteinander reden können, schlage ich vor, dass wir einen kleinen Ausflug machen. Meine Assistentin hackt sich gerade in den Krankenhauscomputer und schaut sich die Röntgenbilder von deinem Kopf an. Wenn klar ist, dass du transportfähig bist, brechen wir auf. Lisa, was ist, hat er Frakturen oder eine Gehirnblutung?"

"Ich habe die Computertomogramme durchgesehen. Nach den Bildern aus der Radiologie ist mit seinem Gehirn alles in Ordnung", antwortete eine tiefe Mädchenstimme, die Siegfrieds Gehörgängen schmeichelte wie warmer Honig.

"Gut,Lisa, bring ihn mit den Männern zum Krankenwagen. Jenkins und ich klettern aus dem Fenster und fahren mit dem Bugatti schon mal voraus. Und nehmt auch seine Waschsachen mit", befahl die Männerstimme.

Einen Augenblick später beugte sich das schönste Mädchen über Siegfried, das er in seinem Leben gesehen hatte.

Ihre großen blauen Augen warfen das Licht der Spätsommersonne zurück wie Christbaumkugeln mit extrem langen schwarzen Wimpern. Ein Katarakt von blonden Locken fiel über die Schultern, die nicht zu breit und nicht zu schmal waren, sondern genau richtig. Sie trug einen weißen Arztkittel und einen Mundschutz. Mit warmen, glatten Händen griff das Mädchen nach Siegfrieds Arm. Dann fühlte er, wie sie mit Zeige- und Mittelfinger seine Ellenbeuge massierte.

"Das pikst jetzt ein bisschen", hörte Siegfried ihre tiefe Honigstimme sagen. Dann spürte er einen leichten Stich in der Ellenbeuge und wenige Sekunden später war er bewusstlos. Er bekam nicht mehr mit, wie sich der Herr mit der Baritonstimme mit einer eleganten Bewegung aus dem Fenster schwang und die Feuerleiter nach unten kletterte. Und er fühlte auch nicht, wie zwei extrem breitschultrige Krankenpfleger seinen Schulranzen und den Seesack mit den Waschsachen in seinem Bett verstauten und es dann durch die von Lisa geöffnete Tür hinaus auf den Krankenhausflur schoben.

Eine zart gebaute Frau in einem braunen Flanellkostüm sprang von ihrem Besucherstuhl auf. "Ich bin Cornelia van Bowdendonk, Siegfrieds Mutter", sprach sie Lisa an. "Was ist mit meinem Sohn?"

"Lisa Tekiero, ich bin die diensthabende Neurologin. Wir haben Ihrem Sohn eine Narkose gegeben, weil sich sein Zustand plötzlich verschlechtert hat, Mrs van Bowdendonk. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass es jetzt noch zu einer Blutung kommt, aber wir müssen das nochmal abklären. In dreißig Minuten ist der Kopfscan abgeschlossen, dann können wir Ihnen sagen, ob eine Operation nötig ist."

"Was ist mit ihm?" fragte Cornelia van Bowdendonk erschrocken.

"Ich weiß es noch nicht", antwortete Lisa. "Aber da er sich hier im Wesley Medical befindet, besteht überhaupt keine Gefahr. Schlimmstenfalls müssen wir eine kleine Punktion machen, um den Druck auf sein Gehirn zu mindern. Aber auch das ist nur im unwahrscheinlichen Fall einer akuten Blutung notwendig. Wissen Sie, das ist das große Dilemma für uns Ärzte. Einfach indem wir sorgfältig vorgehen und auf alle Eventualitäten vorbereitet sind, denken medizinische Laien natürlich, dass diese Eventualität auch eintritt. Bleiben Sie einfach hier sitzen und nehmen Sie sich eine Zeitschrift, in dreißig Minuten sagen wir Ihnen, ob Siegfried schon morgen entlassen werden kann oder erst in ein paar Tagen. Auf jeden Fall garantiere ich Ihnen, dass Sie Ihren Jungen gesund und munter zurückbekommen werden. Wenn Sie mich bitte entschuldigen", schloss Lisa und eilte dem Krankenbett hinterher.

Cornelia van Bowdendonk sah der jungen Ärztin und den Pflegern hinterher, die das Bett mit Siegfried in den OP-Bereich schoben. Mit leicht wackligen Knien setzte sie sich auf den Besucherstuhl. Natürlich fing sie nicht an in einer Zeitschrift zu blättern. Stattdessen begann sie an ihrem Zeigefingerknöchel zu nagen, bis ihr etwas einfiel. Sie kramte in ihrer Handtasche nach dem iphone und schaltete es an. Sie öffnete die Anwendung earclipcam.app, indem sie das Passwort ArNiE4%EvEr eingab. Einen Augenblick später lief ihr kalter Schweiß den Rücken hinab. Sie sah auf dem Display die Decke des Krankenhausgangs. Einen Moment später fing das Bild an zu wackeln. Als es wieder stabil war, zeigte die Anzeige das Innere eines Krankenwagens, der sich mit Blaulicht in Bewegung setzte. Jetzt erschien das Gesicht der jungen Ärztin auf dem Display. Sie hielt ein Mobiltelefon in der Hand. Weil das iphone stumm geschaltet war, sah Cornelia van Bowdendonk nur, dass sich ihre Lippen bewegten. So schnell es ihre schweißnassen Finger erlaubten, drehte sie die Lautstärke ihres Handylautsprechers auf maximale Leistung. Sie hörte nur noch, wie die Ärztin sagte: "In zehn Minuten an der 400."

Cornelia van Bowdendonk sprang von ihrem Stuhl auf, um sich gleich wieder zu setzen, denn vor Schreck war ihr schwarz vor Augen. Siegfried war von einer falschen Ärztin, zwei falschen Krankenpflegern aus dem Hospital entführt worden. Sie hätte natürlich am Empfang Alarm schlagen können. Sie hätte versuchen können, die Polizei, den Geheimdienst und die Nationalgarde zu mobilisieren, um Siegfried aus den Klauen seiner Entführer zu reißen. Aber wahrscheinlich wäre sie an so eine belämmerte: „Ich tue hier nur meine Pflicht, und Sie führen sich auf als wären Sie nicht ganz bei Trost“-Krankenschwester geraten. Sie hätte wertvolle Minuten verplempert in dem vergeblichen Bemühen, ihrem Gegenüber die Situation zu erklären. Die Chancen Siegfried so zurückzubekommen waren gleich Null. Also stürmte sie aus dem Wesley Medical, stieg in ihren alten 94er Ford und ließ den Motor an. Gerade als sie losfahren wollte, kam ihr noch ein Gedanke. Sie öffnete das Mailprogramm und begann zu tippen

[email protected] . Lieber Dr. Miller, vielen Dank für die kompetente Versorgung von Siegfrieds Verletzung. Leider kann ich den Jungen nicht über Nacht hierbehalten, weil wir wegen einer dringenden Familienangelegenheit verreisen müssen. Ich nehme das auf meine Verantwortung und sehe von allen rechtlichen Ansprüchen ab, die Entfernung von Siegfried aus Ihrer Klinik geschah ohne Ihr Wissen und Ihre Billigung.

Mit freundlichen Grüßen

Cornelia van Bowdendonk

Sie drückte auf Senden. Dann beendete sie das Mailprogramm und aktivierte earclipcam.app erneut. Das Programm zeigte Bilder aus einer Minikamera, die in Siegfrieds Ohrclip eingebaut war, aber es konnte noch mehr. Im Ansicht-Menü wählte Cornelia "Ortung", worauf das Bild verschwand. Stattdessen zeigte sich eine Karte der Umgebung von Wichita. Siegfrieds Standort war als gelb blinkender Kreis zu erkennen. Cornelia ließ den Motor an und machte sich an die Verfolgung von Siegfrieds Entführern.

03. We´re not in Kansas anymore (Judy Garland)

Siegfried erwachte aus seiner Narkose, als der Krankenwagen zum Stehen kam. Im gleichen Augenblick überkam ihn ein unwiderstehlicher Brechreiz. Er schaffte es gerade noch sich zur Seite zu wenden, sodass er sich nicht selbst bekotzte, sondern die ganze Ladung auf die weißen Reeboks eines der Pfleger ging. Der Mann unterdrückte einen Fluch.

Als alles draußen war, fühlte sich Siegfried eigentlich wieder ganz OK. "Kannst du aufstehen und laufen?" hörte er die bekannte Honigstimme sagen. Er gab ein tonloses Hmm zur Antwort.

"Danke Jungs, das war gute Arbeit", hörte Siegfried das Mädchen zu den Krankenpflegern sagen. "In ein paar Minuten kommt der Sierra und bringt euch nach Darnwolt. Der Junge und ich steigen hier um in den Bugatti."

Sie öffnete die Hecktür des Krankenwagens. Siegfrieds Blick fiel auf einen nachtschwarzen Bugatti Royale, der mit laufendem Motor  hinter dem Krankenwagen stand. Sie befanden sich irgendwo an der 400 weit außerhalb von Wichita. Lisa machte eine einladende Geste und Siegfried ging mit unsicheren Beinen hinüber zu dem schwarzen Oldtimer. Auf dem Fahrersitz saß ein gedrungender Mann mit Chaufeursmütze. Er hatte ein Maulwurfsgesicht mit einer winzigen Nase, auf der eine Brille mit unglaublich fetten Gläsern lastete. Als er Siegfried bemerkte, stieg er aus und öffnete ihm die Tür zum Fond des Wagens. Siegfried folgte seiner einladenden Handbewegung und stieg ein. Lisa war inzwischen auf der anderen Wagenseite eingestiegen.

Siegfried versank förmlich in den Sitzen aus sorgfältig vernähtem Nubukleder und sah sich um. Neben dem Nubukleder hatte man sonst für die Innenausstattung des Bugatti nur noch fein gemasertes Koaholz verwendet. Das Wageninnere war erfüllt von einem warmen gelben Licht, das die Atmosphäre einer sehr vornehmen Cocktailbar erzeugte. Siegfried gegenüber saß der Herr mit der kulitiverten Baritonstimme, der sich aus dem Fenster von Siegfrieds Krankenzimmer geschwungen hatte. Auch wenn er einfach nur entspannt dasaß, war er eine beeindruckende Erscheinung. Er war nicht mehr jung, sein schwarzes Haar und der Kinnbart zeigten graue Strähnchen. Außerdem war die Frisur am Hinterkopf ein wenig licht. Aber er saß in einer sehr aufrechten Haltung und die Gesten seiner Arme und Hände machten einen geschmeidigen und kraftvollen Eindruck. Er erinnerte an einen Kater, der noch über Jahre allen Jungkatzen das Fell gerben würde, die sich in sein Revier wagten. Er war groß, etwa eins neunzig, schlank, aber gut trainiert. Ihm fehlten Muskelpolster, aber in seiner Haltung ahnte man die Gewandtheit eines Hürdensprinters. Er trug einen schwarzen iphoneKaschmirpullover unter dem dunkelgrauen Sakko. Seine Hosen waren aus schwarzer Wolle, elegant geschneidert und dabei so lässig, als könnte man in ihnen auch eine Hochhausfassade erklimmen.

Neben ihm saß das wunderschöne Mädchen. Sie hatte den Mundschutz und den Arztkittel abgelegt und trug nun einen hellblauen Kaschmirpullover zu ihren Levis. Auf ihrer Nase erkannte Siegfried etwa zwei Dutzend Sommersprossen. Erst jetzt sah Siegfried, dass sie nicht nur mit einem Beachvolleyballerinnenkörper ausgestattet war, in dem Kaschmirpullover steckte zu allem Überfluss auch noch ein Paar ausgesprochen wohlgeformte Brüste. Er war so mit Anstarren beschäftigt, dass er gar nicht gleich merkte, dass der Herr mit der Baritonstimme mit ihm sprach.

"Ich muss dich tausendmal um Vergebung bitten für die theatralische Art, mit der wir dich überfallen haben, Siegfried", begann der kultivierte Herr. "Wir wollten heute eigentlich nach der Schule mit dir Kontakt aufnehmen, aber als wir dort nach dir fragten, hieß es, du lägest im Krankenhaus. Aber entschuldige", unterbrach sich der Herr selbst. "Ich glaube es ist höchste Zeit, dass wir uns einmal vorstellen. Mein Name ist Doktor Gerold von Stackelmann, die junge Dame ist Lisa Tekiero, meine Nichte. Und der Herr, der den Bugatti steuert, ist Mister Jenkins, mein persönlicher Assistent.“ Nach einer kurzen Pause, die wohl dazu gedacht war, Siegfried Zeit zum Merken der Namen zu geben, fuhr er fort: „Eine Frage, Siegfried: Ich meine jetzt, abgesehen von den gelegentlichen Meinungsverschiedenheiten mit Ron Bruckner, wie gefällt es dir in der Schule?"

Siegfried kniff sich in den Arm, um sicher zu gehen, dass er nicht immer noch träumte. Der Kerl hatte ihn aus einem Krankenhaus gekidnappt, um ihn zu fragen, was die Schule machte? Unsicher schaute er von ihm zu dem blonden Mädchen und wieder zurück. Sollte er unverbindlich das antworten, was alle Teenager sagen, wenn man sie nach der Schule fragt ("Geht so") oder sollte er in Anbetracht der ungewöhnlichen Situation mit der Wahrheit herausrücken? Von Stackelmann und Lisa schauten ihn so erwartungsvoll an, dass er beschloss, endlich einmal offen zu sagen, was er von der Schule dachte und von den Leuten, die sie gemeinsam mit ihm besuchten:

"Also die Schule ist das Letzte“, polterte Siegfried los. „Die Lehrer haben alle selbst nicht begriffen, was sie uns beibringen sollen. Jede Frage, die nur ein bisschen über den Unterrichtsstoff hinausgeht, wird als Provokation aufgefasst. Dabei ist das Ganze so primitiv, dass einen die Hausaufgaben nicht einmal für die Fahrt im Schulbus beschäftigen. Und die Halbaffen, die in meine Klasse gehen, halten mich für einen Mutanten, seit ich gesagt habe, dass sich quadratische Gleichungen prima im Kopf lösen lassen."

"Jenkins, ich glaube, wir haben gefunden, was wir suchen", sprach Doktor von Stackelmann nach vorne. Dann wandte er sich an Siegfried: "Und was würdest du davon halten, auf eine andere Schule zu gehen? Auf eine Schule, deren Lernstoff deinen Fähigkeiten entspricht? Ich leite ein solches Institut, und es ist immer schwer, Schüler zu finden, die den Anforderungen genügen. Siegfried ich lade dich ein, nach Darnwolt zu kommen, der Schule für Superschurken."

Zum Glück saß Siegfried schon. Seit sein Vater von Galaktoman ermordet worden war, hatte er davon geträumt ein Superschurke zu werden und Arnold van Bowdendonks Tod zu rächen. Verdammt, wie stolz sein Vater wäre. So stolz wie ein Highschool-Coach, dessen Sohn Sportprofi wird. Arnie van Bowdencomb war eines der zahlreichen Opfer von Galaktoman, dem Retter der Welt. Galaktoman hatte Arnies Superwaffe umgepolt und den ahnungslosen Schurken Arnie van Bowdencomb in einen Haufen grüner Asche verwandelt. Das hatte Siegfrieds Mutter ihm immer erzählt. Sekundenschnell war die grüne Asche von der erzeugten Druckwelle in die Atmosphäre der wieder einmal geretteten Welt geblasen worden. Nichts war von Arnie van Bowdencomb geblieben, außer einer Hand voll Staub, der ziellos in der Erdatmosphäre unterwegs war. Jahrelang hatte Mutter es nicht übers Herz gebracht, den Staub vom Klavier im Wohnzimmer zu wischen, auf dem Arnie so gerne den ersten Satz von Beethovens Mondscheinsonate gespielt hatte. Möglicherweise, so hatte sie immer mit traurigem Gesicht gesagt, enthält der Staub ein paar Atome von Papa.

Mit einer Ausbildung zum Superschurken würde Siegfried nicht so enden wie sein Vater. Denn Arnie war nur ein einfacher Schurke gewesen, einer der von Kerlen wie Galaktoman mal so nebenbei in grüne Asche verwandelt wurde. Siegfried würde nach seiner Ausbildung in Darnwolt ein Superschurke sein. Einer, der Superhelden wie Galaktoman immer wieder in den Arsch treten würde. Einer, den Galaktoman niemals würde vernichten können, einer der immer im letzen Moment noch die rettende Raumkapsel oder den geheimen Tunnel erreichen würde.

Dass auch Siegfried Galaktoman nicht würde vernichten können, dass er sich mit seinem Todfeind solange er lebte einen endlosen Kampf liefern würde, daran mochte Siegfried im Moment nicht denken. Er würde der Kerl sein, der Galaktoman das Leben zur Hölle machen würde, der ihn zwingen würde, eine geheime Identität anzunehmen. Er würde verhindern, dass Galaktoman das Mädchen bekommen würde, das Galaktoman so leidenschaftlich liebte, und das selbstverständlich auch unsterblich in Galaktoman verknallt war. Er würde Galaktoman alles nehmen, außer seinem Ruhm als Superheld. Seine Rache würde darin bestehen, dass sich Galaktoman trotz aller Triumphe ein Leben lang als das fühlen würde, was er in Siegfrieds Augen war: Ein blau leuchtender Trottel in Strumpfhosen.

So unglücklich war Siegfried an seiner Schule in Wichita gewesen, so sehr hatte er die Schnauze voll von kichernden Cheerleadern, arroganten Pointguards und Tyrannen wie Bruckner, dass er von Stackelmann sofort glaubte. Wer in Kaschmir gehüllt zusammen mit einer superblonden Sexbombe in einem nachtschwarzen Bugatti durch die Gegend fuhr und Kinder entführte, dem konnte man auch glauben, dass er der Leiter einer Superschurkenschule war. Und weil auch das Verhältnis zu seiner Mutter in den vergangenen Jahren nicht immer idyllisch gewesen war, beschloss Siegfried sich auf den Pakt einzulassen. Lisa deutete sein Lächeln richtig und reichte ihm einen Hochglanzprospekt. Fasziniert begann Siegfried zu lesen.

Das Glanzpapier klebte leicht an Siegfrieds Fingern, die vor Aufregung schwitzten. Darnwolt, die Schule für Kinder mit unbegrenzten Möglichkeiten, stand vorne auf dem Prospekt zu lesen.

Auf Seite drei gab es ein Grußwort von Dr. Gerold von Stackelmann. Er schrieb über ein labiles Gleichgewicht von Gut und Böse, in dem die Welt sich befand. Nach seinen Worten bewahrten Superschurken die Erde davor im Chaos zu versinken. Auf der anderen Seite waren Superhelden nur naive Tugendbolde. Ein Teil von jener Kraft, die das Gute will und nur das Böse schafft, wie von Stackelmann es unübertrefflich formulierte. Er entwarf das Bild einer friedlichen von einem einzigen Superschurken beherrschten Welt. Und er drückte in dem Vorwort seine Hoffnung aus, dass einer der Darnwolt-Absolventen dieses Ziel, die Weltherrschaft, erreichen würde.

Die nächste Seite enthielt Nachrufe auf Schurken, die im Kampf gegen die Superhelden gestorben waren. Natürlich fehlte Arnold van Bowdencomb, Siegfrieds Vater. Er war er nicht mehr gewesen als ein weiterer Skalp an Galaktomans Gürtel. Sein Vater hatte sich überlisten lassen, schon in seiner ersten Auseinandersetzung mit einem Superhelden. Echte Superschurken dagegen brachten es auf zahllose Auseinandersetzungen, auf einen lebenslangen Kampf, zumindest auf eine Auseinandersetzung, die sich über Jahrzehnte hinzieht. Wer sich von Galaktoman beim ersten Showdown überlisten und aus dem Verkehr ziehen lässt, ist kein Superschurke, dachte Siegfried bitter.

Nach den Nachrufen kamen die Bilder der Superschurken, die sich unbesiegbar einen ewigen Kampf mit ihrem Heldengegner lieferten: Lex Luther, Magneto, der Sandmann und so fort.

Darum ging es in Darnwolt: Superschurken sollten die Schüler werden, böse Genies, die den Kampf mit dem übermächtigen mit unnatürlichen Kräften ausgestatteten Gegner nichts entgegensetzen konnten als die Schärfe ihres Verstandes.

Fasziniert blätterte Siegfried durch die Bilder des Hochglanzprospektes. Sie zeigten den Berg, auf dessen Spitze sich das von Gewitterwolken umtoste Schlossinternat befand. Ein Bild zeigte den Speisesaal, der in weißem Linnen eingedeckt war. Der Beitrag über die Küche zeigte einen halben Hummer, der mit einer Vinaigrette aus Ingwer und weißem Balsamico garniert war.

Das großartigste schien Siegfried die Garage von Darnwolt: Lamborghinis, Ferraris, Bugattis so weit das Auge reichte. An der Decke hing ein Motorsegler und ein Rennboot.

Weiter hinten zeigte der Prospekt Jungen und Mädchen in Siegfrieds Alter beim Nahkampftraining, beim Schießen, beim Auseinanderbauen eines Sportwagens. Ein Bild zeigte den dunkel getäfelten Hörsaal. Die Tafel war über und über vollgeschrieben mit chemischen Gleichungen.

"Wo muss ich unterschreiben?" fragte Siegfried, als er das Heft durchgeblättert hatte.

"Dein Wort genügt", antwortete Doktor von Stackelmann.

04. Step on the Gas and Wipe that Tear away (Beatles)

Anfangs fiel es Cornelia van Bowdendonk leicht, dem Krankenwagen zu verfolgen, auch wenn sich dieser mit Blaulicht einen Weg durch den Berufsverkehr bahnte. Die Reichweite des Senders in Siegfrieds Ohrclip lag bei etwa dreißig Meilen, sodass der Abstand zwar langsam aber stetig zunahm, aber niemals beunruhigend groß wurde. Etwa zehn Minuten hatte die Verfolgung gedauert, als Cornelia bemerkte, dass Siegfrieds Signal zum Stehen gekommen war. Doch schon eine Minute später setzte sich der Lichtpunkt erneut in Bewegung, diesmal aber mit beträchtlich größerer Geschwindigkeit. Mit einem mulmigen Gefühl sah Cornelia, wie sich der Abstand zwischen ihr und Siegfried zusehends vergrößerte. Langsam bewegte sich der Lichtpunkt auf den Rand des Displays zu. Wenn er dort verschwunden war, hätte sie Siegfried verloren. Sie blickte kurz prüfend in den Rückspiegel. Als sie keinen Polizeiwagen entdeckte, öffnete sie das Handschuhfach und betätigte den Kippschalter, der die Drosselung des Fusionsantriebs deaktivierte. Jetzt hatte sie 2000 PS zur Verfügung. Den Fusionsantrieb des Autos hatte Siegfried vor zwei Jahren gebaut und seiner Mutter zum Geburtstag geschenkt. Der Reaktor war bei der Konstruktion nicht das eigentliche Problem gewesen. Knifflig war, dass der Wagen trotz des neuen Fusionsantriebs noch klang wie ein Auto mit Verbrennungsmotor. Das zweite Problem hatte sich als noch schwieriger erwiesen. Tagelang hatte Siegfried getüftelt, bis er den Antrieb so weit heruntergedrosselt hatte, dass der Ford nicht schneller als 60 Meilen pro Stunde lief. Schließlich sollte der Wagen seine Mutter ins Einkauszentrum bringen und nicht in eine andere Dimension katapultieren. Das Gute daran war, dass eine Coladose voll Wasser reichte, um die Karre zwei Jahre lang anzutreiben. Aber mit dem Schalter im Handschuhfach hatte man auf Knopfdruck die vollen 2000 PS des Fusionsantriebs zur Verfügung.

Wie schnell der Ford damit fahren konnte, wusste Cornelia nicht, denn sie hatte den Fusionsantrieb noch nie ohne Drosselung gefahren. Mit gut 100 Meilen pro Stunde jagte sie über die 400. Doch es dauerte keine Minute, bevor hinter einem Reklameschild ein Streifenwagen auf den Highway schoss und die Verfolgung aufnahm.

Cornelia van Bowdendonk vergeudete keine Zeit mit der Frage, warum sie keine zehn Meilen oberhalb des Geschwindigkeitslimits fahren konnte, während die Kidnapper ihres Sohns unbehelligt über den Highway 135 entlangbrettern konnten. Nach einem kleinen Tipp auf das Gaspedal hatte der Wagen auf 250 Meilen pro Stunde beschleunigt. Während das Blaulicht im Rückspiegel immer kleiner wurde, flog der Ford auf die Berge zu. Solange die Straße geradeaus ging, konnte Cornelia van Bowdendonk ihr Tempo halten. In den Bergen würde sie wieder Normalgeschwindigkeit fahren müssen, weil Bremsen und Fahrgestell nicht auf die 2000 Pferdestärken des Fusionsantriebs ausgelegt waren. Minuten später hatte sie die Grenze nach Colorado passiert und reduzierte das Tempo, denn der Streifenwagen hinter ihr war ab hier nicht mehr für sie zuständig und würde mit Sicherheit die Verfolgung einstellen. Weil sie Siegfried wieder auf wenige Meilen nahe gekommen war, hielt sich Cornelia ab jetzt an das vorgeschriebene Tempolimit.

Deshalb vergrößerte sich der Abstand zu Siegfrieds Entführern wieder allmählich, weil Doktor von Stackelmann sich einen Dreck um Geschwindigkeitsbegrenzungen kümmerte. Er ließ Jenkins fahren, als sei die Straße eine deutsche Autobahn. Das Gelände wurde steiler, die Straße kurviger. Cornelia van Bowdendonk drosselte den Fusionsantrieb auf 120 PS zurück, damit sie nicht durch einen versehentlichen Tritt aufs Gaspedal den Wagen in eine Schlucht stürzte.

Die Abendsonne brachte die Berggipfel vor ihr zum Glühen. Und wenn sie nicht die Entführer ihres Sohns verfolgt hätte, wäre die Fahrt eine herrliche Spritztour durch die Berge gewesen. Der Bugatti hatte einen Vorsprung von etwa einer halben Stunde und war auf dem iphone-Display als blinkender Punkt leicht zu erkennen. Cornelia van Bowdendonk wusste genau, wer hinter Siegfrieds Entführung steckte, und deshalb wusste sie auch, dass es nicht leicht werden würde, ihn zurückzuholen. Ungefähr so schwer wie eine Gefangenenbefreiung aus Guantanamo.

Ziemlich genau zehn Jahre war es her, dass sie und Arnold van Bowdendonk sich Ärger mit einer sehr mächtigen Organisation eingehandelt hatten. Nur aus einem einzigen Grund hatte sie sich nach Arnolds Verschwinden zehn Jahre lang verstecken können: Ihre Gegner wussten nicht, in welchem Teil der Welt sie nach ihr suchen sollten. Aber jetzt, nachdem die van Bowdendonks ausfindig gemacht waren, standen ihre Chancen ziemlich schlecht.

Entsprechend düster war Cornelias Stimmung. Sie schmiedete einen Plan nach dem anderen. Aber alles war ihr einfiel, waren Pläne mit einer Million zu eins-Chance, die klassischen, ich weiß, es klingt verrückt aber-Pläne.

Gerade als die Straße sich wieder über eine Folge von Haarnadelkuven einen Berghang hochwand, verstummte das Motorgeräusch des Ford. Mit einem lauten Fluch steuerte Cornelia van Bowdendonk den Wagen an den Straßenrand und zog die Handbremse an. Siegfried, dieser fahrige Idiot von einem Teenager. Er hatte ihr den Fusionsantrieb in den Ford gebaut, ihn aber dann nur mit einem Pappbecher voll Wasser betankt. Zwei Jahre lang war das Fahrzeug damit ausgekommen. Vor einem halben Jahr hatte das Display angezeigt, dass der Wasservorrat zur Neige ging, und in der ganzen Zeit war ihr Herr Sohn nicht dazugekommen, einen Becher destilliertes Wasser in den Einfüllstutzen zu kippen. Er hätte nur ein einziges Mal seine picklige Nase aus dem Buch über Plasmaphysik nehmen müssen, und das erledigen, worum sie ihn gebeten hatte. Jetzt saß sie mit leerem Tank in dieser Einöde fest und musste hilflos mit ansehen, wie sich Siegfrieds Signal unbarmherzig aus dem iphone-Display hinausbewegte. Noch ein paar Minuten, und sie hätte ihren Sohn verloren.

Den Antrieb mit etwas Wasser aus einem Bergbach nachzutanken war nicht möglich, hatte Siegfried sie gewarnt. Wenn etwas anderes als reines demineralisiertes Wasser in die Plasmakammer geriet, dann würden die in Spuren vorhandenen Lithiumionen eine gewaltige Explosion verursachen.

Während ihr Puls allmählich auf 140 kletterte, würgte sie die Tränen der Verzweiflung hinunter. Einen Augenblick war sie nicht sicher, ob das was als nächstes geschah, schon Glück im Unglück war. Auf jeden Fall hörte Siegfrieds Signal auf sich zu bewegen. Alles was sie tun musste, um Siegfried einzuholen war eine Gebirgswanderung von etwa dreißig Meilen. Das Flanellkostüm und die Manolos waren dazu die denkbar ungeeignete Kleidung. Mit grimmigem Gesicht nahm sie das Iphone aus seiner Verankerung und stieg aus. Sie warf die sündteuren Schuhe in den Kofferraum und lief barfuß los. Alle paar Schritte schickte sie ein Gebet zum Himmel, dass sich das Fahrzeug, das sie verfolgte, nicht wieder in Bewegung setzte. Sie hatte Glück. Die nächsten Stunden sollte sich Siegfrieds Position nicht verändern.

Cornelia beschloss nicht der kurvigen Straße zu folgen, sondern die Serpentinen abzuschneiden. Das war ihre einzige Chance, innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden zu Siegfried zu gelangen. Also lief sie mit nackten Füßen über die Wiesen. Alle hundert Meter setzte sie sich auf den Boden und pulte fluchend die Stacheln einer Eselsdistel aus ihren Sohlen.

Sie war etwa dreißig Minuten unterwegs, als sie über sich das Geräusch eines Hubschraubers hörte. Es war eine nachtschwarze Cobra, die die Straße entlang flog. Eilig verbarg sich Cornelia hinter einem Felsen und beobachtete von dort, wie die Cobra neben dem Ford landete. Ein ganz in schwarz gekleideter Mann stieg aus und musterte das Fahrzeug von allen Seiten. Er zückte einen Leatherman und knackte damit in Sekundenschnelle das Schloss der Fahrertür. Als nächstes versuchte er die Zündung kurzzuschließen, aber natürlich sprang der Wagen nicht an. Also stieg er aus und zückte ein Funkgerät und sprach etwas hinein, das Cornelia wegen der großen Entfernung nicht verstand. Nach einer Minute stieg der Mann zurück in den Helikopter und die Cobra hob ab. Cornelia kauerte sich wie ein Mäuschen unter ihren Felsblock und sah voller Furcht, wie die Cobra über dem Ford suchend ein paar Kreise flog. Dann drehte der Hubschrauber ab und flog auf einen Berg am Horizont zu, der von dunklen Gewitterwolken gekrönt war. Genau von dort kam Siegfrieds Ortungssignal.

Cornelia van Bowdendonk wollte gerade ihr Versteck verlassen, als sie erneut Helikoptergeräusche vernahm. Der andere Hubschrauber näherte sich mit einem tiefen harten Klopfen, das auf ein gewaltiges Fluggerät schließen ließ. Kurze Zeit später sah Cornelia ein seltsames Luftfahrzeug neben ihrem Ford landen. Der Hubschrauber hatte einen Rumpf von etwa zwanzig Meter Länge, von dem vier Räder abstanden, sodass das Gerät aussah wie eine riesige Libelle mit abgespreizten Beinen. Aus dem Führerhaus sprangen vier schwarz gekleidete, außergewöhnlich kräftige Männer, die den Ford unter den Hubschrauber schoben. dort verzurrten sie ihn mit Haken und Drahtseilen. Dann setzten sie sich wieder ins Innere des Helikopters. Der Motor sprang an und Cornelia musste ansehen, wie ihr Ford durch die Luft in nordwestlicher Richtung abtransportiert wurde. Jetzt saß sie ohne Auto in der Einöde fest. Der Fußmarsch zum Gewitterberg würde zwei Tage in Anspruch nehmen. Aber wenn sie dort war, das schwor sie sich, sollten diese Schufte sie kennenlernen.

05. Castles In The Sand (Jimi Hendrix)

Während der Fahrt lag Siegfried auf der Seite im geräumigen Fond des Bugatti, sein Ohr ruhte auf seinem Oberarm. Er schlief nicht, denn seine zwei Stunden Schlafbedarf waren schon beim Aufwachen aus dem Albtraum mit Galaktoman gedeckt. Aber es gab so vieles, über das er nachdenken musste. Also hielt er es für das Schlauste, sich bis zur Ankunft schlafend zu stellen.

Die wichtigste Frage war natürlich, ob er von Stackelmann und seinen Genossen trauen konnte. Je länger die Fahrt dauerte, ohne dass ihn jemand folterte oder verstümmelte, desto sicherer fühlte er sich. Natürlich war es immer noch möglich, dass die drei irgendwelche Perverslinge waren, die ihn nun an einen Ort brachten, wo ihn niemand schreien hören würde, wenn sie ihn in seine Einzelteile zerlegten. Aber seit wann druckten Perverse Hochglanzprojekte? Es war einfach so schön an die Existenz der Superschurkenschule von Darnwolt zu glauben, dass Siegfried es vorzog sich nicht weiter Sorgen zu machen.

Sorgen sollte sich seine Mutter machen. Geschah ihr Recht. In den vergangenen zehn Jahren hatte sie immer verängstigt und gehetzt gewirkt. Siegfried hatte immer das Gefühl gehabt, da wäre nicht nur die Trauer um Arnie van Bowdendonk, die hatte er ja genauso empfunden wie sie. Aber ihre übertriebene Ängstlichkeit war ihm zunehmend auf die Nerven gegangen. Wann immer er sich auf dem Schulweg verspätet hatte, fand er seine Mutter am Küchentisch vor, wenn er nach Hause kam. In den Wintermonaten schaltete sie beim Warten nicht einmal das Licht an. Sie saß einfach nur da und starrte ausdruckslos in das Display ihres iphones, das ihr Gesicht in kaltes weißes Licht tauchte. Wenn er den Lichtschalter betätigte, schaltete sie das Telefon aus, steckte es ein und umarmte ihn, als wäre er ein Jahr weggewesen. Dann machte sie Abendessen, ohne ein Wort zu sagen. Außer ihrer Paranoia nervte sie Siegfried noch damit, dass sie seit Vaters Tod versuchte Mama und Papa gleichzeitig zu sein. Sie hatte ihm beim Eins gegen Eins Basketball schlecht aussehen lassen, beim Schach hatte sie ihn mit zehnzügigen Kombinationen vom Brett gefegt und auch den Selbstverteidigungskurs hatte Siegfried geschmissen, nachdem  seine Mutter ihn mit ihrer unschlagbaren Überwältigungstechnik bezwungen hatte. Vor dem zehnten Lebensjahr braucht ein Junge einen Vater, den er bewundert, und eine Mutter, die ihn gewinnen lässt, damit er den Spaß nicht verliert. So werden Sieger gemacht, nicht mit wiederholten Unzulänglichkeitserfahrungen, fand Siegfried. Als er neun war, hatte er seinen letzten Airball geworfen, hatte zum letzten Mal von seiner Mutter im Sparring eins auf die Nase bekommen. Stattdessen hatte er sich mit Feuereifer auf die Wissenschaft gestürzt. Er verbrachte jeden Nachmittag, auch die heißen Sommertage, im Dach über der Garage, wo er ein Labor unterhielt. Zwei Jahre später konnte er den Benzinmotor des Ford durch einen Fusionsantrieb ersetzen, im Jahr darauf hatte er seine erste Superwaffe gebaut, den Desoxyribonukleinsäurevaporisator.

Das Gerät verdampfte die Erbsubstanz lebender Organismen, sodass sich Lebewesen in wenigen Sekunden in etwas verwandelten, was aussah wie rötlich gefärbter Tapetenkleister. Siegfrieds Prototyp war nur so groß wie eine elektrische Zahnbürste und seine Energie reichte gerade aus, um das Erbmaterial eines großen Säugetiers zu verdampfen. Aber es sprach nichts dagegen einen größeren Vaporisator zu bauen, der vom Weltraum aus die DNA einer Kleinstadt vaporisieren könnte. Momentan wurde Siegfrieds Vaporisator als Zahnbürste missbraucht. Siegfried hatte eine Drosselspule eingebaut. Auf diese Weise war der Desoxyribonukleinsäurevaporisator für Menschen ungefährlich. Man konnte ihn aber zur Körperhygiene verwenden. Seine Strahlung tötete Kariesbakterien, die in der Mundhöhle ihr Unwesen trieben. Auch die Hautkeime, die für den strengen Geruch in Siegfrieds Achselhöhlen sorgten, ließen sich damit vernichten. Eigentlich hätte Siegfried stolz auf sich sein können. Jede große Erfindung der Menschheit, vom Rad bis zur Kernspaltung, war bis jetzt missbraucht worden, indem man sie in der Waffentechnik einsetzte. Er hatte mit Hilfe der Drosselspule sozusagen eine Pflugschar aus einem Schwert gemacht. Das hätte auch aus philosophischer Sicht eine große Errungenschaft bedeutet, wenn er nicht ein Superschurke hätte werden wollen. So aber sah es Siegfried mit gemischten Gefühlen, dass sein Desoxyribonukleinsäurevaporisator sein Dasein in seinem Hygienebeutel fristete. Auf jeden Fall hatte er dank dem Gerät drei Jahre Zahnspange kariesfrei überlebt, und er hatte nie gestunken wie ein Iltis, obwohl er nur einmal pro Woche duschte.

Draußen war jetzt später Nachmittag, wie Siegfried mit einem Blick durch die getönten Scheiben erkannte. Als Doktor von Stackelmann bemerkte, dass Siegfried aufgewacht war, tippte er mit dem Zeigefinger auf einen Knopf in seiner Armlehne. Langsam und geräuschlos öffnete sich der Deckel eines Kühlschranks. Dort lag auf einem Bett aus Eis ein liebevoll belegtes Schinken-Käse-Sandwich und eine Dose Coca Cola. „Wie wäre es mit einem Imbiss? Ich hoffe das Sandwich ist in Ordnung.“ Er sprach leise, denn das Mädchen Lisa schlief noch in eine rostrote Kaschmirdecke gehüllt.

Siegfried griff zu. Während er auf beiden Backen kaute, zog er den Deckel von der Cola. Das Sandwich war knusprig und der Belag schwebte auf zart schmelzender Mayonnaise. Siegfried genoss die tadellose Konsistenz seines Sandwichs und freute sich an der Kühle seiner Cola, während er aus dem Fenster auf die grandiose Berglandschaft sah.