Siida - Timmo Järvinen - E-Book

Siida E-Book

Timmo Järvinen

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Beschreibung

Im skandinavischen Norden gerät das kleine Samenmädchen Siida in den Brennpunkt uralter mystischer Mächte. Diese trachten ihr nach dem Leben und ziehen sie dabei immer tiefer in eine geheimnisvolle Welt aus Mythen und Legenden. Sie muss erkennen, daß die Geschichten und Sagen ihres Volkes alles andere als reine Erzählungen sind. Siida entführt den Leser in das Land der Sami, wo Götter, Irrlichter und Trolle schon auf Ihn warten. SIIDA ist eine liebevolle, humorvolle und spannende Fantasiegeschichte. Der junge Leser taucht ein in eine kraftvolle Erzählung über das Volk der Samen, ihre Mythen, Sagen und Legenden im skandinavischen Norden. Eine fesselnde wundervolle Geschichte für Kinder und jung gebliebene jeden Alters.

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Hoch im Norden liegt ein Land, dort wurde von Göttern die Sonne verbannt.

Zwei göttliche Schwestern, die sich uneinig waren, zerbrachen die Zeiten zwischen den Jahren.

Die Eine, sie wollte nur Winter mit Macht, die Zweite den Sommer bei Tag und bei Nacht.

So steht es in Fabeln und Mythen des Nordens geschrieben, und so ist es bis heute dort oben geblieben.

Wenn im Sommer die Sonne nie Pause macht, bringt der Winter eisige Kälte und ewige Nacht.

Nur manchmal der dunkle Winter zum Tage erwacht durch Nordlichter zum Leuchten gebracht.

Wenn Polarlichter strahlend am Himmel stehen kann im Norden Seltsames vor sich gehen!

Inhaltsverzeichnis

Von Göttern, Irrlichtern und Trollen

Die kleine Weise Numiru

Der Geist des Großen Weißen Bären

Die Alte Welt

Der allwissende Tore

Die Königin des Feenreiches

Der Kristall der Nordlichter

Ein großer Krieger namens Arttu

Die gute und die schlechte Nachricht

Der Fluch der Götter

Von Trollwurz und Silberfaulbäumen

Sisu der Älteste

Ein verhängnisvolles Ereignis

Der Dieb aus den eigenen Reihen

Der dreizehnte Wächter

Abschied und neue Geheimnisse

Schlusswort

Weihnachtsmann, 96930 Rovaniemi!

Personenregister

Geschichte des Samen-Volkesihrer Mythen und Mystik

Einen besonderen Dank an

Quellen

Von Göttern, Irrlichtern und Trollen

In der unbarmherzigen Kälte weit oberhalb des finnischen Polarkreises, wo einzig Bär und Wolf noch durch die Wälder streifen, um Elch und Rentier zu jagen, da lebt und arbeitet der Weihnachtsmann mit seinen fleißigen Helfern. Er sei dort allerdings im besten Fall geduldet, so sagt man. Denn bewohnt werde dieses Land schon immer von vielerlei Gestalten und Kreaturen. Von Wesen, die wir meist nur aus Märchen kennen. Geschöpfe, die weit älter sind, als alles was wir aus Sagen und Erzählungen von unseren Eltern oder Großeltern je gehört haben. Ein uraltes Land. Karg und sparsam die Natur für Menschen wie für Tiere. Hart und unwirtlich ist das Leben in dieser Gegend. Weite Ebenen gilt es zu überqueren, durch dunkle Wälder und über hohe schroffe Berge zu laufen. Von Norwegen über Schweden und Finnland bis hin nach Russland erstreckt sich dieses Land. Nur wenige Menschen wirst du dort im Winter finden. Fünf lange Monate verdeckt der Horizont das Sonnenlicht und umhüllt alles und jeden in diesem Land mit tiefer Dunkelheit. Eine vollkommene Finsternis, die nur durch die Himmelslichter des Nordens auf zauberhafte Weise durchbrochen wird.

Als Skandinavien bezeichnet man dieses abgelegene und einsame Land. Seit sehr langen Zeiten lebt dort ein Volk, das sich die Samen nennt. Ein scheues, aber freundliches Volk, diese Samen! Sie leben weit verstreut in der Ferne der skandinavischen Wälder, in deren Ebenen und Bergen - nicht so leicht zu finden. Vielleicht hast du schon von ihnen gehört. Aber kennst du auch die geheimnisvollen Geschichten, die sie und ihr Land umgeben? Eine Landschaft, die so eigenwillig und befremdlich erscheint, so sonderbar und wundersam wie keine Zweite.

Das Volk der Samen ist so unergründlich wie das Land, in dem es lebt. Wo verborgen in den Bergen und Wäldern, sonderbare Orte liegen, hoch oben über dem Polarkreis.

Die Sami, wie sie sich nennen, besitzen Kenntnisse um Geschichten längst vergangener Tage, in denen Selbst heute noch die Figuren ihrer Erzählungen unversehens zum Leben erwachen. Sie haben Wissen von Eingängen zu unterirdischen Welten und feenhaften Königreichen, tief im Schutz der Wälder. Dort gibt es raufboldige Riesen, die in den Bergen hausen und Gold und Silber horten.

Begleite die Samen in ihre Welt voller Abenteuer, Zauber und Magie.

Doch sei wachsam!

Wenn majestätische Nordlichter das Land um dich herum in mystische Farben hüllen, ein Knacken und Rascheln im Wald sich dir nähert und vor dir dichter weißer Nebel aufzieht.

Dort, wo zwischen Felsen und Büschen die Eingänge zur Unterwelt liegen aus denen leuchtende Augen das Schwarz der Nacht durchdringen.

Dann, ja dann bist du im Land der Sami!

Wo Götter, Irrlichter und Trolle schon auf dich warten.

Die kleine Weise Numiru

Der Sommer im hohen Norden war nur kurz. Überaus kurz! Umso intensiver nutzten Siida und ihre Familie diese Zeit, um Mensch und Tier auf den schon so bald wieder nahenden Winter vorzubereiten.

Siida war mit ihren elf Jahren, die Jüngste der Familie und half ihrer Großmutter im Haushalt, wo immer sie konnte. Am allerliebsten aber war sie bei ihren Rentieren. Da für die großen Herden bislang zu jung, kümmerte sie sich liebevoll um kleinere, verwaiste Renkitze! Womit sie, nach dem letzten harten Winter, durchaus beschäftigt war. Fand sich für die Rentierwaisen keine Ersatzmutter unter den Tieren, wuchsen sie auch mal ein halbes Jahr in Siidas Obhut auf. Wurden sie groß genug, entließ sie die Kleinen zum Rest der Herde. Gestärkt folgten sie dann den freilebenden Tieren durch den kalten Winter. Meist reichte die Zeit für die Renkitze, um bis zum ersten Schneefall heranzuwachsen.

Siidas Familie bestand aus zwei Brüdern, ihrem Vater und ihrer Großmutter. Zusammen lebten sie in einer Kate, einem Zelt aus Stoff und Rentierfellen gearbeitet. Dort gab es Platz für vier mit Pelz bespannte Holzbänke zum Schlafen und Sitzen, einen Ofen in der Mitte sowie einen großen Tisch. Viel mehr brauchten sie nicht zum Leben. Wenn die freilebenden Rentier-Rudel zu neuen Weidegründen zogen, wurde alles auf ein paar Wagen und Schlitten geladen, um den Herden zu folgten. Im schlimmsten Falle konnte man kränkelnde und schwächliche Tiere mit dem Schlitten bergen. Es war ein hartes und entbehrungsreiches Leben. Siida aber hätte es für nichts auf der Welt eingetauscht. Liebevoll kümmerte sie sich in jeder freien Minute um die jungen Rentiere.

Zu solch unglücklichen Fällen kam es (die Samen dankten den Göttern dafür) recht selten. Immer nur wenn einzelne Mütter ihre Rentierbabys nicht annahmen. Fand sich keine Rentierkuh, die das Kitz adoptierte, päppelte Siida die Kleinen auch mit der Hand auf. Sie sprang als Ersatzmutter ein und zog sie groß.

Ende des letzten Winters rettete sie nur durch einen glücklichen Zufall das Leben eines frisch geborenen Rens. Numiru hatte sie das Renkitz kurzerhand getauft. Ein tragisches Schicksal verband Siida mit dem kleinen Kitz. Seine Rentiermutter überlebte dessen Geburt nicht. Auch Siida hatte ihre Mutter nie kennengelernt. Wie Numirus war Siidas Mutter am Tag ihrer Geburt verstorben.

Ihre Großmutter, die von Siida liebevoll Mummo genannt wurde, erzählte immer viel von Siidas Mutter und von der kalten Winternacht, in der Siida zur Welt kam. Anfangs verlief alles günstig, und sie und ihre Mutter waren wohlauf. Dann aber verschlechterte sich der Zustand ihrer Mutter rasch. Die Lager und Zelte der Familie standen weit entfernt von jeder größeren Stadt. Und so kam für Siidas Mutter die Hilfe zu spät.

Siida fühlte sich nicht trauriger als andere Kinder. Sie besaß eine wundervolle Familie. Sie hatte einen liebevollen Vater, zwei nervige große Brüder, die sie trotzdem gern hatte, und da war noch ihre über alles geliebte Großmutter. Jetzt hatte sie ja außerdem ihren kleinen Numiru, der - wenn Mummo es nicht verhinderte - sich auch auf Siidas Bett niederließ.

Numiru wurde geboren, da war das Ende des Winters längst überfällig. Eine dunkle und kalte Nacht, nicht ein Stern stand am Himmel.

Siida erwachte aus der Mitte eines lebhaften Traumes von prächtigen Feen und tanzenden Irrlichtern. Ein dringendes Bedürfnis überkam sie und beendete ihren Schlaf. Fellhose, Stiefel und Jacke waren schnell übergezogen. Vorsichtig schlich sie aus dem Zelt und lief in Richtung des nahen Waldes. Noch vor dem Erreichen der Bäume sah sie aus dem Augenwinkel ein zartes Glimmen, eine flinke Bewegung, einen spärlichen Schein, der von der anderen Seite der Lichtung kam. Ein leises verhaltenes Brummen war zu hören. Vergessen der drängende Grund ihres nächtlichen Ausflugs. Ihre Neugierde überwog.

Behutsam näherte sich Siida dem Ort der tanzenden Lichter. Der vereiste Schnee unter ihren Füßen gab knirschend nach. Sachte erreichte Siida die Stelle auf der Lichtung. Das Leuchten war verschwunden. Zurück blieb ein großer schemenhafter Schatten, der vor ihr im Schnee lag. Siida hörte ein erneutes Brummen. Sie erkannte das Blöken eines Renkitzes. Die Silhouette vor ihr aber erschien zu groß für ein Kitz. Unversehens rissen die verdunkelnden Wolken auseinander. Ein gleißendes Nordlicht entflammte den Himmel und die dämmerige Winterlandschaft tauchte in ein leuchtendes Grün. Ein erwachsenes Ren lag reglos vor ihr im Schnee.

Siida kannte die Gefahr. Selbst für einen Samen war ein ausgewachsenes Rentier keineswegs zahm und zutraulich, eher ein freilebendes, kräftiges Wildtier. Vorsichtig näherte sie sich dem Tier. Die Quelle des kläglichen Jammerns war schnell gefunden. Ein kleines Renkitz, das schreiend im Dunkel des massigen Schattens lag. Siida hörte kein Atmen und kein Schnaufen des großen Körpers. Mit ihrer Hand auf der Brust des Tieres fühlte sie die Reglosigkeit der Renmutter. Das kleine Kitz zitterte bereits erbärmlich. Knarrende Schritte näherten sich aus der Richtung des Zeltes. Auch ihr Vater hatte das Klagen des Rens gehört und kam ihr entgegen. Siida zögerte nicht. Sie nahm das Kitz auf den Arm und kehrte mit ihm zum Zelt zurück. Ihr Vater nickte ihr zu und lief weiter in Richtung des großen reglosen Körpers.

Seit jeher stellten die Herden der Rentiere den besonderen Stolz und Besitz der Samen dar. Schon der Verlust nur eines einzelnen Rens war und ist eine schmerzhafte Einbuße für die gesamte Sippe. Das Volk der Samen lebt seit Jahrhunderten mit den Tieren und von ihnen. Das Fleisch und die Milch dienen als Nahrung, das Fell für Kleidung, Zelte und den Verkauf auf dem Markt. Große Überschüsse oder Reichtümer gab es auch in Siidas Familie nicht. Mit dem was sie hatten, kamen sie gerade so über die Runden.

Siida legte das Tier behutsam auf einen Platz neben ihrem Bett. Mit einem Bündel Stroh begann sie es trocken zu reiben. Durch das Schreien des Renkitzes ebenfalls geweckt, war ihre Großmutter bereits auf den Weg zu ihr. Sie half Siida bei der Versorgung des Kleinen. Nur ihre Brüder ließen sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Sie schliefen mühelos weiter. Das Einzige, was das Jungtier jetzt retten konnte, war die Milch einer anderen Rentiermutter. Vor Anbruch des dämmrigen Tages aber war diese kaum zu finden, womit an Schlaf in dieser Nacht nicht zu denken war.

Der Name, den Siida ihrem Schützling gab, war Numiru, benannt nach einer Sagengestalt aus den Geschichten ihrer Großmutter. Dort erschien er als mutiger kleiner Kämpfer und nichts und niemand vermochte ihn zu schrecken. So dauerte es nicht lange, bis Numiru ihr überall hin folgte, mal gewünscht, mal eher als ungestümer Störenfried. Der Tag an dem Numiru von der Seite an Siidas Bett weichen musste, kam schneller, als es ihm gefiel. Groß und kräftig genug, zog er endgültig zu seinen Brüdern in einen Verschlag vor der Kate. Numiru war damit so gar nicht einverstanden und machte unmutig durch lautes Schreien noch länger auf sich aufmerksam. Siidas Großmutter aber kannte kein Erbarmen. Und so schlief er ab sofort die Nächte auf dem Boden im Freien, ob es ihm mochte oder nicht.

Die Sonne sendete ihre letzten Strahlen in Richtung Norden. Dann breitete sich unerbittliche Dunkelheit bis in den hintersten Winkel des Polarkreises aus. Numiru war zu spät geboren, um den großen Herden durch den Winter schon zu folgen, im Gegensatz zu seinen Brüdern. So war es ihm vergönnt, den kommenden Winter ein letztes Mal bei Siida und ihrer Familie zu verbringen. Erst im nächsten Frühjahr würde sie ihn zu den freien Herden entlassen, wenn Eis und Schnee die für ihre Nahrung so wichtigen Moose und Flechten wieder freigaben.

Siida empfand keinen Groll gegen den strengen Winter. Es war eine besondere Zeit. Ihre Welt fiel in einen entspannten Schlaf. Alles vollzog sich in geruhsamer Bewegung, ganz im Gegensatz zum schnelllebigen Sommer. Alles für den Winter Benötigte, galt es im Sommer zu richten und zu erledigen, Zelte wurden geflickt, Schlitten und Wagen repariert. Neugeborene Renkitze wurden aus der Herde gefangen und mit dem Zeichen der eigenen Familie markiert. In Siidas Fall war das eine kleine geschnitzte Markierung im Ohr, ohne großen Schmerz für die Tiere, doch weithin erkennbar für deren Besitzer. Kein Same wollte es wagen, das Ren eines Nachbarn für seines zu halten. Meist sah man sich nach dem langen Winter in Jokkmokk auf dem Sommermarkt zur Sonnenwende wieder.

Eine Zeit und ein Ort, an dem sich ebenso die trefflichsten Geschichtenerzähler ihres Volkes einfanden, um sich einen aufregenden Wettstreit um deren beste Erzählungen zu liefern.

Auch Siidas Großmutter, bekannt als erfolgreiche Schamanin, Heilerin und Erzählerin ihres Klans, wetteiferte in diesem Sommer zum wiederholten Male um einen Platz unter den Besten. Siida liebte die Atmosphäre und natürlich die Geschichten ihrer Großmutter, denen sie gebannt mit dem anwesenden Publikum auf dem Platz vor den Zelten am Markt lauschte. Wenn sich von einem zum anderen Moment sprachlose Stille ausbreitete und einzig noch das Schnaufen eines Rentieres zu hören war, bevor Siidas Großmutter zum überraschenden Finale ihrer Geschichte ausholte:

„Juntu schnappte nach Luft und suchte Schutz hinter einem massiven Felsen. Den Griff seines Speeres so fest umschlossen, dass die Knöchel schmerzten. Wie ein Blitz sauste er erneut hinter dem Felsen hervor und schleuderte den Speer mit aller Kraft in Richtung des wütenden Riesen.“

Siidas Großmutter legte eine Pause ein.

„Im selben Augenblick schlug die übergroße goldene Axt des gewaltigen Gegners krachend auf den Felsen herab, hinter dem Juntu eben noch kniete. Wie morsches Holz barst der Stein. Splitternd warf der Felsen Juntu zu Boden. Flink sprang er wieder auf die Beine, um einem weiteren Hieb des stampfenden Riesen auszuweichen. Juntus Speer aber traf den Koloss mit großer Wucht. Taumelnd schlug der Riese auf den Boden und die Höhle erzitterte. An seinem Hals eine tiefe klaffende Wunde.“

Mummo holte Luft. Sie genoss die gespannten Blicke ihrer Zuhörer.

„Leblos lag der gewaltige Körper auf dem felsigen Höhlenboden. Dieser Riese war größer als der höchste Baum, den Juntu je gesehen hatte, und zu kraftvollem Zauber fähig. In Juntus-Stamm gab es ebenso bedeutende Zauberer. Aber mit diesem Ungetüm wäre es auch für die Besten unter ihnen ein harter Kampf geworden. Nur gut, dass sich der Riese in seiner Wut nicht mehr auf seine Zauberei besann. Juntu hatte es geschafft. Er hatte den gefährlichen Riesen bezwungen.“

Das Publikum atmete auf und die Großmutter fuhr fort:

„Etliche Monde war es her, da verlies Juntu Volk und Eltern. Und begab sich auf die gefährliche Suche nach den unermesslichen Schätzen der Riesen. Zahllose Männer vor ihm hatten dies versucht, doch nicht einer von ihnen kehrte zurück aus den Bergen, da wo die Riesen wohnen. Nun würde Juntu seine Familie endlich wiedersehen. In der tiefsten Ecke der Höhle des Riesen lagen Truhen mit Gold und Silber versteckt. So viel davon wie möglich lud Juntu auf einen der großen Karren, die in der Behausung des Riesen standen. Er spannte zwei der Rentiere an, die der Riese kurz vorher noch zum Mittag verspeisen wollte, und ging auf die weite Reise heim zu seinem Dorf. Als geachteter und wohlhabender Mann würde er nun zurückkehren.

In Windeseile trieb er die Rentiere die Berge hinunter und immer weiter durch die sumpfigen Ebenen. Sie jagten dahin, als ginge es um ihr Leben. Niemand in seinem Dorf sollte je wieder Hunger oder Armut erleiden. Nie mehr!“

Das Wetteifern der Erzähler war - wie in jedem Jahr - die Krönung des Sommermarktes. Einmal mehr hatte Siidas Großmutter es geschafft. Atemlos war das Publikum ihren aufregenden Geschichten gefolgt. Die Zuhörer kehrten nur langsam in die reale Welt ihres sommerlichen Festes zurück. Immer wieder flammten Gespräche zwischen ihnen auf, mit welchem Mut und Geschick Juntu gegen den Riesen kämpfte.

Das große Fest zur Sommer-Wende galt als Höhepunkt aller Samenstämme und Familien. Aus dem gesamten Land kam man zusammen, um zu feiern und ebenso um zu berichten, wie es einem im langen Winter ergangen war. Man sprach über die Wege der ziehenden Rentierherden, und ob es viele Jungtiere gab. Schilderungen von Verlusten einzelner Tiere durch Wölfe und Bären machten die Runde oder - wenn es nötig wurde - gelegentlich durch böse Geister und Trolle. Wobei man für Letztere doch den Beweis schuldig blieb. Und solche Erklärungen immer nur dann zur Aussage kamen, wenn alles andere nicht half.

Siida war elf Jahre und ein durchaus vernünftiges und aufgeschlossenes Kind. Wesentlich vernünftiger als ihre beiden älteren Brüder. Daran hatte Siida keinen Zweifel. Sie wuchs wie alle Samen mit den Geschichten und dem Glauben ihrer Familie und ihres Volkes auf, wo Trolle, Riesen, Geister und viele Götter immer eine wichtige Rolle spielten. Siida glaubte nicht wirklich an diese Wesen. Für sie gab es diese nur in den Erzählungen ihres Volkes. Ein Umstand, der sie nicht hinderte, die Gutenachtgeschichten ihrer Großmutter über alles zu lieben. Auf keinen Fall wollte sie auf diese wundervollen Sagen und alten Legenden verzichten. Ihre Großmutter erzählte so lebhaft, dass Personen und Figuren zum Greifen nahe vor einem Gestalt annahmen. Sie zog einen in ihren Bann, wenn sie von den Zauberern in den Sümpfen sprach oder von den Riesen aus den Bergen und deren Wissen über unermessliche Schätze. Nur eines gefiel Siida so gar nicht an den Geschichten mit den Riesen, dass diese immer böse sein sollten, und am Ende meist von den Menschen getötet wurden. Siida hatte Mitleid mit den armen Riesen. Selbst wenn sie ja gar nicht daran glaubte! Ihr sehnlichster Wunsch war es, auch einmal so eine herrliche Erzählerin zu werden wie ihre Großmutter. Innig saugte sie jede dieser Geschichten in sich auf, um letztlich den kleineren Kindern heute schon ihre ganz eigenen Versionen der Geschichten und Erzählungen des Samenvolkes zum Besten zu geben. Durchaus mit wachsendem Erfolg, wie sie für sich selbst immer wieder gerne bemerkte. Sogar ihre Großmutter sah mit Stolz, wie ihre Enkelin ihr nacheiferte und in ihre Fußstapfen trat.

Einen Höhepunkt solcher Treffen bildete der Markt. Man handelte und feilschte um Herden und Tiere. Ein Anlass, zu dem jede Familie und jeder Stamm seine eigenen prachtvollen Gewänder und Trachten trug, vom kleinsten Kind bis zum ältesten Samen. Für jeden Fremden war diese nur der Anblick von frohen Farben und Kleidern. Für einen Samen aber hatten sie weit mehr Bedeutung, nicht nur als Symbol für Lebensfreude oder Wohlstand. Ein geübter Same war jederzeit in der Lage, daran Stamm und Sippe zu erkennen.

Mehr als einhundert Familien und Clans kamen zusammen, um zu feiern, zu spielen und Handel zu treiben, sowie zum Küren ihres erfolgreichsten Geschichtenerzählers.

Wie im Flug verging die Zeit des großen Festes, an dessen Ende Siidas Großmutter erneut einen bedeutenden Zuspruch im Wettstreit der Erzähler erhielt. Respektvoll musste sie sich nur ihrem ewigen Konkurrenten und alten Freund Sutko geschlagen geben, dem inzwischen neunzigjährigen Großvater des anverwandten Latka-Clans. Selbst nach so langen Zeiten wusste dieser immer noch neue Geschichten zu erzählen.

Mit Ende des Sommerfestes wurden die Tage bereits wieder kürzer. Einmal mehr, nahm Siida und ihre Familie für lange Zeit Abschied von Freunden und Verwandten. Sie alle kehrten zurück in die ihnen seit Kindesbeinen anvertraute Einsamkeit des skandinavischen Nordens, an ihre Lagerplätze und zu ihren Tieren. Dorthin, wo das Volk der Samen seit etlichen hundert Jahren dem freien Zug ihrer wandernden Rentierherden folgt.

Der Geist des Großen Weißen Bären

Der Winter kam und mit ihm Siidas zwölfter Geburtstag. Ein Tag, den sie schon länger herbeisehnte. Mit ihrem zwölften Lebensjahr sei sie ja auf jeden Fall kein kleines Kind mehr. Dann würden ihre Brüder sie endlich ernster nehmen. War sie doch jetzt schon der Meinung, bedeutend erwachsener zu sein als diese beiden Kindsköpfe. Schwierig war für Siida immer mal wieder die Beharrlichkeit ihrer Großmutter. Siida verstand nicht, warum sie unbedingt darauf pochte, dass sie alles lernen sollte, was in diesen blöden Büchern stand. Ihre Großmutter brachte ihr alles bei, was man hier draußen lernen konnte. Andere Lehrer oder eine Schule gab es nicht.

Zu diesem Zweck kaufte ihre Familie sogar immer mal wieder neue Lehrbücher, soweit es das knappe Geld eben zuließ. Der Weg zu deren Beschaffung war oft lang und mühevoll. So lag die nächste größere Stadt meist weit entfernt von ihren Lagern. Es war eine Aufgabe, die selbst ihr Vater nur widerwillig übernahm, weshalb der Großteil der Bücher auch schon durch die Hände ihrer Geschwister gegangen war. Selbst ihre Brüder entgingen nicht dem unnachgiebigen Diktat ihrer Großmutter. Was jedoch kein Trost für Siida war. Hatte sie es den Beiden immer von Herzen gegönnt, als Mummo Siida in jungem Alter mit den Büchern noch verschonte. Sogar ein Buch ihres Vaters diente ihr zum Lernen. Es trug seine Notizen auf der einen oder anderen Seite. Viel veränderte sich in dieser Welt also nicht. Genau genommen war ihr der Rest der Welt eh einerlei. Was sie brauchte, waren ihre Rentiere. Dann war sie glücklich. Und später einmal wollte sie eine ebenso herrliche Erzählerin werden wie ihre Mummo. Bis dahin aber blieb ihr das lehrhafte Wesen der Großmutter sicher noch eine ganze Weile erhalten.

Zu Siidas Festtag hatte ihr Vater ein paar neue Fellstiefel für sie gearbeitet. Die Alten waren ihr endgültig zu klein. Von ihren Brüdern bekam sie eine Halskette aus Rentierhorn und Muscheln. Diese hatten die Beiden im Sommer auf dem großen Markt in Jokkmokk erstanden und lange heimlich daran geschnitzt. Von Mummo gab es in bewährter Tradition eine neue Kopfbedeckung. Wobei es eher die Alte war, von ihrer Großmutter in zahlreichen Stunden liebevoll überarbeitet und erweitert. Viele Kostbarkeiten besaßen sie nicht. Ihre festliche Kleidung aber trugen sie stets mit Stolz.

Schon früh zog der Winter eisig über das Land. Siida und ihre Familie hatten jede Menge Arbeit. Sie bereiteten ihr Lager und die in ihrer Obhut gebliebenen Tiere auf den Winter vor. Numiru bekam einen ganz eigenen Unterstand an der Außenseite der Kate, windgeschützt und mit reichlich Reisig und Moos gegen die Kälte. So blieb er - wenn schon nicht an Siidas Bett - dann doch in ihrer Nähe.

Der extreme Frost war für Siida und die meisten ihres Volkes nicht das Schlimmste. Hierfür gab es warme Kleidung und Mützen aus dem Fell ihrer Tiere. Das Bitterste war die endlose Dunkelheit. Für viele Monate versank die Sonne hinter dem Horizont, und es dauerte lange Zeit, bevor sie im Frühjahr wieder am Himmel erschien. Einzig die geheimnisvollen Lichter des Nordens halfen durch die Zeit der tiefschwarzen Nacht. Immer wieder wanderten sie lodernd über den Himmel. Sagen, Märchen und Mythen rankten sich um ihre Erscheinung. Angefangen vom Bild des Fuchses, der sie mit seinem Schweif über den Himmel zieht,