Simone de Beauvoir - Kate Kirkpatrick - E-Book
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Kate Kirkpatrick

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Beschreibung

»Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht«, schrieb Simone de Beauvoir. Sie war Philosophin, Schriftstellerin, Existenzialistin und eine feministische Ikone. Ihre Romane erhielten renommierte Literaturpreise und »Das andere Geschlecht« hat die Art und Weise, wie wir über Geschlechtergrenzen denken, für immer verändert. Kate Kirkpatricks Buch ist die erste Biografie von Simone de Beauvoir seit der Veröffentlichung ihrer Briefe und der frühen Tagebücher – vor allem die erst kürzlich erschienenen Briefe an ihren Geliebten Claude Lanzmann werfen ein neues Licht auf ihre Beziehung zu Jean Paul Sartre. Kirkpatrick beschreibt kenntnisreich und spannend, wie sich Beauvoirs Denken und ihr Selbstverständnis entwickelt haben.

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Seitenzahl: 719

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.deFür PamelaIn memoriam amoris amicitiaeAus dem Englischen von Erica Fischer und Christine Richter-Nilsson© 2019 by Kate KirkpatrickTranslated from the English language: BECOMING BEAUVOIR: A LIFEFirst published in Great Britain by Bloomsbury Academicdeutschsprachigen Ausgabe:© Piper Verlag GmbH, München 2020Covergestaltung: Cornelia NiereCovermotiv: Simone de Beauvoir, Paris, 1957 © The Irving Penn FoundationSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Inhalt

Cover & Impressum

Motto

Einleitung: Simone de Beauvoir – Wer ist sie?

1  Aufwachsen wie ein Mädchen

2 Die Tochter aus gutem Hause

3 Gott lieben oder Männer lieben?

4 Die Liebe vor der Legende

5 Die Walküre und der Playboy

6 Ein Zimmer für sich allein

7 Das Trio, das ein Quartett war

8 Krieg drinnen, Krieg draußen

9 Vergessene Philosophie

10 Königin des Existenzialismus

11 Amerikanische Dilemmata

12 Das skandalöse andere Geschlecht

13 Der Liebe ein neues Gesicht geben

14 Geprellt

15 Das Alter zeigt sich

16 Das Sterben des Lichts

Nachworte:  Was wird aus Simone de Beauvoir werden?

Dank

Abkürzungen von Beauvoirs Werken

Ausgewählte Literatur

Bildnachweis

Anmerkungen

Motto

»Alle diese Beziehungen zwischen Frauen, dachte ich, während ich mir rasch die beeindruckende Galerie fiktiver Frauengestalten ins Gedächtnis rief, sind zu simpel. So viel wurde von vornherein ausgespart […] sie werden beinahe ausnahmslos in ihrer Beziehung zu Männern gezeigt.«

Virginia Woolf, Ein Zimmer für sich allein

 

»Die Frau befreien, heißt, sie nicht mehr in den Beziehungen, die sie zum Mann unterhält, gefangen halten, aber nicht, diese Beziehungen negieren.«

Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht

Einleitung: Simone de Beauvoir – Wer ist sie?

Eines Tages im Jahr 1927 hatte Simone de Beauvoir eine Auseinandersetzung mit ihrem Vater über die Bedeutung der Liebe. In einer Zeit, in der Frauen in erster Linie Ehe und Mutterschaft anstreben sollten, las die neunzehnjährige Simone philosophische Werke und träumte davon, eine Philosophie zu entdecken, nach der sie leben konnte. Für ihren Vater bedeutete »lieben« »Dienstleistungen erbringen, Zuneigung, Dankbarkeit«. Sie war anderer Ansicht und widersprach verwundert, dass Liebe mehr bedeutete als Dankbarkeit – nichts, was wir einer Person schulden, weil sie etwas für uns getan hat. »So viele Menschen«, schrieb Beauvoir am folgenden Tag in ihr Tagebuch, »haben die Liebe nie gekannt!«[1]

Diese Neunzehnjährige wusste nicht, dass sie eine der berühmtesten intellektuellen Frauen des 20. Jahrhunderts werden würde, dass ihr Leben ausführlich beschrieben und gelesen werden würde. Allein ihre Briefe und ihre Autobiografie würden über eine Million Worte umfassen,[2] und sie würde philosophische Essays, preisgekrönte Romane, Kurzgeschichten, ein Theaterstück, Reiseberichte, politische Essays und journalistische Arbeiten veröffentlichen – ganz zu schweigen von ihrem Opus magnum Das andere Geschlecht, das als »feministische Bibel« gepriesen wurde. Sie würde Mitbegründerin politischer Zeitschriften werden, erfolgreiche Kampagnen für neue Gesetze führen, gegen die unmenschliche Behandlung von Algerier*innen protestieren, in der ganzen Welt Vorträge halten und Regierungskommissionen leiten.

Simone de Beauvoir würde auch zu einer der berühmt-berüchtigtsten Frauen des 20. Jahrhunderts werden. Mit Jean-Paul Sartre bildete sie ein streitbares intellektuelles Powerpaar. Und leider bestand die öffentliche Wahrnehmung fast das gesamte 20. Jahrhundert über darin, dass er die intellektuelle Power lieferte und sie das Paar. Als Beauvoir 1986 in Paris starb, überschrieb Le Monde ihren Nachruf auf sie und ihre Arbeit mit den Worten »Mehr Popularisierung als Kreation«.[3] Angesichts der vorhandenen Biografien sei es »durchaus verständlich«, schrieb Toril Moi 1994, »wenn man bei deren Lektüre zu dem Schluss kommt, die Bedeutung von Simone de Beauvoir sei weitgehend auf ihre relativ unkonventionelle Beziehung zu Sartre und ihre anderen Geliebten zurückzuführen«.[4]

In den letzten Jahrzehnten ist eine Vielzahl von Enthüllungen über Beauvoir an die Öffentlichkeit gedrungen, zur Überraschung ihrer Leser*innen, die sie zu kennen meinten. Ironischerweise haben aber auch sie Beauvoir als Denkerin in den Hintergrund gerückt, indem sie die Illusion aufrechterhielten, ihr Liebesleben sei das Interessanteste an ihr gewesen. Dabei war es letztendlich ihre Philosophie, die sie dazu brachte, ihr Leben, so, wie sie es führte, zu leben und immer wieder zu überdenken und neu zu bewerten. In ihren Worten: »Es gibt keine Trennung zwischen Philosophie und Leben. Jeder lebendige Schritt ist eine philosophische Entscheidung.«[5]

Wenn die öffentliche Figur Simone de Beauvoir zur Feder griff, schrieb sie nicht nur für sich selbst, sondern für ihre Leser*innen. Ihre Bestseller-Autobiografien wurden als Werke beschrieben, die den philosophischen Ehrgeiz verkörperten, zu zeigen, »wie das Ich stets durch andere geformt wird und mit anderen in Verbindung steht«.[6] Aber Beauvoir wollte mehr sagen als John Donne, der behauptete: »Niemand ist eine Insel.« Denn neben der Beziehung zu anderen leben Beauvoirs Autobiografien von der Überzeugung, dass ein Ich zu sein, nicht bedeutet, dass dieses Ich von der Geburt bis zum Tod unverändert bleibt. Ein Ich zu sein bedeutet einen nie endenden Austausch mit anderen, die sich ebenfalls in einem Prozess unumkehrbaren Werdens wandeln.

Seit Platon haben sich Philosoph*innen mit der Bedeutung der Selbsterkenntnis auseinandergesetzt, die zu einem guten Leben führt. Sokrates forderte »Erkenne dich selbst!«, um Weisheit zu erlangen; »Werde, der du bist!« sei die Aufgabe eines jeden Menschen, schrieb Nietzsche. Doch Beauvoirs philosophische Erwiderung lautete: Was, wenn »der du bist« für eine Frau verboten ist? Was, wenn du selbst zu werden so angesehen wird, als scheiterst du, das zu werden, was du sein solltest – ein Scheitern als Frau, als Liebende, als Mutter? Was, wenn du selbst zu werden dich zur Zielscheibe von Gespött, Bosheit und Scham macht?

Beauvoirs Jahrhundert brachte den Frauen seismische Veränderungen. Während ihrer Lebenszeit (1908 – 1986) wurden Frauen gleichberechtigt mit Männern zur Universität zugelassen und eroberten sich das Wahlrecht, die Scheidung und die Empfängnisverhütung. Beauvoir durchlebte die Bohemeblüte des Paris der Dreißiger- und die sexuelle Revolution der Sechzigerjahre. Zwischen diesen kulturellen Wendepunkten markierte Das andere Geschlecht einen revolutionären Moment, an dem Frauen in der Öffentlichkeit offen über sich selbst nachzudenken und schließlich zu sprechen begannen. Beauvoirs philosophische Bildung war für ihre Generation beispiellos, und doch war sie, als sie sich mit Ende dreißig die Frage stellte, »Was hat es für mich bedeutet, eine Frau zu sein?«, schockiert über das, was sie entdeckte.

In einem Jahrhundert, in dem »Feminismus« viele verschiedene Bedeutungen bekam, schrieb sie Das andere Geschlecht, weil sie irritiert war über die »Bände an Idiotie«, die reihenweise über Frauen produziert wurden, ermüdet von der Tinte, die in die »Debatte über den Feminismus« floss.[7] Doch als Beauvoir ihre heute berühmte Zeile schrieb – »Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es« –, wusste sie nicht, wie sehr dieses Buch den Rest ihres Lebens und das Leben einiger anderer, die nach ihr kamen, beeinflussen würde.

Viel Tinte wurde über die Bedeutung dieses Satzes verbraucht, über die Bedeutung dessen, was es heißt, eine Frau zu »werden«. Dieses Buch widmet sich der Frage, wie Beauvoir sie selbst wurde. Im Alter von achtzehn Jahren schrieb Beauvoir, sie habe erkannt, dass es unmöglich sei, ihr Leben »ordentlich zu Papier zu bringen«, weil es sich im Zustand beständigen Werdens befand; wenn sie las, was sie am Vortag in ihr Tagebuch geschrieben hatte, kam es ihr vor, als lese sie über »Mumien toter Ichs«.[8] Sie war eine Philosophin, die zur Reflexion neigte und die Werte ihrer Gesellschaft und die Bedeutung ihres Lebens unablässig hinterfragte.

Wegen der Rolle, die Beauvoir dem Vorüberziehen der Zeit in der Erfahrung, Mensch zu sein, zuschrieb, folgt diese Biografie der Chronologie ihres Lebens. Als sie älter wurde, sagte sie, die Welt verändere sich ebenso wie ihre Beziehung zu ihr. Als Beauvoir ihr Leben aufschrieb, um es andere lesen zu lassen, wollte sie »die Wandlungen, die Reifeprozesse, den unaufhaltsamen Verfall meiner selbst und anderer« aufzeigen. Weil das Leben sich über die Jahre entfaltet, wollte sie »den Faden meiner Geschichte dort wieder aufnehmen, wo ich ihn habe fallen lassen«.[9] Darin ähnelte sie der jungen Frau, die sie einst war, der jugendlichen Leserin von Henri Bergsons Philosophie. Das Ich ist keine Sache, schrieb Bergson – es ist »Fortschreiten«, eine »lebendige Aktivität«,[10] ein Werden, das sich immer weiter verändert, bis es seine Grenze im Tod findet.

Die Frau, die Beauvoir wurde, war zum Teil das Ergebnis ihrer eigenen Entscheidungen. Doch Beauvoir war sich der Spannung zwischen ihrem eigenen Ich und dem Ich als Produkt dessen, was andere aus ihm machten, überaus bewusst, des Konflikts zwischen ihren eigenen Wünschen und den Erwartungen anderer. Jahrhundertelang hatten französische Philosophen die Frage diskutiert, ob es besser sei, ein von anderen gesehenes oder ein unsichtbares Leben zu führen. Descartes behauptete (mit Ovids Worten): »Gut hat gelebt, wer sich gut verborgen hat«.[11] Sartre würde ganze Bände über den objektivierenden »Blick« anderer schreiben – der uns seiner Meinung nach in Beziehungen der Unterordnung einsperrt. Beauvoir war anderer Meinung: Um gut zu leben, müssen Menschen von anderen gesehen werden – sie müssen jedoch richtig gesehen werden.

Das Problem ist, dass das richtige Sehen davon abhängt, wer sieht und wann. Stellen Sie sich vor, Sie sind eine Frau Anfang fünfzig und haben sich kürzlich dazu entschieden, Ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. Sie beginnen mit Ihren Mädchenjahren und Ihrer Jugend, Ihrer Entwicklung zur Frau, und veröffentlichen rasch hintereinander zwei erfolgreiche Bände. Darin beschreiben Sie zwei Unterhaltungen, die Sie im Alter von einundzwanzig Jahren mit einem heute berühmten Mann geführt haben, der einmal Ihr Geliebter war. Auch Sie sind gut ausgebildet und international bekannt. Aber wir befinden uns in den späten 1950ern, und das Schreiben von Autobiografien von Frauen hat noch nicht den Wendepunkt des 20. Jahrhunderts erreicht, an dem sie begannen, öffentlich zu bekennen, dass sie Ambitionen hatten und Wut empfanden, geschweige denn, dass sie rekordverdächtige intellektuelle Leistungen erbrachten oder über einen sexuellen Appetit verfügten, den auch ein sehr berühmter Mann enttäuschen konnte. Stellen Sie sich vor, dass Ihre Geschichten legendär werden – so legendär, dass sie zu einer Linse werden, durch die die Leute Ihr gesamtes Leben lesen, obwohl es sich nur um Momentaufnahmen handelte.

Beauvoirs öffentliche Person wurde – bis zur völligen Verzerrung – durch zwei solche in ihren Memoiren erzählte Geschichten geprägt. Die erste führt uns im Oktober 1929 nach Paris, wo zwei Philosophiestudierende vor dem Louvre saßen und ihre Beziehung definierten. Sie hatten eben in einer extrem anspruchsvollen und prestigereichen nationalen Prüfung den ersten und den zweiten Platz erreicht (Sartre den ersten, Beauvoir den zweiten) und waren dabei, ihre Karriere als Philosophielehrende in Angriff zu nehmen. Jean-Paul Sartre war vierundzwanzig, Beauvoir einundzwanzig. Sartre wünschte sich keine konventionelle Treue (so lautet die Erzählung), weshalb sie einen »Pakt« schlossen, nach dem sie jeweils füreinander die »notwendige Liebe« sein, einander aber jeweils »kontingente Lieben«, Zufallslieben, zugestehen würden.[12] Sie wollten eine offene Beziehung führen, wobei sie einander jeweils den ersten Platz in ihrem Herzen vorbehielten. Sie würden sich alles erzählen, versprachen sie einander, und am Anfang sollte ein »Zweijahresvertrag« stehen. Dieses Paar würde, wie die Sartre-Biografin Annie Cohen-Solal es ausdrückte, »ein alternatives Modell« werden, »einen Traum dauerhafter Komplizenschaft, einen unglaublichen Erfolg darstellen, da ihm offenbar die Vereinbarung von Unvereinbarem gelungen ist: Beide Partner blieben frei, gleichberechtigt und das ohne jede Lüge.«[13]

Ihr polyamouröser »Pakt« löste solche Neugierde aus, dass sowohl über ihre Beziehung als auch über ihr jeweiliges Leben Bücher geschrieben wurden; sie bekamen ein ganzes Kapitel in Wie die Franzosen die Liebe erfanden und wurden in Schlagzeilen »das erste moderne Paar« genannt.[14] In Carlo Levis Augen schrieb Beauvoir mit In den besten Jahren »die große Liebesgeschichte des Jahrhunderts«.[15] In ihrem 2005 veröffentlichten Buch über Beauvoirs und Sartres Beziehung schrieb Hazel Rowley: »Wie Abälard und Héloïse ruhen sie in einem Grab. So sind ihre Namen in Ewigkeit miteinander verbunden. Sie gehören zu den legendären Paaren dieser Welt. Der eine ist nicht denkbar ohne die andere, und umgekehrt: Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre.«[16]

In mancher Hinsicht gibt es dieses Buch, weil es tatsächlich schwierig ist, die beiden ohne einander zu denken. Nachdem ich einige Jahre über Sartres frühe Philosophie gearbeitet hatte, wurde ich immer misstrauischer angesichts des asymmetrischen Maßstabs, der an das jeweilige Leben von Beauvoir und Sartre angelegt wurde. Warum sprach jeder Nachruf von Sartre, als sie starb, während manche Nachrufe nach Sartres Ableben sie überhaupt nicht erwähnten?

Während eines Großteils des 20. und selbst noch des 21. Jahrhunderts wurde an Beauvoir nicht als eigenständige Philosophin erinnert. Teilweise ist dies einer zweiten signifikanten Geschichte geschuldet, die Beauvoir selbst erzählte. Anfang 1929, ebenfalls in Paris in der Nähe des Medici-Brunnens im Jardin du Luxembourg, beschloss Beauvoir Sartre in ihre eigenen Gedanken einzuweihen: in die »pluralistische Moral«, die sie sich zurechtgelegt hatte – doch Sartre »zerpflückte sie«, und plötzlich war sie sich »dessen, was ich denke, nicht mehr sicher«.[17] Es besteht kein Zweifel, dass sie einer der Stars unter den Philosophiestudierenden in einer schillernden, brillanten Ära war; in jenem Sommer würde sie – im Alter von einundzwanzig Jahren – die jüngste Person sein, die jemals die außerordentlich anspruchsvolle Zulassungsprüfung für das höhere Lehramt bestand, die Agrégation. Ebenso wie Sartre suchte sich der angehende Philosoph Maurice Merleau-Ponty derart, dass er jahrzehntelang mit ihr persönlich und schriftlich in Verbindung blieb. Doch selbst später in ihrem Leben würde Beauvoir darauf bestehen »keine Philosophin« zu sein. Sie sei eine »Literatin«, behauptete sie, und »Sartre ist der Philosoph«.[18]

Diese Unterhaltung am Medici-Brunnen ließ spätere Generationen fragen: War es möglich, dass Beauvoir – die Frau, die Das andere Geschlecht schrieb – ihre eigenen Fähigkeiten unterschätzte oder irreführend abschwächte? Warum sollte sie das tun? Beauvoir war eine herausragende Gestalt: Viele ihrer Leistungen waren beispiellos und bahnten den Weg für künftige Frauen. In feministischen Kreisen wurde sie als ein beispielgebendes Ideal gefeiert. »Eine Frau, die mit ihrem Weggefährten unverheiratet, in getrennter Wohnung und in ›freier Liebe‹ lebte – und begehrenswert war. […] Kurzum: eine ganz und gar unerhörte Erscheinung! Ein ›role model‹, wie man heute sagen würde, der allerersten Güte.«[19] Doch eine ihrer zentralen Behauptungen in Das andere Geschlecht ist, dass keine Frau jemals ihr Leben »frei von Konventionen und Vorurteilen« gelebt habe. Bestimmt nicht Beauvoir. Und diese Biografie erzählt, wie sie auf vielfältige Weise darunter litt – und wie sie sich wehrte.

Beauvoirs aufmerksame Leser*innen hatten immer schon den Verdacht, dass sie das Bild von sich in ihrer Autobiografie bearbeitet hatte, nur wie und warum sie das tat, blieb unklar. Schließlich zeigte die Geschichte des Paktes eine Frau, die sich dafür einsetzte, die Wahrheit zu sagen, und die Autorin von Das andere Geschlecht wollte Licht in die Realität der Lebenssituation von Frauen bringen. Machte ihr Wille zum prüfenden Blick vor sich selbst halt? Und wenn nicht, warum sollte sie wesentliche Teile ihres Lebens – intellektuelle und persönliche – vor der Öffentlichkeit verbergen wollen? Und warum ist es wichtig, die Art, wie man sich heute an ihr Leben erinnert, zu überdenken?

Die erste Antwort auf diese Fragen – es sind zwei – lautet, dass wir Zugang zu neuem Material haben. Beauvoirs Autobiografien wurden zwischen 1958 und 1972 in vier Bänden veröffentlicht. Im Laufe ihres Lebens schrieb sie viele andere Werke, die autobiografisches Material enthielten, einschließlich zwei Chroniken über ihre Reisen nach Amerika (1948) und China (1957) sowie zwei Memoiren über den Tod ihrer Mutter (1964) und Sartres (1981). Außerdem veröffentlichte sie eine Auswahl von Sartres an sie gerichteter Briefe (1983).[20]

Zu ihren Lebzeiten dachten manche aus dem Kreis, der sich um Sartre und Beauvoir gebildet hatte – patronymisch als »die Sartre-Familie« (la famille Sartre) oder einfacher als »die Familie« bekannt –, sie würden verstehen, was Beauvoir mit dem autobiografischen Projekt bezweckte: Sie wollte die Kontrolle über ihr öffentliches Bild übernehmen. Viele vermuteten, dass sie es aus Eifersucht tat, weil sie als die Erste in Sartres Liebesleben erinnert werden wollte, als seine »notwendige Liebe«.

Doch in den Jahrzehnten seit Beauvoirs Tod 1986 wurden neue Tagebücher und Briefe veröffentlicht, die Zweifel an dieser Annahme aufkommen lassen. Nachdem Beauvoir Sartres an sie gerichtete Briefe 1983 veröffentlichte, verlor sie einige Freund*innen, als Details dere Beziehungen an die Öffentlichkeit drangen. Und als ihr Kriegstagebuch und ihre Briefe an Sartre nach ihrem Tod 1990 publiziert wurden, waren viele schockiert, dass sie nicht nur lesbische Beziehungen hatte, sondern dass die Frauen, mit denen sie sie hatte, ehemalige Studentinnen waren. Ihre Briefe an Sartre legten auch den philosophischen Charakter ihrer Freundschaft und ihren Einfluss auf sein Werk offen – aber darauf wurde selten eingegangen.[21]

Dann kamen 1997 ihre Briefe an ihren amerikanischen Geliebten Nelson Algren, und wieder sah die Öffentlichkeit eine Beauvoir, wie sie sie niemals erwartet hätte: eine zärtliche, empfindsame Simone, die an Algren leidenschaftlichere Worte schrieb als je an Sartre. Weniger als ein Jahrzehnt später, 2004, wurde ihre Korrespondenz mit Jacques-Laurent Bost auf Französisch veröffentlicht, die bewies, dass Beauvoir innerhalb der ersten zehn Jahre ihres Pakts mit Sartre eine leidenschaftliche Affäre mit einem Mann hatte, mit dem sie bis zu ihrem Tod verbunden blieb. Das war ein weiterer Schock und verdrängte Sartre vom romantischen Mittelpunkt, den er in der öffentlichen Fantasie einnahm. Sartre kämpfte darum, Beauvoirs zentrale Stellung in seinem intellektuellen Leben deutlich zu machen, indem er ihren spürbaren kritischen Einfluss auf sein Werk öffentlich betonte. Doch eine Bewertung von Beauvoirs Leben scheint eine gewaltsame Vertreibung Sartres aus dem Zentrum zu erfordern.

In den letzten zehn Jahren wurden weitere neue Schriften und Dokumente veröffentlicht, die Beauvoir in noch deutlicherem Licht zeigen. Beauvoirs Tagebücher aus ihrer Studienzeit – die die Entwicklung ihrer Philosophie vor ihrer Begegnung mit Sartre und ihre ersten Eindrücke von dieser Beziehung aufzeigen – legen offen, dass sich das Leben, das sie führte, stark von dem unterschied, worüber sie der Öffentlichkeit berichtete. Obwohl ihre Tagebücher 2008 auf Französisch erschienen, sind sie weder auf Deutsch noch auf Englisch zur Gänze erhältlich, weshalb diese Phase ihres Lebens außerhalb wissenschaftlicher Zirkel wenig bekannt ist. 2018 wurde weiteres neues Material für die Forschung zugänglich, einschließlich der Briefe, die Beauvoir ihrem einzigen Geliebten schrieb, mit dem sie je zusammenlebte und den sie in der vertrauten zweiten Person ansprach, tu: Claude Lanzmann.[22] Im selben Jahr wurde in Frankreich eine renommierte zweibändige Ausgabe von Beauvoirs Memoiren in der Pléiade-Edition des Verlags Gallimard veröffentlicht, komplett mit Auszügen aus unveröffentlichten Tagebüchern und Arbeitsnotizen zu ihren Manuskripten. Zusätzlich zu diesen Veröffentlichungen auf Französisch haben die Beauvoir-Research-Series in den letzten Jahren viele von Beauvoirs frühen Schriften veröffentlicht, von philosophischen Essays über Ethik und Politik bis zu ihren Artikeln für Vogue und Harper’s Bazaar.

Dieses neue Material zeigt, dass Beauvoir in ihren Memoiren vieles wegließ – es veranschaulicht aber auch einen der Gründe für diese Auslassungen. Im mediengesättigten Internetzeitalter ist es schwer vorstellbar, wie sehr die Veröffentlichung von Beauvoirs Autobiografie den zeitgenössischen Vorstellungen von Privatheit zuwiderlief. Ihre vier Bände (oder sechs, wenn man die Memoiren über den Tod ihrer Mutter und Sartres dazuzählt) erzeugten bei ihren Leser*innen ein Gefühl intimer Vertrautheit. Doch Beauvoir versprach nicht, alles zu erzählen: Ja, sie sagte ihren Leser*innen, dass sie bewusst einige Dinge im Dunkeln gelassen habe.[23]

Doch das jüngst veröffentlichte Material – ihre Tagebücher und unveröffentlichten Briefe an Claude Lanzmann – zeigt, dass es nicht nur Geliebte waren, die sie im Dunkeln gelassen hatte, sondern auch die frühe Genese ihrer Liebesphilosophie und den Einfluss ihrer Philosophie auf Sartre. Ihr Leben lang war sie von Leuten geplagt worden, die ihre Fähigkeiten oder ihre Originalität infrage stellten – manche unterstellten sogar, Sartre habe ihre Bücher geschrieben. Selbst ihrem »Mammutbauwerk« Das andere Geschlecht wurde vorgeworfen, sich auf »zwei dünne Postulate« zu stützen, die Beauvoir Sartres Das Sein und das Nichts entnommen hatte; ihr wurde vorgeworfen, sich auf Sartres Werke »wie auf einen heiligen Text« zu beziehen.[24] In manchen ihrer Schriften verurteilt sie explizit diese Herabsetzungen als falsch. Doch sie setzten ihr im Leben ebenso zu wie im Tod: Ein Nachruf erklärte sie herablassend als »unfähig, etwas zu erfinden«.[25]

Es mag heutige Leser*innen überraschen zu erfahren, dass dieser Frau mangelnde Eigenständigkeit im Denken vorgeworfen wurde. Doch war das (und ist es leider immer noch) etwas, das Schriftstellerinnen häufig erlebten – und oft auch von ihnen selbst verinnerlicht wurde. Beauvoir hatte sehr wohl ihre eigenen Ideen, manche von ihnen ähnelten jenen, für die Sartre berühmt wurde; ein Jahr lang veröffentlichte sie unter seiner Verfasserzeile, weil er beschäftigt war, und niemand bemerkte es. Sartre räumte ein, dass es ihre Idee war, seinen ersten Roman Der Ekel zu einem Roman anstatt zu einer abstrakten philosophischen Abhandlung zu machen, und dass sie eine strenge Kritikerin war, die seine Manuskripte während seiner langen Karriere vor der Veröffentlichung mit ihren Einsichten verbesserte. In den Vierziger- und Fünfzigerjahren schrieb und veröffentlichte sie ihre eigene Philosophie, kritisierte Sartre und brachte ihn schließlich dazu, seine Meinung zu ändern. In ihrer späteren Autobiografie verteidigte sie sich gegen Angriffe gegen ihre Fähigkeiten und beanspruchte ohne Umschweife, dass sie vor ihrer Begegnung mit Sartre (der dann das Buch Das Sein und das Nichts schrieb) ihre eigene Philosophie des Seins und Nichts entwickelt hatte und nicht zu denselben Schlüssen gekommen war wie er. Doch dieser Anspruch auf ihre Unabhängigkeit und Originalität wurde zumeist übersehen, ebenso wie manche Dinge, die man »sartrisch« nannte, die aber in Wirklichkeit nicht von Sartre stammten.

Das führt mich zu meiner zweiten Frage, warum wir Beauvoirs Leben jetzt neu bewerten sollten. Eine Biografie kann offenlegen, was einer Gesellschaft wichtig, was ihr wertvoll ist – und durch eine Begegnung mit den Werten einer anderen Person in einer anderen Zeit können wir mehr über unsere eigene lernen. Das andere Geschlecht kritisierte viele »Mythen« der Weiblichkeit als Projektionen männlicher Ängste und Fantasien über Frauen.[26] Viele dieser Mythen nehmen Frauen als Akteurinnen nicht zur Kenntnis – als bewusste menschliche Wesen, die Entscheidungen treffen und Pläne für ihr Leben aufstellen, die als solche lieben und geliebt werden wollen und leiden, wenn sie in den Augen anderer nur Objekte sind. Bevor sie Sartre begegnete, ein Jahr ehe sie mit ihrem Vater einen Streit über die Liebe hatte, schrieb die achtzehnjährige Beauvoir in ihr Tagebuch: »Es gibt mehrere Dinge, die ich an der Liebe hasse.«[27] Ihr Einspruch war ethisch: Männer mussten nicht denselben Idealen entsprechen wie Frauen. Beauvoir wuchs in einer Tradition auf, die postulierte, eine moralische Person solle »den Nächsten lieben wie sich selbst«. Doch Beauvoirs Erfahrung zeigte ihr, dass diese Vorschrift selten eingehalten wurde: Immer schienen die Leute sich selbst zu viel oder zu wenig zu lieben; kein Beispiel für die Liebe aus Büchern oder aus dem Leben befriedigte ihre Erwartungen.

Es ist absolut unklar, ob Beauvoirs Erwartungen von den Lieben, die sie eingehen würde, befriedigt wurden. Klar aber ist, dass Beauvoir immer wieder den Entschluss fasste, ein philosophisches Leben zu führen, ein nachdenkliches Leben, das ihren eigenen intellektuellen Werten entsprach, ein Leben in Freiheit. Sie entschied sich dazu, indem sie in verschiedenen literarischen Formen schrieb – und in einem lebenslangen Gespräch mit Sartre. Es ist wichtig, Beauvoirs Leben heute neu zu überdenken, weil Beauvoir und Sartre in der populären Fantasie durch ein sehr zweideutiges Wort vereint waren – »Liebe« –, und »Liebe« war ein Konzept, das Beauvoir einer jahrzehntelangen philosophischen Prüfung unterzog.

Eine Neubewertung von Beauvoirs Leben ist auch deshalb von Bedeutung, weil Beauvoir im Laufe der Zeit unzufrieden wurde mit der Art, wie ihr Leben dargestellt wurde – damit, dass die Figur »Simone de Beauvoir« sich vom Narrativ der konventionellen Ehe entfernte, nur um durch einen anderen erotischen Plot ersetzt zu werden. Sogar nach ihrem Tod beeinflussten weitverbreitete Annahmen über »was Frauen wollen« und »was Frauen tun können« die Art und Weise, in der man sich an Beauvoirs Leben erinnerte. Ob romantisch oder intellektuell, sie bekam die Rolle als Sartres Beute.

Was die romantische Seite anbelangt, so stand hinter der Vorstellung von Beauvoir als Sartres Opfer die Annahme, dass sich, sobald »Liebe« im Spiel ist, alle Frauen, wenn sie wirklich ehrlich sind, eine lebenslange Monogamie mit Männern wünschen. Innerhalb der fünf Jahrzehnte des »legendären Paars« machte Sartre sehr öffentlich zahlreichen »kontingenten« Frauen den Hof. Beauvoir hingegen schien (weil sie sie aus ihren Memoiren ausließ) wenige kontingente Beziehungen mit Männern gehabt zu haben, die noch dazu alle vorbei waren, als sie Anfang fünfzig war. Vor diesem Hintergrund schlossen manche, Sartre habe sie in einer ausbeuterischen Beziehung hintergangen, in der sie, obgleich nicht verheiratet, die allzu vertrauten Rollen des unbekümmerten Schürzenjägers und der treuen Frau spielten. Manchmal wird ihr Leben als Unglücksfall patriarchaler Normen beschrieben und unterstellt, eine alternde oder intellektuelle Frau sei weniger begehrenswert als ein alternder oder intellektueller Mann. Und manchmal ist sie die Betrogene ihrer eigenen Dummheit. Wie ihre ehemalige Studentin Bianca Lamblin es formulierte, habe Beauvoir »sich die Grube selbst gegraben«, da sie die Ehe nicht akzeptiert und keine Familie gegründet hatte.[28] Louis Menand schrieb im New Yorker, dass Beauvoir zwar eine beeindruckende Person sei, aber nicht aus Eis. »Obwohl ihre Affären überwiegend Liebesgeschichten waren, geht aus fast jeder von ihr geschriebenen Zeile hervor, dass sie sie alle aufgegeben hätte, hätte sie Sartre für sich allein haben können.«

Im Gegensatz dazu offenbart Beauvoirs Tagebuch aus ihrer Studienzeit, dass sie schon wenige Wochen nach der Begegnung mit Jean-Paul Sartre ihm eine unersetzbare Rolle zuwies: Sie sei glücklich, Sartre gefunden zu haben, und er sei »in meinem Herzen, in meinem Körper und vor allem (denn in meinem Herzen und in meinem Körper könnten viele andere sein) der unvergleichliche Freund meines Denkens«.[29] Es sei mehr Freundschaft als Liebe, erklärte sie später in einem Brief an Nelson Algren, weil Sartre »sich aus der Sexualität nicht viel macht. Er ist in allem ein warmherziger, lebhafter Mann – nur nicht im Bett. Ich spürte das bald, obwohl ich keine Erfahrung hatte, und allmählich wurde es sinnlos, sogar ungehörig, weiterhin wie Geliebte zusammenzuleben«.[30]

War »die große Liebesgeschichte des Jahrhunderts« letztlich die Geschichte einer Freundschaft?

Was ihre intellektuelle Leistung anbelangt, wurde Beauvoir auch als Opfer von Sartre, des Patriarchats oder ihres persönlichen Versagens beschrieben. Hatte Beauvoir die Misogynie verinnerlicht? Mangelte es ihr an Vertrauen in ihre eigene philosophische Befähigung? Ihr ganzes Leben lang hatte man Beauvoir vorgeworfen, Sartres Ideen »popularisiert« zu haben. Sie hatte – um Virginia Woolfs Metapher zu bemühen – »als Spiegel gedient, der jene magische und bezaubernde Macht besitzt, die Gestalt von Männern in doppelter Größe wiederzugeben«.[31] Ihr wurde sogar, schlimmer noch, vorgeworfen, mit dieser »Vergrößerungsrolle« zufrieden zu sein.

Doch es ist schwer auszumachen, inwieweit Beauvoirs angeblich »untergeordneter« Status auf Beauvoir und Sartre selbst zurückzuführen ist und inwieweit auf den verbreiteten kulturellen Sexismus. Auch heute noch werden Frauen, wie wir wissen, häufig eher in einem Beziehungszusammenhang (persönlich oder familiär) gesehen als für ihre beruflichen Leistungen gewürdigt, werden eher mit passiven als mit aktiven Verben beschrieben, sind negativen Genderunterscheidungen ausgesetzt (»obwohl eine Frau, dachte Simone wie ein Mann«, zum Beispiel) und werden eher paraphrasiert, als mit ihrer eigenen Stimme zitiert.

Prominent publizierte Kommentare haben während ihrer gesamten Karriere immer wieder das öffentliche Bild von Beauvoir als Sartres Double oder Schlimmeres bedient:

The New Yorker,22. Februar 1947:

»Sartres weibliches intellektuelles Gegenstück«; »die hübscheste Existentialistin, die man je gesehen hat«.

William Barrett (Philosoph), 1958:

»… diese Frau, seine Freundin, die ein Buch über weiblichen Protest geschrieben hat.«[32]

Le Petit Larousse, 1974:

»Simone de Beauvoir: Literatin, Sartres Schülerin.«

The Times,London, 1986:

»Sowohl in ihrem philosophischen als auch in ihrem politischen Denken folgt sie seiner Spur.«[33]

Le Petit Larousse,1987:

»Simone de Beauvoir: Sartres Schülerin und Lebensgefährtin sowie eine leidenschaftliche Feministin.«

Deirdre Bair, Beauvoirs erste Biografin, 1990:

Sartres »Gefährtin«, die die »Anwendung, Verbreitung, Auslegung, Unterstützung und Verwaltung« seiner »philosophischen, ästhetischen, ethischen und politischen Grundsätze« übernimmt.[34]

The Times Literary Supplement,2001

»Sartres Sexsklavin?«[35]

Da viele von Beauvoirs eigenen Worten bis vor relativ kurzer Zeit nicht verfügbar waren, haben selbst einige ihrer einfühlsamsten Kommentator*innen sie als eine Person dargestellt, die sich Sartres Zauber passiv unterwarf. In intellektueller Hinsicht wurde Beauvoir als »heimliche Philosophin« beschrieben, die die Philosophie aufgab (wodurch sie »nach Sartre die Zweite« wurde), weil sie nicht fähiger erscheinen durfte, »wenn sie ihre Verführungskraft bewahren will«.[36] Vom romantischen Standpunkt aus betrachtet, schrieb Toril Moi, war Beauvoirs Beziehung zu Sartre »der einzige sakrosankte Bereich ihres Lebens, der sogar vor ihrer eigenen kritischen Aufmerksamkeit geschützt werden muss«.[37] Bell hooks schreibt, dass »Beauvoir Sartres Vereinnahmung ihrer Ideen ohne Quellenangabe passiv akzeptierte«.[38] Persönlich jedoch übte Beauvoir seit den frühen Tagen ihrer Beziehung Kritik an Sartre; und philosophisch verteidigte sie sehr wohl ihre eigene Originalität – wenn auch vermehrt erst später in ihrem Leben, als sie erkannte, wie aufgebläht und einseitig die Behauptungen über Sartres Einfluss auf sie wurden.

Neben den Bedenken, sie sei ein ausgebeutetes Opfer, gab es auch das Bild von Beauvoir als ausbeuterischem Drachen. Die posthume Veröffentlichung ihrer Briefe an Sartre und ihrer Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg offenbarten ihre sexuellen Beziehungen zu drei jungen Frauen in den späten Dreißiger- und frühen Vierzigerjahren, die einst ihre Schülerinnen gewesen waren. Mit manchen von ihnen würde auch Sartre später eine Beziehung haben. Schlimm genug, wurde eingewandt, dass sie sich an Frauen heranmachte, die viele Jahre jünger waren als sie und zu ihr in einer ungleichen Machtbeziehung standen; aber »präparierte« Simone de Beauvoir junge Frauen auch für Sartre? Das Paar des Paktes legte großen Wert darauf, einander die Wahrheit zu sagen – ein zentraler Aspekt der öffentlichen Mythologie ihrer Beziehung. Als also Details ihrer Trios ans Licht drangen, lösten sie Schock, Ekel und Rufmord aus: »Es stellte sich heraus, dass die beiden Anwälte von Wahrheit und Aufrichtigkeit einer beträchtlichen Menge emotional verunsicherter junger Mädchen Lügen aufgetischt hatten.«[39]

Doch die Geringschätzung, die sie provozierten, war erneut verdächtig asymmetrisch: Sei es, weil Beauvoir eine Frau war oder weil sie die Frau war, die später Das andere Geschlecht schreiben würde, in jedem Fall schien es so viel überraschender, dass sie sich eines solchen Verhaltens schuldig gemacht haben sollte. Als Beauvoirs Kriegstagebuch 2009 auf Englisch erschien, betitelte eine angewiderte Rezensentin ihre Kritik mit »Lauter Lügen und sonst nichts« und gab sich schockiert, dass Beauvoir in ihren Memoiren »eine unehrliche Seite nach der anderen« geschrieben hatte.[40] In den Augen mancher Leser*innen interessierte sich diese Beauvoir nur für sich selbst, und ihre Romane waren Eitelkeit in Reinkultur. Als Beauvoirs Briefe an Sartre 1991 auf Englisch erschienen, nannte Richard Heller sie »schal« und beklagte die »entmutigende, narzisstische Qualität des Materials«.[41]

Leser*innen könnten dazu verleitet werden, Beauvoir aufzugeben, wenn sie sehen, wie sie diese Frauen schilderte. Eine ihrer Geliebten – mit der Beauvoir bis zu ihrem Tod befreundet blieb – schrieb nach der posthumen Veröffentlichung von Beauvoirs Briefen an Sartre ihre Memoiren. Obwohl seit den Ereignissen, die in den Briefen beschrieben wurden, Jahrzehnte vergangen waren, fühlte sie sich nach der Lektüre missbraucht und verraten. Wem sollte man Glauben schenken – und wann? Welchen Sinn machten derlei Vorwürfe gegenüber jener Frau, die später eine rigorose Ethik verfasste, die verlangte, Frauen mit dem Respekt zu behandeln, der ihrer Würde als freie, bewusste Menschen gebührt? Schließlich ist es Beauvoir zu verdanken, dass das Wort »Sexismus« in den französischen Wortschatz aufgenommen wurde.[42] Sie wurde von Feministinnen wie Toril Moi und bell hooks als »die emblematische intellektuelle Frau des 20. Jahrhunderts« bewundert, als »die einzige intellektuelle Denkerin und Schriftstellerin, die ihren Geist vollständig ausschöpfte, so wie ich es gern getan hätte«.[43]

Die Antworten auf diese Fragen sind wichtig, denn Beauvoirs Autorität wurde von vielen Feministinnen ins Feld geführt, um ihre Forderungen zu rechtfertigen – ob sie nun damit einverstanden gewesen wäre oder nicht. »Simone de Beauvoir« wurde zu einer ikonischen Feministin und zu einem postfeministischen Konsumartikel: »ein Markenzeichen ihrer selbst, eine in eine Marke verwandelte Person«.[44] Doch die Wahrnehmung von Marken ist bekanntermaßen wankelmütig. Während manche Feministinnen ihre scharfsinnige Analyse der Unterdrückung der Frauen zelebrierten, löste insbesondere Beauvoirs Kritik am Liebesideal Wut bei ihren Zeitgenoss*innen aus, die sich rächten, indem sie sie herabsetzten und beschimpften. Als Beauvoir im Mai 1949 einen Auszug aus Das andere Geschlecht veröffentlichte, in dem sie schrieb, die Frauen würden nicht einen Geschlechterkampf anstreben, sondern (unter anderem) in ihrem Sexualleben von Männern »sowohl begehrt als auch respektiert« werden wollten, fragte der angesehene Schriftsteller François Mauriac voller Hohn: Ist »eine seriöse philosophische und literarische Zeitschrift wirklich der Ort für das Thema, das Mme Simone de Beauvoir hier behandelte?«[45] Als Pascal gefragt wurde, ob es einen Konflikt zwischen Liebe und Gerechtigkeit gebe, betrieb er Philosophie. Als sich Kant und Mill über den Standort der Liebesethik auseinandersetzten, betrieben sie Philosophie.[46] Doch als Beauvoir die Diskussion über Liebe und Gerechtigkeit auf die intimen Beziehungen zwischen Männern und Frauen ausdehnte, nannte man sie »Madame« – um sie mit dem Hinweis auf ihren unverheirateten Status zu beschämen – und warf ihr vor, das Niveau zu senken.

Rückblickend scheint Beauvoir die Leidtragende einer Ad-feminam-Offensive gewesen zu sein: Wenn ihre Kritiker*innen sie auf ihr Versagen als Frau reduzierten, indem sie ihr Mangel an Weiblichkeit vorwarfen, oder auf ihr Versagen als Denkerin, weil es ihr an Eigenständigkeit mangelte und weil sie alles Sartre verdankte, oder auf ihr Versagen als Mensch, indem man ihr Abweichen von ihren eigenen moralischen Idealen betonte, dann konnten ihre Gedanken in ihrer Gesamtheit verworfen und mussten nicht ernsthaft debattiert werden.

Grundsätzlich können natürlich Männer ebenso wie Frauen mit dem Ad-hominem-Trugschluss in Konflikt geraten, einer argumentativen Strategie, welche die Aufmerksamkeit von dem zur Debatte stehenden Thema ablenkt, indem der Charakter oder die Motive einer Person angegriffen werden; Beauvoir wurde Widernatürlichkeit vorgeworfen, als Frau versagt zu haben. Neuere psychologische Untersuchungen weisen darauf hin, dass Frauen, die handlungsorientierte Positionen erreichen – also Positionen, in denen sie aktives Handeln zeigen, einschließlich Kompetenz, Zuversicht und Selbstbewusstsein –, häufig mit »sozialer Missbilligung« bestraft werden. Brechen Frauen aus der Genderhierarchie aus und bemühen sich um Positionen mit hohem Status, die traditionell Männern vorbehalten sind, werden sie oft als arrogant oder aggressiv wahrgenommen und bestraft, indem man sie – oft vollkommen unbewusst – herabsetzt oder auf das »Normalmaß« zurechtstutzt, um die Genderhierarchie aufrechtzuerhalten.[47]

Beauvoir verstieß gegen diese Hierarchie in Praxis und Theorie: Ihre Ideen hatten die Macht, das Leben von Männern und Frauen gleichermaßen zu sprengen, und sie versuchte ihr eigenes Leben nach diesen Ideen zu leben.

In dieser Hinsicht gibt Beauvoirs Geschichte – ihre eigene und die mit Sartre – nicht nur zu Fragen Anlass, was über diese Frau und diesen Mann wahr ist, sondern was bezüglich Männern und Frauen allgemein als Wahrheit beansprucht werden kann. In der heutigen intellektuellen Landschaft gelten die verallgemeinernden Kategorien »Mann« und »Frau« immer weniger als universell wahr, und auch die Kategorien selbst werden hinterfragt. Teilweise ist das Beauvoirs Gedanken geschuldet. Doch wie wir sehen werden, wurde Beauvoir oft dafür bestraft, die Kühnheit gehabt zu haben, sie zu denken.

Beauvoirs eigene Philosophie – von ihren Tagebüchern als Studentin bis zu ihrem letzten theoretischen Werk Das Alter – unterschied zwischen zwei Aspekten, ein Ich zu werden: die Sicht »von innen« und die Sicht »von außen«. Um uns Beauvoirs Sicht »von innen« anzunähern, müssen wir uns bei einigen Teilen ihres Lebens fast ausschließlich auf ihre Memoiren verlassen. Es gibt Grund, an dem, was sie uns darin erzählt, zu zweifeln, weshalb ich dem neuen Material dort, wo es Hinweise auf Auslassungen oder Widersprüche zwischen den Erzählungen liefert, möglichst viel Aufmerksamkeit gewidmet habe.

Genau verfolgt habe ich auch die Art und Weise, wie Beauvoir ihre Veränderungen im Zuge ihres Alterungsprozesses reflektiert. Wir wissen, dass sich die Wahrnehmung von Menschen über sich selbst im Laufe der Zeit verändert; psychologische Studien haben wiederholt gezeigt, dass sich die Selbsteinschätzung verschiebt und unsere Erinnerung entsprechend angepasst wird.[48] Wir wissen auch, dass Menschen sich je nach Publikum unterschiedlich darstellen. Zu manchen Teilen von Beauvoirs Leben haben wir private Briefe und Tagebücher – doch Briefe werden immer für bestimmte Adressat*innen geschrieben, und selbst Tagebücher können mit Blick auf die Nachwelt verfasst werden. Voltaire schrieb, dass wir den Toten nur eines schulden: die Wahrheit.[49] Doch wo ist die Wahrheit zwischen den Geschichten, die wir uns selbst erzählen, den Geschichten, die wir anderen erzählen, und jenen, die man über uns erzählt?

Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort, und es wird noch schwieriger, wenn das Subjekt der Biografie eine Frau ist. Wie Carolyn Heilbrun feststellt: »Biografien von Frauen, so sie denn überhaupt geschrieben wurden, entstehen innerhalb der Grenzen einer akzeptablen Debatte, im Rahmen der Übereinkunft, was ausgelassen werden kann.«[50] Beauvoirs Leben widersetzte sich der Konvention – abgesehen von der Rücksichtnahme auf das Privatleben anderer und der Legalität dessen, was sie schrieb, wäre es für sie selbst noch skandalträchtiger und für ihre Leser*innen noch abschreckender gewesen, hätte sie ihr Leben vollkommen ehrlich beschrieben. Also ließ sie einen Großteil ihrer Philosophie und ihrer persönlichen Beziehungen aus; sie nahm viel von der »Sicht von innen« heraus. Es gibt mannigfaltige Gründe, warum sie das getan haben mag, und wir werden sie untersuchen, wenn sie im Kontext ihres Lebens zur Sprache kommen. Doch weil Beauvoir eine Philosophin war, gibt es noch die eine letzte Frage zu beantworten, warum die Biografie im Falle ihres besonderen Lebens und Werkes von Bedeutung ist.

Manche Philosoph*innen halten es für nebensächlich, sich mit dem Leben großer Denker*innen auseinanderzusetzen, weil sich ihre Gedanken in den Seiten ihrer Arbeit finden. Wie interessant oder langweilig das entsprechende Leben auch sein mag, es gehöre in eine von der Philosophie separierte Abteilung. Im Gegensatz dazu meinen andere, die Arbeit einer Person könne nicht ohne ihr Leben verstanden werden, und die Beschäftigung mit dem Leben eine*r Philosoph*in sei notwendig, um die wirkliche Bedeutung des Werks zu begreifen. Der erste aufgliedernde Zugang birgt die Gefahr, dass seine Geschichtslosigkeit zu Missverständnissen führen kann: So hat zum Beispiel diese Art der Lektüre von Philosophie zu dem Missverständnis geführt, dass es Sartre war, der die existenzialistische Ethik entwickelte (obwohl Beauvoirs Arbeit zu diesem Thema zuerst geschrieben und veröffentlicht wurde und Sartre seine zu Lebzeiten nie publizierte).

Der zweite Zugang birgt die potenzielle Gefahr, Menschen auf die Wirkungen äußerlicher Ursachen zu reduzieren. »Reduktionistische« Biografien folgen häufig einem bestimmten Plan, der in das Leben einer Person etwas hineinliest, anstatt dem Leben zu erlauben, für sich selbst zu sprechen. Ein solcher Zugang kann zwar sehr erhellend sein, er kann aber auch das Handeln der entsprechenden Person überschatten, indem sie als Produkt ihrer Kindheit oder ihrer Klasse dargestellt wird und nicht als das Ich, das zu werden sie sich entschieden hat.[51]

Beauvoir selbst hätte sich einer groben Unterscheidung zwischen »Leben« und »Arbeit« widersetzt – als ob »Arbeit« nicht Leben sei und »Leben« keine Arbeit erfordere! Eine ihrer zentralen philosophischen Einsichten ist, dass jeder Mensch in einem bestimmten Kontext situiert ist, in einem bestimmten Körper, an einem bestimmten Ort, in einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Beziehungsgeflecht. Diese Situation prägt die Fähigkeit eines jeden Individuums, seinen oder ihren Platz in der Welt zu imaginieren, und verlagert sich im Lauf des Lebens. Zudem ist diese Situation für Frauen durch Jahrhunderte von Sexismus beeinflusst worden.

Das Schreiben über Beauvoirs Leben stellt uns vor die Herausforderung einer anderen Art von Reduktionismus: Denn zusätzlich zur Betrachtung ihres Lebens auf der Grundlage prägender Kindheitserfahrungen und anderer psychoanalytischer Linsen oder wirtschaftlicher, klassenspezifischer oder gesellschaftlicher Kategorien gibt es Strukturen von Sexismus, die berücksichtigt werden müssen. Wir wissen heute, dass ihr Werk beschnitten, falsch oder gar nicht ins Englische übersetzt wurde und dass in manchen Fällen die Auslassungen und Fehlübersetzungen die philosophische Strenge und politische Botschaft ihres Werks verändert haben. Doch schon allein die Tatsache, dass dies ihrem Werk angetan wurde, gibt zu der Frage Anlass: warum? Im 21. Jahrhundert ist »Feminismus« immer noch ein umstrittenes Konzept mit vielfältigen Bedeutungen. Die »freie Wahl« einer Frau ist die »Unterdrückung« einer anderen. Die Satire eines Mannes ist der Sexismus eines anderen. Und das ist genau die Art von Zwiespältigkeit, die Beauvoirs reife Philosophie untersuchte.

Beauvoirs philosophische und autobiografische Schriften rückten die Spannung zwischen Freiheit und Zwang ins Zentrum der Entwicklung eines ethischen Ichs. Auch ihre Belletristik erforschte diese Themen, obwohl ihr Bezug zu Beauvoirs eigener Lebenserfahrung umstritten ist. In Beauvoirs 1945 veröffentlichtem Roman Das Blut der anderen weigert sich die Figur Hélène, ihre Gedanken und ihr Verhalten auf die Tatsache reduzieren zu lassen, dass sie aus der Unterschicht stammt: »Es ist doch lächerlich, daß du die Leute immer nur nach dem äußeren Schein beurteilen willst. Du tust, als würde das, was wir denken, und das, was wir sind, überhaupt nicht von uns abhängen.«[52] Und auch Beauvoirs Philosophie beschäftigte sich mit dieser Spannung: In ihrem Essay Für eine Moral der Doppelsinnigkeit schrieb Beauvoir: »Der Begriff der Aktion würde jeglichen Sinn verlieren, wenn die Geschichte nur ein mechanischer Ablauf wäre, in dem der Mensch lediglich fremden Kräften als passiver Träger dient.«[53]

Diese Biografie erhebt nicht den Anspruch, die »wahre« Beauvoir eine für alle Mal auszumachen, denn kein*e Biograf*in kann die Perspektive eines Gottes auf ein menschliches Leben einnehmen. Dieses Buch ist vielmehr von dem Wunsch getragen, durch das heimtückische Terrain zwischen der Trennung von Beauvoirs Leben und Werk und der Reduktion des Werks auf ihr Leben zu navigieren. Es will anerkennen, dass das, was Beauvoir tat, von ihr selbst abhing, und – mit Beauvoir – zur Kenntnis nehmen, dass ein Teil des Werdens einer Frau außerhalb der Kontrolle aller Aspekte dessen liegt, was sie schließlich wird. In Das andere Geschlecht schrieb sie, dass die Frau »dazu verurteilt [war], eine nur unsichere Macht zu besitzen: ob Sklavin oder Idol, nie hat sie ihr Los gewählt«.[54] Später im Leben erkannte sie, dass ihre öffentliche Figur von ihr erwartete, »Simone de Beauvoir« zu sein – und dass diese Figur über öffentliche Macht verfügte –, doch ihre Philosophie verpflichtete sie zu der Sichtweise, dass alles, was sie je tun konnte, darin bestand, weiter daran zu arbeiten, sie selbst zu werden.

Ab ihrem fünfzehnten Lebensjahr spürte Beauvoir die Berufung, Schriftstellerin zu werden, doch was sie dann tatsächlich wurde, gefiel ihr nicht immer. In einem frühen philosophischen Essay mit dem Titel Pyrrhus und Cinéas schrieb sie, dass kein Mensch sein gesamtes Leben lang dasselbe will. »Es gibt keinen Augenblick im Leben, an dem alle Augenblicke miteinander ausgesöhnt sind.«[55] Manchmal hatte Simone de Beauvoir das Gefühl, ihr Leben sei ein Quell, aus dem andere schöpften. Manchmal fühlte sie sich von Zweifeln überwältigt oder bedauerte zutiefst, wie sie sich selbst und andere behandelte. Sie änderte ihre Meinung und trug dazu bei, dass andere ihre Meinung änderten. Sie kämpfte gegen Depressionen an. Sie liebte das Leben; sie fürchtete das Alter, und sie hatte große Angst vor dem Tod.

Als Beauvoir sich ihrem Lebensende näherte, erklärte sie sich teilweise deshalb zu einem Interview mit Deirdre Bair für eine Biografie bereit, weil Bair über ihr gesamtes Leben schreiben wollte und nicht nur über ihren Feminismus.[56] Beauvoir wollte nicht auf eine einzige Dimension reduziert werden. Bairs Buch – die erste posthume Biografie (1990), auf die sich immer noch viele beziehen, um etwas über ihr Leben zu erfahren – hatte den Vorteil, dass ihr zahlreiche Interviews Beauvoir zugrunde lagen. Doch in vielerlei Hinsicht erzählte Bair die Geschichte nach, die Beauvoir bereits öffentlich gemacht hatte.

Das vorliegende Buch ist die erste Biografie, die sich auf die Geschichte bezieht, die Beauvoir nicht öffentlich gemacht hat: Sie zeigt das Werden der intellektuellen Frau vor ihrer Begegnung mit Sartre, wie sie ihre eigene Philosophie der Freiheit entwickelte und verteidigte, wie sie Romane schrieb, weil sie an die Freiheit ihrer Leser*innen appellieren wollte; wie das Schreiben von Das andere Geschlecht ihr Leben veränderte und wie sie sich dem Schreiben über das Leben und dem feministischen Aktivismus zuwandte, weil sie eine Intellektuelle sein wollte, deren Werk sich nicht nur auf die Fantasie ihrer Leser*innen auswirken sollte, sondern auch auf deren konkrete Lebensbedingungen.

Das Verfassen dieses Buches war ein außerordentlich einschüchterndes Unterfangen – zeitweise sogar Furcht einflößend. Beauvoir war ein Mensch, dessen Erinnerung ich nicht verzerren möchte – auch nicht die an jene Momente, die verwirrend, Ehrfurcht gebietend oder beunruhigend sind. Wie gut dokumentiert ein Leben auch immer sein mag, die Dokumentation eines Lebens ist nicht das Leben selbst. Ich bin selektiv vorgegangen, wohl wissend, dass ich mich von den Interessen meiner eigenen Situation leiten ließ und dass ich mich auf Informationen stützen musste, die Beauvoir bereits gefiltert hatte. Ich habe versucht, das gesamte Spektrum ihrer Menschlichkeit zu zeigen: ihr Vertrauen und ihren Zweifel, ihre Energie und ihre Verzweiflung, ihren intellektuellen Appetit und ihre körperlichen Leidenschaften. Ich habe nicht jeden Vortrag, jeden Freund und jeden Liebhaber berücksichtigt. Aber ich habe ihre Philosophie mit einbezogen, weil ich ohne sie ihre Widersprüche und ihren Beitrag nicht wahrheitsgetreu hätte darstellen können.

Beauvoir führte ein episches Leben: Sie war eine Globetrotterin, deren Weg an Picasso und Giacometti vorbeiführte, an Josephine Baker, Louis Armstrong und Miles Davis, ganz zu schweigen von einer monumentalen Anzahl literarischer, philosophischer und feministischer Ikonen des 20. Jahrhunderts. Charlie Chaplin und Le Corbusier kamen nach New York, zu Partys, die ihr zu Ehren gegeben wurden, und einmal rauchte sie sechs Joints, ohne high zu werden.[57] Doch ohne Philosophie wäre Simone de Beauvoir nicht »Simone de Beauvoir« geworden, und das ist aus zwei Gründen wichtig: weil der Mythos von Simone de Beauvoir als Sartre-Schülerin lang genug immer und immer wieder erzählt wurde, und weil ihre Meinungsverschiedenheiten und ihr nie endendes Gespräch ein entscheidender Teil dessen waren, wie sie sie selbst wurde.

Aber sie sind nur ein Teil. 1963 schrieb Beauvoir:

»Die öffentliche Dimension des Lebens einer Autorin ist nichts anderes als eine Dimension, und ich glaube, dass alles, was sich auf meine literarische Karriere bezieht, nur ein Aspekt meines privaten Lebens ist. Und das war genau der Grund, warum ich versucht habe, für mich selbst ebenso wie für meine Leser*innen, herauszufinden, was es von einem privaten Gesichtspunkt aus bedeutet, eine gewisse öffentliche Existenz zu haben.«[58]

Beauvoir kritisierte Sartres Philosophie und seine Liebe – und doch blieb er für sie das, was er in den Wochen nach ihrer ersten Begegnung rasch geworden war: »Der unvergleichliche Freund meines Denkens.« Ihr Denken forderte ihre Zeitgenoss*innen bis aufs Äußerste heraus und wurde zum Schweigen gebracht, lächerlich gemacht und verhöhnt. Sie wählte ein Leben, das ihr ermöglichte, diese Gedanken zu denken und zu schreiben, weil sie ihren eigenen Geist schätzte und von seiner Fruchtbarkeit überzeugt war. Im Alter von neunzehn Jahren schrieb Beauvoir in ihr Tagebuch: »Der tiefste Teil meines Lebens sind meine Gedanken.«[59] Und trotz allem anderen, was sie in ihrem Leben wurde, war die 78-jährige Beauvoir neunundfünfzig Jahre später immer noch derselben Meinung: »Wichtig war mir vor allem mein Kopf, alles andere war sekundär.«[60]

Virginia Woolf schrieb: »Es gibt manche Geschichten, die von jeder Generation neu erzählt werden müssen.«[61] Im Fall von Beauvoir aber war ein Großteil ihrer Geschichte zu unsichtbar, um erzählt werden zu können. Die Erzählung, die wir in Beauvoirs Tagebüchern und Briefen lesen – über ihre Liebe zur Philosophie und ihren Wunsch, auf nie da gewesene Art zu lieben –, veränderte die Form des Lebens, das danach kam.

Simone, umgeben von ihrer Familie väterlicherseits, in Meyrignac im Sommer 1908. Von links nach rechts: Georges, Ernest (Simones Großvater), Françoise, Marguerite (Simones Tante) und ihr Ehemann Gaston (Georges Bruder). [1]

1  Aufwachsen wie ein Mädchen

Am 9. Januar 1908 wurde Simonne Lucie Ernestine Marie Bertrand de Beauvoir um 4:30 Uhr im sechsten Arrondissement von Paris in erstickende soziale Konventionen hineingeboren.[62] Die erste Luft, die sie atmete, drang durch Fenster im zweiten Stock, die auf den Boulevard de Raspail hinausgingen, und im Alter von vier Jahren verstand sie die Kunst, ihre gravierten Visitenkarten aus dem Samttäschchen zu ziehen, wenn sie mit ihrer Mutter Besuche machte.[63] Beauvoir würde in ebendiesem schicken Viertel von Paris fast ihr ganzes Leben verbringen, doch zum Zeitpunkt ihrer Geburt war das Vermögen der Familie am Dahinschmelzen.

Die Bertrand de Beauvoirs waren Großbürger und stammten ursprünglich aus der Bourgogne. Einer ihrer Vorfahren erhielt 1786 einen Adelstitel, nur um nach der Revolution 1790 seinen Kopf zu verlieren. Obwohl sich dieser Vorfall über ein Jahrhundert vor ihrer Geburt ereignete, hat er Beauvoirs Biografen gespalten, die den gesellschaftlichen Status der Familie unterschiedlich beurteilen: Bair macht aus de Beauvoirs Stammbaum viel Aufhebens, während Simones Schwester Hélène ihm weit weniger Bedeutung zuschreibt. Nach der Enthauptung ihres geschätzten Ahnen spielte die Familie ihre aristokratischen Ambitionen herunter.[64]

Allerdings besaß sie noch eigenes Land mit einem Schloss in Limousin. Doch Georges de Beauvoir war nicht der Erstgeborene und würde es nicht erben. Er war intellektuell begabt und charmant, doch entsprachen seine Sehnsüchte nicht den Wünschen seiner Eltern – er wollte Schauspieler werden. Sein Vater ermutigte ihn, einen seriöseren Beruf zu ergreifen, und der Anstand siegte: Georges studierte Jura und arbeitete in einer angesehenen Pariser Anwaltskanzlei. Doch er war nicht ehrgeizig: Weder sein Vater noch sein Bruder mussten sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen, und obwohl seine Mutter versucht hatte, ihm den Wert von Arbeit nahezubringen, fruchtete diese Ermahnung wenig. Heiraten wollte Georges allerdings schon, weshalb er schließlich seine Anstellung als Sekretär aufgab und – in der Hoffnung auf Besserung seiner Lage – den Beruf des selbstständigen Anwalts ergriff.

Über Vermittlung seines Vaters fand sich eine geeignete Bewerberin: Françoise Brasseur, eine junge Frau aus einer Familie im Norden mit einer beachtlichen Mitgift. Obwohl ihr Name keinen Adelstitel trug, waren die Brasseurs viel wohlhabender als die Bertrand de Beauvoirs. Gustave Brasseur, der Vater der Braut, war ein sehr erfolgreicher Banker aus Verdun und Françoise sein erstgeborenes, aber am wenigsten geliebtes Kind: Ihre Geburt hatte seine Hoffnung auf einen Erben enttäuscht. Sie wurde in einem Kloster erzogen, und ihre Eltern interessierten sich wenig für sie, bis sich ihre Finanzlage verbesserte und sie daran erinnerte, dass Françoise das Heiratsalter erreicht hatte. Es war nicht das einzige Mal, dass die Brasseurs die Enttäuschung der Geburt eines weiblichen Nachkommen erlebten: Wo Françoise sie als Tochter schon ertragen musste, ereilte sie dasselbe Schicksal ein zweites Mal als Mutter; ihr Leben lang litt sie unter der Kälte ihrer Eltern.[65]

Die beiden Familien begegneten einander 1905 zum ersten Mal auf dem neutralen Boden des Ferienortes Houlgate in der Normandie. Françoise war von dem Treffen wenig begeistert, aber auch das gekünstelte Ritual, das von ihr erwartet wurde, machte sie nervös: Dem Brauch entsprechend war der erste Blick ihres Verehrers auf sie sorgfältig geplant worden. Im Hotel fand eine Inszenierung statt, die ihre Schönheit und gesellschaftliche Stellung zur Schau stellen und dem Bewerber die Möglichkeit geben sollte, die Eignung seiner potenziellen Gefährtin zu taxieren, derweil diese mit ihren Mitschülerinnen aus dem Kloster Tee trank und plauderte. Schon wenige Wochen nach der Begegnung machte Georges Françoise einen Heiratsantrag. Und obwohl die Heirat arrangiert war, waren sie zum Zeitpunkt ihrer Hochzeit am 26. Dezember 1906 auch in Liebe verbunden.[66]

In den ersten Jahren erinnerte sich Simone an die Beziehung ihrer Eltern als emotional und körperlich leidenschaftlich.[67] Simone wurde kurz nach deren erstem Hochzeitstag geboren. Aber auch wenn sie glücklich zu sein schienen, waren ihre einundzwanzigjährige Mutter und der dreißigjährige Vater doch noch damit beschäftigt, ihre beiden Leben und ihre unterschiedlichen Erwartungen zusammenzuführen. Ihre Adresse – 103 Boulevard du Montparnasse – veranschaulichte Georges’ Status, seine Wohnungseinrichtung jedoch nicht. Georges wollte den Luxus seines Vaterhauses wieder aufleben lassen; Françoise war jung, provinziell und verwirrt ob der Gesellschaft, in der sie nun lebte.

Trotz ihrer Unterschiede (oder vielleicht, weil die Umstände sie nicht zum Vorschein kommen ließen) war das Familienleben einige glückliche Monate lang von einem harmonischen Rhythmus geprägt: Aufgabe ihrer Dienstbotin Louise war es, Simone zu baden und zu füttern, für sie zu kochen und die anderen Tätigkeiten im Haus zu verrichten. Georges ging jeden Morgen zur Arbeit ins Berufungsgericht und kam abends mit Françoises Lieblingsblumen nach Hause. Sie spielten mit dem Baby, ehe Louise es zu Bett brachte, nahmen gemeinsam das Abendessen ein, wenn Louise es aufgetragen hatte, und verbrachten den Abend mit Vorlesen und Gobelinstrickerei. Georges sah es als seine Verantwortung, seiner Frau die Kultur nahezubringen, die seiner Klasse entsprach. Und Françoise betrachtete es als ihre Verantwortung, sicherzustellen, dass ihre Bildung nie den Umfang oder die Qualität überstieg, die ihrem Geschlecht geziemte.

Zweieinhalb Jahre nach ihrer Heirat hatte das Paar Françoises Mitgift immer noch nicht erhalten, als ihr Vater in Ungnade fiel und aus Verdun floh. Im Juli 1909 wurde gegen Gustave Brasseurs Bank das Konkursverfahren eingeleitet und alles zum Verkauf beschlagnahmt, einschließlich des Privatbesitzes der Familie Brasseur. Zum Schaden kam die Schmach des Gefängnisses, wo er dreizehn Monate verbrachte, ehe ihm der Prozess gemacht und er zu weiteren fünfzehn Monaten Haft verurteilt wurde. Doch sein vormaliger Einfluss hatte noch nicht ganz an Wirkung verloren; er wurde frühzeitig entlassen. Also zog er mit seiner Frau und seiner jüngsten Tochter nach Paris, um in der Nähe von Françoise zu leben und von vorne zu beginnen.

Diese Wendung der Ereignisse bedeutete, dass Françoises Mitgift niemals ausbezahlt werden würde, doch anfangs blieben die Harmonie und Hoffnung in der Familie dennoch bestehen. Sie waren glücklich, und ihre Zukunft schien gesichert: Georges hatte durch seine Arbeit ein akzeptables Einkommen, und sein eigenes Erbe (wenn auch bescheiden) war auf eine Weise investiert worden, die ihnen vernünftig erschien. Georges behandelte Françoise mit großer Zärtlichkeit, und sie blühte förmlich auf.[68]

Am 9. Juni 1910 kam eine Schwester zur Welt. Sie wurde Henriette-Hélène Marie getauft, aber man nannte sie Hélène oder innerhalb der Familie Poupette (»kleine Puppe«). Obwohl sie nur zweieinhalb Jahre jünger war, betrachtete Simone sie als Schülerin, die ihrer Anleitung bedurfte; da war Simone bereits auf dem Weg, Lehrerin zu werden. Die Familie hatte auf einen Jungen gehofft, und Beauvoir bemerkte ihre Enttäuschung. In ihren Memoiren schrieb sie (mit ihrem charakteristischen Understatement), es sei »doch nicht ohne Bedeutung, dass an ihrer Wiege viel geseufzt worden ist«.[69] In Hélènes Memoiren lesen wir, dass ihre Großeltern nach Ankündigung ihrer Geburt einen Brief schrieben, in dem sie Georges und Françoise zur Ankunft eines Sohnes beglückwünschten. Sie hielten es nicht für notwendig, neues Papier zu beschmutzen, als sie erfuhren, dass es sich um ein Mädchen handelte – sie fügten einfach ein Postskriptum an: »Soeben höre ich von der Geburt eines Mädchens, wir fügen uns Gottes Willen.«[70]

Beauvoir beschrieb ihre frühen Kindheitsjahre als von einem Gefühl »unbedingter Sicherheit« bestimmt, erschüttert nur von der Erkenntnis, dass auch sie eines Tages dazu verurteilt sein würde, eine »Ausgestoßene der Kindheit« zu werden. Sie liebte es, draußen zu sein und die Natur zu erforschen, sie genoss es, über Wiesen zu laufen und Blätter und Blumen, Samenschoten und Spinnweben zu bestaunen. Jeden Sommer verbrachte die Familie zwei Monate auf dem Land: einen Monat im Haus von Georges Schwester Hélène (einem Château aus dem 19. Jahrhundert mit einem Turm) und einen weiteren in Meyrignac, dem Anwesen seines Vaters. Das Schloss in Meyrignac befand sich inmitten eines großen Landsitzes von über zweihundert Hektar und bot Simone reichlich Gelegenheit, in die Schönheit der Natur einzutauchen. Das Staunen über die Natur würde ihr das ganze Leben erhalten bleiben; Landschaft verband sie stets mit Einsamkeit, Freiheit und einem Zustand höchster Glückseligkeit.[71] Doch trotz seiner Pracht verfügte das Schloss zur Überraschung mancher Besucherinnen und Besucher aus Paris weder über Strom noch über fließend Wasser.[72]

Im Gegensatz dazu war ihre Pariser Wohnung vornehm, blitzsauber und überwältigend rot – rote Polstermöbel mit Mokettbezug, ein rotes Renaissancespeisezimmer, Vorhänge aus rotem Samt und roter Seide. An den Wänden des Salons hingen Spiegel, die das Licht eines Kristalllüsters zurückwarfen, und die Tafelmesser ruhten auf silbernen Messerbänkchen. In der Stadt wünschte Françoise in Tüll und Samt gekleidet ihrer Tochter eine gute Nacht, ehe sie zu ihren Gästen zurückkehrte, um ihnen auf dem Flügel etwas vorzuspielen. Hier gab es keine Einsamkeit und keine Landschaft: Simone musste sich mit dem »Spielplatz« abfinden, dem Jardin du Luxembourg.[73]

Beauvoir begann schon früh viel zu lesen, und ihre Familie tat alles, um diese Neugier zu fördern. Ihr Vater stellte für sie eine kleine Anthologie mit Gedichten zusammen und brachte ihr bei, sie »mit Betonung« aufzusagen, während ihre Mutter ihr ein Buchabonnement schenkte und ihr Zugang zu mehreren Bibliotheken verschaffte.[74] Das Jahr von Simones Geburt war das Jahr, in dem die öffentlichen Schulen Frankreichs endlich die Erlaubnis erhielten, Mädchen auf das Baccalauréat vorzubereiten – den Schulabschluss, der die Voraussetzung für ein Studium an der Universität darstellte. Doch ein Mädchen aus Beauvoirs Milieu besuchte keine öffentliche Schule. Im Oktober 1913 (als Beauvoir fünfeinhalb Jahre alt war) wurde beschlossen, sie in eine private katholische Schule zu schicken, in das Adeline Désir Institut (dem sie den Spitznamen Le Cours Désir verpasste). Obwohl Beauvoir sich später erinnerte, dass sie über die Aussicht, diese Schule zu besuchen, vor Freude an die Decke sprang, war es für ein Mädchen ihres Standes ein Minuspunkt, überhaupt an einer Schule ausgebildet zu werden – wer über die entsprechenden Mittel verfügte, hatte Gouvernanten im Haus. Simone ging auch nur zwei Tage in der Woche zur Schule – mittwochs und samstags –, während ihre Schularbeiten in der restlichen Zeit zu Hause von ihrer Mutter überwacht wurden, wobei auch der Vater sich für ihre Fortschritte und Erfolge interessierte.[75]

Françoise de Beauvoir mit ihren Töchtern, Hélène (links) und Simone (rechts). [2]

Während der Schultage vermisste Hélène ihre Schwester, und ihre Beziehung blieb sehr eng, teilweise wegen ihrer tiefen Zuneigung zueinander und teilweise weil es den Mädchen nicht erlaubt war, mit anderen Kindern Kontakt aufzunehmen, die ihre Mutter nicht gründlich überprüft hatte. Georges und Françoise waren vernarrt in ihre Älteste, betrachteten Hélène hingegen nicht als eigenständige Person. Hélène wusste, dass ihre Eltern auf Simone stolz waren. Als diese Klassenbeste wurde, wurde sie von ihrer Mutter überschwänglich gelobt; als auch Hélène Klassenbeste wurde, schrieb Françoise ihren Erfolg dem Umstand zu, dass sie es mit einer älteren Schwester, die ihr half, leichter hatte. Hélène begriff, dass »ich als zweitgeborenes Mädchen eigentlich nicht erwünscht war. Doch Simone hielt immer zu mir, obwohl sie mich leicht hätte vernichten können, wenn sie sich auf die Seite unserer Eltern gestellt hätte, und deshalb hing ich so an ihr. Sie hat mich immer vor den Eltern in Schutz genommen«.[76] Es gab wenig Spielsachen in der Familie, doch die Schwestern liebten es, sich fantasievolle Spiele auszudenken und einander etwas anzuvertrauen.[77]

Im Alter von sieben Jahren hatte Simone ihre erste private Kommunion – der Anfang einer Übung, die sie dreimal wöchentlich durchführte, entweder mit ihrer Mutter oder in der Privatkapelle am Cours Désir. Im selben Jahr schrieb sie ihre erste erhalten gebliebene Erzählung, Das Missgeschick von Marguerite – sie war hundert Seiten lang und von Hand in ein kleines Heft mit Pappeinband geschrieben, das ihr Großvater Brasseur geschenkt hatte.[78]

Bis zu ihrem achten Lebensjahr gab es nur noch ein anderes Kind, dem Simone Beachtung schenkte: ihren Vetter Jacques. Er war sechs Monate älter als sie, hatte aber die Erziehung eines Jungen genossen – und zudem eine gute: Sie war von seinem Selbstvertrauen geblendet. Eines Tages schenkte er ihr ein Buntglasfenster, das er für sie hergestellt und mit einer Widmung in schwarzen Lettern versehen hatte. Sie einigten sich auf eine spätere »Liebesheirat«, und er war für sie ihr »Verlobter«.[79] Rückblickend schrieb Hélène, Simone hätte diesem Kindverlobten nicht so viel Bedeutung beigemessen, wären sie nicht so isoliert gewesen – doch mindestens ein Jahrzehnt lang glaubte Simone fest daran, dass sie ihn wirklich heiraten würde.

Am Tag, als Simone in die vierte Klasse kam (im Alter von neun Jahren), traf sie dort eine zweite Außenseiterin jenseits ihrer unmittelbaren Familie, die sich ihres Interesses würdig erwies: jemanden, deren Leben und Tod großen Einfluss auf sie haben würden. Elisabeth Lacoin – oder Zaza, wie Beauvoir sie nannte[80] – war eine aufgeweckte, lebhafte Schülerin, und zwischen den beiden Mädchen entwickelte sich eine freundschaftliche Rivalität. Mit Zaza eröffnete sich Beauvoir eine neue und köstliche Dimension des Lebens: Freundschaft. Mit Hélène hatte Simone gelernt, »wir« zu sagen; Zaza vermittelte ihr zum ersten Mal einen Geschmack davon, was es bedeutete, jemanden zu vermissen.

Hélène de Beauvoir beschrieb Zaza als übermäßig feinfühlig – »wie ein schmales, elegantes Rennpferd, das immer drauf und dran war durchzugehen«[81] –, in Simones Augen jedoch war sie ein Wunder. Sie spielte großartig Klavier, schrieb elegant, wurde fraulich, ohne ihre »jungenhafte Kühnheit« zu verlieren, und hatte den Nerv, nicht nur Racine zu bewundern (wie es sich gehörte), sondern auch Corneille zu hassen (wie es sich nicht gehörte). Sie hatte subversive Ideen, streckte ihrer Mutter während eines Klavierabends am Cours Désir die Zunge heraus und wurde trotz solcher Zurschaustellung von »Persönlichkeit« von ihrer Mutter mit Liebe und Zuneigung empfangen.