Simones Erbe - Isabel Kirschner - E-Book

Simones Erbe E-Book

Isabel Kirschner

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Beschreibung

Ein Familienerbe, das sich durch Generationen zieht. Die ersten Jahre mit ihrer Tochter wohnt die alleinerziehende Simone bei ihren Eltern. Als Laura vier Jahre alt ist, fliehen sie aus dem engen Elternhaus in eine ferne Stadt. Jetzt fehlt nur noch der perfekte Partner. Während Simone verzweifelt auf einer Dating-App nach einer Beziehung sucht, verliert sie zunehmend die Verbindung zu ihrer Tochter und das hat weitreichende Folgen. Der Besuch eines Meditationsseminares hilft ihr alte Muster zu erkennen und führt sie zu dem Punkt an dem jede Beziehung beginnt. Wird es Simone gelingen, das Familienerbe aufzulösen?

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Inhalt:

Ein Familienerbe, das sich durch Generationen zieht.

Die ersten Jahre mit ihrer Tochter wohnt die alleinerziehende Simone bei ihren Eltern. Als Laura vier Jahre alt ist, fliehen sie aus dem engen Elternhaus in eine ferne Stadt.

Jetzt fehlt nur noch der perfekte Partner.

Während Simone verzweifelt auf einer Dating-App nach einer Beziehung sucht, verliert sie zunehmend die Verbindung zu ihrer Tochter und das hat weitreichende Folgen.

Der Besuch eines medita…ven Erziehungsseminars hilft ihr alte Muster zu erkennen und führt sie zu dem Punkt an dem jede Beziehung beginnt.

Wird es Simone gelingen, das Familienerbe aufzulösen?

Autorin:

Isabel Kirschner, geboren 1964, arbeitet seit vielen Jahren als Erzieherin und Dozentin in der Familienbildung.

Vor 25 Jahren entdeckte die Meditation sie und sie begann sich mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Seitdem ist es ihr ein Herzensanliegen spirituelle und pädagogische Erkenntnisse zu verbinden und Familien auf ihrem individuellen Weg zu begleiten.

Isabel Kirschner ist alleinerziehende Mutter einer inzwischen erwachsenen Tochter.

Inhaltsverzeichnis

Zweierlei Maß

Gut gemeint doch Ziel verfehlt

Sehnsucht verwischt Grenzen

Der Blickwinkel ist entscheidend

Vertrautes trägt

Respekt fördert Wachstum

ERziehung ist BEziehung

Wenn die Sehnsucht wächst

Worte prägen Leben

Erziehung ist Selbsterziehung

Wenn Mauern wachsen

Einmal Kind, immer Kind

Und was, wenn alles anders ist

Eigene Wirklichkeit

Loslassen und genießen

Eine Familie basteln

Beziehungsfördernde Kommunikation

Dankbarkeit schafft Frieden

Mit dem Strom schwimmen

Zweifel binden Energie

Das rechte Maß

Wahrheit befreit

Bilder legen fest

Liebe lockt das Schöne hervor

Wer kann schon die Zukunft sehen

Der Blick in den Spiegel

Zweierlei Maß

Müde schließt Simone die Haustür auf. Die schwere Einkaufstasche lässt sie achtlos neben der Tür fallen. Während sie auf einem Bein balancierend die Schuhe von den Füßen streift, zieht sie die Handtasche, die von ihrer Schulter gerutscht ist, nach oben. Kurz hält sie inne, schließt ihre Augen und lauscht in die stille Wohnung.

Herrlich - diese Ruhe.

In Gedanken versunken massiert sie mit ihren Fingern über ihre Augenbrauen. Erst das laute Ticken der Küchenuhr holt sie zurück in die Gegenwart.

Erschöpft schleppt sie sich in die Küche. Ihr Blick streift die Uhr. Fast wie nebenbei, so als könne sie mit ihm die Zeit anhalten. Sie atmet auf, zwei Stunden bleiben ihr, zwei Stunden nur für sich. Zeit, um in Ruhe in der Dating-App zu stöbern. Sie greift in ihre Handtasche und wühlt hektisch nach dem Handy.

Erleichtert atmet sie auf, als sie es zwischen ihren Taschentüchern, einem Schminktäschchen und dem Portemonnaie, erfühlt. Mit dem Zeigefinger tippt sie ihr Passwort ein und öffnet die Dating-App. Mal sehen, wen sie heute trifft. Während sie weiter auf das Handy starrt, schaltet sie die Espresso Maschine ein.

Routiniert wischt sie die Männerfotos nach links. Keiner der nur annähernd in Frage käme. Wieso werden ihr dauernd Männer vorgestellt, die genau wie sie 31 Jahre alt sind. Sie muss unbedingt ihre Einstellungen überprüfen. Dabei ist sie durchaus nicht wählerisch bei ihrem zukünftigen Ehemann.

Obwohl ... Sie grinst, die magische zwölf spielt eine wichtige Rolle. Ihr Idealmann sollte zwölf Jahre älter und zwölf Zentimeter größer sein. Das wäre das Ideal. Leider ist ihr der im Alltag bisher nicht über den Weg gelaufen. Johannes, der Vater von Laura erfüllt eine zweier Regel. Zwei Jahre älter und nur wenige Zentimeter größer als sie. Zum Glück trug er meist Schuhe mit Absatz.

Simone versinkt in der Vergangenheit. Selbst wenn Johannes kein Ideal war, so war er doch wenigstens da und sie konnte sich anlehnen.

Sofort korrigiert sie sich. Sie wohnte mit Laura bei ihren Eltern und er kam zweimal die Woche zu Besuch. Ob man das kümmern nennen darf?

Der Kaffeeduft weckt sie aus ihrer Trance.

Sie schüttelt die Vergangenheit ab und verstaut das Handy in ihrer Hosentasche. Vorsichtig balanciert sie die volle Kaffeetasse ins Wohnzimmer. Sie kuschelt sich in eine warme Decke, bevor sie die Dating-App erneut öffnet.

Freddy, der sieht doch freundlich aus. Und mit seinen 1,80 m erfüllt er zwar nicht ihr Ideal, doch ist zumindest größer als sie mit ihren 1,72 m.

Hallo, schön, dich hier zu entdecken, spult Simone ihren üblichen Begrüßungssatz ab.

Freddy geht online. Sicher checkt er jetzt ihr Profil. Das kann sich sehen lassen. Ihre blonden langen Haare fallen locker über ihre Schultern, ihre grünen Augen hat sie dezent mit Kajal hervorgehoben und dazu passend hat sie ihr tief ausgeschnittenes dunkelgrünes Kleid angezogen. Es bringt ihre Augen, wie kleine Diamanten zum Funkeln.

Eine Nachricht blinkt auf: Hallo, du Schöne. Bist du schon lange hier? Wieso haben wir uns nie getroffen?

Ich bin erst kurz dabei. Und du?

Welche Hobbys hast du?

Blinkt die nächste Nachricht bei Simone auf.

Mein Haupthobby ist meine Tochter. Sie frisst meine ganze Zeit auf. Hast du Kinder? Sie drückt auf senden.

Nachdem sie die Nachricht abgeschickt hat, starrt sie auf das Display. War es sinnvoll, ihm direkt von ihrer Tochter zu erzählen?

Freddys Status wechselt auf offline.

Selbstverständlich hat ihn eine Tochter abgeschreckt. Sie könnte sich in den Hintern beißen, warum hat sie nicht damit gewartet. Simone schluckt.

Energisch tippt sie mit ihrem Zeigefinger auf die Startseite und konzentriert sich auf die Männer, die sie hier sieht.

Zu klein, sie wischt nach links.

Zu alt, sie wischt nach links.

Alleinerziehend, bloß keinen, der schon ein Kind hat, erneut wischt sie nach links.

Wenn sie so weiter macht, wird sie niemals jemand kennenlernen. Sie ist zu wählerisch.

Sie wischt nach rechts. Der ist zwar nicht ihr Typ – egal. Wieder ein Wisch nach rechts.

Schweren Herzens schließt sie die App, als es an der Tür klingelt. Krrring, erneut ertönt die Klingel, dieses Mal länger. Simone springt auf und hastet zur Tür. Mit einem Ruck reißt sie diese auf.

„Ich höre dich bereits beim ersten Mal“, blufft sie ihrer Tochter entgegen.

„Du hast nicht aufgemacht“, verteidigt sich diese und lässt ihre Schultasche im Flur fallen.

„Wo gehört die Tasche hin? Ganz bestimmt nicht in den Flur“, keift Simone sie an.

„Und deine? Deine liegt doch auch da“, meckert Laura mit zorniger Stimme und zeigt auf die Einkaufstasche.

Stimmt, die hat Simone über dem Handy vergessen. „Um mein Verhalten brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Achte mal besser auf deines“, fährt Simone sie wütend an, packt sich die Tasche und stürmt mit der Einkaufstasche in die Küche. Schade, vorbei ist die Ruhe.

Leise vor sich hin schimpfend stampft Laura mit ihrer Schultasche über der Schulter in ihr Zimmer. Wütend knallt sie die Tür hinter sich zu.

Der Knall lässt Simone zusammenfahren. Sie stürzt in den Flur, hält inne, nur um erneut in die Küche zu trotten. Das schlechte Gewissen überrollt sie. Immerhin hat ihre Tochter nicht unrecht.

Simone setzt sich an den Küchentisch, stützt ihren Kopf in die Hände und schließt die Augen.

Und träumt sich weg. Weit weg ans Meer. Ohne Kind und die ganze Anstrengung. Alleine am Strand liegen oder besser mit Freddy.

Sie öffnet das Profilbild von Freddy. Das enge T-Shirt bringt seinen durchtrainierten Körper zur Geltung.

Sie träumt sich in seine Arme und sieht sich mit ihm am Strand liegen. Sie haben nur Augen füreinander. Jetzt ein Latte Macchiato, denkt sie sich. In ihrem Traum springt er auf und steht zehn Minuten später mit dem Becher in der Hand vor ihr. Obwohl weit und breit kein Café oder Imbiss zu sehen ist. Er macht eben alles möglich. Verträumt lächelt sie vor sich hin. Ihre Gedanken schweifen in die ferne Zukunft. Sie sieht sich und eine große Kinderschar, der Mittelpunkt von allem ist Freddy.

Das vibrierende Handy reißt sie aus ihrer Traumwelt. Benommen starrt sie auf das Display, Jan.

Rasch wischt sie mit dem Zeigefinger über ihr Handy und wie meist, wenn es schnell gehen soll, rutscht der Finger ab. Mist, jetzt hat sie den Anruf abgelehnt.

Simone lehnt sich zurück. Soll sie zurückrufen? Lieber flüchtet sie wieder in ihre Traumwelt.

Doch das Bild von Jan schummelt sich in ihr Bewusstsein. Ihr Helferfreund Jan, der immer da ist, wenn sie ihn braucht und für Laura fast ein Ersatzvater geworden ist. Bei dem Gedanken an ihn werden ihre Gesichtszüge weich und entspannt. Bei ihm hat sie das Gefühl, der wichtigste und interessanteste Mensch auf der Welt zu sein. Laura scheint es genauso zu gehen. Stundenlang könnte Simone den beiden zusehen, wenn sie sich unterhalten. Entspannt und froh sieht Laura dann aus. Weit und warm wird Simone ums Herz. Eine Welle der Liebe zu ihrer Tochter erfüllt sie.

Sie steht auf und holt eine offene Packung Kekse aus dem Schrank. Einer wandert direkt in ihren Mund, während sie drei andere auf einen kleinen Teller legt. Mit diesem schleicht sie durch den Flur zum Kinderzimmer.

Leises Schluchzen dringt durch die Tür.

Vorsichtig klopft Simone an die geschlossene Tür und flüstert: „Darf ich hereinkommen?“

Langsam öffnet sich die Tür. Ein verheultes Gesicht schaut Simone entgegen.

Den Teller wie ein Schild vor sich hertragend, betritt Simone den Raum. „Hier, ein paar Kekse für dich.“

Mit diesen Worten stellt Simone den Teller auf den Schreibtisch. Stumm schaut Laura sie an. Simone lässt den Blick durch das Zimmer schweifen. Wie immer ist es ordentlich aufgeräumt. Selbst auf dem Schreibtisch türmen sich keine Papiere. Ist eben ihre Tochter, denkt sie zufrieden.

Laura hat sich wieder auf ihr Bett gesetzt und hält ihren Teddybären fest umklammert. Ihr Teddy, den sie zu ihrem ersten Geburtstag bekommen hat, ist ihr Tröster in der Not. Fragend schaut sie ihre Mutter an, die mit verschränkten Armen am anderen Ende des Zimmers steht. Zwischen ihnen eine dicke Wand aus Beton.

„Na ja“, sagt Simone und eilt zur Tür. „Du kannst in die Küche kommen, wenn du dich wieder beruhigt hast. Wasch dir vorher das Gesicht. Du siehst verheult aus.“

Leise schließt sie die Tür hinter sich und verzieht sich in die Küche. In sich ein großes schwarzes Loch, dass sie zu verschlucken droht.

Wie abweisend ihre Tochter auf dem Bett saß. Wie gerne hätte sie sie in den Arm genommen. Doch die Angst, abgelehnt zu werden, ist zu groß. Ein Wort nur oder einen Schritt hätte Laura ihr entgegenbringen müssen, doch so blieb nur Kälte und Fremde zwischen ihnen.

Laura kuschelt sich in ihre Bettdecke, den Teddy umschließt sie mit beiden Armen. Die Tränen sind versiegt, einzelne Schluchzer bahnen sich einen Weg nach oben. Den Teddy fest umklammert, quält sich Laura aus dem Bett und schleppt sich zum Schreibtisch. Mit dem Teller Kekse neben sich, setzt sie sich erneut ins Bett. Während sie einen Keks nach dem anderen in sich stopft, starrt sie ins Nirgendwo.

Simone gießt Wasser in die Teekanne, greift nach ihrem Handy und setzt sich an den Küchentisch. Kurz lauscht sie in den Flur, kein Ton dringt aus dem Kinderzimmer. Zum Glück, sie scheint sich beruhigt zu haben.

Aufatmend entsperrt sie ihr Handy. Automatisch öffnet sie die Dating-App.

Keine neuen Nachrichten. Schade! Sie wischt durch die einzelnen Fotos. Niemand, der ihr vom Äußeren gefällt. Eigentlich sind die inneren Werte wichtiger. Eigentlich, denkt sie sich und liest aufmerksam die Beschreibungen. Jeden, der im entferntesten mit ihr übereinstimmt, liked sie.

Das Festnetztelefon klingelt. Kein Mensch ruft sie auf ihrem Festnetz an - außer ihren Eltern und Marion.

Marion, die sie bei dem Meditationsseminar mit dem Thema ’Leichtigkeit in der Erziehung’ kennengelernt hat.

Marion, die im Gegensatz zu ihr, ihr Herz auf der Zunge trägt. Ob sie sich deshalb gut verstehen, weil sie gegensätzlicher nicht sein könnten?

Hoffentlich ist es Marion. Auf ein anstrengendes Telefonat mit ihren Eltern hat sie überhaupt keine Lust. Kurz überlegt sie, das Telefon zu ignorieren, doch die Neugierde siegt.

Hell tönt ihr die Stimme von Marion entgegen. Nach einer kurzen Begrüßung sprudelt diese ihre Erlebnisse der letzten Woche heraus. Ab und zu wirft Simone ein „Hmmm“ ein, während sie auf ihrem Handy die gezeigten Kandidaten nach links oder rechts wischt.

Marion beendet ihren Monolog. „Und wie war dein Tag heute?“

Simone schreckt von ihrem Handy hoch und konzentriert sich wieder auf das Telefonat.

„Ich hatte einen schönen Tag. War nichts Besonderes“, antwortet sie. Der sieht sympathisch aus. Schnell scrollt Simone mit ihrem Finger nach rechts. Doch Marion gibt sich nicht so schnell zufrieden.

„Was macht Laura“, bohrt sie weiter, als wüsste sie von der Auseinandersetzung.

Simone meint spöttisch: „Die kleine Neunmalkluge. Hat mir Vorhaltungen gemacht, weil meine Einkaufstasche im Flur lag und sie ihre Tasche aufheben sollte.“

Marion lacht und wendet ein: „Wo sie Recht hat. Und du, hast sie daraufhin in den Arm genommen und dich entschuldigt. Wie wir es bei Ragna gelernt haben.“

Simone blockt ab: „Ja, so ähnlich.“

„Ich habe uns übrigens gestern bei dem neuen Seminar von Ragna `Erziehung ist Beziehung´angemeldet. Du willst doch noch?“

Wollte sie überhaupt jemals? Marion hatte solange auf sie eingeredet, bis sie irgendwann zustimmte. Inzwischen setzt sie große Hoffnungen in das Seminar. Sie hofft, dass es die Wand zwischen ihrer Tochter und ihr zum Einstürzen bringt. Außerdem hofft sie, dass es ihr die nötigen Impulse gibt, damit endlich eine Beziehung mit einem Mann gelingt.

Möglicherweise ist Freddy nur wegen ihrer Entscheidung zu diesem Seminar in ihr Leben getreten, überlegt Simone. Hat sie nicht neulich erst in einem Buch gelesen, jede getroffene Entscheidung ist wie ein Stein, der ins Rollen gebracht wird?

„Du warst doch nach dem letzten Seminar Feuer und Flamme ein weiteres Seminar bei Ragna zu machen.“

Mit diesen Worten reißt Marion sie aus ihren Gedankengängen.

Klar, das war sie. Vor einem Jahr, nach dem letzten Seminar. Wie geputscht war sie damals von dem Feedback ihrer Tochter, sie sei lustiger als früher. Die Beziehung zu ihrer Tochter hatte sich direkt während und nach dem Seminar verändert, doch hatte dieser Flow nicht lange angehalten. Kurze Zeit später war sie wieder in die alten bekannten Fußstapfen getreten und die Bedenken gegen das Seminar sind gestiegen.

„Wie auch immer. Ich habe uns angemeldet. Laura kann an diesen Abenden gerne bei uns schlafen, wenn du sie nicht alleine lassen willst.“ Mit diesem Argument nimmt Marion ihr die letzte Möglichkeit abzusagen. Nach einem kurzen weiteren Plausch legen sie auf und Simone wendet sich wieder ihrer Flirt-App zu.

„Mama, ich habe Hunger“, ertönt die Stimme von Laura, während sie sich der Küchentür nähert.

´Ach du Schreck.’ Simone blickt auf die Uhr. Wie rasch die Zeit vergeht und geschafft hat sie gar nichts. Schnell schließt sie ihr Handy, bevor Laura einen Blick auf die Seite werfen kann.

„Hopp, hopp“, feuert Simone Laura an. „Dann deck schon mal den Tisch. Das Essen kommt nicht von alleine dorthin.“ Leise vor sich hin schimpfend legt Laura Besteck und Teller auf den Tisch. Während Simone den Rest Nudelsalat aus dem Kühlschrank holt, klingelt es an der Tür.

Das ist sicher Jan. Mist, sie hat vergessen, zurückzurufen. Wenn jemand Verständnis hat, dann er, beruhigt sie sich selbst. Er ist die Ruhe in Person und versteht alles, - was das Streiten mit ihm unmöglich macht.

Fast täglich ist er bei ihnen zu Gast. Ihr Hausfreund, wie ihn Marion nennt.

Laura sprintet zur Tür und fällt Jan mit einem Jubelschrei um den Hals. Fest seine Hand haltend zieht sie ihn in den Flur. Dort lässt sie ihn stehen und saust in die Küche, um einen Teller und Besteck aus dem Schrank zu holen.

„So schnell könntest du auch sein, wenn ich dich um etwas bitte“, mault Simone sie an.

„Das ist doch normal. Schließlich seid ihr ständig zusammen. Ich dagegen bin nur Besuch“, vermittelt Jan, der die Worte an der Küchentür stehend, mitbekommen hat.

Laura lässt die Worte ihrer Mutter an sich abprallen. Stattdessen ergreift sie die Hand von Jan und zieht ihn hinter sich her ins Esszimmer. Am liebsten hätte sie die Tür geschlossen und Zeit nur mit ihm verbracht. Seit sie denken kann, besucht er sie. Er nimmt sich Zeit für sie, hört ihr voller Interesse zu und hat schon oft zwischen ihrer Mutter und ihr vermittelt. Von ihm nimmt sogar ihre Mutter Kritik an.

Jan schaut Laura in die Augen. Als ahne er, dass sie keine Lust zum Erzählen hat, berichtet er mit seiner warmen Stimme von dem Tag. „Ich hatte gestern Hundebesuch in meiner WG. Mirkos Freundin brachte ihren Hund mit.“

Aufmerksam hängt Laura an seinen Lippen.

„Was für eine Rasse?“

„Keine Ahnung“, gibt Jan zu. „Ich kann dir nur sagen, wie groß er ist und welche Farbe er hat. Es war ein kleiner Hund“.

Mit seinen Händen zeigt er die Größe.

„Wie süß“, schwärmt Laura. „Einen Hund wünsche ich mir schon lange. Der würde sich freuen, wenn ich nach Hause komme und schmusen könnte ich auch mit ihm.“

Er lächelt und schaut sie an. Frei von Erwartungen. Diese Freiheit bewirkt, dass Laura erzählt. Sie verrät ihm, dass ihre Freundin in letzter Zeit lieber mit einer anderen Mitschülerin herum hängt und sie ignoriert.

Mitfühlend sieht Jan sie an und fragt: „Wie verbringst du deine Pause?“

Von den beiden unbemerkt ist Simone mit der Schüssel voll Nudelsalat an die Tür gekommen. Langsam schleicht sie zurück in den Flur und lauscht dem Gespräch. Sie weiß, wie schnell ihre Anwesenheit ihre Tochter zum Verstummen bringt.

„Am liebsten würde ich in der Klasse bleiben. Das dürfen wir aber nicht. Frische Luft ist wichtig zum Denken“, äfft sie ihre Lehrerin nach.

Den Blick nach unten gewendet, fährt sie mit leiser Stimme fort: „Anfangs bin ich einfach neben der Eingangstür stehen geblieben und habe gewartet, bis wir wieder rein durften. Meistens kam die Pausenaufsicht und meinte ich solle mich bewegen. Ich hatte das Gefühl alle starren mich an.“

„Kann ich mir vorstellen“, sagt Jan und nickt. „Jetzt stelle ich mich meistens an den Rand von anderen Mädchengruppen aus der Klasse. Dann wirke ich nicht so einsam.“ Vorsichtig hebt sie den Blick und sieht Jan von der Seite an. Ihr Gesicht überzieht eine leichte Röte.

Simone schluckt. Am liebsten wäre sie in das Zimmer gestürmt und hätte Laura fest in den Arm genommen. Stattdessen zieht sie sich leise in die Küche zurück.

Jan nickt und überlegt, welche Antwort die beste wäre. Glücklicherweise erlöst ihn Laura von seinem Grübeln und bittet ihn: „Kannst du mir nachher bei Mathe helfen? Wir haben so schwere Aufgaben bekommen.“

„Klar“, bestätigt ihr Jan erleichtert.

Betont fröhlich betritt Simone das Esszimmer. Sofort stößt Laura Jan an und hält ihren Zeigefinger vor den Mund. Dabei sieht sie ihn bittend an.

Simones Lächeln erstarrt zu einer Fratze, als sie die Geste sieht. Mit vor Enttäuschung unterdrückter Stimme fragt sie: „Habt ihr etwa Geheimnisse vor mir? Ich bin deine Mutter. Andere Töchter erzählen ihrer Mutter alles. Aber gut, wenn du meinst, mich ausschließen zu müssen. Für Putzen und Kochen bin ich gerade noch gut genug.“

Jan betrachtet sie erstaunt und schüttelt beschwichtigend seinen Kopf. „Natürlich bist du ihre Mutter. Manchmal ist es leichter mit Freunden zu reden, als mit der eigenen Mutter.“

Mit eisiger Miene setzt sich Simone an ihren Platz. Mechanisch reicht sie den Nudelsalat an Jan weiter. Lauras Herz zieht sich vor Kälte zusammen. Mit fest aufeinander gepressten Lippen beobachtet sie ihre Mutter, die inzwischen die Nudelschüssel übernommen hat und ihr Salat auf den Teller schaufelt. Als letzte nimmt sich Simone von dem Salat. Konzentriert und schweigend widmet sie jeder seinem Nudelsalat.

„Wie war dein Tag?“, unterbricht Jan die Stille und sieht Simone an.

„Wie soll er schon gewesen sein?“, erwidert diese bitter. „Ich war arbeiten, damit die Dame hier...“ Ihr Kopf wendet sich Laura zu. „...etwas zu essen hat. Dann bin ich einkaufen, Essen richten. Das Übliche halt,“

„Ich könnte auch arbeiten“, stellt Laura herausfordernd fest, den Blick trotzig auf ihre Mutter gerichtet. „...statt Betreuung.“

„Das würde dir so passen. Erst einmal bist du viel zu jung, du darfst noch gar nicht arbeiten. Und wahrscheinlich würdest du nur einen Monat durchhalten und dann aufgeben. Über die Betreuung diskutiere ich mit dir nicht. Du gehst hin, weil du angemeldet bist.“

„Ich wollte gar nicht in die Betreuung. Es ist so langweilig. Silvia geht auch nicht mehr hin.“

„Erstens Fräulein, bist du nicht Silvia. Außerdem dachte ich Silvia hat eine neue Freundin, dann spielt es doch keine Rolle, ob sie in der Betreuung ist.“

„Hast du etwa gelauscht?“ Fassungslos starrt Laura ihre Mutter an.

Diese antwortet: „Das war nicht nötig. Mit deiner lauten Stimme bist du in der ganzen Wohnung zu hören. Wie ich dir immer sage, schrei nicht so.“ Mit gestrecktem Rücken mustert sie Laura mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen.

Diese verdreht die Augen und schaut herausfordernd zu Jan. „Kommst du jetzt in mein Zimmer, Mathe lernen?“

Um Entschuldigung bittend sieht Jan zu Simone, bevor er nickt und aufsteht.

„Super, lasst mich jetzt noch alleine den Tisch abräumen“, bemerkt Simone spitz.

„Nein, natürlich helfen wir dir“, bestätigt Jan schnell.

Er stapelt die Teller aufeinander und schiebt sie Laura hin. „Hier, dein Part“, fordert er sie auf und zwinkert ihr grinsend zu. In Windeseile greift sich Laura die gestapelten Teller und trägt sie in die Küche. Schnell verschwinden beide in Lauras Zimmer.

Als Jan eine halbe Stunde später die Küche betritt, staunt er. Die dreckigen Teller und Gläser stehen neben der Spülmaschine, Simone sitzt vertieft in ihr Handy am Küchentisch.

Er räuspert sich. Ertappt drückt Simone ihre Dating-App weg, bevor sie aufsieht.

„Was machst du am Handy?“, fragt Jan.

„Nichts, nur schnell meine Mails gecheckt“, erwidert Simone, wie aus der Pistole geschossen.

Laura stellt sich auf die Zehenspitzen, hält sich an Jans Schulter fest und lugt in die Küche. „Die ist immer am Handy. Doch sobald ich das Handy in die Hand nehme, schimpft sie“, stellt Laura fest.

„Etwas mehr Respekt deiner Mutter gegenüber“, rügt Simone.

Um Unterstützung hoffend linsen beide zu Jan.

„Jetzt sag du doch auch mal etwas“, fordert Simone ihn auf.

Abwehrend hebt Jan seine Hände und antwortet: „Ich werde mich hüten, für eine von euch Partei zu ergreifen. Das bekommt ihr gut alleine hin.“

Mit diesen Worten dreht er sich um und geht ins Wohnzimmer. Bevor Laura ihm hinterher stürmt, fasst Simone sie am Arm.

„Hiergeblieben, mein Fräulein. Du hattest genug Zeit mit Jan. Jetzt bin ich dran“, sagt Simone und folgt ihm .

Laura blickt ihr mit offenem Mund nach. Das Läuten des Telefons weckt sie aus ihrer Trance. Sie greift nach dem Hörer und hebt ihn ab.

„Halloooo“, flötet sie in das Telefon.

„Hallo Laura, wie schön deine Stimme zu hören“, tönt ihr die erfreute Stimme ihrer Oma entgegen. „Wie geht es dir?“

„Jan ist zu Besuch. Er hat mir Mathe erklärt. Endlich habe ich es kapiert“, berichtet Laura.

„Wie gut, dass ihr ihn habt“, bestätigt ihre Oma.

„Stimmt“, entgegnet Laura. „Die Erzieherinnen in der Mittagsbetreuung verstehen die Aufgaben selber nicht. Überhaupt ist die Mittagsbetreuung blöd. Meine Freundin hat sich auch abgemeldet.“

„Was macht ihr in der Betreuung?“

„Nur langweilen. Kannst du nicht mal mit Mama sprechen, dass sie mich abmeldet. Ich gehe doch schon in die fünfte Klasse.“

„Ich glaube deine Mutter lässt sich von mir nichts sagen. Ich kann es aber gerne versuchen, wenn sich eine Gelegenheit ergibt. Vielleicht wenn wir gemeinsam in den Urlaub fahren“, bietet die Oma an.

„Oh ja, wir fahren gemeinsam in Urlaub!! Wann denn?“, jubelt Laura laut und lockt damit ihre Mutter in den Flur.

„Was schreist du so?“, fragt Simone und greift nach dem Hörer.

Schnell dreht sich Laura mit dem Telefon weg.

„Wir dachten in den Osterferien.“

Simone reißt Laura den Hörer aus der Hand.

„Hallo Mama, was erzählst du mit Laura? Ihr wollt mit ihr in den Urlaub fahren? Das besprichst du bitte erst mit mir“, stellt Simone klar.

„Hallo Simone, schön, deine Stimme zu hören. Es war erst einmal nur eine Idee. Und wir wollten mit euch beiden fahren“, berichtigt ihre Mutter.

„Ich wollte alleine mit Laura verreisen“, empört sich Simone.

Laura verzieht das Gesicht. Beleidigt stapft sie in das Wohnzimmer und setzt sich zu Jan auf die Couch.

„Ihr seid doch immer alleine. Da könnt ihr in den Ferien mit uns verreisen. Tut euch auch gut“, verkündet Marga.

„Ich wollte mit Laura an die Ostsee fahren. Ihr fahrt doch lieber nach Österreich“, stellt Simone fest.

„Nein, dieses Jahr wollten wir in Deutschland ans Meer. Eine Nachbarin schwärmte uns sehr von der Ostsee vor“, erklärt ihr ihre Mutter.

„Wieso redest du mit der Nachbarin über die Ostsee?“

„Ich habe sie gefragt, ob sie schon einmal dort war. Laura hat uns doch beim letzten Besuch erzählt, dass ihr dieses Jahr an die Ostsee fahren wollt. Und da dachte ich, dass könnte etwas für uns alle sein.“

Innerlich stöhnt Simone auf.

„Ist doch albern, wenn du jetzt alleine hinfährst und wir später auch. Wir können dich unterstützen. Mal was mit Laura unternehmen. Ist doch erholsamer für dich“, redet ihre Mutter weiter auf sie ein.

„Wir können später darüber reden. Ich habe jetzt Besuch“, blockt Simone das Gespräch ab.

„Ja, Jan ist da. Hat Laura erzählt und dass er ihr gut Mathe erklärt. Das wäre doch etwas mit euch beiden. Er versteht sich wohl auch mit Laura gut“, sagt ihre Mutter.

„Bitte!! Wir sind fast Nachbarn. Wohnen im gleichen Viertel. Jetzt muss ich auflegen“, beendet Simone das Gespräch und legt den Hörer auf.

Zwei erwartungsvolle Augenpaare blicken ihr entgegen, als sie das Wohnzimmer betritt.

„Und, fahren wir mit Oma und Opa in Urlaub? Bitte, bitte, bitte;“ bettelt Laura sofort.

„Ich wollte mir mit dir alleine einen schönen Urlaub machen. Nur wir zwei“, schwärmt ihr Simone vor.

Laura zieht eine Schnute. „Wir sind doch immer alleine.“

„Ist doch viel erholsamer und schöner, wenn ihr gemeinsam fahrt“, mischt sich Jan ein.

„Warum mischst du dich da ein? Aber Hauptsache gegen mich“, erwidert Simone.

„So war das doch gar nicht gemeint“, sagt Jan beschwichtigend.

„Warum bildet sich jeder ein, zu wissen, was gut für mich ist?“ Wütend dreht sich Simone um und eilt aus dem Zimmer in die Küche. Dort auf dem Küchentisch liegt ihr Handy. Sie steckt es in die Hosentasche.

„So ist die immer. Ich fahre viel lieber mit Oma und Opa in den Urlaub,“ sagt Laura und sieht Jan mit traurigen Augen an.

Stumm erwidert dieser ihren Blick.

Aus der Küche ruft Simone: „Laura, mach dich jetzt bettfertig!“

„Jetzt?“

„Ja, jetzt!“

Jan erhebt sich ebenfalls mit den Worten: „Ich mache mich auch auf den Weg.“

Leise schließt Jan die Tür zu seinem Haus auf.

„Du bist schon zurück. Gab es mal wieder Streit zwischen den beiden?“, schallt ihm die Stimme von Mirko aus dem Wohnzimmer entgegen.

Jan holt sich ein Bier aus dem Kühlschrank und setzt sich zu Mirko. Nach einem langen Schluck aus der Flasche, sagt er: „Alleine ein Kind groß zu ziehen, ist schon so eine Sache. Ich habe das Gefühl, dass der Streit, der sich sonst auf mehrere Familienmitglieder verteilt, auf die beiden konzentriert. Aber.......“ Abwehrend hebt er die Hände. „Ich bin allerdings kein Experte.“

Unverständlich schüttelt Mirko den Kopf. „Ach und du bist jetzt der gute Samariter, der als Puffer zwischen den beiden wirkt?“

„Ach weißt du, im Laufe der Zeit sind die zwei, genau wie du, ein Stück Familie geworden.“

Mirko zuckt mit den Schultern. „Ist ja deine Sache. Hauptsache du weißt, was du tust.“

Jan nickt, erhebt sich und grinst. „Ich setze mich noch an den Computer, damit kenne ich mich besser aus.“

Mirkos Augen folgen ihm, als er den Raum verlässt.

Am Computer schweifen seine Gedanken immer wieder zu Simone und Laura und zu den Sätzen von Mirko. Hatte er mit seinen Worten recht, dass er als der gute Samariter hingeht? Sicher entspannt er oft die Situation zwischen den beiden, letztendlich jedoch geht er hin, weil es ihm guttut. Er fühlt sich wohl bei ihnen, Sie sind die Familie, die er mit seinen 35 Jahren noch nicht geschaffen hat.

Ihr Handy fest umklammert, setzt sich Simone in die Küche, während aus Lauras Zimmer Musik ertönt.

Simone öffnet die App. Eine neue Nachricht! Freddy hat geantwortet.

Ich möchte dich verwöhnen, steht da mit einem dicken roten Herz.

Na, da hat ihn ihre Tochter doch nicht abgeschreckt, freut sich Simone. Und sie scheint ihm zu gefallen.

Verwöhnen kann ich nach einem stressigen Tag gebrauchen. Wie war dein Tag? Sie drückt auf Abschicken, das Handy fest im Blick. Wieso ist er schon wieder offline? Er kann sich doch denken, dass sie sofort antwortet.

Wie gebannt starrt sie auf das Handy. Die Dating-App blinkt auf. Eine Nachricht. Sofort öffnet sie die Seite. Den Blick fest auf das Handy gerichtet, setzt sie sich an den Tisch.

Ein neues Match – leider keine Nachricht von Freddy. Sie tippt auf das Match. Laurenz. Schade, ist gar nicht ihr Typ. Dem hat sie ein Like gegeben? Sie kann sich gar nicht erinnern. Vielleicht sollte sie doch besser mit dem wahllosen Liken aufhören.

Neben der Spülmaschine stapelt sich das Geschirr des Abendessens. Simone hypnotisiert ihr Handy, während ihre Ohren wie ein Luchs in den Flur lauschen. Die Tür von Lauras Zimmer wird geöffnet. Blitzschnell schließt Simone die App, legt ihr Handy weg und springt auf. Als fünf Minuten später Laura die Küche betritt, sieht sie ihre Mutter das Geschirr in die Spülmaschine räumen.

„Gute Nacht“, murmelt sie ihr zu.

„Schlaf gut“, ruft ihr Simone von der Spülmaschine zu. Mit hängenden Schultern schlappt Laura langsam in ihr Zimmer. Simone starrt ihr nach.

Trauer erfüllt sie.

Die Leere der versäumten Umarmung spürt sie bis in ihren Bauch.

Automatisch sortiert sie die Gläser und Teller in die Spülmaschine. Hoffentlich hat sich wenigstens Freddy gemeldet. Mit schnellem Griff öffnet sie die App.

Eine neue Nachricht.

Von Freddy.

Obwohl sie gespannt wie ein Flitzebogen ist, dessen Pfeil kurz vor dem Abschuss steht, legt sie das Handy zur Seite. Sie nimmt ihr schönstes Weinglas aus dem Schrank und greift nach der offenen Rotweinflasche. Seit drei Tagen steht die Flasche in der Ecke auf dem Küchenschrank, als hätte sie nur auf diesen festlichen Augenblick gewartet.

Ich habe mich sofort in deine blonden langen Haare verliebt. Sie umschmeicheln dein Gesicht, wie eine strahlende Sonne.

Ein zufriedenes Lächeln breitet sich auf Simones Gesicht aus. Sie weiß nicht, wann ihr jemand zuletzt so ein nettes Kompliment gemacht hat. Nur, was antwortet man darauf? Ein Blick auf die Anzeige zeigt ihr, dass sie nur zwanzig Kilometer entfernt sind.

Danke, das freut mich. Lust auf einen Kaffee?

Sie tippt auf Senden.

Oder auf ein Sektchen in meinem Whirlpool kommt die Antwort sofort.

Sie schluckt.

Sie freut sich, dass er Interesse an ihr hat. Doch direkt in den Whirlpool? Das geht ihr jetzt doch etwas schnell.

Simones Gedanken fahren Achterbahn.

Wenn sie jetzt falsch reagiert, verliert sie ihn. Doch was ist falsch?

Wie reagiert sie, ohne ihn vor den Kopf zu stoßen?

Du hast einen Whirlpool? Gemütlich! Freue mich drauf, beim nächsten Treffen. Wie wäre es vorher mit einem Kaffee?

Aufmerksam liest sie das Geschriebene durch. Klingt passabel. Sie schickt es ab.

Freddy ist wieder offline. Ob er den Text gelesen hat und sauer ist?

Während sie langsam den Rotwein austrinkt, fällt ihr Blick immer wieder auf das Handy. Doch Freddy bleibt offline. Das nächste Mal, so nimmt sich Simone vor, wird sie ihn zappeln lassen. So lässt sie nicht mit sich umgehen.

Nach einem letzten Kontrollblick schließt sie die App.

Gut gemeint doch Ziel verfehlt

Der Rest der Woche kriecht im Schneckentempo vorbei. Ihr Vorsatz, Freddy zappeln zu lassen, scheitert.

Es ist Freitagnachmittag. Simone schließt die Bürotür und eilt den Flur entlang. Laute schnelle Schritte hinter ihr lassen sie ihr Tempo unauffällig erhöhen. Bestimmt wieder Marcel, der sie in ein Gespräch verwickeln will.

„Wohin rast du? Ins Wochenende?“ Ertönt seine Stimme neben ihr.

„Hallo Marcel. Ich habe es eilig. Freitag hole ich meine Tochter von der Schule ab und wir kochen gemeinsam“, erklärt sie ihm und erhöht ihre Schritte.

„Ein Mutter-Tochter-Tag stärkt die Beziehung. Damit zeigst du deiner Tochter, dass sie dir wichtig ist. Als ich Kind war, war das meinen Eltern leider nicht bewusst“, referiert Marcel, während er mühsam mit ihr Schritt hält.

Simone blickt ihn von der Seite an.

„Ja, deshalb muss ich jetzt los. Tschüss“, blockt sie ihn ab.

Im Laufschritt hechtet sie zum Ausgang. Marcel eng an ihrer Seite, klebriger als jeder Kaugummi.

„Finde ich toll“, fährt er fort und holt tief Luft. „... dass du deine Tochter....“ Erneut ringt er um Luft. „So ernst nimmst“.

Simone erhöht ihren Laufschritt, winkt ihm zu und erreicht endlich das rettende Auto. Marcel bleibt stehen und winkt ebenfalls. „Bis Montag“, ruft er ihr zu.

Die Schulklingel ertönt und einer Sturmflut gleich strömen die Kinder und Jugendlichen aus dem Schulgebäude. Silvia, die mit ihren neuen Freundinnen das Schulgelände verlässt, winkt ihr lässig zu. Simone grüßt zurück und denkt sich: ´Du blöde Kuh hast meine Tochter fallen lassen, wie eine heiße Kartoffel. Brauchst nicht so freundlich zu tun´

Langsam leert sich der Schulhof. Als eine der Letzten verlässt Laura das Gebäude. Schwerfällig setzt sie einen Fuß vor den anderen. Simone fühlt ihr Herz überlaufen vor Liebe und Mitleid mit ihrer Tochter, gleichzeitig wächst die Wut auf Silvia, die die Freundschaft aufgekündigt hat.

Laura schleppt sich zum Auto, öffnet die hintere Tür. „Hallo,“ begrüßt sie ihre Mutter.

„Die Heuchlerin Silvia ist vorbei gegangen und hat mir gewunken,“ berichtet Simone. „Du bist viel zu gut für die“, ergänzt sie und dreht sich nach hinten zu ihrer Tochter um.

„Mamaaaa, jetzt fahr.“

Pikiert dreht sich Simone um und startet das Auto.

„Ich dachte wir kochen heute Spaghetti. Was meinst du?“ Wendet sich Simone an Laura.

„Hm, keinen Hunger“, murmelt diese und stiert weiter aus dem Fenster.

Sobald die Haustür aufgeschlossen ist, stürzt Laura an ihr vorbei in ihr Zimmer. Simone zuckt zusammen, als die Kinderzimmertür zuknallt. Das Mitleid mit ihrer Tochter ballt sich als Kloß in ihrem Bauch zusammen, der langsam nach oben wandert. Schnell schluckt Simone ihn hinunter. Das Handy fest umklammert setzt sie sich an den Küchentisch. Sie öffnet die Dating-App.

Erleichtert atmet sie auf. Endlich! Eine neue Nachricht von Freddy.

Klar, können wir uns auf einen Kaffee treffen...

Zum Glück bewertet er es nicht als Misstrauen, dass sie sich erst an einem neutralen Ort treffen will.

Wie sieht es mit diesem Wochenende aus? Meine Tochter schläft bei ihrem Vater.

Samstagnachmittag könnte ich mir Zeit abknapsen, kommt prompt seine Antwort.

Das passt prima, antwortet Simone freudig.

Ich schicke dir die Adresse von einem Pub bei mir um die Ecke, falls du hinterher Lust auf den Whirlpool hast, antwortet Freddy innerhalb von Sekunden zurück.

Simone wird es heiß und kalt. Sie schaltet auf das Profilbild von Freddy. Sieht sympathisch aus.

Fitness und Lesen, hat er bei Hobbys angegeben. Und Physiotherapeut als Beruf. Klingt alles seriös, versucht sie sich selbst zu beruhigen.

Pub ist in Ordnung. Kannst du um 17 Uhr? Schreibt sie zurück.

Sofort erscheint das offline Zeichen von Freddy. War sie zu schnell? Ist er einer dieser Männer, denen es wichtig ist, dass sie die Vorgaben machen? Genervt legt sie das Handy zur Seite.

Nachdem sie an Lauras Tür gelauscht hat, hinter der es mucksmäuschenstill ist, beschließt Simone, dass das gemeinsame Kochen heute ausfällt. Routiniert kocht sie Spaghetti und bereitet eine Gemüsesauce zu. Während das Essen vor sich hin köchelt, schaut sie schnell nach, ob Freddy sich gemeldet hat. Sie strahlt, als sie sieht, dass er die Uhrzeit bestätigt hat.

Die Essensgerüche locken Laura aus ihrem Zimmer.

„Papa holt mich morgen um 14 Uhr ab“, informiert Laura ihre Mutter, während sie die Spaghetti mit ihrer Gabel aufwickelt.

„Habt ihr Pläne fürs Wochenende?“, fragt Simone.

„Bestimmt machen wir wieder einen Baby-Ausflug“, mault Laura.

„Wieso Baby-Ausflug? Bekommt Anna schon wieder ein Kind?“

„Keine Ahnung. Papa sucht immer einen Ausflug aus der zu Nils passt. Und Nils ist noch nicht mal in der Schule“, beschwert sich Laura.

„Hast du mit Papa darüber geredet?“, erkundigt sich ihre Mutter.

„Jaaaaa. Ich soll Rücksicht nehmen und das verstehen. Verstehe ich ja auch, wenn wir mal einen Ausflug für Babys machen. Aber nur?“ Wettert Laura weiter.

„Bist ja nur alle zwei Wochen da. Ist doch egal“, beschwichtigt Simone sie.

Stumm schaufelt Laura ihre Spaghetti in sich hinein.

„Was hast du jetzt schon wieder?“, fragt Simone.

„Nichts. Darf ich in mein Zimmer?“, fragt Laura und zeigt auf den leeren Teller.

„Wenn du unsere beiden Teller in die Spülmaschine geräumt hast, dann ja.“

Hastig springt Laura auf, räumt die Teller ein und eilt in ihr Zimmer.

Simone greift nach ihrem Handy, öffnet die App und schließt sie enttäuscht.

Pünktlich um 14 Uhr am nächsten Tag hört Simone die Schritte von Johannes auf dem Gehsteig. Wie meist trägt er klackernde Schuhe, wie man sie eher bei Frauen vermutet. Seine federnden Schritte erkennt Simone unter hunderten heraus. Sie gibt ihren Warteplatz in der Küche auf und hechtet leise zur Tür. Bevor Johannes den Finger auf die Klingel legt, öffnet Simone die Haustür. Sie wartet bis er die wenigen Stufen zu ihrer Wohnung erklommen hat.

Erstaunt sieht Johannes sie an und fragt: „Ist Laura nicht hier?“

Simone legt den Zeigefinger auf den Mund und zieht ihn am Ärmel in die Wohnung.

Erst in der Küche lässt sie ihn los und flüstert: „Doch, ich wollte nur erst mit dir sprechen. Du musst mit Laura Ausflüge machen, die altersentsprechend sind.“

„Sagt wer?“, fragt Johannes ironisch.

„Sage ich. Es ist wichtig, dass sie eine gute Beziehung zu dir aufbaut. Die Beziehung zum Vater prägt das gesamte Liebesleben der Töchter“, erklärt ihm Simone ernst.

„Und welche Rolle spielst du?“, fragt Johannes bissig und schaut sie herausfordernd an.

„Ich bin mir meiner Rolle durchaus bewusst und mache ihr Angebote, die sie annehmen kann oder nicht“, rechtfertigt sich Simone.

„Er ist ja schon hier. Wieso sagst du denn nichts?“, faucht Laura Simone an.

Das lauter werdende Wortgefecht hat sie herbei gerufen.

„Pack deine Sachen. Wir fahren. Das hier ist sowieso sinnlos“, stellt ihr Vater mit einem Blick zu Simone fest.

Laura holt den Rucksack hinter ihrem Rücken hervor und meint: „Schon gepackt.“

Den Arm um ihre Schulter gelegt, führt Johannes sie zur Haustür. Nach einem kurzen Tschüss zu Simone verlassen sie die Wohnung.

Simone eilt in die Küche und starrt ihnen aus dem Fenster nach. Arm in Arm schlendern die beiden, ins Gespräch vertieft, zu seinem Auto. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. Sie vermisst so sehr die Verbundenheit und Nähe zu ihrer Tochter.

Mühsam den aufsteigenden Schluchzer unterdrückend, stürzt sie ins Bad und presst ihr Gesicht in das Handtuch. Tiefes Schluchzen schüttelt ihren Körper. Fester drückt sie ihren Mund in das Handtuch. Wenn nur die Nachbarn nichts hören. Langsam beruhigt sie sich. Ihre Gedanken wandern zu Freddy. Er muss der Richtige sein.

Sie hält ihren Kopf unter den eiskalten Wasserstrahl. Mit dem Handtuch rubbelt sie das Gesicht, bis es feuerrot glänzt. Die Schminke hinterlässt schwarze Spuren.

Ernst schaut sie ihr nacktes Gesicht aus dem Spiegel an. Wütend streckt sie sich die Zunge heraus. Der Schmerz tobt in ihr wie ein Orkan.

Einzig Schminke verbirgt den Schmerz. Mit geübten Handgriffen verteilt sie Make-up in ihrem Gesicht. Noch etwas Rouge und sie erwacht zu neuem Leben. Voilà. Zufrieden grinst sie ihr Spiegelbild an.

Keine Spur mehr von ihrer Gefühlsanwandlung.

Sie fühlt in ihrer Hosentasche. Leer. Wo hat sie nur ihr Handy gelassen? Sie eilt von Zimmer zu Zimmer, bis sie es auf dem Küchentisch entdeckt.

Eine Nachricht blinkt auf. Hoffentlich ist das keine Absage von Freddy. Sie sieht sich schon mit Karacho in eine depressive Verstimmung rutschen. Mit angehaltenem Atem öffnet sie die Nachricht.

Ob das was sie sieht, besser ist als eine Absage? Sie bezweifelt es.

Sehnsucht verwischt Grenzen

Das Bett ist übersät mit Kleidungsstücken. Unzufrieden mustert Simone sie. Sie kramt weiter in ihrem Schrank. Erneut zieht sie das lilafarbene T-Shirt heraus. Eindeutig zu dünn für diese Jahreszeit und mit einem Ausschnitt, der tief blicken lässt, meldet sich direkt ihre vernünftige Stimme. Auf diese möchte sie heute jedoch nicht hören. Selbst wenn sie es vor sich nicht zugeben würde, setzt das Foto sie unter Druck.

Sie zieht das T-Shirt an und dreht sich vor dem großen Spiegel an ihrem Kleiderschrank hin und her.

Der lila Farbton bringt ihre Augen sanft zum Leuchten. Zielsicher greift sie den braunen kurzen Cordrock, schminkt die Augen dezent mit einem ebenfalls lilafarbenen Kajal und zieht akkurat den Mund mit einem dunkleren Lippenstift nach. Den Blick fest auf den Spiegel gerichtet, greift sie nach der Bürste. Mit festen Strichen kämmt sie durch ihr Haar. Locker umrahmen ihre blonden Haare das Gesicht. Zufrieden legt sie die Bürste zur Seite.

Lippenstift und Kajalstift verstaut sie neben dem Make-up in ihrer Handtasche, die wie meist auf der Kommode liegt.

Einen Augenblick zögert sie an der Garderobe, doch die Vernunft siegt und sie zieht ihren Wintermantel über die eher frühlingshafte Kleidung. Mit schnellen Schritten eilt sie zum Auto.

Langsam fährt sie an dem Pub vorbei. Die Uhr im Auto springt auf 17 Uhr. Am liebsten würde sie einen Blick ins Innere werfen und nachsehen, ob Freddy dort wartet. Sie möchte auf jeden Fall nicht die Erste sein. Das wirkt so notgeil, findet sie.

Daher ignoriert sie den freien Parkplatz direkt vor dem Pub und biegt an der nächsten Kreuzung nach rechts ab. Nur wenige Meter später parkt sie in einen freien Parkplatz ein.

Anstatt auszusteigen, greift sie sich ihr Handy und scrollt durch die Kanäle. Dabei drehen sich ihre Gedanken um die Frage, wie lange sie Freddy warten lässt, um ihm das Bild einer unabhängigen selbstbewussten Frau zu vermitteln. Andererseits darf sie ihn nicht zu lange warten lassen, damit er nicht genervt wird und wieder geht. Sie beschließt, dass die akademische Viertelstunde genau passend ist.

Punkt 17:10 Uhr steigt sie aus dem Auto und schlendert zum Pub. Nach einem Blick auf die Uhr erhöht sie ihr Tempo, um die akademische Viertelstunde nicht zu überziehen. Pünktlich fünf Minuten später öffnet sie die Tür.

Musik dröhnt ihr aus dem dunklen Raum entgegen. Sie wartet, bis sich ihre Augen an das schummrige Licht gewöhnt haben. Von einzelnen Tischen, die an der Wand stehen, leuchtet ihr ein zarter Lichtstrahl entgegen. Tischlampen als Männchen getarnt sitzen auf den Tischen und senden sanftes Licht aus. Ein Kellner verteilt Kerzen auf den Tischen, die in der Mitte des Raumes stehen. Einige Tische umgeben große gemütlich aussehende Sessel, während andere von Holzstühlen umstellt sind.

Ihre Augen taxieren den Raum, außer ihr und dem Kellner befindet sich niemand hier. Von Freddy ist nichts zu sehen.

Als der Kellner zurück zur Theke geht, winkt er ihr zu. Simone hebt ihre Hand und bummelt zu einem Tisch am Rand. Sie schiebt den breiten Sessel näher zum Fenster und setzt sich so, dass sie die Tür im Blick hat.

Langsam füllt sich der Raum. Kurz vor halb sechs, Simone hat bereits dreimal auf das Handy gesehen, öffnet sich die Tür und er betritt den Pub. Simone erkennt ihn sofort an seinem kantigen Gesicht. Suchend sieht er sich um. Eifrig winkt sie ihm von ihrem Platz aus zu. Mit großen Schritten kommt er zu ihrem Tisch und streckt ihr die Hand entgegen. Simone legt ihre Hand in seine. Zufrieden grinsend zieht er sie anschließend zurück und stellt fest: „Test bestanden. Du bist keine von den Frauen, die einem eine Gummihand reichen.“ Er lacht.

Bevor er sich setzt, zieht er seine Jacke aus und legt sie locker auf den Sessel gegenüber. Bewundernd sieht Simone ihn an. Seine Schultern sind breit, seine Hände und Arme muskulös. Sie seufzt genüsslich. Perfekt, um sich anzulehnen. Schmachtend blickt sie ihn an.

Breitbeinig setzt sich Freddy auf den Sessel neben Simone. Er winkt dem Kellner zu, hebt zwei Finger hoch und ruft: „Wie immer.“

Begehrlich beugt er sich zu ihr hinüber und raunt ihr zu: „Deine Augenfarbe ist der Hammer. In Natur siehst du noch hübscher aus als auf dem Foto. Ist doch in Ordnung, dass ich uns zwei Bier bestellt habe?“

Ohne ihre Antwort abzuwarten, legt er seine Hand auf ihr Knie. Simone rutscht näher an ihn heran. Zufrieden mit der Wirkung, die sie auf ihn ausübt.