Das Fremde umarmen - Isabel Kirschner - E-Book

Das Fremde umarmen E-Book

Isabel Kirschner

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Beschreibung

Auf einfühlsame berührende Weise schildert die Autorin Begebenheiten aus dem Alltag minderjährig unbegleiteter Flüchtlinge und deren Betreuer. Die Kernaussagen der Geschichten entstammen wahren Begebenheiten, die Rahmenhandlung, sowie die erwähnten Personen sind jedoch frei erfunden. Jung und Alt regen die Erzählungen zum Nachdenken an und öffnen eine Tür zu einer oft so fremd erscheinenden Welt. Doch ist sie uns wirklich so fremd?

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Buchbeschreibung:

Auf einfühlsame berührende Weise schildert die Autorin Begebenheiten aus dem Alltag minderjährig unbegleiteter Flüchtlinge und deren Betreuer.

Die Kernaussagen der Geschichten entstammen wahren Begebenheiten, die Rahmenhandlungen, sowie die erwähnten Personen sind jedoch frei erfunden.

Jung und Alt regen diese Erzählungen zum Nachdenken an und öffnen eine Tür zu einer oft so fremd erscheinenden Welt.

Doch ist sie uns wirklich so fremd?

Über die Autorin:

Die Autorin und Pädagogin Isabel Kirschner betreute mehrere Jahre eine Wohngruppe für minderjährige unbegleitete Geflüchtete.

In dieser Zeit sind diese Geschichten entstanden.

Verzeichnis der Geschichten

Rollentausch

Eigener Schatten

Stinker

Schritt für Schritt

Im Verborgenen

Scheinheilig

Gastfreundschaft

Alles von vorne

Parallelwelt

Einer für alle

Hoffnungsschimmer

Chamäleon

Verlockungen

Angekommen

Rollentausch

Hochkonzentriert gleitet sein Blick vom Handy zum Topf. Hoffentlich lässt ihn das Internet nicht im Stich. Karim weiß, wie unzuverlässig der Empfang in seinem Heimatland Afghanistan ist.

Hungrig sitzen die anderen Jungen im Esszimmer. Sie bilden einen bunt gewürfelten Haufen aus verschiedenen Ländern. Eines haben alle gemeinsam: Krieg und Hungersnot haben sie vor fünf Monaten aus ihren Ländern vertrieben, allein, minderjährig und ohne Familie.

Noch vor zwei Jahren hätte Karim sich mit jedem geschlagen, der ihm gesagt hätte, er würde eines Tages Frauenarbeit machen. Und heute, er schmunzelt in sich hinein, ist es für ihn selbstverständlich und macht sogar Spaß. Das würde er jedoch nie zugeben. Einem Klassenkameraden erzählte er, dass er hier für sich selber kocht.

„Oh“, meinte der. „Und gerne?“

„Muss, sonst habe ich nichts zu essen.“ War seine kurze Antwort.

Das Kochen hat er sich auf der Flucht nach Deutschland mühsam selbst beigebracht.

Sein Blick verliert sich im Handy, in den liebevollen Augen seiner Mutter, die selbst aus dieser Entfernung sein Herz wärmen. Er ist so dankbar für Videocall. Karim zeigt ihr den Topf mit dem Reis und fragt: „Ist der Reis genug gequollen? Soll ich ihn jetzt kochen?“

„Erst waschen“, empfiehlt ihm seine Mutter und erklärt ihm genau die einzelnen Schritte. Aufmerksam hört er zu.

Langsam gießt er das Wasser ab, bevor er erneut warmes Wasser auf den Reis schüttet. Seine Finger durchmischen den Reis. Er gießt das Wasser und mit ihm die Stärke ab. Auf Anweisung seiner Mutter wiederholt er diese Prozedur dreimal. Erst dann stellt er den Reis mit Wasser auf den Herd.

Glücklicherweise scheint der Empfang heute in Afghanistan gut zu sein.

Die Freude in dem Blick seiner Mutter, als er sie nach einem typischen Rezept fragte, hat ihn mit der vorschnellen Zusage, für die Gruppe zu kochen, ausgesöhnt.

Seine Zustimmung ein afghanisches Gericht zu kochen hat er nur wegen der freundlichen deutschen Betreuerin gegeben, weiß er doch, wie wichtig ihr die gemeinsamen Mahlzeiten sind.

So kommt es, dass Karim seit gestern ständig mit seiner Mutter telefoniert, heute sogar per Videoanruf, damit sie ihn Schritt für Schritt begleitet.

Knifflig war bereits der Einkauf, aber glücklicherweise ist Mia ihm über den Weg gelaufen.

Nachdem Karim jede einzelne Zutat aus seinem deutsch-persischen Wörterbuch mühsam heraus gesucht hatte, schrieb er sie mit krakeligen Buchstaben auf einen Zettel.

Er schmunzelt, als er daran denkt, dass er trotz aller Vorbereitungen fast aufgegeben hätte. Er sieht sich wieder im Supermarkt, wie er hilflos vor dem erschlagenden Angebot stand. Hilfesuchend wandte er sich an die erste Verkäuferin. Ungeduldig zeigte diese nach rechts.

Er nickte freundlich und eilte in die gezeigte Richtung. Eng nebeneinander standen die Pakete auf den Regalen. Mühsam buchstabierte er in Gedanken das Wort auf seinem Zettel: ´Rosinen´. Langsam streifte er an den Regalen entlang, den Blick fest auf die Kartons geheftet.

Wenn andere Kunden kamen, nahm er eine Packung in die Hand und setzte einen wissenden Blick auf. Nur um sie kopfschüttelnd zurückzustellen.

Die langen Regalwände, die vielen verschiedenen Verpackungen. Er checkte den Einkaufswagen, gähnende Leere schaute ihm entgegen. Sein Hals wurde eng. Angst kroch in ihm hoch. Fest biss er seinen Kiefer zusammen. Die anderen warteten zu Hause auf ihn.

Kurzerhand schob er den Einkaufswagen zurück zum Eingang. Es war leichter, den Tag fern der Wohngruppe zu verbringen. Bis morgen hatte sicher jeder vergessen, dass er nicht gekocht hatte.

Überhaupt, war er der Diener der anderen? Schnellen Schrittes verließ Karim den Laden und hätte fast Mia, eine Klassenkameradin, übersehen. Mit einem freundlichen Blick erfasste sie sofort die Lage. Hinter ihm das Geschäft, seine leeren Hände, in denen er den beschriebenen Einkaufszettel hielt.

„Viel hast du ja noch nicht gekauft. Sollen wir gemeinsam einkaufen?“ Gestenreich unterstrich sie ihre Worte, so dass Karim den Sinn sofort verstand. Erleichtert lachte er und nickte.

Dankbar denkt er jetzt an diese Begegnung zurück. Wie eine göttliche Fügung ist sie genau zur richtigen Zeit aufgetaucht. Schnell war sein Einkaufswagen gefüllt.

Er schaut auf sein Handy, während Zwiebeln in der Pfanne vor sich hin bräunen. Die Internetverbindung mit seiner Mutter ist abgebrochen.

Hoffentlich schafft er es rechtzeitig, sie erneut zu erreichen. Die Warnung seiner Mutter, auf keinen Fall die Möhren und Rosinen zu früh dazu zugeben, hallt in seinen Ohren. Die Zwiebeln müssen erst die richtige Bräune haben.

Ratlos rührt er in dem Topf. Was hat sie damit bloß gemeint?

Die Möhren liegen klein geschnitten auf einem Teller.

Die Rosinen weichen in einer Schüssel mit Wasser ein.

Sein Blick fällt auf die Zwiebeln, sicher brauchen sie noch. Er gießt die Rosinen ab und wäscht sie erneut unter Wasser ab, bevor er sie zum Abtropfen in das Sieb schüttet.

Er greift nach dem Handy und drückt auf die Videofunktion in der Nummer seiner Mutter. Es klingelt. Leise beginnt er zu beten, bitte Allah, hilf mir. Ich will mich doch vor der Gruppe nicht blamieren.

Allah scheint auf seiner Seite zu sein. Das Gesicht der Mutter taucht erneut auf dem Handy auf. Schnell zeigt er ihr die Zwiebeln und fragt: „Soll ich die Möhren und Rosinen jetzt dazu geben?“

Sie nickt.

Er legt das Handy zur Seite, während er die Möhren und Rosinen zu den Zwiebeln hinzufügt.

Ein wunderbarer Duft steigt aus der Pfanne auf. Er fühlt sich in seine Heimat zurückversetzt.

Er sieht sich und seine Brüder, wenn sie abends erschöpft von Schule und Spiel nach Hause kamen. Sie brauchten nur dem köstlichen Duft zu folgen, der sie direkt zu dem liebevoll gedeckten Tisch führte. Voller Hingabe hatten die Frauen des Hauses den ganzen Tag gekocht. Ihm läuft das Wasser im Mund zusammen. Mit wie viel Appetit hat er damals gegessen.

Und heute? Heute isst er meist, um satt zu werden. Damals war alles so selbstverständlich. Dankbar blickt er auf den Bildschirm. Seine Mutter lächelt ihm erwartungsvoll entgegen. Er hält das Handy über die Pfanne.

„Schade“, sagt er. „.....dass du den Duft nicht riechen kannst. Vielen Dank für deine Hilfe.“

Mit stolzem Blick sagt sie zum Abschied: „Sieht sehr lecker aus. Du bist ein Gewinn für jede Frau. Aufgaben des anderen Geschlechts zu übernehmen, vergrößert das Verständnis für die andere Rolle.“

Nachdem er das Essen mit kleingeschnittener Minze sorgsam dekoriert hat, fotografiert er es ab und schickt das Foto seiner Mutter. Dann erst serviert er es den anderen.

Eigener SchaSen

Das warme Spülwasser spritzt hoch, als der Teller aus Silvias Hand rutscht.

Na prima, dies scheint nicht nur ihr langsamster, sondern auch ihr schusseligster Abwasch zu werden. Hätte sie doch besser die Spülmaschine benutzt! Die drei Teller, hat sie gedacht, sind schnell von Hand gespült. Außerdem hofft sie, dass die Arbeit sie von ihren Gedanken ablenkt. Wenn ihr Vater sie jetzt sehen könnte. Nicht nur sein spöttisches Lächeln erscheint vor ihren Augen. Sie kann sogar seine Worte hören: „Na, Hausarbeit ist wohl nicht deine Stärke. Eine Designerküche macht noch lange keine Hausfrau aus dir.“ Und als Nachsatz: „Deiner Familie würde es auch gut tun, wenn du öfters zu Hause wärst.“

Sie hat es so satt, dass er ihre Lebensweise ständig in Frage stellt. Doch noch mehr regt es sie auf, dass sie sich mit 35 Jahren davon beeinflussen lässt.

Natürlich kann sie spülen, auch wenn Thomas dies normalerweise erledigt. Sicher liegt es daran, dass ihre Gedanken immer noch ums Kopftuch kreisen.