Sing If You Can't Dance - Alexia Casale - E-Book

Sing If You Can't Dance E-Book

Alexia Casale

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Beschreibung

Ermutigend, originell und mit ganz viel trockenem Humor: die unvergessliche Geschichte einer Teenagerin, die ihr Leben lebt, wie sie es will. Ven hat ihr Leben fest im Griff, bis ein schicksalhafter Tag alles verändert. Nachdem sie während eines Auftritts ihrer Tanzgruppe ohnmächtig wird, erfährt sie, dass sie unter einer Krankheit leidet, die all ihre Träume zu zerstören droht. Sie muss nicht nur das Tanzen aufgeben, sondern auch dabei zusehen, wie ihre ganze Welt auf den Kopf gestellt wird. Aber Ven ist stark und fest entschlossen, ein großes, aufregendes Leben zu führen. Denn wenn man nicht tanzen kann, kann man immer noch singen! Und außerdem ist da noch der mysteriöse Ren, der sie auf seltsame Weise zu verstehen scheint …  Eine rotzfreche Protagonistin, die ihren Leser*innen aus dem Herzen sprechen wird. Dieses Buch und seine Erzählerin sind unverblümt, entschlossen, wütend und hoffnungsvoll.  ― The Sunday Times »Bei ›Sing If You Can't Dance‹ habe ich mich gesehen gefühlt.« ― Leserinnenstimme

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Alexia Casale: Sing If You Can’t Dance

Aus dem Englischen von Christel Kröning

Aufmunternd, originell und mit ganz viel trockenem Humor: die unvergessliche Geschichte einer Teenagerin, die ihr Leben lebt, wie sie es will.

Ven hat ihr Leben fest im Griff, bis ein schicksalhafter Tag alles verändert. Nachdem sie während eines Auftritts ihrer Tanzgruppe ohnmächtig wird, erfährt sie, dass sie unter einer Krankheit leidet, die all ihre Träume zu zerstören droht. Sie muss nicht nur das Tanzen aufgeben, sondern auch dabei zusehen, wie ihre ganze Welt auf den Kopf gestellt wird. Aber Ven ist stark und fest entschlossen, ein großes, aufregendes Leben zu führen. Denn wenn man nicht tanzen kann, kann man immer noch singen! Und außerdem ist da noch der mysteriöse Ren, der sie auf seltsame Weise zu verstehen scheint …

Eine rotzfreche Protagonistin, die ihren Leser*innen aus dem Herzen sprechen wird.

Dieses Buch und seine Erzählerin sind unverblümt, entschlossen, wütend und hoffnungsvoll. – The Sunday Times

»Bei ›Sing If You Can't Dance‹ habe ich mich gesehen gefühlt.« – Leserinnenstimme

Wohin soll es gehen?

  Buch lesen

  Vita

 

Für alle, die ihre Träume ändern mussten: Auf dass euer neues Leben sich als noch besser erweise!

Davor

Erwartungsvoll angehaltener Atem.

Geflüster wird von einem einhelligen »Psst!« zum Schweigen gebracht.

Runner spurten durchs Studio, scheuchen eine Tanzgruppe nach der anderen zum Set. Die von der Technik gucken böse, während sie ihre riesigen Kameras so hinrollen, dass sie jeden Wettbewerbsbeitrag aus dem besten Winkel filmen können.

Die Luft vibriert vor Hektik, Aufregung und Angst.

In wenigen Minuten sind wir dran.

Jetzt nicht einklappen. Ich bleibe konzentriert. Reiße mich zusammen.

Schlucke die Übelkeit runter. Das ist reine Nervosität. So viel davon, dass ich fast umfalle.

Werde ich aber nicht. Die Enge in meiner Brust ist bloß Anspannung. Mir geht es gut. Alles ist komplett und hundertprozentig in Ordnung. Ich bin weder krank noch verletzt. Ganz bestimmt werde ich hier keinen auf Pip machen und von Ohnmachtsanfällen anfangen, nur weil ich ein winziges bisschen nervös bin.

Wir haben es in die Vorauswahl des landesweit ausgeschriebenen Gruppentanzwettbewerbs geschafft. Etwas so Großes ist seit Anbeginn der Zeiten noch niemandem an unserer Schule passiert. Von daher schon okay, dass wir nervös sind. Da ich die Gruppe leite, werde ich aber mit gutem Beispiel vorangehen und mich zusammenreißen. Ich kriege das hin. Alles ist absolut vollkommen eins a in Ordnung.

In der ersten Runde haben wir die volle Punktzahl gekriegt. Heute – gleich – wird sich entscheiden, ob wir es in die Live-Shows schaffen.

Bis vor einem Jahr gab es PopSync noch gar nicht, und auf einmal breitet sich hier eine so verheißungsvolle Zukunft vor uns aus, dass mir regelrecht schwindelig wird. Ich wanke gegen Maddie, die einen erschrockenen Laut ausstößt.

»Psst!«, zischt ein gestresster Typ, während er mit einer Rolle Gaffer-Tape an uns vorbeihetzt.

Maddie schlingt die Arme um mich, und wir dämpfen unser Kichern in der Schulter der anderen.

»Ohmeingott!«, flüstert sie in mein Ohr. »Ohmeingott, Ven.«

»Ich weiß, ich weiß, ich weiß«, flüstere ich zurück und bin so überwältigt, dass mir beim besten Willen keine schnippische Bemerkung einfällt.

»Bereit?«, fragt die ewig lächelnde Assistentin der Aufnahmeleitung, deren Berufsbezeichnung offenbar gleichbedeutend ist mit »Oberverantwortliche diesseits der Kameras«.

Und es ist so weit. Unser Augenblick ist gekommen.

Wir betreten die Bühne in der Mitte des Sets, Maddie und ich stellen unsere Gruppe vor, alle gehen auf Position, die Musik fängt an zu spielen, und das ist es, das ist es, das ist es.

Ich möchte mir jede Sekunde einprägen, jeden Atemzug genießen, kriege aber wieder so schlecht Luft wie öfters in letzter Zeit. Als würde das ständige Training mich irgendwie unfitter machen. Und ich weiß, dass ich bloß nervös bin und es ignorieren muss, meine Konzentration nicht verlieren darf – nur tun mir wieder die Arme und Beine so weh … wie so oft in letzter Zeit.

Ich darf jetzt nicht versagen. Gleich ist es geschafft.

Konzentrier dich.

Die Scheinwerfer blenden. Mitten in der Drehung gerate ich aus dem Gleichgewicht, taumle, aber korrigiere mich schnell. Hat das jemand gesehen? Gerade tanze ich hinten, von daher vielleicht nicht …

Plötzlich gibt mein Knie nach – es fühlt sich an, als würden Ober- und Unterschenkel irgendwie unkoordiniert wegknicken. Ich kriege den Fuß nicht richtig aufgesetzt, deswegen ist auch die nächste Drehung vermurkst.

Ich versaue es. Ich versaue alles.

Keine Panik. Einfach weitertanzen.

Nur tut mein Bein höllisch weh, und mein Flick-Kick gerät daneben. Irgendwas stimmt nicht, und womöglich kotze ich gleich. Oh Gott, ich kotze gleich, denn mein Bein ist falsch, falsch, falsch, und ich kann nicht atmen und werde vor all diesen Kameras loskotzen, auf der Bühne – am besten Tag meines Lebens.

Jemand von der Technik muss was gemerkt haben, denn sie dimmen das Licht im Studio. Gott sei Dank.

Vielleicht machen sie es ja ganz aus und lassen uns von vorn anfangen …

Die Bühne wird dunkel.

Stimmen werden laut. Eine Hand auf meinem Arm.

Ich muss etwas sagen, die Mädels beruhigen, bis das Licht wieder angeht.

Dann zieht jemand den Boden weg.

Und ich falle und falle und falle.

Circa achtzehn Monate später

Lass dir zuallererst mal ganz direkt gesagt sein, dass mir egal ist, ob du mich magst. Tu es oder lass es, nicht mein Problem.

Ja, irgendwie wäre alle Welt gern die Art Mensch, die jeder mag. Die Art Mensch, die nie irgendwas Schlechtes über irgendjemanden zu sagen hat – und über die auch nie irgendjemand etwas Schlechtes sagt. Wie todesöde müsste man denn dafür aber bitte schön sein? Ganz ehrlich, so jemand ist in meinen Augen ein Vollidiot.

Ich bin allerdings keine Vollidiotin. Ich bin ein Igel. Hier und da weich, aber hauptsächlich stachlig. Und sarkastisch. Wofür Igel jetzt nicht bekannt sind, aber so ist das nun mal: Metaphern sind entweder Klischees oder sie fallen beim ersten genaueren Blick auseinander. Harte Schale, weicher Kern trifft – trotz meiner partiellen Igeligkeit – zum Beispiel mal so gar nicht auf mich zu. Es wird für dich also nicht gerade gemütlich, in meinem Kopf zu stecken, aber auch das ist nicht mein Problem.

Du kannst mich Ven nennen. Kurz für Venetia (spricht sich »Weniischa«), aber nenn mich bloß nicht so, sonst bereust du das.

Warum du in meinem Kopf steckst, fragst du dich? – Tja, mir egal. Hau ab oder tus nicht, deine Entscheidung. Ich würde an deiner Stelle ja bleiben, rein so aus Interesse – allerdings habe ich auch Grips, und du bist vielleicht dumm wie Brot.

Wenn du jedenfalls bleibst, denken wir zwei jetzt als Erstes an mein Zwölfte-Klasse-Frühjahrstrimester-Montags-To-do.

Erstens:  so spät wie möglich, wenn auch nicht offiziell zu spät zur Schule kommen, um Abigail Moss – diesem (radioaktiv) strahlenden Ausbund an Güte(klasse-A-Bosheit) – so lange wie möglich aus dem Weg zu gehen, auf dass ich sie nicht vor ihrer Zeit vom Antlitz dieser Erde tilge. Zwar schiebe ich damit nur das Unvermeidliche auf, ist mir die Vorfreude aber wert.

Zweitens  –

Himmel, verdammt noch mal: Das ist mein Parkplatz. Ja, buchstäblich meiner – was nicht nur das dezente Rollstuhlmännchen andeutet, mittlerweile steht da auch kein anderer als mein werter Name auf dem Schild. (Warum ich mit sechzehn schon Auto fahren darf? Na, im Vereinigten Königreich ist das legal, wenn man mobilitätseingeschränkt genug ist, okay? Konzentrieren wir uns hier besser mal auf den wahren Verstoß gegen das Gesetz … und die grundlegendsten Regeln von Anstand.) Ich rolle etwas zurück und schlage ein Stück ein, damit ich der Fahrerin aufs Armaturenbrett gucken kann. Wusst ichs doch: kein Sonderparkausweis weit und breit.

Entschuldige mich also kurz (oder auch nicht), denn ich muss jetzt erst mal angemessen die Hupe zum Einsatz bringen.

Und den Mittelfinger.

Und – Fenster runterlassen – diverse Schimpfwörter.

Natürlich. Gerade als ich mich so richtig schön warm geflucht habe, kommt Miss Oberstufenleiterin Walker anmarschiert.

Mein Leben ist perfekt. Das Nachsitzen die Kirsche auf dem Sahnehäubchen.

Zweitens (neu):  niederträchtigen Plan ausarbeiten, um das Nachsitzen für die Aufsicht mindestens doppelt so unangenehm wie für mich zu machen. Oder ich smalltalke sie einfach unhöflich zu. Reicht bei den meisten schon.

Durch Miss Walkers Standpauke werden wir beide die morgendliche Versammlung in der Aula verpassen. Ich bin untröstlich.

Aufgebrummt kriege ich letzten Endes aber nur einen Tag Nachsitzen (den ich mir sogar aussuchen darf) – dabei habe ich noch gar nicht angefangen, mich (Schritt eins) »lässig« gegen die Autotür zu lehnen, bevor ich (Schritt zwei) hier einfach auf dem Asphalt zu einem Häufchen zusammensacke.

Vor dem PopSync-Desaster hätte Miss Walker das als reine Show abgetan, dieser Tage aber geleitet sie mich wie jetzt schnurstracks ins Gebäude und fragt mich, ob sie einen Krankenwagen rufen soll. Ihre Standardreaktion gemäß dem Motto: Wer diese Schule verklagen will, soll uns erst mal Fehlverhalten nachweisen. Ich lehne den Krankenwagen, ganz gestandene Frau, mit stoischer Miene dankend ab. Warum sollte ich schließlich das Ganze nicht auskosten?

»Ich weiß wirklich nicht, Ven, was wir noch tun könnten, um diese«, sie räuspert sich, »bedauerlichen Zwischenfälle auf dem Parkplatz zu verhindern. Und ich verstehe ja, wie sehr dich das provozieren muss, aber mit dem zusätzlichen Namensschild und der Mitteilung an die Eltern haben wir jetzt langsam alle Maßnahmen ausgeschöpft, sodass …«

Ich klinke mich aus, denn das Lied kenne ich. Ich muss es ausbaden, wenn irgendwelche Dumpfbacken »in Eile« sind und »nur ganz kurz« auf dem Behindertenparkplatz stehen, was ja wohl »kein Problem« sein kann. Denn, klar doch, wenn zehn von euch das nacheinander machen, was soll da schon das Problem sein? Und dann gibt es noch die Leute, die vielleicht gerade etwas für jemanden mit Behinderung erledigen und deswegen ihrer Meinung nach »ein Bequemlichkeitsplus« verdient haben. Man gebe mir Straffreiheit, und ich werde sie so lange bequemlichkeitsplussen, bis sie tatsächlich einen Behindertenparkplatz brauchen. Dann wollen wir mal sehen, ob sie ihre Meinung nicht überdenken.

Während Miss Walker immer noch die Hände ringt – nach der Devise: Mach nicht uns verantwortlich, dass du an deiner eigenen Schule nicht parken kannst –, lehne ich mich »lässig« an die Wand, und Miss Walker versteht den Hinweis. »Ich kann dich stützen, soll ich? Zu welchem Raum musst du denn jetzt?«, fragt sie.

»Ich komme klar. Aber je eher ich jetzt losdarf, desto schneller kann ich mich hinsetzen, wissen Sie?«

»Natürlich, geh nur. Melde dich zum Nachsitzen, sobald du dich dazu in der Lage fühlst, oder … In Anbetracht der Umstände …« Sie reibt sich die Stirn. Ich erschlaffe noch etwas mehr und schaue möglichst bemitleidenswert zu ihr auf. »Lassen wir es ein letztes Mal gut sein. Was aber bitte nicht bedeuten soll, dass ich dein Verhalten billige.«

Innerlich triumphierend schlurfe ich los in Richtung Klassenraum. Mein Schlurfen und meine Miene müssen heute besonders unansehnlich sein, denn die Entgegenkommenden machen ausnahmsweise einen weiten Bogen um mich. Warum machen sie das nicht immer? Warum weichen die Leute, die es eilig haben, uns Langsamen, offensichtlich Mobilitätseingeschränkten immer nur widerstrebend aus? Dass ich heute regelrecht Platz habe, ist einerseits erfreulich, andererseits schade, denn einem Nullhirn hier oder da »versehentlich« eins mit dem Gehstock zu verpassen, hat doch auch immer was für sich.

Und – o Schicksal sei Dank! – niemand anders als mein Lieblingsmensch Abigail Moss lehnt im Türrahmen zum Matheraum. Wenn ich jetzt unglücklicherweise ihren Fuß übersehe und meinen Stock, peng, mitten auf …

»Venetia, Schätzchen, willst du meine Hand? Du siehst ja schlimm aus«, sagt Abigail und reißt ihre Unschuldsaugen weit auf.

Aus »übersehen« wird jetzt also nichts mehr. Toll gemacht, Schicksal.

»Mach Platz«, fahre ich sie an.

»Venetia!« Beleidigt verzieht sie das Gesicht – als ob ich ihr die Tür blockieren würde. Dann macht sie wieder einen auf mitfühlend. »Ich frage ja nur, ob du meine Hand willst.«

»Deine Hand kann mir gestohlen bleiben, solange sie am Rest von dir dran ist«, schnaufe ich und lehne mich gegen die Flurwand. Ich bin schon jetzt so kaputtfrustriert, dass der Boden unter meinen Füßen zu wanken scheint.

Als ich wieder zur Tür sehe, steht Abigail immer noch da und will wohl neuerlich beleidigt gucken, was aber das schlangenhafte Glitzern in ihren Augen nicht recht hergibt. Schließlich zieht eins der Mädchen aus ihrer Rotte sie mit beschwichtigenden Lauten ins Klassenzimmer. Alle wenden den Blick ab, während ich auf den erstbesten freien Platz zugehe. Wobei man das, was ich hier mit zusammengebissenen Zähnen und glasigen Augen veranstalte, kaum noch gehen nennen kann – aber was bleibt mir anderes übrig, solange ich nicht mit dem Gesicht voran auf den Teppich knallen will. Ich meine, sieh dir unseren Schulteppich doch mal an. Das wollen wir nicht.

Beim lebensrettenden Stuhl angekommen, hänge ich meine Tasche über die Lehne, stütze die Hände aufs Pult, lasse mich auf den Stuhl sinken, und als ich endlich sitze, sacke ich langsam vornüber, bis ich meine Schläfe auf die – bäh – leicht klebrige Tischplatte legen kann. Wie immer kommt irgendwer angeschwirrt, um einen Wirbel um mich zu veranstalten, ich aber hebe die zitternde Hand und strecke den »Lass mich in Ruhe«-Finger hoch.

Ein Aufwallen von Empörungslauten, bevor über meinem Kopf wieder das übliche Gelaber zusammenschwappt.

Als sich bei Mr Singhs Ankunft die Geräuschkulisse verändert, richte ich mich langsam auf und unternehme halbherzige Anstalten, meine Frisur irgendwie einigermaßen zurechtzuzupfen. Dann stütze ich das Kinn auf die Hand und probiere, mich beim Blick aus dem Fenster der Schwermut hinzugeben.

Nur mache ich offenbar irgendwas falsch. Statt dass ich schwermütig werde, kotzt mich einfach weiterhin alles nur an.

Da hält ein Auto vor der Schulmauer, ein Typ in meinem Alter steigt aus und steuert auf den Eingang zu. Groß, schlank, schwarze Locken. Ich habe ihn noch nie gesehen (wiedererkennen würde ich ihn, selbst wenn wir nur mal im Flur aneinander vorbeigekommen wären), daher stellt sich die Frage, wer bitte schön erst in der zweiten Woche des Frühjahrstrimesters an einer neuen Schule anfängt.

Der Junge fährt sich durch die Locken, hält dann aber mitten in der Bewegung inne, lässt die Hand sinken und neigt den Kopf, sodass ihm die Haare ins Gesicht zurückfallen. Halb macht mich dieses Verhalten neugierig, halb verschafft es mir das Gefühl, ich sollte besser wegsehen.

Bevor ich noch mit mir einig werde, ertönt ein Geräusch über mir. Ich sehe auf und muss feststellen, dass Mr Singh kein Freund ist von Schwermut-Training während der Unterrichtszeit.

MONTAGS-TO-DO

Drittens:  es schaffen, dass endlich Dienstag ist.

Mittagspause

(Wird dieser Tag je enden?)

»VEN!«, ruft Maddie überschwänglich, sobald ich in die Cafeteria geschlurft komme. Umarmt werde ich aber nur vorsichtig und zögernd, und Maddies Blick klebt an meinem Gehstock, statt dass sie mal mein Outfit angucken würde. Dabei trage ich heute meine endschönsten brandneuen Stiefeletten aus kastanienbraunem Leder mit den drei Goldschnallen. Wenn ich schon als herumschlackernde Knochenansammlung durchs Leben schlurfen muss, dann immerhin mit Stil.

Doch Maddie bemerkt die neuen Schuhe nicht mal, sie ist zu sehr damit beschäftigt, den Rest von PopSync am Tisch für mich beiseiterutschen zu lassen. Schon klar, so habe ich wortwörtlich noch einen Platz in ihrer Runde – nur leider jetzt eben den Mitleids-Platz.

»Wie läuft das Training?«, erkundige ich mich, weil es seltsam wäre, das nicht zu fragen, und natürlich reden sie alle wild durcheinander drauflos. Was ja herrlich ist, denn auf einmal bin ich wieder voll mittendrin – aber das Gefühl hält nur für so fünf Sekunden lang.

Für mich gibt es kein Tanzen mehr. An einen Körper, der noch alles macht, was ich von ihm will, kann ich mich jetzt nur noch wehmütig zurückerinnern. So muss es einem gehen, wenn man alt wird, ich aber bin doch noch nicht mal erwachsen. Ich bin nicht bereit, meine Erwartungen runterzuschrauben und zu akzeptieren, dass ich nicht mehr so kann wie früher. Ich hatte zu wenig Zeit. Und ich weiß – ich weiß –, dass bestimmt alle so denken, wenn die Jahre sie einholen. Nur ich habe doch kaum angefangen, und jetzt soll so vieles schon vorbei sein?

Die Cafeteria verschwimmt mir vor den Augen, und ich merke, wie die anderen nach und nach verstummen. Eine Hand legt sich auf meine Schulter, aber nur ganz sanft. Zu sanft.

»Ach, Ven«, sagt Maddie.

Ich renne weg.

Na ja, offensichtlich nicht. Aber ich sehe zu, dass ich wegkomme, so schnell ich kann, und es ist mir egal, wie unkoordiniert oder bescheuert das aussieht. »Lass mich, du machst es nur noch schlimmer«, rutscht mir zu allem Übel Maddie gegenüber heraus, als die mir hinterherkommt. »Wie jedes Mal«, füge ich hinzu, weil jetzt eh alles egal ist. Dann lasse ich sie stehen und schiebe mich durch die Cafeteriatür in den Flur.

Dabei macht Maddie ja gar nichts schlimmer. Also, nicht absichtlich. Sie kann genauso wenig was dafür wie ich, aber keine von uns weiß sich anders zu helfen, als in dem aussichtslosen Versuch, unsere Freundschaft festzuhalten, sie doch nur immer kaputter zu machen.

Statt dass wir, wie es doch eigentlich bestimmt war, gemeinsam unseren Traum vom Tanzen leben, kann ich sie dabei jetzt nur noch unterstützen … Und das will ich ja auch – natürlich will ich das –, nur fühlt es sich jedes Mal an wie Zitronensaft in einer frischen Wunde.

All das brüllt mir durch den Kopf, und ich passe nicht auf, wo ich hinschlurfe. Ich schaffe vielleicht vier Meter, bevor ich so ungünstig mit jemandem zusammenstoße, dass wir beide auf den Knien landen und mein Stock zu Boden knallt.

Die Augen tränennass, das Gesicht verzerrt von Trauer, Wut und der Erkenntnis, dass ich mir die Hüfte ausgerenkt habe, blicke ich auf – und vor mir kniet der Junge. Der Junge mit den rabenschwarzen Locken. Jetzt sehe ich, warum er sich die Haare vorhin nicht vollständig und hochromantisch aus der Stirn gestrichen hat: Ein Spinnennetz aus Narbengewebe überzieht seine komplette linke Gesichtshälfte.

Erst reißt er erschrocken, dann entsetzt und beschämt die Augen auf. Er hat sich aufgerappelt, bevor ich zweimal blinzeln kann, und mein Hirn macht währenddessen nur: Wow, einfach wow. Wunderwunderschön.

Du weißt schon, welche Art von Schönheit ich meine – die Art, die dir den Atem raubt, dich vorwärtszieht und dir sekundenlang die Fähigkeit nimmt, zu denken. Wenn, wie es heißt, Wahrheit Schönheit ist, dann ist genau das gemeint, glaube ich. Denn der Junge ist nicht wegen oder trotz seiner Narben schön, er ist es einfach.

Aber natürlich sieht er nur schön aus, schließlich geht er jetzt einfach weg und lässt mich hier auf dem Boden zurück. Ich meine, okay, ich war diejenige, die nicht aufgepasst hat, aber: HALLO! Deine Beine funktionieren noch tadellos, Freundchen. Obwohl er also buchstäblich zum Niederknien gut aussieht, ist er leider offenbar ein Megamistkerl.

Während ich noch über weitere passende Schimpfworte nachdenke, fühlt sich irgendein anderer Mitschüler berufen, mich auf die Füße zu ziehen. Ohne zu fragen oder mich vorzuwarnen wohlgemerkt, was natürlich nicht mal ansatzweise hilfreich und noch schmerzhafter ist als das Am-Boden-Knien. Natürlich wird erwartet, dass man sich auch für ungewollte Hilfe bedankt. Ich blecke die Zähne zu einem Lächeln und drehe mich zu meinem Retter um.

Um mich zu bedanken, denkst du? Na, da hat ja jemand toll aufgepasst.

Zehn Minuten später

TO-DO

Viertens:  Mitschüler zerstückeln. ERLEDIGT!

Fünftens:  Hüfte einrenken.

Medizinisch gesprochen liegt eine Ausrenkung, eine vollständige Luxation dann vor, wenn die Knochen, die zusammen ein Gelenk bilden, ganz voneinander getrennt werden. Wenn also meinetwegen der Oberarmkopf die Schulterblattpfanne komplett verlässt. Im Unterschied dazu liegt, wenn die Gelenkflächen immerhin teils in Berührung bleiben, eine unvollständige Luxation – eine Subluxation – vor. Eine Verrenkung, könnte man sagen. Streng genommen renke ich mir also nur selten tatsächlich etwas aus, aber die Sache ist die: Wenn einer deiner Knochen so verschoben ist, dass du ihn händisch zurück ins Gelenk zwingen musst, und zwar sofort, weil es zu scheißweh tut, um damit zu warten – und dir dann jemand sagt, es sei nur eine Subluxation, na ja … Lediglich einer der Gründe, aus denen chronisch Erkrankte (die meisten) Ärzt*innen mit glühender Leidenschaft hassen.

Fürs Protokoll also: Ich nenne es ausgerenkt, wenn ich mir die Faust unter den Hintern schieben und das Bein nach oben, zur Seite und runter hebeln muss, damit (füge dumpfes, nachhallendes Knirschen ein) mein ›nur‹ teils rausgefallener Oberschenkelknochen wieder ins Hüftgelenk einrastet.

Allerdings – ebenso fürs Protokoll – gelingt dieses Einrenkmanöver (mir zumindest) nicht im Stehen. Um so einen Knochen zurück ins bockige Gelenk zu kriegen, brauche ich quasi eine Hebebühne. Oder immerhin einen Stuhl. Da hier im Flur aber nun mal keiner ist, bleibt mir genau eine Option: Mit dem Bein halb in, halb außerhalb des Hüftgelenks zum nächstbesten Sitzmöbel gelangen, dann so gut wie möglich drauffallen (vorsichtig setzen ist unmöglich) und mich dort wieder zusammenschrauben.

Fünfzehn Minuten und diverse Schmerzmittel später muss ich es irgendwie zum Unterricht schaffen. Verschwitzt und elend schlurfe ich in den Englischraum und nuschle: »’tschuldigung, musste mich wieder einrenken.« Denn eine der großen Freuden an all dem ist, dass man öffentlich erklären muss, was niemanden einen Scheiß angeht.

Dann schaue ich auf und sehe … ihn. Von seinem Platz in der hintersten Ecke des Klassenraums späht er durch seine rabenschwarzen Locken hindurch zu mir nach vorne. Statt an den Grund zu denken, warum er sich schon wieder hinter seinen Haaren versteckt, fällt mir auch jetzt nur ein, wie absolut zum Totumfallen hinreißend dieser Junge aussieht. Dabei weiß ich natürlich – ich bin ja nicht doof –, dass Narben Leuten peinlich sind. Und Gehstöcke. Und Schlurfschritte. All das ist objektiv gesehen nicht hässlich, nur anders. Trotzdem fühle auch ich mich manchmal hässlich unter den Blicken der Leute. Manchmal sogar auch, wenn ich allein bin, denn mein Körper war früher anders, und ich mochte ihn so, wie er war – nicht wie er jetzt ist.

Wie der Junge allerdings ohne die Narben ausgesehen hat, weiß ich ja gar nicht, trotzdem finde ich ihn schön. Und wenn das möglich ist, wird mich eines Tages vielleicht auch jemand schön finden. Jemand, der mich davor nicht kannte. Ohne Wenns, ohne Abers, ohne Trotzdems – ganz ohne Nachdenken, sondern einfach aus Reflex. Der Lockenjunge mag ja ein Mistkerl sein, dennoch sollte ich ihm vielleicht sagen, was ich sehe. Ihm sagen, dass es möglich ist, ihn schön zu finden. Ich an seiner Stelle würde es wissen wollen.

Andererseits: Nie im Leben! Peinlicher geht es wohl kaum. Und an Demütigungen herrscht in meinem Leben beileibe kein Mangel, vielen Dank auch. Toll. Ganz toll. Bevor wir überhaupt ein Wort gewechselt haben, macht dieser Typ mir schon Kopfschmerzen.

Dabei habe ich die neunzig Minuten Englisch mit Abigail Moss ja erst noch vor mir. Welche Folterwerkzeuge will der heutige Tag denn noch zum Einsatz bringen?

Ich bin ja selbst schuld, dass ich frage. Schlechte, sehr schlechte Musik schießt mir beim Nachhausekommen ins Hirn, wo sie einen halben Schlag versetzt zum Takt meiner Kopfschmerzen pocht.

»Auf keinen Fall!«, rufe ich und hänge die Schultasche ans Treppengeländer, damit ich mich nachher nicht nach ihr bücken muss.

In der Küche sitzt Dad vor ausgebreitetem Papierkram. Hinter mir schwebt Mum herein und schaltet die Musik aus. »Nein?«, fragt sie, zieht sich einen Stift aus der Lockenmähne und notiert etwas auf der Liste am Kühlschrank. »Ich höre mir seit Stunden einen Track nach dem anderen an«, jammert sie. »Was gut oder schlecht ist, kann ich schon gar nicht mehr auseinanderhalten, so sehr brummt mir der Kopf. Und, ja, ich weiß: Warum habe ich keine Pause gemacht? Ich dachte einfach jedes Mal, das nächste Lied muss jetzt aber was Gescheites sein – nur leider gilt das Gesetz der großen Zahlen in der Musikbranche offenbar nicht.« Sie lässt das iPad sinken und pflanzt sich stöhnend an den Küchentisch. »Ach, geliebte Lieblingstochter, bitte koch mir einen Tee.«

»Da jammert aber wer auf hohem Niveau. Freu dich doch, dass sie uns mit Bewerbungen nur so zuschütten«, sage ich und stelle Tassen auf den Tisch.

»Ganz schön frech«, Mum zupft mich an den Locken, »mir mein eigenes positives Denken zu servieren, wenn ich gerade bis zum Hals in der Demo-Hölle stecke.«

Meine Familie richtet nämlich jeden Sommer ein dreitägiges Musikfestival aus. Und wenn ich »Familie« sage, meine ich damit nicht nur Mum und Dad. Auch Tante Jinnie, Tante Sarah, Onkel Geoff und fast alle anderen irgendwie Bluts- oder Wahlverwandten wurden erfolgreich mit an Bord geholt. Der Ruf der Pflicht ignoriert sich schwer bei dem Motto: »Wir stehen für die Familie in Familienfestival.« Zwölf Jahre läuft das schon so (also schon solange ich mich erinnern kann), und endlich hat das Festival angefangen, Geld einzubringen, statt welches zu kosten. Diesen Wendepunkt haben wir dank effektiver Mundpropaganda und einer wachsenden Zahl Stammgäste erreicht, die jedes Jahr wegen Mums Talent wiederkommen, Künstler*innen kurz vor ihrem Durchbruch für unser Festival zu gewinnen – bevor sie also zu groß sind, als dass wir sie uns leisten könnten. Der Nachteil an dieser Strategie ist allerdings, dass wir uns bei der Suche nach den angehenden Musikgrößen eine ganze Menge ausgekochten Scheiß anhören müssen.

Als Mum jetzt also sagt: »Ven, ich würde dir gern einen Track von denen hier vorspielen, ja? Nur um sicherzugehen, dass mir nichts durchrutscht«, lässt mich die jahrelange Erfahrung antworten: »Du hältst sie doch für Mist und denkst nur, dass meine Generation so was cool finden könnte. Leide ich denn nicht schon genug Schmerz und Qualen?«

Allerdings kommt meine Antwort seltsam heraus. Mir zermatschen die Worte im Mund, ich muss nach Luft schnappen, und … Ah.

Die Küche wird dunkel, zieht sich in die Länge, und ich kann immer schlechter auseinanderhalten, wo oben oder unten ist. Ich halte mich an der Kücheninsel fest. Schon okay. Ich krieg das hin.

Ich krieg das nicht hin.

Wahrscheinlich hast du keine Ahnung davon, wie viele verschiedene spannende Arten von Ohnmacht es gibt. So wie du auch noch nie was von der Sache mit der vollständigen Luxation versus Subluxation gehört hast. Und wenn du jetzt denkst: »Och nö, nicht noch mehr Medizinkram«, dann habe ich hier drei Worte für dich:

Komm damit klar.

Wenn ich es am eigenen Leib erfahren muss, wirst du wohl in der Lage sein, dir was darüber anzuhören.

Der medizinische Begriff lautet »Synkope« – ziemlich jazzig eigentlich. Und ja, das war ein sehr, sehr schlechter Musikwortwitz. Meine persönliche Eigenmarke ist die vasovagale Synkope, was grob so viel bedeutet wie »ohnmächtig werden wegen Blutdruckproblemen«. Mein Blutdruck hat nämlich die entzückende Angewohnheit, hin und wieder so dramatisch abzusacken, als würde ich gerade verbluten oder so. Wenig überraschend werde ich dadurch bewusstlos.

Inzwischen bin ich so dran gewöhnt, dass ich es manchmal schon längst kommen fühle und mich dann vorsorglich hinlege. Manches andere Mal falle ich um, aber immerhin einigermaßen kontrolliert. Wenn ich wie jetzt allerdings zu lange glaube, die Ohnmacht verhindern zu können, ist es leider zu spät, um noch irgendwas zu unternehmen. Es folgt unweigerlich eine neuerliche Demonstration meiner Fähigkeit, schwerfällig am Mobiliar hinabzugleiten – rutsch, glitsch, platsch. Im nächsten Augenblick liege ich als Häuflein vor der Kücheninsel am Boden. Mum tätschelt mir die Schulter, während ich versuche, schön tief ein- und auszuatmen.

»Möchtest du einfach zum Sofa krabbeln, oder soll ich dir aufhelfen?«, fragt Mum.

»Was ist los?«, ruft Dad.

»Nichts passiert!«, krächze ich. »Bin in einer Minute wieder okay.«

»Den Tee koche ich«, sagt Mum. »Du packst dich aufs Sofa. Dann kannst du dich auch gleich für diesen Schnuppertermin anmelden, wie du es versprochen hast.«

»Erpresserin«, grummele ich. Und seufze tief. »Aber meinetwegen. Und ich koche selbst den Tee, sobald ich wieder stehen kann. Meine Aufopferung kennt keine Grenzen.« Das klingt sogar in meinen Ohren schwach. Und nicht nur, weil ich eifrig zu »vergessen« versuche, mich für den Termin anzumelden, von dem Mum redet. Es geht darum, sich mit anderen von chronischen Schmerzen Betroffenen im Gemeindezentrum treffen. Meine Teekoch-Ankündigung klingt schwach, weil ich bei dem Versuch ja doch bloß ein zweites Mal die Möbel runterglitschen werde. Hin und wieder bin ich nun mal stur, und dann braucht es viel Geglitsche, bevor ich kapituliere.

Jetzt denkst du, ich sei bescheuert, aber sieh es mal so: Es ist mir wichtig, nicht immer gleich aufzugeben. Mitunter muss ich dranbleiben – komme, was wolle –, um mir selbst zu beweisen, dass ich nicht das Handtuch werfe. Also gebe ich mein mickriges Bestes, verdammt noch mal. Mit rutsch, glitsch, platsch und allem Drum und Dran.

Das Tanzen ist vorbei, mein Leben nicht.

Ich bräuchte bloß Zeit, heißt es von allen Seiten, um ein neues Ziel zu finden und um wieder auf etwas zusteuern zu können. Vielleicht stimmt das ja sogar. Aber was, wenn der Höhepunkt meines Lebens schlicht und einfach schon hinter mir liegt und ich zusehen muss, wie ich mit dem traurigen Rest irgendwie auskomme?

Am nächsten Tag …

DIENSTAGS-TO-DO

Erstens:  neues Lebensziel finden und dazu einen Plan, wie ich es erreichen kann, bitte. Danke.

Zweitens:  ihn nicht anstarren.

Drittens:  Abigail Moss so durch Hypnose / unterschwellige Botschaften gehirnwaschen, dass ihr bei meinem bloßen Anblick übel wird und sie die Schule wechseln muss. Ach nein, ich vergaß. Wo kein Hirn ist, kann man auch keins waschen.

Zweitens klappt so mittelgut. Die ganze Englischstunde lang betrachte ich verstohlen diesen bestimmten neuen Mitschüler mit, hach, diesen rabenschwarzen Locken. Hinter denen versteckt er sich so geflissentlich, dass er mich immerhin nicht beim Glotzen erwischen kann. Umso besser, weil ich ihn nämlich immer noch anstarre, als es zur nächsten Stunde läutet. Mit geschmeidigen Bewegungen räumt er seine Tasche ein, streift flink wie ein Fuchs durch die Menge und verlässt das Zimmer mit einer Anmut, die …

Okay, ja, mir läuft die Sabber runter. Verklag mich.

Als ich auf den Flur hinaustrete, bemerke ich, dass sich die Leute ausnahmsweise mal nicht über mich das Maul zerreißen.

»Hat wer eine Ahnung, was mit seinem Gesicht passiert ist?«

»Ist das eine Verbrennung?«

»Ist er etwa Pyromane?«, fragt Abigail Moss in dem gespielt besorgten Tonfall, den sie fürs Mobben benutzt. »Womöglich kommt er frisch aus dem Gefängnis.«

Ich ziehe in Betracht, sie zu schubsen – doch das würde sehr wahrscheinlich mir viel mehr wehtun als ihr, also werfe ich ihr bloß meinen bösesten Blick zu. Sie erwidert ihn mit ihrem üblichen Schlangenlächeln. Sollte ich eines Tages feststellen, dass sie eine gespaltene Zunge hat, wird es mich kein bisschen überraschen.

Mit dem Bild von Abigail Moss’ Schlangenzunge vor Augen schlurfe ich zum Musikraum, wo das schlechte Gewissen mich wie angewurzelt im Türrahmen stehen bleiben lässt. Maddie sitzt mit angezogenen Beinen da, die Arme um die Knie geschlungen. Als sie mich sieht, erhellt sich ihre Miene, und für den Bruchteil einer Sekunde erscheint ein Lächeln auf ihrem Gesicht, bevor es zu etwas Zögerndem und Unsicheren verblasst.

Ich lasse mich auf den Stuhl neben ihr sinken. »Ich bin eine beschissene beste Freundin.«

»Manchmal«, sagt Maddie und legt den Kopf auf meine Schulter.

Immerhin. Nicht repariert, aber abgehakt. Muss vorerst reichen.

»Ab heute«, sagt Miss Meade, stellt ihre Tasche ab und wirft sich ihre Ombré-Twists über die Schulter, »werden wir uns auf eure Gruppenprojekte konzentrieren. Irgendwie ist auf einmal nämlich schon Februar, somit bleiben nur drei Monate bis zu Vorklausur und Zwischenzeugnis. Wie ich euch ja schon vor Ewigkeiten erklärt habe, ist mir bis Schuljahresende Folgendes abzugeben: eine Audio- oder Video-Audio-Aufnahme eurer Gruppenleistung, eine kritische Analyse dieser Leistung und die Partitur von mindestens einem Musikstück, das ihr in Zweierteams geschrieben oder zusammenge– Hallo. Bist du mein neuer Schüler aus den USA?«

Die ganze Klasse folgt ihrem Blick.

Rate, wer sich im Türrahmen herumdrückt. Ganz genau, ein gewisser Typ mit rabenschwarzen Locken huscht eilig auf den nächstbesten Stuhl und tut ganz und gar beschäftigt, seine Sachen aus der Tasche zu holen.

Miss Meade verdreht bei dieser Nicht-Begrüßung die Augen und spricht weiter zur Klasse. »Das Musikstück kann wie gesagt selbst komponiert sein. Muss es aber auch nicht. Es geht auch eine Coverversion, sofern sie das Original neu interpretiert. Die Gruppen haben wir ja immerhin schon. Singgruppe, Orchester und Maddie mit PopSync.«

Nicht nur Maddie, auch ich hatte damals eine Ausnahmeerlaubnis für PopSync als Gruppenprojekt bekommen. Es wäre die spaßigste Zweierteam-Kursarbeit aller Zeiten geworden. Jetzt aber zählt die Ausnahme natürlich nur noch für Maddie, und ich bleibe partnerlos zurück. Bei der Singgruppe. Das Schicksal muss natürlich immer noch mal nachtreten.

Quasi alle, die auch nur annähernd ein Instrument spielen können, haben die Singgruppe verlassen. Seit letztem Trimester denke ich ernsthaft darüber nach, mit Triangelspielen anzufangen. Oder sogar (Pause für entsetztes Luftholen) mit Tamburin. Aber ich singe eigentlich gern. War schon immer so. Nur wie beim Tanzen mache ich das lieber in der Gruppe. Weder meine Singstimme noch mein Tanzstil erscheint mir besonders genug, um solo aufzutreten. Dafür bin ich überraschend gut darin, mit anderen zu harmonieren – sowohl stimmlich als auch in der Bewegung. Und ganz ehrlich: Das mag ich an mir. Ich weiß, ich bin rechthaberisch, penetrant, schwierig und anders als andere. »Eine Marke für sich«, wie die Leute es nennen, die nett sein wollen, aber wenn ich singe oder tanze, kann ich wunderbar Teil einer Gruppe sein. Dann endlich liegt mein Talent darin, mich einzufügen, statt herauszustechen. Dazuzugehören.

Und während es natürlich kein gutes Zeichen ist, dass die Singgruppe auch im zweiten Trimester noch klingt wie eine Ansammlung von Straßenkatzen, die sich zu weißem Radiorauschen die Kehle aus dem Leib kreischen, hat die Oberstufe doch immerhin quasi erst angefangen. Wir hätten noch Zeit, das Ruder herumzureißen. Es müsste nur jemand vortreten, die Sache in die Hand nehmen – und vielleicht ist ja er dieser Jemand. Ein Neuling mit frischer Stimme und unverbrauchten Ideen könnte die perfekte Lösung für unser Problem sein. Na ja, zumindest mal angenommen, er tritt a) der Singgruppe bei und nimmt b) davon Abstand, sich den Rest seines Lebens hinter diesen rabenschwarzen Locken zu verstecken.

»Also, neuer Schüler«, sagt Miss Meade und richtet ihr furchteinflößendstes Lächeln auf ihn. »Hallo noch mal.«

»Hi«, nuschelt er, was nicht gerade für seine Führungsqualitäten spricht – aber vielleicht muss er ja bloß erst mal mit uns warm werden.

Miss Meade lächelt unbeirrt weiter. Er wird sich schon mehr Mühe geben müssen, um sie aus dem Konzept zu bringen. Einer der Gründe, warum Miss Meade mit weitem Abstand meine Lieblingslehrerin ist. Sie lässt sich null Komma nichts bieten. Und: Einmal hat sie Abigail Moss zu einer vollen Woche Nachsitzen verdonnert, weil die mir im Flur »aus Versehen« eins mit ihrer Tasche verpasst hat.

»Ich beherrsche Englisch, Französisch und sogar ein bisschen Arabisch und Wolof«, sagt Miss Meade zu ihm. »Aber einsilbiges Genuschele fehlt in meinem Repertoire, deswegen bleibt mir keine andere Wahl, als zum grausamsten aller Lehrkörperwerkzeuge zu greifen: die Vorstellungsrunde.« Entsetztes Schweigen. »Weigert sich jemand, spielen wir Eisbrecherspiele, bis ihr allesamt innerlich tot seid. Also, Stuhlkreis bilden, und reihum sagt ihr euren Namen und welche Musik ihr mögt. Maddie, du fängst an.«

Maddie und die Orchesterleute kann ich noch ganz gut ausblenden, dann aber sind die ersten zwei Mitglieder von der Singgruppe dran.

»Ich heiße Roksana.«

»Und ich Orla, und wir mögen Hip-Hop und Hip-House.«

Wer liebt sie nicht, diese Menschen, die im Partner-Igitt daherkommen? – Hier, ich mag sie nicht. Ja, ich weiß, du bist schockiert.

»Hip-House ist ein Crossover zwischen House und Hip-Hop. Nur zur Erklärung für diejenigen unter euch, die bis gestern noch auf dem Mond gelebt haben«, schließt Roksana. Nur um von den restlichen Singgruppe-Quälgeistern abgelöst zu werden. Nach dem Duett nun eine Variation für drei Instrumente. »Hi, ich heiße Benjo, und wir«, er weist so schwungvoll zu den Zwillingen, dass der neben ihm einen leichten Handkantenschlag abkriegt, »sind ein Barbershop-Trio und suchen noch jemand Viertes, um das Quartett vollzumachen. Seit letztem Sommer treten wir auch auf.«

Wahrscheinlich in Altersheimen, wenn du mich fragst. Ihr fast klinisch exakter Sound, den ich aus dem Handgelenk als »Retro-Schnarch« bezeichnen würde, ist das genaue Gegenteil zu dem »Hip-House« von Roksana und Orla. Die beiden tragen ihre bedeutungsschweren Texte so rhythmisch kreativ vor, dass man einfach hinhören muss … um zu bemerken, dass sie keinen einzigen Ton treffen. Gegensätze ergänzen sich, könnte man jetzt mutmaßen, nur grenzt die Kombi in diesem Fall leider an Körperverletzung. Und, ja, das sage ich als eine von chronischen Schmerzen Betroffene.

Miss Meade zieht ungerührt eine Braue hoch, als jetzt die Zwillinge an der Reihe sind, aber erst mal nur auf ihre Füße starren.

»Fred«, nuschelt Zwilling eins schließlich.

»George«, nuschelt Zwilling zwei hinterher.

Absolut nicht hilfreich, denn solange nicht einer der beiden von heute an auf ewig blau trägt und der andere rot – oder sich keiner von beiden je wieder von seinem Platz erhebt –, weiß ich beim besten Willen nicht, wie ich sie auseinanderhalten soll. Seit Schuljahrsbeginn versuche ich es schon und kann mich nur durch den Umstand trösten, dass es allen anderen, sogar Miss Meade, ganz genauso geht.

»Fred und George Wesley«, fügt Zwilling zwei mit düsterer Stimme hinzu. »Ja, unsere Mum ist eine Legende. Und, ja, wir haben alle Witze schon gehört.«

Ich will gerade austesten, ob Letzteres tatsächlich stimmt, da ergreift Miss Meade wieder das Wort: »Fordert die anderen doch nicht auch noch heraus«, rät sie den Wesleys trocken (berechtigterweise), dann wendet sie sich an den Nächsten. An den Neuen.

Sein Blick huscht durchs Zimmer. »Ich bin Ren. Ich spiele Klavier und singe.«

Sein Akzent ist anders, als ich erwartet hatte. Irgendwie samtig und fast, aber nur fast, etwas schleppend. Meine Wangen werden ganz heiß bei dem Gedanken, wie es klingen muss, wenn er singt. Sanft und hauchig, während sich das Licht der Bühnenscheinwerfer an seinen tiefrabenschwarzen Locken bricht.

Als Miss Meade Ren weiter anguckt, rutscht der auf seinem Stuhl hin und her und legt den Kopf so zur Seite, dass er sie mit dem Auge auf der narbenfreien Gesichtsseite flehend ansehen kann.

»Und welche Musik magst du, Ren?«, hakt sie gleichzeitig drohend und freundlich nach.

»Am Klavier Klassik«, murmelt er und fügt, als Miss Meade gefährlich die Augen zusammenkneift, eilig hinzu: »Beim Singen Gospel und Blues.«

»Ich frage mal weiter«, warnt Miss Meade. »Bin gespannt, ob du mir jetzt mindestens zwei Dutzend Wörter liefern kannst. Bereit? Also, Ren, wo hast du gewohnt, bevor du an unsere fröhliche kleine Schule kamst?«

»In den USA. Mein Dad ist beim Militär, deswegen ziehen wir viel um. Ich meine, früher war das so, aber diesmal bleiben wir in der Nähe von Mums Familie. Meine Mum kommt von hier, nur mein Dad ist Amerikaner. Amerikaner japanischer Herkunft.« Rens Blick huscht seltsam zur Seite, und mir geht auf, dass er die Anzahl der Wörter überschlägt. »Kann ich jetzt bitte wieder schweigend auf den Boden gucken?«

»Gut, bitte«, antwortet Miss Meade und guckt auffordernd zum nächsten Orchestermenschen.

Den Rest der Vorstellungsrunde blende ich mühelos aus, weil ich ohnehin viel zu beschäftigt damit bin, Rens unverhüllte Gesichtshälfte, all diese Winkel und Schatten darin anzustarren, und seine Wimpern, die jedes Klischee des »Jungen mit langen Wimpern« erfüllen. Bei Gott: diese Wangenknochen, dieses Kinn, diese Stirn! Ein wirklich, wirklich vorteilhafter Knochenbau, und ich frage mich, ob er ihn väter- oder mütterlicherseits vererbt bekommen hat. Darf ich mich das fragen, oder ist das rassistisch? Ich meine, ich bringe ja nicht etwa seine Haut mit irgendeinem Essen in Verbindung oder so. Bestimmt liege ich nicht allzu daneben, wenn ich Menschen einfach als Menschen beschreibe statt als Dinge. Mich zum Beispiel könnte man als klein beschreiben, brünett und lockig (krisselhaarig, wenn man sich traut), statt als Allererstes den Gehstock zu nennen. Er ist schließlich kein Teil von mir. Er gehört nicht mal zu meinem Aussehen. Er ist bloß etwas, das ich benutze.

Ich schaffe es gerade so, den Blick von Ren loszureißen, bevor man mich beim Glotzen erwischen würde, denn mittlerweile ist die Vorstellungsrunde bei mir angelangt – und, oh Gott, ich will so gerne witzig sein, geistreich und selbstironisch, nur leider fällt mir dadurch erst recht nichts ein, und alle gucken schon und …

»Ich bin Ven«, quietsche ich. »Früher habe ich getanzt, aber jetzt singe ich. Ähm.« Mein Hirn zeigt mir Bilder vom Familienfestival, aber davon kann ich jetzt natürlich nicht anfangen. Leider nur ist mein Kopf ansonsten gähnend leer. »Ähm«, sage ich noch einmal. »Ähem, tja … hm?« Ich starre Miss Meade an.

Na, was wohl?, sagt meine innere Stimme genervt. Du hast Brain Fog.

»Ich habe Brain Fog«, wiederhole ich und klinge so sehr wie ein Zombie, dass niemand sich traut, den »Welches Brain?«-Witz zu reißen.

Stattdessen betrachtet Miss Meade mich leicht beunruhigt. »Normalerweise bist du ja nicht um Worte verlegen.« Ein Kichern läuft durch die Runde, während ich die Schultern hochziehe und der ganzen Klasse TOD UND ZERSTÜCKELUNG an den Hals wünsche (mit Ausnahme eines bestimmten Neulings, der natürlich einen »Erster Tag an der neuen Schule«-Freifahrtschein bekommt).

»Machen wir weiter«, sagt Miss Meade und wendet sich an die Nächste in der Reihe.

Währenddessen wird mir vage bewusst, was für einen herrlichen ersten Eindruck ich auf Mister Rabenlocken gemacht haben muss. Und außerdem habe ich gerade meine letzte Chance zu Grabe getragen, der Singgruppe doch noch einen Fitzel Respekt einzuflößen.

Der Brain Fog lichtet sich gerade rechtzeitig, dass ich Miss Meade sagen höre, den Rest des Schuljahrs lang seien jede Woche mindestens zwei Freistunden und eine Mittagspause den Gruppenprojekten zu opfern.

Universum, was ich auch getan habe – es tut mir leid. Schmerzlich und aufrichtig leid.

Die anderen gucken drein, als dächten sie mehr oder weniger das Gleiche, nur dass sie dabei wesentlich mehr Schmollmund einsetzen.

»Und jetzt legen wir gleich mal los mit der Gruppenarbeit. Je eher, desto besser«, ignoriert Miss Meade die allgemeine Betrübnis. »Maddie, du darfst in die Bibliothek gehen. Orchester, ihr nehmt die Aula. Ich komme erst mal mit euch, gucke dann bei dir vorbei, Maddie, und in einer halben Stunde begutachte ich hier die Fortschritte der Singgruppe.« Sie richtet sich an Ren. »Was darf es für dich sein? Pest oder Cholera?«

Rens Mund verzieht sich zu einem Fast-Grinsen. »Bringe ich den Kurs durcheinander, wenn ich zur Singgruppe gehe?« Er wirft dem Rest von uns einen schnellen Blick zu.

»Die kriegen das hin«, sagt Miss Meade und schiebt Maddie und die vom Orchester zur Tür hinaus. »Ansonsten können wir das immer noch nächste Woche genauer besprechen.«

Sobald wir von der Singgruppe allein im Zimmer sind, taucht Ren direkt mal in seine Schultasche ab, um offensichtlich ziellos darin herumzuräumen. Statt ihn (weiter) anzustarren, konzentriere ich mich jetzt auf mich, denn es geht mir gerade wirklich nicht gut, und das muss ich ändern, wenn das hier irgendwann noch was werden soll. Ich ziehe also die Stiefel aus (besticktes schwarzes Leder mit seitlichem Reißverschluss und Fake-Schnürung bis zum Knie), lege die angewinkelten Beine auf einen freien Stuhl und schließe die Augen. Na also. Die Schmerzen ebben von Halte-das-nicht-viel-länger-aus langsam und allmählich ab auf Aua-au-autsch.

Nachdem sich die Singgruppe letztes Trimester zusammengefunden hatte, erntete ich selbst mit meinen sanftesten Verbesserungsbemühungen nichts als ein einhelliges »Ja, ja, Fräulein Oberchefin« – so taufte Abigail Moss mich in der Siebten. Damals war ich gerade in die Schülervertretung gewählt und prompt mit mehreren Ämtern betraut worden. Mir passte das natürlich wunderbar in den Kram, nur leider meißelte es auch einen gewissen Ruf in Stein, der mir seitdem hartnäckig anhängt. Mit der Singgruppe wollte ich eigentlich ein neues Kapitel aufschlagen, nur klappt das irgendwie nicht ganz.

Ist mir jetzt aber egal. Etwas muss getan werden, und wie es aussieht, bin ich diejenige, die es tun muss. Ren ist offensichtlich nicht der Anführer-Typ, und ich bin nicht bereit, von dieser Deppentruppe meinen Plan für ein glattes Eins-, wenn nicht gar Einspluszeugnis durchkreuzen zu lassen, schließlich geht unser Gruppenprojekt zu fünfzig Prozent in die Kursnote ein. Wenn ich die anderen also auf dem Weg zum Einserruhm mit eiserner Faust hinter mir herzerren muss, dann sei es so. Mein blöder Körper mag mir so ziemlich jede Karriere erschweren, die man sich nur vorstellen kann, aber mein herausragendes Zeugnis wird der Welt schon beweisen, dass ich verdammt klug und fleißig bin.

»Unser Problem letztes Trimester war, dass wir keinen einheitlichen Sound hatten«, spreche ich in die Unheil verkündende Stille. »Wir müssen uns auf einen gemeinsamen Stil einigen.«

»Übersetzung: Ich gebe euch einen Stil vor und erwarte, dass ihr springt, denn ich bin die größte Oberchefin aller Zeiten«, höhnt Roksana von ihrem Platz auf einem der Tische, die für den Stuhlkreis an die Wand geschoben wurden.

Ren sitzt nach wie vor vier Stühle weiter neben mir (nicht, dass ich mir seiner Nähe superbewusst wäre oder so) und Benjo und die Zwillinge stehen vorne am Whiteboard (wo sie heute immerhin Musiknoten malen statt Penisse). Sie alle tun so, als würden sie nicht merken, dass ich eine Gruppenunterhaltung anstoßen will.

»Hast du mich einen Stil vorgeben hören, Benjo?«, frage ich laut, ziehe aber eine Grimasse in Richtung Roksana, denn warum schließlich nicht, wo sie doch angefangen hat?

Roksana verdreht die Augen. »Dann hau uns mal von den Socken.«

Mir ist klar, dass ich in einer Welt voller unzumutbarer Doofköpfe zwangsläufig anecke, aber warum hassen sie mich lieber, statt einfach zuzulassen, dass ich doch alles für alle nur besser mache? Mit einem tiefen Atemzug verkneife ich mir die Frage und krame meine Version von Diplomatie hervor (sprich: befolge die gestern Abend in einem Verzweiflungsanfall bei Tante Jinnie erbettelten Tipps, mit denen ich hoffentlich wie ein »Kumpeltyp« rüberkomme). »Warum brainstormen wir nicht ein bisschen und gucken, worauf wir uns einigen können? Wobei, vielleicht ist euch ja auch lieber, dass die Singgruppe durchfällt, indem sie nicht als, ihr wisst schon, Gruppe arbeitet, sondern einfach weiterhin jeder sein eigenes Ding macht und darauf hofft, dass sich das Ergebnis irgendwann auf wundersame Weise annähernd wie Musik anhört.«

»Wir sollen ja bloß dein neuer persönlicher Tanztrupp werden«, sagt Orla. »Gleichschritt-Gleichschritt-Poproboter.«

»Bei unserem Auftritt in der Aula letztes Trimester haben wir nicht mal zeitgleich losgesungen. Oder aufgehört. Oder eine gemeinsame Tonart gehabt«, gebe ich zu bedenken.

Orla zeigt mir den Mittelfinger. Der wie üblich perfekt manikürt ist – und reich verziert. Sie und Roksana betreiben in den Mittagspausen ein mobiles Nagelstudio, das längst schon kein Geheimtipp mehr und doch offiziell verboten ist. Dabei gehen selbst die Lehrer*innen hin. Ich bin widerwillig beeindruckt. Zwar sehen Roksanas und Orlas Nägel lächerlich übertrieben aus – und wo nehmen sie überhaupt die Zeit her, dass die Dinger jeden Tag so herausgeputzt sind? –, aber diese Eitelkeit wirft fraglos ordentlich Profit ab.

»Wenn du wegen des Aulaauftritts meckern willst, dann guck nicht Orla und mich an.« Roksana wirft ihr Haar so elegant über die Schulter, dass mein Neid fast größer ist als mein Drang, sie zu boxen. »Benjo und Co. waren schließlich diejenigen, die vor sich hin geödet haben, als wollten sie den Preis für ›langweiligste Retro-Performance aller Zeiten‹ gewinnen. Wir haben nur versucht, die Sache hinter uns zu bringen – zum Wohle aller Anwesenden.«

»Sag doch einfach, ihr habt euer übliches ›Rattern wir den Text so schnell runter, dass niemand merkt, wie schief wir singen‹ abgezogen.« Benjo verschränkt triumphierend die Arme und stößt dabei den Zwilling neben sich mit dem Ellbogen an. Der seufzt nur, offenbar daran gewöhnt.