Skyborn – Die Goldflügel-Prüfung - Jessica Khoury - E-Book

Skyborn – Die Goldflügel-Prüfung E-Book

Jessica Khoury

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Beschreibung

Eine gefährliche Reise in eine magische Welt Die geflügelten Menschen der Clan-Reiche leben in ständiger Furcht vor den in den Wolken lauernden Gargols. Beschützt werden sie von den mächtigen Goldflügel-Rittern, die jedes Jahr einen Wettflug zur Auswahl ihrer Novizen abhalten. Ellie Meadows will unbedingt an diesem Rennen teilnehmen. Doch Goldflügel werden traditionell nur Mitglieder der Raubvögel-Clans – und Ellie ist ein Spatz. Das hält sie jedoch nicht davon ab, sich auf den Weg in die Hauptstadt zu machen. Unterwegs lernt sie den Krähenjungen Nox kennen, der mit seiner Bande hinter dem wertvollsten Gegenstand der Clan-Reiche her ist. Die gefährliche Reise schweißt sie zusammen und Ellie kann endlich ihre wahre Stärke zeigen.

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Jessica Khoury

Skyborn

Die Goldflügel-Prüfung

Aus dem amerikanischen Englisch von Anja Hansen-Schmidt

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

Für Leslieann

1. Nox

Ein Blitz riss den Jungen aus dem Schlaf und er fiel fast von dem Baum, in dem er sich ausgeruht hatte. Seine Hände klammerten sich um den Ast und er hatte gerade seine Balance wiedergefunden, als ein Donnerschlag den Bluebriar-Wald erschütterte.

Kalter Regen klebte ihm die schwarzen Haare an den Kopf. Er rollte sich so klein wie möglich zusammen und schaute zum Nachthimmel hinauf. Hinter dem prasselnden Regen und den Schatten lauerten Augen, die stets auf der Jagd waren. Das Herz des Jungen hämmerte, sein Atem ging schnell und er spähte angestrengt in die verschwommene Dunkelheit.

War es nur der Blitz, der ihn geweckt hatte?

Oder ein sechster Sinn, der Gefahr witterte?

Er war stundenlang geflogen, bis seine Flügel schmerzten und seine Augen nicht mehr klar sehen konnten. Seine Verfolger waren bei ihrer Suche äußert gründlich vorgegangen, sie hatten in jedem Dickicht, jedem Graben und jedem hohlen Stamm nachgesehen. So schnell konnten sie ihn unmöglich eingeholt haben.

Es sei denn, sie hatten einen Falken dabei.

Bei dem Gedanken erschauderte er. Die Leute aus dem Falken-Clan konnten meilenweit sehen und erspähten beim Fliegen auch noch die winzigsten Dinge. Ein Falke hätte die Suche seiner Verfolger auf jeden Fall deutlich beschleunigt.

Der Junge saß da wie erstarrt; er war hin- und hergerissen, ob er in seinem Versteck bleiben oder um sein Leben fliegen sollte. Die falsche Entscheidung könnte den Tod bedeuten. Seine Augen durchsuchten die Dunkelheit. Der Himmel war wolkenverhangen und bei solchem Wetter waren noch weitaus schlimmere Wesen auf der Jagd als seine Verfolger. Grässliche Wesen, die ihn ohne Zögern umbringen würden. Aber der Junge hatte keine Wahl. Seine Jäger waren ihm dicht auf der Spur und er war gezwungen, das Risiko auf sich zu nehmen.

Auf einmal bebte der Baum; etwas Schweres war über ihm gelandet. Blätter regneten hinab, und als der Junge den Kopf hob, fand er sich Auge in Auge mit einem grinsenden Fiesling aus dem Falken-Clan wieder, der seine dunkel gestreiften Flügel noch halb ausgebreitet hatte.

»Hab ich dich, du Wurm!«, knurrte der Mann.

Der Junge warf sich nach hinten.

Er kippte rücklings von seinem hohen Ast und stürzte Hals über Kopf in Richtung Boden. Zweige zerkratzten ihn beim Fallen. Er versuchte, sich irgendwo festzuhalten, erwischte aber nur eine Handvoll Blätter.

Dann, wenige Herzschläge vor dem Aufprall, breitete der Junge seine Flügel aus.

Sie hatten eine Spannweite von fast zwei Metern und die vor Nässe glänzenden schwarzen Federn fingen seinen Fall sofort ab. Der Junge gewann so plötzlich wieder an Höhe, dass sein Magen einen Purzelbaum schlug. Er hörte den Falkenmann etwas rufen, doch da war er längst außer Reichweite. Die Bäume standen zu dicht für die größeren Flügel seines Verfolgers.

Der Junge flitzte gefährlich schnell durch den Wald. Wegen der Dunkelheit und des Regens war es fast unmöglich, die Bäume rechtzeitig zu erkennen, und immer wieder musste er jäh ausweichen, um nicht gegen einen Stamm zu prallen. Obwohl er sie durch den Sturm nicht hören konnte, spürte er, wie sich seine Verfolger über den Baumwipfeln zu einem Rudel zusammenfanden und ihm folgten. Sie lauerten auf eine Gelegenheit zum Angriff. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie ihn erwischten.

Die Verzweiflung ließ ihn noch schneller durch den Wald jagen, bis er schließlich auf offenes Gelände hinausschoss. Unter ihm lagen nur noch Felder, riesig und endlos und ohne jede Deckung.

Der Junge stöhnte auf, halb aus Erschöpfung, halb aus Verzweiflung. Ohne den Schutz der Bäume war er leichte Beute. Er schlug mit den Flügeln und steuerte nach oben, in der Hoffnung, dort einen kräftigen Wind zu erwischen, der ihn schneller vorwärtstrieb.

Regen peitschte ihm entgegen und jeder Muskel in seinem Körper bemühte sich um noch mehr Schnelligkeit. Der Wind schleuderte ihn hin und her, Donnerschläge dröhnten zwischen seinen Rippen. Lichtblitze zerrissen den Himmel und er sah die goldenen Blüten von Sonnenblumen in den Feldern unter ihm. Von seinen Verfolgern war nichts zu sehen.

Endlich hatte er sie abgehängt.

Er entspannte sich ein wenig und suchte nach einer guten Stelle, um zu landen und den Sturm abzuwarten. Im Schein des letzten Blitzes meinte er, etwas gesehen zu haben, eine Scheune vielleicht oder ein paar Hütten.

Er seufzte sehnsüchtig bei dem Gedanken an einen warmen Heuhaufen, in den er sich für die Nacht eingraben konnte. Seine Flügel kribbelten voller Vorfreude auf eine Rast.

Da spürte er das Zischen eines Pfeils an seinem Ohr.

Offenbar hatte er seine Jäger doch nicht abgeschüttelt und nun versuchten sie, ihn vom Himmel zu schießen.

Mit klopfendem Herzen wich der Junge zur Seite aus. Ein Lichtblitz zuckte in der Nähe auf und ließ ihm die Haare zu Berge stehen. Seine Federn zitterten in der elektrisch aufgeladenen Luft.

Kurz wagte er einen Blick zurück – und spürte, wie der Schmerz explodierte, als ein Pfeil sein Ziel fand. Seine Flügel klappten ein und er trudelte hilflos durch den Sturm.

Mit einem Schrei fiel der Junge vom Himmel.

2. Ellie

Der Himmel leuchtete strahlend blau am Morgen der Goldflügel-Vorauswahl und selbst die Bauern von den entlegenen Farmen waren nach Linden gekommen, um das Wettfliegen zu sehen.

Sie kamen geflogen oder in rumpelnden Karren, die von mürrischen Eseln und stämmigen Pferden gezogen wurden, und bildeten eine festliche Prozession auf der Schotterstraße, die sich durch die Sonnenblumenfelder schlängelte. Der Marktplatz des beschaulichen Örtchens Linden, das am Rande der Clan-Reiche lag, war fast zu klein, um sie alle zu fassen. Zwischen zwei Pfosten schaukelte ein Seil im Wind, das den Startpunkt des Rennens markierte. Davor war eine Fläche freigehalten worden, wo die Teilnehmer erwartet wurden.

Ellidee Meadows stand zwischen einem Dutzend weiterer Spatzen-Clan-Waisen und saugte die frische Morgenluft tief in ihre Lungen. Hinter ihr fächelte sich Mutter Rosemarie mit einem Pfannenwender Luft zu und plauderte mit dem Dorfarzt; ab und zu stieß sie einen ihrer Schützlinge, der zu viel herumzappelte, damit an. Ellie war schon dreimal auf diese Weise ermahnt worden, dabei waren sie noch keine halbe Stunde hier.

»Seht Euch den Himmel an«, sagte Mutter Rosemarie zum Dorfarzt, der neben ihr stand. »Von Osten bis Westen alles blau. Kaum zu glauben nach dem Gewitter gestern Nacht. Habt Ihr den Donner gehört?«

Der Doktor grunzte. »So einen Sturm haben wir seit Monaten nicht mehr erlebt.«

»Wisst Ihr, ich bin in der Nacht plötzlich aufgewacht und – es war wirklich zuseltsam – ich dachte, ich hätte einen Schrei von den Sonnenblumenfeldern gehört, als würde jemand um Hilfe rufen.«

»Eins von Euren Kindern?«, fragte der Arzt.

»Nein«, antwortete Mutter Rosemarie. »Heute Morgen waren alle da. Ellie Meadows, hörst du jetzt endlich auf, so herumzuzappeln?« Wieder stupste sie Ellie mit dem Pfannenwender.

Ellie musste sich zwingen, nicht auf und ab zu hüpfen, ihr ganzer Körper summte förmlich vor nervöser Energie, von den Zehen bis zu den Spitzen ihrer gelbbraunen Flügel, die sie ordentlich am Rücken zusammengefaltet hatte. Wie die anderen Spatzen trug sie Kleidung in Herbstfarben. Tunika und Beinlinge waren hellbraun und wurden von einer dunkelorangefarbenen Schärpe zusammengehalten, ihre weichen Lederstiefel hatten rutschfeste Sohlen, um auch auf kleinen Vorsprüngen sicher zu landen. Ihr Hemd war am Hals geschlossen und hatte einen tiefen Rückenausschnitt, damit sie ihre Flügel ungehindert bewegen konnte.

In der vergangenen Nacht hatte sie stundenlang wach gelegen und den Donnerschlägen zugehört. Sie teilte sich ihr Schlafzimmer in Mutter Rosmaries Heim für elternlose Spatzen mit sechs weiteren Mädchen, aber alle sechs hatten bis zum Morgengrauen durchgeschlafen, trotz der Regenfluten, die gegen die Fenster peitschten. Von ihnen war niemand die ganze Nacht wach gewesen, aus Sorge, der Wettflug könnte wegen des schlechten Wetters verschoben werden.

Doch das Glück war auf Ellies Seite. Sie hätte sich keinen herrlicheren Tag wünschen können.

Das Wettfliegen fand jedes Jahr statt, aber sie konnte sich nicht erinnern, dass schon mal so viele Leute deswegen gekommen waren. Mindestens zwanzig verschiedene Clans waren anwesend. Viele der jüngeren Zuschauer in Ellies Alter kauerten auf den Dächern der Häuser und Läden, die Flügel nachlässig nach hinten ausgestreckt. Der Wind strich durch ihre Federn und ließ sie leise rascheln.

In der Mitte des Platzes hatten sich größere, kräftigere Gestalten versammelt – Vertreter der Hohen Clans, Habichte, Falken und Fischadler, alles Krieger, Fürsten und reiche Landbesitzer. Ihre Kinder würden sich bei dem Wettfliegen messen und die ganze Stadt war gekommen, um zuzuschauen.

Um sie herum drängten sich die niederen Clans der Bauern und Handwerker, die den Großteil von Lindens Einwohnern ausmachten: Kernbeißer, Rotkehlchen, Eichelhäher, Finken, Tauben, die sich hauptsächlich durch die Farben und Formen ihrer Flügel unterschieden, die von schlichtem Grau über Hellblau bis zu dunklen Goldtönen reichten. Eine kleine Gruppe aus dem Kardinal-Clan stach durch ihre langen apfelroten Flügel hervor, die sie ständig eitel ausbreiteten und geziert auf- und abbewegten, damit ihre frisch geölten Federn glänzten.

Doch die meisten Zuschauer stammten aus Ellies Clan – den Spatzen, die sich durch ihre gelbbraunen Flügel auszeichneten. Ihre Gesichter waren Ellie vertraut, weil sie jeden Tag mit ihnen zusammenarbeitete, draußen auf den Sonnenblumenfeldern, um die Samen zu ernten, die ihre Lebensgrundlage darstellten. Nach dem Schulunterricht und dem Mittagessen scheuchte Mutter Rosemarie die Waisen – oder die Verlorenen Spatzen, wie sie genannt wurden – aus dem großen Haus und auf die Felder, die der Clan schon seit vielen Generationen bestellte. Aber heute hatten alle frei wegen des Wettfliegens und es herrschte eine ausgelassene Stimmung.

Ellie warf einen Blick zu Mutter Rosemarie hinüber, um sich zu vergewissern, dass sie noch in ihr Gespräch mit dem Dorfarzt vertieft war. Dem Himmel sei Dank, dass die Frau so vernarrt in ihn war. Ellie nutzte seine unbeabsichtigte Unterstützung und rückte vorsichtig immer mehr zur Seite, weg von den anderen Mädchen.

»Was hast du jetzt schon wieder vor?«, zischte Prina und ihre gefleckten Flügel kräuselten sich empört. »Wegen dir bekommen wir alle noch Ärger, so wie immer.«

Ellie legte grinsend den Finger an die Lippen und schlüpfte durch die Menge davon wie ein Bitterfisch, der sich durch einen Schwarm Forellen schlängelte, klein, unbemerkt und flink. Dabei hielt sie die Flügel eng an ihren Rücken gepresst, damit sie nirgends hängen blieb.

Es wurde still, als die Bürgermeisterin von Linden zum Startseil schritt. Davina stammte aus dem Pirol-Clan, ihre Flügel waren dunkelblau, abgesehen von einem hellen, orangefarbenen Streifen an den Deckfedern in der Mitte ihrer Flügel. In der Hand hielt sie ein kleines Horn mit hellroter Quaste.

»Clans von Linden, willkommen zu unserem diesjährigen Wettflug. Wie ihr wisst, wird heute in sämtlichen Dörfern und Städten der Clan-Reiche ein solches Wettfliegen abgehalten. Die drei Erstplatzierten dieser Wettbewerbe werden in der Hauptstadt von Thelantis beim Großen Himmelsrennen gegeneinander antreten.«

Die Menge jubelte und Ellie huschte weiter, um so weit wie möglich von Mutter Rosemarie wegzukommen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals.

»Und die ersten fünfzig Gewinner des Himmelsrennens«, fuhr Davina fort, »werden zu Goldflügel-Novizen ernannt und schließen sich dem mächtigen Ritterheer an, das unseren großen König und sämtliche Clan-Reiche vor den Gefahren der Himmel beschützt.«

Alle Augen richteten sich nach oben. Zwar waren dort im Moment keine Wolken zu sehen, aber das bedeutete nicht, dass der Himmel sicher war. Selbst Ellie konnte nicht verhindern, dass sich ihre Flügel ein wenig öffneten, als ihr Überlebensinstinkt sie drängte, sich mit schnellen Flügelschlägen in Sicherheit zu bringen.

Schließlich wusste sie besser als jeder andere hier, wie gefährlich dieser Himmel sein konnte.

»Die Zeit ist gekommen«, verkündete Davina, »dass diejenigen unter euch, die zwölf Jahre alt sind, ihren Mut beweisen. Tretet vor und nennt eure Namen.«

In der Menge wurde es mucksmäuschenstill, alle warteten. Es dauerte nur einen kurzen Moment, bis der erste Teilnehmer vortrat.

»Ich bin Zain aus dem Habicht-Clan«, sagte ein hochgewachsener Junge mit langen, braun-weißen Flügeln. »Ich fliege mit.«

Ellie grinste. Zain war ihr ältester Freund und sie jubelte ihm laut zu, als er zum Startseil ging und unter dem donnernden Applaus der Menge seine Flügel ausbreitete. Er gehörte zu den Favoriten auf einen Gewinner-Platz und die Teilnahme am Himmelsrennen.

»Ich bin Tauna aus dem Falken-Clan!« Ein dunkelhäutiges Mädchen mit schwarz-weiß gestreiften Flügeln stellte sich neben Zain. »Ich fliege mit!«

Drei weitere traten vor – die Zwillinge Laida und Lowen aus dem Fischadler-Clan und Zains Habicht-Cousin Ordo. Davina lächelte ihnen herzlich zu, bevor sie rief: »Eine ausgezeichnete Gruppe. Möchte sonst noch jemand seinen Namen nennen?«

Alle begannen zu schwatzen und wandten sich von ihr ab; es gab keine weiteren Kinder aus den Hohen Clans, die alt genug waren. Das Rennen konnte starten.

Doch da räusperte sich Ellie und ging einen Schritt nach vorne. »Ich bin Ellie aus dem Spatzen-Clan!« Sie musste schreien, um über den Lärm der Menge gehört zu werden. »Ich fliege auch mit!«

Stille legte sich über den Platz, diesmal allerdings voller Verwirrung und Unglauben. Sämtliche Augen der Stadt richteten sich auf Ellies zierliche Gestalt, als wären sich die Leute nicht sicher, ob sie richtig gehört hatten. Ellie schluckte schwer, hielt aber den Kopf hoch erhoben.

Schon hallten die scharfen Worte über den Platz, vor denen sie sich gefürchtet hatte. »Ellidee Meadow! Komm sofort hierher!« Mutter Rosemaries Gesicht war rot angelaufen, ihre Flügel zitterten vor Wut.

Ellie sah ihr in die Augen. »Ich fürchte, das geht nicht.«

Irgendwo hinten in der Menge erklang leises Gelächter.

Schnell breitete es sich aus. Bald lachte der halbe Platz. Aber viel schlimmer als der Spott war das Schweigen unter den Mitgliedern des Spatzen-Clans. Ellies eigene Leute, so schien es, waren zu beschämt, um ihren Auftritt lustig zu finden.

Die Clans waren fast wie große Familien. Blamierte sich einer, waren alle blamiert. Das Oberhaupt des Spatzen-Clans, ein bärtiger alter Mann namens Donhal, schüttelte missbilligend den Kopf.

Ellie wich nicht zurück, obwohl ihr Gesicht heiß wurde und ihre Handflächen schwitzten. Ihre Flügel pressten sich hart an ihren Rücken.

»Geh nach Hause, Spatz!«, rief einer aus dem Habicht-Clan. »Dummes Mädchen. Du wirst dir nur wehtun!«

Doch sie marschierte schnurstracks zur Startlinie und griff nach dem Seil, wie die anderen Teilnehmer auch. Tauna war die kleinste unter ihnen, und selbst ihr reichte Ellie nur bis zur Schulter. Himmel, waren diese Hochclan-Kinder groß.

Zain blinzelte. »Ellie … du willst doch nicht wirklich an dem Wettflug teilnehmen, oder?«

Ellie sah ihn und fragte sich, ob das ein Witz sein sollte. »Natürlich will ich das! Wir reden doch davon, seit wir fünf sind, Zain.«

Er fuhr sich mit der Hand durch seine stoppeligen, dunklen Haare. Seine Augen huschten zu den anderen Wettkämpfern und dann wieder zu ihr. »Ellie … also, ich dachte, du würdest, na ja, scherzen. Wir waren Kinder.«

»Wir sind immer noch Kinder.«

»Du weißt schon, was ich meine. Ein Goldflügel zu werden … das ist nichts für …«

Nichts für Spatzen, wollte er sagen.

Ellie rutschte das Herz in die Hose. Der Spott der anderen hatte sie nicht verletzt – zumindest nicht sehr –, aber Zains Worte durchbohrten sie wie ein spitzer Pfeil.

»Nicht du auch«, flüsterte sie. »Ich dachte, von allen hier würdest wenigstens du an mich glauben.«

»Das tue ich auch!«, sagte er. »Ich meine, du kannst wirklich richtig toll fliegen und so, aber … Es gibt einen Grund, warum noch nie ein Spatz an einem Wettflug teilgenommen hat, Ellie.«

Seine Worte trafen Ellie wie ein Schlag ins Gesicht. Auf einmal sah sie ihre Freundschaft in einem völlig anderen Licht. Die vielen Jahre, die Nächte, in denen sie sich nachts aus dem Waisenhaus geschlichen hatte, um Burgen mit ihm zu bauen, die Träumereien, sich gemeinsam den Goldflügeln anzuschließen … er hatte es nie so gemeint. Nichts davon.

Waren sie wirklich Freunde gewesen? Hatte er sie je ernst genommen?

»Bleib mir einfach aus dem Weg, ja? Ich möchte nicht, dass dir was passiert.« Er schnippte mit dem Flügeln; Habichtflügel waren lang, so wie die aller Hochclans, und liefen spitz zu, perfekt geformt, um schnell zu fliegen. Ellies Spatzenflügel waren runder und stummeliger – besser für kurze Flüge. Ellie wusste das, aber es war ihr egal.

Steif sagte sie: »König Garion hat selbst gesagt, jeder kann ein Goldflügel werden, solange er nur schnell und stark genug ist. Darum geht es beim Himmelsrennen ja. Es spielt keine Rolle, aus welchem Clan man stammt oder wie reich man ist oder ob man gute Beziehungen hat. Es geht darum, wie sehr man sich anstrengt. Das weißt du, Zain.«

» Ja, aber … Ellie, warum tust du dir das an?«

»Du weißt, warum.« Sie sah ihm fest in die Augen.

Zain wandte sich mit unbehaglicher Miene ab. Die Zuschauer lachten immer noch und Ordo und die Fischadler-Zwillinge bedachten Ellie mit vernichtenden Blicken.

»Der Wettflug soll eine edle Prüfung der Schnelligkeit und des Willens sein«, schmollte Laida. »Und jetzt ist es nur noch ein schlechter Witz. Geh zurück zu deinem Clan, Spatz. Du bist eine Bäuerin. Du gehörst nicht hierher.«

Ellie starrte stur geradeaus. Ihr Kiefer schmerzte, so fest biss sie die Zähne zusammen.

»Genug!«, rief die Bürgermeisterin und versuchte, die Menge zum Schweigen zu bringen. Sie warf Ellie einen genervten Blick zu, machte aber keine Anstalten, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Ellie hatte recht, was die Regeln anging – jeder durfte am Wettflug teilnehmen. Die Tatsache, dass noch nie ein Spatz bei einem solchen Wettkampf mitgeflogen war, bedeutete nicht, dass es ihnen verboten gewesenwäre.

Von der anderen Seite des Platzes drängte sich nun Mutter Rosemarie zielstrebig durch die Menge. Sicher wollte sie Ellie zurück zu ihrem Clan holen.

Ellie wandte sich an die Bürgermeisterin. »Bitte«, flüsterte sie, »startet das Rennen.«

Bürgermeisterin Davina hatte Mutter Rosemarie ebenfalls entdeckt; sie wirkte hin- und hergerissen. Einerseits unterstand Ellie Mutter Rosemaries Aufsicht, so wie alle Waisen des Spatzen-Clans. Andererseits wusste Ellie, dass Davina ebenfalls ein Auge auf den Arzt geworfen hatte.

»Bürgermeisterin«, flehte Ellie. »Bitte!«

Ellie hatte ihr ganzes Leben auf den Sonnenblumenfeldern verbracht und Kerne geerntet, bis ihre Finger wund und ihre Wangen sonnenverbrannt waren. Wie ihre Familie es schon seit Generationen tat und wie es von ihrem Clan erwartet wurde. Wie es von ihren Eltern erwartet wurde, auch an dem Tag, an dem sie getötet worden waren.

Keiner würde in Ellie je etwas anderes sehen als eine Bäuerin, egal, wie sehr sie darum bettelte, ernst genommen zu werden.

Also musste sie sich eben auf die harte Tour Anerkennung verschaffen.

Sie würde es ihnen zeigen müssen.

Mutter Rosemarie war mittlerweile nur noch wenige Schritte entfernt und streckte schon die Hand nach Ellie aus.

In diesem Moment blies Bürgermeisterin Davina in ihr kleines Horn. Sofort schoss Ellie gemeinsam mit den anderen Fliegern in einem wilden Flügelgeflatter in die Höhe.

Mutter Rosemaries Hand griff ins Leere.

3. Ellie

Ellies Flügel bewegten sich gleichmäßig auf und ab und der Morgenwind strich über ihre Federn. Sie hatte einen guten Start hingelegt und sich dank ihrer schmalen Statur sogar einen kleinen Vorsprung gegenüber den anderen erarbeitet. Sie mochten kräftiger sein, aber Ellie war leichter.

Doch sobald sie in den höheren Luftschichten angekommen waren, verschoben sich die Verhältnisse zu ihrem Nachteil. Tauna übernahm die Führung, ihre gestreiften Flügel liebkosten geräuschlos die Luft.

Der Himmel breitete sich wolkenlos in alle Richtungen aus, ohne ein Zeichen des Sturms, der in der vorherigen Nacht durch Linden gefegt war. Ellie konzentrierte sich darauf, den ersten der fünf Kontrollpunkte zu erreichen, die sie passieren mussten, bevor es zur Ziellinie ging. Sie klammerte sich an den Gedanken, warum sie diese Linie unbedingt als Erste erreichen musste, an den Grund, warum sie sich ihr Leben lang auf diesen Tag vorbereitet hatte, an die Antwort auf Zains Frage: Warum tust du dir das an?

Warum an diesem Wettfliegen teilnehmen, warum den Zorn ihres Clans auf sich ziehen, warum nach Höhen streben, in denen kein Spatz je geflogen war?

Weil Ellie wusste, welche Gefahren dort oben am Himmel lauerten.

Weil sie wusste, wie leicht man in einem kurzen Augenblick alles verlieren konnte.

Ellie war sechs gewesen, als es passierte. Sie hatte gerade fliegen gelernt und stahl sich ständig davon, um über die Felder zu flitzen und sich an ihren neu entdeckten Flügeln zu erfreuen. Aber an diesem Tag war sie zu weit geflogen und hatte die Wolke, die aufzog, nicht bemerkt.

Die Wolke sah nicht bedrohlich aus, anders als eine Sturmwolke. Sie erinnerte eher an einen schwebenden Wattebausch, der faul und friedlich über den Himmel trieb. Ellie wusste jedoch, dass die Wesen, die sich in den Wolken versteckten, keineswegs faul und friedlich waren, und sie kannte auch die wichtigste Regel der ganzen Clan-Reiche: niemals bei wolkigem Himmel zu fliegen! Schon bevor sie lesen konnte, hatte man ihr die Worte eingebläut: Schwing die Flügel, wenn der Himmel ist blau, doch fürchte den Tod, wenn der Himmel ist grau.

Aber das dort oben war doch nur eine unschuldige kleine Wolke.

Trotzdem waren Ellies Eltern auf schnellstem Weg zu ihr geflogen. Ihr Vater hatte Ellie geschnappt, sie an sich gedrückt und sich gemeinsam mit ihrer Mutter auf den Weg zurück zur großen Scheune der Spatzen gemacht.

Nur – sie schafften es nicht.

Stattdessen hörten sie einen schrecklichen Laut, einen Klang, den Ellie ihr ganzes Leben lang nie wieder vergessen würde.

Das Kreischen eines Gargols.

Keiner wusste genau, woher diese Monster kamen, warum sie ohne Gnade angriffen und wieso Kreaturen, die gänzlich aus Stein waren, überhaupt fliegen konnten. Aber es war bekannt, dass sie sich oft in Wolken versteckten – und wenn sie dich entdeckten, zögerten sie nicht, dich zu zerfetzen.

An jenem schrecklichen Tag war das Monster vor Ellie und ihren Eltern vom Himmel gestürzt und hatte ihnen den Weg zur Scheune versperrt. Es hatte ein langes, rattenähnliches Gesicht, einen klaffenden Schlund voller Reißzähne, spitze Krallen und graue Flügel. Bei jeder Bewegung seines steinernen Körpers ertönte das knirschende Reiben von Fels auf Fels, das einem die Haare zu Berge stehen ließ. Das Untier war mindestens zehnmal so groß wie Ellie. In seinem Gesicht glänzten zwei blaue Augen. Sie wirkten hart wie Diamanten und leuchteten, als brannte in ihnen ein Feuer.

Bis heute ließen diese Augen Ellie nicht los – funkelnd wie Sterne und grässlich schön in einem derart missgestalteten Wesen.

Der Gargol stürzte sich zuerst auf ihre Mutter, aber das sah Ellie nicht, weil der Vater ihr Gesicht gegen seine Brust presste. Als sich die Kreatur dann ihrem Vater zuwendete, ihm mit den Krallen den Rücken aufschlitzte und seine Flügel zerfetzte, versuchte er immer noch, Ellie zu schützen. Doch dann zerrte ihn die Kreatur davon und er ließ sie fallen. Sie fiel schreiend zu Boden, versuchte noch, ihre Flügel zu öffnen, aber schaffte es nicht.

Trotzdem bekam das Monster sie am Ende nicht zu fassen. Wie aus dem Nichts tauchte eine strahlende Gestalt in einer weißen Rüstung auf und schoss in die Tiefe, um den Gargol abzuwehren – eine Goldflügel-Ritterin. Ellie keuchte vor Staunen, als die Frau das Untier mit einem gewaltigen Stoß ihres Speers beiseitedrängte. Ihre goldenen Haare flatterten im Wind und sie schrie: »Flieg schnell davon, kleiner Spatz!«

Nun konnte Ellie ihre Flügel wieder bewegen, doch anstatt davonzufliegen, beobachtete sie, wie die Ritterin gegen den Gargol kämpfte. Die Frau war deutlich kleiner, aber sie war flink und wich den grausigen Krallen des Untiers geschickt aus. Ihre Rüstung glänzte, ihr Speer blitzte und Ellie sah alles ganz genau. Sie sah, wie der Gargol schließlich kehrtmachte und floh. Sie sah die seltsam leblosen Gestalten ihrer Eltern auf einem Lager aus zerdrückten Sonnenblumen unter sich liegen. Sie sah den Schweiß auf der Stirn der Ritterin, als die Frau sie in ihre Arme nahm und zurück zur Scheune und zum Schutz ihres Clans brachte.

Ellie war an diesem Tag nicht gestorben. Aber ein Teil von ihr war seitdem tot – der Teil, der sich damit begnügt hätte, Samen zu sammeln und die Abende in der großen Scheune bei ihrem Clan zu verbringen, mit Tanzen und Kerne schälen, gut versteckt vor den Monstern, die derweil oben am Himmel lauerten.

An diesem Tag hatte Ellie beschlossen, wenn sie das nächste Mal einem Gargol begegnete, würde das Monster Angst vor ihr haben.

Und jetzt, sechs Jahre später, brannte das Bild des Gargols noch immer in ihrem Gedächtnis. Während sie es sonst meistens verdrängte, rief sie sich heute jedes steinerne Detail genau in Erinnerung – Zähne und Klauen, Krallen und Schlund, die grausamen blauen Augen. Sie nutzte ihre alte Angst, um ihre Flügel anzutreiben und sich selbst Kraft zu verleihen.

Das ist für euch, Mama und Papa.

Für jeden Flügelschlag ihrer Gegner musste Ellie zweimal die Flügel schwingen. Aber sie hatte gewusst, dass es so sein würde, und jahrelang dafür trainiert, indem sie Zain beobachtete, wenn er flog, und ihre Muskeln und Ausdauer stärkte, damit sie mit ihm mithalten konnte. Sie hatte sich freiwillig für die anstrengendsten Arbeiten auf den Höfen gemeldet, hatte schwere Eimer voller Kerne geschleppt und die Äcker mit einer solchen Wildheit gehackt, dass sie die anderen Spatzenreihen weit hinter sich gelassen hatte.

Heute würde es kein Erbarmen geben, keine Verbündeten, keine Freunde. Ellie würde um jeden Meter Himmel kämpfen müssen.

Es war ein wunderschöner Tag, um das Schicksal herauszufordern.

Sie schossen über die Sonnenblumenfelder hinweg, alle mit dem gleichen Ziel: ein Bogen aus Stöcken in der Mitte des westlichen Felds. Tauna erreichte ihn zuerst und sauste hinab. Ein Schiedsrichter – ein Mitglied des Habicht-Clans, den Ellie nicht kannte – stand mit einem Stück Pergament neben dem Bogen. Er hakte die Namen der Flieger ab, die durch den Bogen flitzten.

Ellie trainierte diese Strecke schon, seit sie denken konnte. Sie kannte sie so gut wie den Weg von ihrem Bett zur Haustür des Waisenhauses.

Die Bögen waren nummeriert, damit die Teilnehmer in engen Kurven hin und her fliegen und neben ihrer Schnelligkeit auch ihre Wendigkeit unter Beweis stellen mussten. Als Ellie den zweiten Bogen neben der Spatzen-Clan-Scheune passierte, kam ihr erneut ihre kleine Gestalt zugute. Sie schoss hindurch und vollführte eine enge Wende, die sie an Zain vorbeischießen ließ. Nun war sie die Zweite im Feld. Tauna lag weit vor ihr und hatte sich vermutlich schon den ersten Platz im Ziel gesichert, aber das war in Ordnung. Ellie brauchte nicht die Erste zu sein. Sie konnte auch Zweite oder Dritte werden und sich dennoch für das Himmelsrennen qualifizieren.

Sie warf einen kurzen Blick hinter sich, um Zains Gesicht zu sehen. Er wirkte verwirrt und verlegen und bemühte sich, sie wieder einzuholen. Ellie jagte weiter, mit einem unguten Gefühl im Bauch. Sie hatte gehofft, er würde ihr etwas zurufen oder grinsen oder irgendwas tun, um ihr zu zeigen, dass er immer noch auf ihrer Seite war. Ein echter Freund würde das tun.

Wir können das gemeinsam schaffen. Sie wünschte, sie könnte ihm das sagen. So, wie wir es geplant haben.

Aber nun wusste sie, dass Zain nie vorgehabt hatte, mit ihr zusammen ein Goldflügel zu werden. Die ganze Zeit war er davon ausgegangen, dass er sie an der Startlinie zurücklassen würde.

Doch davon durfte Ellie sich nicht ablenken lassen. Sie musste sich auf das Rennen konzentrieren. Sie konnte es schaffen.

Die Gruppe raste wieder über den Marktplatz; unter ihnen jubelten und klatschten die Clans. Ellie flog zu schnell, um die Gesichter zu erkennen, aber sie konnte sich die Wut in Mutter Rosemaries Augen gut vorstellen. Oh, Ellie würde richtig Ärger kriegen heute Abend, so viel stand fest. Dagegen wären sämtliche Standpauken und Strafen, die sie in der Vergangenheit bekommen hatte, harmlos.

Zain schob sich neben sie und zog dann langsam an ihr vorbei. Sie schlug noch heftiger mit den Flügeln, um mit ihm mitzuhalten, fiel aber dennoch zurück. Er warf ihr einen entschuldigenden Blick zu, dann jagte er weiter.

Dritter Platz. Sie lag nach wie vor gut im Rennen, wenn sie diese Position halten konnte.

Der nächste Bogen lag weit vor der Stadt, am Waldrand jenseits der Sonnenblumenfelder. Die Bäume des Bluebriar-Walds standen dicht an dicht, uralte Eichen, Buchen und Ahornbäume, und ihre Blätter raschelten im Wind. Tauna erreichte den Bogen als Erste, wendete und schoss zurück, ihr Flugwind fegte über Ellie hinweg. Das Falkenmädchen würdigte Ellie keines Blickes, sie wirkte konzentriert und entschlossen.

Zain erreichte ihn als Nächstes, fünf Flügelschläge vor Ellie und an jedem anderen Tag hätte sie über seinen eleganten Sturzflug und seine scharfe Wende gejubelt. Doch nun funkelte sie ihn nur finster an, als er an ihr vorbeiflog, und schoss mit angelegten Flügeln in die Tiefe. Ellie warf sich in eine enge Kurve und schaffte es gerade noch durch den Bogen, bevor sie ausscherte und dem Schiedsrichter, der dort stationiert war, mit der Flügelspitze den Hut vom Kopf fegte.

Sie machte kehrt und startete den langen Rückflug zum Dorf und den beiden letzten Bögen. Doch genau dort, wo eine kleine Senke voller Sonnenblumen lag, kreuzte Ordo ihren Weg. Der Habichtjunge keuchte heftig und bewegte schwerfällig die Flügel, während er sich vorwärtsmühte.

»DU!«, knurrte er. »Ich werde ganz sicher nicht gegen eine bekloppte Spatzengöre verlieren!«

Und ehe Ellie begriff, was er vorhatte, steuerte er direkt auf sie zu und griff nach ihrem Flügel. Sie quiekte erschrocken auf und versuchte, mit einer Flugrolle auszuweichen, doch er hatte sie überrascht. Seine Hand schloss sich um ihren Daumenfittich und er riss mit einem hinterhältigen Ruck daran. Ellie verlor die Kontrolle. Sie trudelte zu Boden, zu schockiert, um auch nur zu schreien. Ordo flog weiter.

Ellie schaffte es nicht, ihre Flügel rechtzeitig wieder zu entwirren, und fiel mitten in die Sonnenblumen. Die Stängel bremsten ihren Fall, aber dennoch verschlug es ihr beim Aufprall den Atem. Sie schlitterte über den Dreck, dann schaffte sie es, sich abzurollen, und blieb endlich keuchend liegen.

Wütend schlug sie mit der Faust auf die Erde.

Schmerz durchfuhr ihren Körper und sie wusste, sie würde morgen von blauen Flecken übersät sein. Aber ihr blieb keine Zeit, sich um ihre Wunden zu kümmern. Über ihr flogen die Fischadler-Zwillinge auf den vorletzten Bogen zu, ohne Ellie unten am Boden zu bemerken. Ordo hätte sich keine bessere Stelle für seinen Angriff aussuchen können – in der Senke waren sie von der Stadt aus und vom Schiedsrichter des letzten Bogens nicht zu sehen. Keiner hatte mitbekommen, wie er ihren Flügel gepackt und damit gegen die wichtigste Regel des Wettfliegens verstoßen hatte – kein Körperkontakt.

Aber sie konnte trotzdem noch ins Ziel kommen. Sie konnte immer noch Dritte werden, wenn sie alle ihre Kräfte mobilisierte. Sie hatte zwar ein paar Prellungen, aber es war nichts gebrochen und ihr Atem ging schon fast wieder normal. Noch hatte sie einen Vorsprung auf Ordo und die Zwillinge, aber er wurde schnell kleiner.

Ellie duckte sich, breitete die Flügel aus und wollte sich vom Boden abstoßen, da hörte sie eine leise Stimme: »Hilfe.«

Sie erstarrte. Bildete sie sich das ein? Sicher war es Einbildung. Sie hatte sich bei ihrem Sturz ziemlich den Kopf angehauen.

Aber da hörte sie es wieder.

»Hilfe. Bitte.«

Ellies Magen zog sich zusammen. Sie musste weiterfliegen, sonst wäre alles vorbei. Sie würde verlieren und hätte Mutter Rosemaries Zorn ganz umsonst auf sich gezogen. Schlimmer noch, der Tod ihrer Eltern wäre umsonst gewesen. Und an der Ordnung der Welt würde sich nichts ändern: Spatzen bestellten die Felder, die Hohen Clans beschützten die anderen und die Gargols jagten. Alles bliebe in dem gleichen unbarmherzigen Kreislauf gefangen. Als wäre der Tod ihrer Eltern völlig sinnlos gewesen und hätte keine Spuren in der Welt hinterlassen.

Das durfte Ellie nicht zulassen. Sie musste dafür sorgen, dass ihr Opfer nicht umsonst gewesen war. Sie musste stärker, schneller und besser werden und die Welt zu einem sicheren Ort machen. Für andere Kinder. Für ihren Clan. Für ihre Eltern.

Sie musste eine Goldflügel-Ritterin werden.

Aber dann sah sie das Blut am Boden und die Schleifspuren, als hätte sich ein verletztes Tier durch das Feld geschleppt. Und die Federn, kohlschwarz, die entlang der Fährte verstreut lagen. Jemand anderes war hier vom Himmel gestürzt und hatte sich weit schlimmer verletzt als sie. Das war eine ungesunde Menge Blut.

Einen Moment lang taumelte Ellie, fast wäre sie ohnmächtig geworden. Es sah alles so vertraut aus – die zerdrückten Blumen, das Blut. Wieder sah sie ihre Mutter und ihren Vater vor sich, reglos und schlaff. Es konnte gut sein, dass es genau an dieser Stelle passiert war.

Konzentrier dich, Ellie. Atme.

»Hallo?«, rief sie.

Keine Antwort. Wer auch immer da gerufen hatte, war vielleicht ohnmächtig geworden oder zu schwach, um zu antworten.

Ellie stöhnte frustriert auf. »Ich komme! Warte … ich bin gleich da!«

Sie schaute nach oben, wo Ordo nun vorbeischoss. Die Fischadler waren dicht hinter ihm und holten auf. Kurz darauf waren sie in Richtung Linden verschwunden und Ellies Vorsprung war verloren.

Nun würde sie sie nicht mehr einholen können.

Sie kämpfte ihre Tränen zurück und bahnte sich einen Weg durch die Sonnenblumen, immer der Spur aus Blut, aufgewühlter Erde und dunklen Federn nach. Sie spürte die Zukunft durch ihre Finger rinnen wie schmelzenden Schnee. Sie hörte die Spottrufe der Clans, nur klangen sie diesmal wie ihre eigene Stimme.

Geh nach Hause, Spatz.

Dummes Mädchen.

Zu klein. Zu schwach. Zu dumm.

Dann teilte Ellie ein dickes Bündel Sonnenblumenstängel mit den Händen und die Worte lösten sich in Luft auf. Das Rennen wurde nebensächlich vor Entsetzen über den Anblick vor ihr.

Ein fremder Junge lag zusammengerollt am Boden, er war totenbleich und bewusstlos und hatte seine obsidianschwarzen Flügel um sich gewickelt. Blut strömte aus seiner Schulter und färbte die Erde unter ihm dunkel und mit der Hand umklammerte er den zerbrochenen, blutigen Schaft eines Pfeils.

4. Nox

Der Junge schlug die Augen auf und sah ein verschwommenes Meer aus Gelb um sich herum. Er blinzelte und langsam wurde die Welt wieder scharf.

Sonnenblumen. Tausende von ihnen. Sie wiegten sich sanft und ihre leuchtend sonnengelben Blütenblätter umrahmten die dunkle, prall mit Samen gefüllte Mitte. Über ihnen spannte sich ein strahlend blauer Himmel.

Nun spürte er auch den Schmerz in seiner Schulter und wünschte sich fast, er würde wieder in Ohnmacht fallen. Aber etwas stach ihn, hielt ihn wach und ließ feurige Schmerzblitze in seiner Brust explodieren.

Er versuchte, Aufhören, bitte zu sagen, brachte aber nur ein »Grrrj« hervor.

»Du bist ja wach!«, sagte eine Stimme und ein Gesicht tauchte vor seinen Augen auf, ein Mädchen mit riesigen, braunen Augen und einem Gesicht voller Sommersprossen. Fast alle ihrer braunen Haare waren den zwei kurzen Zöpfen hinter ihren Ohren entwischt und hingen ihr ins Gesicht.

Stöhnend wollte er sich aufsetzen.

»Nicht«, sagte das Mädchen. Sie legte ihm sanft die Hand auf die Brust und drückte ihn zurück, bis er wieder flach am Boden lag. »Dich hat’s ziemlich böse erwischt. Ich hole Hilfe.«

»Nein«, flüsterte er und packte ihr Handgelenk. »Bitte … niemand … darf wissen …«

»Wer bist du?«, fragte sie. »Und wer hat dir das angetan? Gargols?«

»Banditen«, stöhnte er.

Die Augen des Mädchens wurden groß. »Mutter Rosemarie sagt immer, dass sich Diebe im Bluebriar-Wald verstecken. Ich dachte, sie will mir nur Angst machen, damit ich mich von dort fernhalte.«

Im Kopf des Jungen drehte sich alles. Wieder schloss er die Augen. Erinnerungen an die vergangene Nacht kamen in ihm hoch – die Donnerschläge um ihn herum, die Blitze, die den Nachthimmel erhellten, das laute Flügelschlagen seiner Verfolger, die immer näher kamen. Dann der grelle scharlachrote Schmerz, als der Pfeil ihn traf.

»Nichts sagen«, flüsterte er. »Keine Erwachsenen.«

»Aber du stirbst vielleicht!«

Er brachte ein halbherziges Schnauben zustande. »So schlimm ist es auch wieder nicht. Außerdem … bin ich auf einer Mission …« Seine Gedanken rasten und suchten einen Weg durch den Schmerz. »Streng geheim. Niemand darf davon wissen …«

»Hm«, meinte das Mädchen nur; sie klang nicht wirklich überzeugt. »Also gut. Ich gehe Verbandszeug holen. Rühr dich nicht vom Fleck, bis ich zurück bin.«

Er lachte heiser. Mit solchen Schmerzen würde er nirgendwohin gehen.

»Ich habe dir meine Schärpe um die Schulter gewickelt«, erklärte sie. »Das hat die Blutung erst mal gestoppt. Die Hütte des Heilers ist ganz in der Nähe und da ist jetzt niemand, weil … alle in der Stadt sind. Keiner wird mich sehen.«

Er nickte, lauschte, wie sie davonflog, und öffnete die Augen gerade weit genug, um ihre rötlich gelbbraunen Flügel mit den gesprenkelten Handschwingen zu sehen. Spatzen-Clan. Er musste wirklich am Ende der Welt gelandet sein. Die Spatzen waren der ländlichste der Bauernclans und lebten ganz im Westen auf den großen Ebenen. Offenbar war er während des Sturms weiter geflogen, als er gedacht hatte.

Dann musste er wieder ohnmächtig geworden sein, denn als er das nächste Mal die Augen aufschlug, wickelte das Mädchen gerade einen Umschlag um seine Schulter. Es roch intensiv nach Honig und Knoblauch. Sie schien zu wissen, was sie tat. Vor lauter Konzentration schaute ihre Zungenspitze zwischen ihren Lippen hervor.

»Wer bist du?«, murmelte er.

Sie schaute ihn an. »Ich heiße Ellidee. Aber alle nennen mich Ellie. Und du?«

»Äh … Nox. Nox Hatcher. Krähen-Clan.«

»Also, Nox, die gute Nachricht ist: Die Wunde ist gar nicht so schlimm. Sie müsste schnell heilen, wenn du sie sauber hältst.«

»Bist du eine Heilerin?« Er begutachtete seine Schulter und den ordentlichen Verband, den sie darumgewickelt hatte. Der Stoff roch nach Sonnenblumenkernen und Heu.

»Nicht wirklich«, sagte sie. »Ich weiß nur das Nötigste. Letzten Sommer habe ich mir von unserer Heilerin ein paar Sachen erklären lassen, weil in meinem Lieblingsbuch – Die Königsleiter – steht, dass jeder angehende Ritter wissen sollte, wie …« Ihre Stimme erstarb und ihr Blick wurde so traurig, dass Nox schon fürchtete, sie würde gleich losheulen. Doch dann biss sie die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.

»Dann bist du eine Ritterin.« Nox sah sie fragend an.

»Ich hätte vielleicht eine werden können.« Sie schaute zum Himmel und seufzte schwer. »Was vorbei ist, ist vorbei. Ich muss zurück ins Dorf, bevor sie mich suchen und dich aus Versehen finden. Kannst du gehen?«

»Ich glaube schon.« Der Umschlag, den sie ihm angelegt hatte, enthielt offenbar schmerzstillende Kräuter, denn das heftige Brennen hatte nachgelassen.

»Gut. Dann geh nach Nordwesten. Zu Fuß brauchst du etwa eine Viertelstunde bis zur Scheune. Versteck dich in dem Heuhaufen dahinter, ich komme dann so bald wie möglich nach. Ich bringe dir was zu essen mit, Wasser …« Sie schaute auf seinen zerrissenen, blutigen Kittel. »Und ein Hemd.«

»Danke«, sagte er und musterte sie neugierig. »Nicht viele Leute würden einem Fremden einfach so helfen.«

Sie nickte. Auf ihrem Gesicht lag immer noch tiefer Kummer, als wäre ihr erst kürzlich etwas Schlimmes widerfahren. Er fragte sich, was das wohl gewesen war. Deswegen und wegen ihrer Freundlichkeit bereute er die Lügen, die er ihr erzählt hatte, fast ein bisschen.

Aber nur fast.

Plötzlich hörte er einen Jubelschrei in der Ferne, wie von einer großen Menschenmenge, und sah sie fragend an. »Was war das? Wo bin ich hier überhaupt?«

Ellie senkte den Blick. »Dort ist Linden, der Sitz des Spatzen-Clans. Der Lärm kommt … von der Goldflügel-Vorauswahl. Vermutlich ist das Rennen beendet.«

Da begriff Nox. »Du bist auch mitgeflogen, oder? Deshalb hast du mich gefunden. Du hast das Wettfliegen abgebrochen, um einem Jungen zu helfen, den du nicht mal kennst?«

»Na ja«, sagte sie, »sagen wir, es war nicht unbedingt eine freiwillige Entscheidung. Und jetzt ist es sowieso egal. Das Wettfliegen ist aus und vorbei und ich habe verloren.«

»Stimmt, jetzt erinnere ich mich wieder. Die ersten drei von jedem Wettflug in den Provinzen dürfen am Großen Himmelsrennen in Thelantis teilnehmen.«

»Ja. Und da man sich nur einmal dafür qualifizieren kann …« Sie zuckte mit den Schultern. »Es war sowieso ein dummer Traum von mir. Jetzt werde ich es nie schaffen.«

»Wie meinst du das?« Vielleicht lag es an ihrer Hilfsbereitschaft oder an der Wirkung des Umschlags, mit dem sie seine Wunde versorgt hatte, aber Nox war auf einmal ungewohnt großmütig gestimmt. »Du kannst doch immer noch mit einem Freilos daran teilnehmen.«

Ihr Kopf fuhr in die Höhe. »Was?«

»Sie halten immer zwanzig Plätze für allerletzte Anwärter frei. Wusstest du das nicht? Die ersten zwanzig, die bei der Anmeldung erscheinen, dürfen mitmachen, egal, wie sie bei den Wettflügen abgeschnitten haben oder ob sie überhaupt an einem teilgenommen haben. Ich glaube, das wurde vor ein paar Jahren eingeführt, weil der Sohn von irgendeinem wichtigen Typen seinen Wettflug nicht gewonnen hatte. Sie hatten wohl Angst, es würde einen Aufstand geben, wenn er nicht mitmachen darf – Hey! Aua!«

»Entschuldige!« Das Mädchen hatte seinen Arm so fest gepackt, dass seine Wunde wieder schmerzte. Sie ließ ihn los, ihre Augen glänzten fiebrig. »Ist das dein Ernst? Ich könnte immer noch teilnehmen?«

»Ja klar. Wenn du rechtzeitig in Thelantis bist. Das Rennen ist … in drei Wochen, glaube ich.«

»Woher weißt du das alles?«

Schulterzuckend antwortete er: »Ich bin dort aufgewachsen. Ich habe viele Rennen gesehen.«

»Du kommst aus Thelantis? Was machst du dann hier draußen?«

»Glaub mir, das frage ich mich auch schon seit Tagen.« Er verzog das Gesicht und schnippte einen neugierigen Käfer von seiner Hose.

»Das beantwortet aber nicht meine Frage.«

Nox lenkte sie mit einer Gegenfrage ab. »Hast du nicht gesagt, man würde dich vermissen, wenn du nicht zurückgehst?«

»Richtig.« Sie schlug sich gegen die Stirn. »Ich komme so schnell wie möglich wieder. Bis gleich, hinter der Scheune.«

»Ja«, log er. »Ich werde dort sein.«

Sie flog davon und er schaute ihr nach, bis sie hinter den Sonnenblumen verschwunden war.

Dann drehte er sich um und humpelte in die entgegengesetzte Richtung davon, nach Süden zum Bluebriar-Wald.

5. Ellie

Im Dorf wimmelte es vor Menschen, als Ellie zurückkehrte. Kleine Kinder tollten mit flinken Flügeln durch die Luft, während die Erwachsenen eine lange Tafel aufbauten. Das Wettrennen war vorbei und das gemeinsame Festmahl konnte beginnen. Bei dem Duft von Brombeerkuchen, Kirschtörtchen und Schinkenbroten lief ihr das Wasser im Mund zusammen. An jedem anderen Tag hätte sie sich nur zu gerne den Bauch vollgeschlagen.

Doch sie dachte an den Krähenjungen, den sie auf den Feldern zurückgelassen hatte. Sie sollte möglichst schnell zu ihm zurück. Da Mutter Rosemarie die Speisekammer im Heim für Verlorene Spatzen fest verschlossen hielt, blieb Ellie nichts anderes übrig, als etwas vom Festmahl zu stibitzen. Sie hatte zwar ihre Zweifel an seiner Geschichte von einer geheimen Mission, aber eine Petze war sie nicht. Außerdem stand sie in seiner Schuld. Er hatte ihr immerhin verraten, dass sie noch eine Chance hatte – wenn auch nur eine sehr kleine –, am Großen Himmelsrennen teilzunehmen und doch noch eine Goldflügel-Ritterin zu werden.

Natürlich war dazu noch einmal deutlich mehr Wagemut notwendig als für die Teilnahme an der Vorauswahl und Ellie bezweifelte, ob sie genügend Mut, Entschlossenheit und vermutlich auch Dummheit dafür aufbringen konnte.

Sie schlich zu Fuß ins Dorf und bemühte sich, Mutter Rosemarie und den anderen Verlorenen Spatzen aus dem Weg zu gehen, die alle schreckliche Petzen waren. Jeder von ihnen würde sie ohne Zögern für eine zusätzliche Portion Nachtisch verraten.

Sie versteckte ihr Gesicht hinter ihren strähnigen Haaren und schob sich durch die Menge. Dabei wurde ihr klar, dass sie noch nicht mal wusste, wer das Rennen gewonnen hatte. Sie riskierte einen Blick über die Menge hinweg und entdeckte Zain inmitten seiner Habicht-Clan-Brüder. Das Grinsen auf seinem Gesicht und die Flasche mit perlendem Likör, die er in die Höhe reckte, zeigten ihr, dass er zu den Gewinnern gehörte.

»Ellie!«, sagte er und sein Lächeln verblasste. »Du bist zurück. Was ist passiert?«

»Sie ist beim dritten Bogen ins Schleudern geraten«, mischte Ordo sich ein und legte die Hand auf Ellies Schulter, wie um sie zu trösten. Sie schüttelte sie ab und betrachtete ihn genauer. Seine Augen waren rot, als hätte er geweint.

»Du hast es also auch nicht geschafft«, murmelte sie mit einem Anflug wilder Schadenfreude. »Dann hat dich einer der Fischadler überholt.«

»Beide haben ihn überholt«, erklärte ein älterer Habicht und gab Ordo einen Klaps auf den Hinterkopf. »Fauler Tunichtgut. Ich habe dir doch gesagt, du musst mehr trainieren!«

»Halt den Mund«, fauchte Ordo.

»Ellie«, sagte Zain. »Du bist echt gut geflogen. Ich meine, einen Moment lang dachte ich schon, du würdest …«

»Tatsächlich?« Sie hasste es, wie erstickt ihre Stimme klang. »Ich freue mich für dich, Zain.«

»Danke!« Er legte den Arm um sie und zerdrückte sie fast. »Ich hoffe, du kannst beim Großen Himmelsrennen stolz auf mich sein.«

Ellies Magen zog sich zusammen. »Wann brichst du auf?«

»Morgen«, sagte er. »Die Reise nach Thelantis dauert drei Wochen, sodass wir gerade noch rechtzeitig ankommen werden. Tauna und Laida sind auch dabei. Außerdem begleiten uns die Bürgermeisterin und unsere Eltern.«

Sie nickte hölzern. »Dann willst du vielleicht den hier wiederhaben.«

Sie öffnete ihre Hand und zeigte ihm seinen Dolch, den sie ihm bei der Umarmung aus dem Gürtel geklaut hatte.

»Ellie!«, flüsterte er und vergewisserte sich hastig, dass kein anderer es mitbekommen hatte. »Du musst aufhören, mir ständig meine Sachen zu klauen!«

»Oder du hörst einfach auf, darauf reinzufallen.« Dass sie ihm das Messer stibitzt hatte, konnte sie aber auch nicht wirklich trösten.

Ein anderer Habicht zog Zain weg, um ihm mit krachenden Schlägen auf die Schulter zu gratulieren. Ordo beugte sich vor und zischte Ellie ins Ohr: »Hör zu, Spätzchen, du solltest besser keinem erzählen, wie du mit mir zusammengestoßen bist und mich fast aus dem Rennen geworfen hättest.«

Empört fauchte sie zurück: »Fünfter Platz, was? Dann hat dir also noch nicht mal deine miese Schummelei geholfen.«

Er knurrte, sein Atem stank nach Knoblauchwurst. »Ich komme aus einem Hochclan, Ellidee. Für mich gibt es noch viele Möglichkeiten im Leben, außer ein bescheuerter Goldflügel zu werden. Ich kann zur Armee gehen oder einen bequemen Job in einem schicken Schloss finden. Aber du? Du wirst für immer eine Bäuerin bleiben. Genieß dein Leben beim Sonnenblumenkernesammeln.« Sein Blick fiel auf ihre Hand, die sich zu einer wütenden Faust geballt hatte. »Ooooh, was ist denn? Willst du mich etwa schlagen?«

»Als wärst du das wert«, zischte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Ein echter Ritter ist sich für kleinliche Rache zu schade.«

»Weißt du, was ein Ritter auch nicht tut? Aufgeben.« Höhnisch grinsend verschränkte er die Arme. »Aber rate mal, was ich gesehen habe, als ich zurück über das Feld geflogen bin? Ein kleines, verirrtes Spatzenmädchen, das vom Himmel gefallen ist und nicht wieder aufstehen wollte. Gib’s zu. Du hast aufgegeben!«

In diesem Moment kam Ellie eine Erkenntnis, so klar wie Sonnenlicht, das durch eine Sturmwolke bricht. Sie wusste nun, was sie zu tun hatte. Sie hatte es gewusst, seit sie den Krähenjungen auf dem Feld zurückgelassen hatte, aber sie hatte sich zu sehr gefürchtet, diesem Entschluss ins Auge zu sehen und ihn laut auszusprechen, sogar vor sich selbst.

»Nein, Ordo.« Etwas in ihrem Blick musste ihn eingeschüchtert haben, denn er wich einen Schritt zurück. »Ich habe nicht aufgegeben.«

Sie würde nach Thelantis gehen.

Sie würde mit einem Freilos an dem Wettflug teilnehmen, koste es, was es wolle.

Mit neuer Energie wandte Ellie sich von ihm ab – nur um mit Mutter Rosemarie zusammenzustoßen.

Die Hand der Hausmutter schloss sich um ihre Schulter und sie schüttelte Ellie so heftig, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen.