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Drachenfantasy vom Feinsten!
Ein spannendes Fantasy-Abenteuer der amerikanischen Bestsellerautorin Jessica Khoury. Nach „Silberdrache“ von Angie Sage Band 2 der fantastischen Serie um Drachen, Freundschaft und Magie für Jungen und Mädchen ab 11 Jahren.
Ein geheimnisvolles Drachenei war erst der Anfang …
Seit Joss in den Bergen ein silbernes Drachenei gefunden hat, hat sich sein Leben dramatisch verändert. Aus dem Ei ist ein Silberdrache geschlüpft. Und diese Drachen, sagt die Legende, verleihen unermessliche Macht. Denn nur sie können die Grenzen zwischen den Welten durchdringen. Das weiß auch der Clan der Lennix. Nun sind sie und ihre bösartigen Drachen erbarmungslos hinter Joss und seinem Silberdrachen Lysander her. Allie, Joss und Sirin müssen Lysander um jeden Preis beschützen. Sie machen sich auf die gefahrvolle Suche nach einer verlorengegangene Quelle uralter Drachenmagie. Die einzige Magie, die den bösen Drachen Einhalt gebieten kann. Doch auch die Lennix sind hinter der Geheimwaffe her. Und sie schrecken vor nichts zurück ...
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Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe
Text-Copyright © 2020 by Scholastic Inc.
Originaltitel: Rise of the Dragons. The Lost Lands
Die Originalausgabe ist 2020 im Verlag Scholastic Inc., USA, erschienen.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück, 30161 Hannover
© 2020 der deutschsprachigen Ausgabe arsEdition GmbH, Friedrichstraße 9, D-80801 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Text: Jessica Khoury
Covergestaltung: Frauke Schneider
Übersetzung: Bernd Stratthaus
ISBN eBook 978-3-8458-4042-0
ISBN Printausgabe 978-3-8458-3415-3
www.arsedition.de
Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Cover
Titel
Impressum
1
Die Insel der blauen Drachen
2
Der Geruch von Raptoren
3
Kaan mit dem scharfen Blick
4
Das Geschwader ist sich einig
5
Die Geschichte der Himmelswirblerin
6
Wichtige Neuigkeiten und große Pläne
7
Schwingen im Wind
8
Roter Blitz
9
Ein Geschenk aus der Tiefe
10
Raptor oder Schaf?
11
Eine Silberschuppe
12
Raptorenlande
13
Ruhe in der Bibliothek
14
Die Geschichte der Verbannung
15
Die Bibliothekare
16
Flucht aus der Bibliothek
17
Fish-and-Chips-Land
18
Schattenzwilling
19
Ein blauer Hinweis
20
Silberschmiedearbeiten
21
Flucht aus Oxford
22
Aus dem Exil
23
Der Drache im See
24
Das Monster und der Drache
25
Das Ultimatum
26
Der Schwefelsee
27
Ein gespaltenes Geschwader
28
Das Trennungsritual
29
Sirin allein
30
Tamra allein
31
Joss allein
32
Allie allein
33
Ich glaube an Drachen
34
Das Silbergeschwader
35
Ein düsteres Zusammentreffen
36
Alter Feind, neuer Freund
37
Die Schlacht von New York
38
Ein Vertrauensvorschuss
39
Eine in Stein gemeißelte Geschichte
40
Höher und höher und höher
41
Das Herz der Himmelswirblerin
42
Farrelara, me soll
43
Dies ist nicht das Ende
Über die Autorin
Sirin saß an einem Sandstrand und sah einem Dutzend blauer Drachenjungen zu, wie sie im türkisfarbenen Wasser einer versteckten Lagune badeten und tauchten.
Blaue schienen sich im Wasser ebenso wohlzufühlen wie an Land. Ihre schlanken Körper wanden sich durch die Wellen und erinnerten Sirin an die Abbildungen von Seeschlangen, die sie auf alten Karten gesehen hatte. Den Drachenjungen schien es besonders viel Spaß zu machen, Sirin nass zu spritzen und sie in glitzernde Fontänen einzuhüllen. Sie kreischte auf und legte schützend die Arme über den Kopf, als sich plötzlich ein kleiner grüner Drache vor sie warf, die Blauen anfauchte und bereit war, Sirin mit Klauen und Zähnen zu verteidigen.
Soll ich sie beißen?, hallte die eifrige Stimme der kleinen Grünen in Sirins Kopf wider. Ich beiß Ihnen die Schwänze ab, wenn du willst. Dann wedelte sie wie ein Welpe, der seinem Herrchen gefallen will, mit dem eigenen Schwanz.
»Langsam!«, lachte Sirin auf. »Die spielen doch nur, Sammi.«
Sammi. Ihre Bundesgenossin. Die nun mit Herz, Seele und Geist mit Sirin verbunden war.
Von der Nasen- bis zur Schwanzspitze voller Sand, schnaubte die kleine Grüne verächtlich und schüttelte sich.
Schleimige Wasserfreunde, sie alle!, hörte Sirin ihr hohes Stimmchen in ihrem eigenen Kopf.
Sirin liebte Sammi, den Drachen, inzwischen ebenso sehr, wie sie Sammi, die Katze, in ihrem alten Leben geliebt hatte, aber manchmal war sie immer noch geschockt, wenn sie die Stimme ihrer neuen Sammi im eigenen Kopf hörte. Es war wie ein Prickeln, das ihr über die Kopfhaut lief.
Willst du schwimmen gehen?, erwiderte sie und ihre eigene Stimme klang unsicher, da sie immer noch den Dreh herausfinden musste, ihrer Bundesgenossin gedanklich Nachrichten zu übermitteln.
Wasser, bäh! Die kleine Grüne rümpfte das Näschen gebieterisch und aalte sich dann lieber wieder in der Sonne. Lass uns fliegen!
Sirin schüttelte den Kopf und ihr Magen zog sich ängstlich zusammen, als sie aufblickte. »Joss und Allie haben gesagt, der Himmel ist nicht sicher«, erinnerte sie Sammi. »Wir verstecken uns, schon vergessen? Schreckliche Drachen sind auf der Suche nach ihnen. Nach uns auch, nehm ich an.«
Es gab so viel, was sie sich über diese Welt merken musste, doch der Punkt, den ihre neuen Freunde, die Morans, ihr am nachdrücklichsten eingeschärft hatten, war: Sie jagen uns, und sobald sie kapiert haben, dass du jetzt bei uns bist, werden sie dich auch jagen. Die Lennix waren eine mächtige Familie, die mit den Raptoren im Bund stand – bösartigen Drachen, die Sirin nur zu gern zum Mittagessen verspeist hätten. Diese Raptoren wollten ihre eigene Welt erobern, die Erde, und sie brauchten Joss’ Bundesgenossen, den stürmischen Silberdrachen Lysander, um das zu bewerkstelligen. Nach allem, was Joss ihr erzählt hatte, würden sie Lysander, falls sie seiner jemals habhaft wurden, dazu benutzen, die Erde in Schutt und Asche zu legen und die dort lebenden Menschen entweder zu fressen, zu versklaven oder anderweitig zu vernichten, genau wie sie es in dieser Welt getan hatten.
»Bist du sicher, dass du ausgerechnet mit uns abhängen willst?«, hatte Joss sie mit einem nervösen Lachen gefragt.
Bis jetzt hatte sie noch keinen Raptor zu Gesicht bekommen, allerdings war sie auch erst seit drei Tagen in dieser Welt.
In der Nacht, in der sie Lysander, den Silbernen, mit zwei menschlichen Reitern auf dem Rücken über London hatte fliegen sehen, hatte Sirin umgehend begriffen, dass ihr Leben sich gerade tief greifend veränderte. Schließlich begegnete man ja nicht einem echten, lebendigen Drachen und machte dann einfach weiter, als wäre nichts geschehen.
Und Sirin hatte so viel mehr getan, als einem Drachen einfach nur zu begegnen.
Sie hatte auf Lysanders glänzendem schuppigen Rücken gesessen und ungläubig die Luft angehalten, während der Silberne sich mit kräftigen Flügelschlägen in den Himmel emporgeschraubt hatte. Das Nächste, woran Sirin sich erinnerte, war, dass ein weißer Blitz über den Himmel gezuckt war und ihre Haut vor statischer Energie geprickelt hatte, während sie durch ein verborgenes Portal geflogen waren. Dann hatte sie mit großen Augen auf eine vollkommen andere Welt hinabgestarrt.
Eine Welt voller Drachen.
Drei Tage später versteckten sie und ihre seltsamen Retter sich nun inmitten eines riesigen Ozeans auf einem Archipel moosgrün bewachsener Inseln, das vom Himmel aus wie ein Smaragdcollier wirkte, das irgendwer ins blaue Wasser hatte fallen lassen. Die Inseln beheimateten den großen Clan der blauen Drachen.
Sirin war in einer neuen Welt.
Sie hatte mit einem Drachen einen Bund geschlossen.
Sie war eine Waise.
Dieser letzte Gedanke jagte ihr einen stechenden Schmerz durch den Körper und Panik stieg in ihr hoch. Sie atmete scharf ein, presste die Augen zu und zog die Knie gegen die Brust. Sie hörte ihren Herzschlag in den Ohren pochen. An ihrem Schlüsselbein fühlte sich der Drachenstein-Anhänger auf einmal eiskalt an. Sie hatte ihn unter ihrem Oberteil verborgen gehalten. Es schmerzte sie zu sehr, ihn anzusehen, fast so sehr, wie sich das Gesicht ihrer Mutter vorzustellen.
Als sie Sirins plötzliche Stimmungsänderung spürte, war Sammi blitzschnell an ihrer Seite und kuschelte sich mit der geschuppten Schnauze auf Sirins Schoß.
Willst du einen Fisch?, fragte Sammi. Fisch bessert immer meine Laune. Ich fang für dich den flinksten, schillerndsten Fisch!
Sirin presste Sammi einfach nur fest an sich und wartete, bis die Welle aus Traurigkeit über sie hinweggerollt war. Sie weigerte sich zu weinen. Sie weigerte sich, an ihre Mutter zu denken. Sie weigerte sich, überhaupt irgendetwas zu fühlen.
Nur so konnte sie überleben.
Ein dumpfes Grollen rollte durch die Lagune und Sirin sah zu der hohen Felsklippe auf der anderen Seite des Wassers hinauf, auf der zwei riesige Drachen sich den ganzen Morgen über unterhalten hatten. Einer von ihnen, ein blassgrüner, der größer war als irgendein Drache, den Sirin bisher gesehen hatte, war Bellacrux, Allie Morans Bundesgenossin. Sirin fürchtete sich mehr als nur ein bisschen vor der großen Grünen, die zwar recht verträglich war, in deren Augen es aber auch gefährlich blitzen konnte, was auf eine bewegte und lange Vergangenheit schließen ließ. Der andere Drache, der Oberste der Blauen und Herrscher über diese Inseln, hörte auf den Namen Ash. Bellacrux und er schienen sich schon lange zu kennen und Sirin hatte bemerkt, dass sie einander schätzten. Manchmal jedoch stritten sie in ihrer eigenartig schönen Sprache, dem Drachenlied, und sobald das geschah, stieg die Anspannung bei jedem Drachen auf sämtlichen Inseln.
Auch jetzt stritten sie, und Sirin wandte den Blick ab, da sie nicht beim Lauschen erwischt werden wollte. Sie verstand ohnehin nicht, was sie sagten. Sirin hatte in den letzten drei Tagen nur ein paar einfache Drachenlied-Begriffe aufgeschnappt, und auch die kamen ihr noch sehr schwer über die Lippen.
»Diskutieren sie immer noch?«, hörte sie eine Stimme fragen.
Sie drehte sich um und sah, dass Joss hinter ihr stand. »Seit dem Morgengrauen«, antwortete sie. »Was reden sie denn?«
Joss schielte zu den beiden wütenden Drachen hinauf und zuckte zusammen. »Dasselbe, worüber sie sich schon streiten, seit wir angekommen sind. Bellacrux glaubt, dass Ash etwas über eine alte Waffe der Drachen weiß, mit der die Lennix und die Raptoren besiegt werden können, aber er will nicht damit herausrücken, worum es sich handelt. Wenn Ash seine Meinung nicht ändert, sagt Allie, müssen wir aufbrechen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bevor die Raptoren uns hier finden.«
Sirin nickte entschlossen. »Absolut. Ich gehe nicht zurück zu … ich weiß nicht mal, wohin ich zurückgehen könnte.«
Was dachte ihre Pflegemutter wohl, wäre mit ihr passiert? Hatte sie etwa allen erzählt, dass Sirin von einem Drachen aufgelesen worden war? Wahrscheinlich nicht. Wer würde ihr das schon glauben? Vielleicht hielten alle sie für tot. Sirin war überrascht, als sie merkte, dass ihr dieser Gedanke gefiel, denn dann konnte sie auch daran glauben – wenigstens im übertragenen Sinn. Die alte Sirin war gestorben, ebenso jeder langweilige, mühsame oder lästige Teil ihres Lebens wie Mathearbeiten, seltsame Pflegefamilien oder die Notwendigkeit, irgendwelchen fiesen pubertierenden Schlägern aus dem Weg zu gehen, und …
Und natürlich war da noch die andere Sache … die gewaltige, unmögliche, schreckliche Sache, über die sie nicht nachdenken durfte. Sobald rosa Krankenhauswände sich in ihren Kopf drängten, schob Sirin sie wieder hinaus.
»Lysander?« Joss neigte den Kopf seitwärts, als sein Silberdrache auf sie zukam. Sein Blick verschleierte sich dabei kurz, was – das wusste Sirin inzwischen – bedeutete, dass sein Bundesgenosse ihm etwas mitteilte. Sie fragte sich, ob sie genauso aussah, wenn Sammi mit ihr sprach.
Sirin war noch immer ganz beeindruckt, wenn sie Lysander sah, dessen Schuppen so hell strahlten, dass sie zu glühen schienen. Er bewegte sich mit graziler Anmut und schien weniger auf Joss zuzulaufen, als vielmehr geschmeidig zu ihm zu gleiten. Obwohl er für einen Drachen noch sehr jung war, hielt er seinen eleganten Kopf bereits mit sichtbarer Würde.
Doch im Moment wirkte er beunruhigt und blickte Joss in die Augen. Sirin wartete, bis sie sich verständigt hatten, und ihr Herz setzte für einen Moment aus, als Joss plötzlich aschfahl wurde.
»Was ist los?«, fragte sie.
»Vielleicht gar nichts«, erwiderte er, sah aber immer noch aus, als wäre ihm schlecht. »Es ist nur … Lysander sagt, er hat etwas im Wind aufgeschnappt. Raptorengeruch.«
Sirin keuchte auf und schlug sich die Hand vor den Mund. »Sind sie hier?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber Lysander und ich sollten auf Erkundungsflug gehen, nur für alle Fälle.«
»Ich komme mit.« Sirin stand auf und klopfte sich den Sand von der Jeans. Sie hatte die Drachenwelt nicht gerade auf einen Strandtag vorbereitet betreten, sodass es sie überall juckte, weil Sandkörner ihr in die Klamotten gekrochen waren. »Drei Augenpaare sind besser als zwei.«
Hey!, quietschte Sammi beleidigt.
»Äh … ich meine vier Augenpaare. Sorry, Sam.«
Sammi hatte gerade erst zu fliegen gelernt und war stets erpicht darauf, diese neue Fähigkeit zu demonstrieren.
Joss nickte. »Na, dann los. Bevor Lysander die Witterung verliert.«
»Sollten wir nicht erst Allie Bescheid sagen?«
Joss winkte ab. »Sie ist ja nicht die Chefin hier. Außerdem ist sie gerade auf der anderen Seite der Insel und sammelt Austern fürs Abendessen, wir würden eine halbe Stunde brauchen, um sie zu finden. Wir sehen uns einfach nur kurz um und sind wieder hier, bevor sie überhaupt bemerkt hat, dass wir weg waren.«
Sie kletterten auf Lysanders Rücken, Joss setzte sich vor Sirin. Der Silberne breitete die Flügel aus und erhob sich in die Luft, und Sirin sah unter sich seinen Schatten beim Aufstieg immer kleiner werden. Sammi schwirrte um sie herum.
»Was machen wir, wenn es wirklich Raptoren sind?«, flüsterte sie Joss ins Ohr.
Er zuckte mit den Schultern. »Wahrscheinlich ist es nur falscher Alarm.«
Doch Sirin hörte seine Stimme zittern.
Lysander glitt auf einer warmen Brise dahin, die Haut seiner Flügel flatterte wie Segel. Sirin stockte der Atem. Sie spürte einen leichten Anflug schwindliger Angst, als sie auf das Meer weit, weit unter sich blickte, und umklammerte Joss’ Schultern noch fester. Die Sonne wurde von Lysanders Silberschuppen reflektiert. Sie strahlten so hell, dass Sirin darin ihr eigenes verzerrtes Spiegelbild erkennen konnte. Er war wirklich ein beeindruckendes Geschöpf.
Der Glänzende ist alt und langsam!, gluckste Sammi in ihrem Kopf. Ich wette, er kann nicht mit mir mithalten!
Sammi raste los, und Lysander nahm das herausfordernde Knurren des Drachenjungen an und quittierte es mit einem eigenen Brüllen. Der Silberne schoss mit einem kraftvollen Flügelschlag voran und zwang Joss und Sirin dazu, sich mit aller Kraft festzuhalten. Die Brise wurde zu einem Sturm, der an Sirins Haar zerrte.
Vorsicht, Sammi!, warnte sie. Da oben sind vielleicht Raptoren!
Lass sie nur kommen!, knurrte Sammi zurück. Ich bin Sammi, die Tapfere, und ich fürchte nichts und niemanden!
Sirin schüttelte seufzend den Kopf. Jungdrachen war mit Vernunft nicht beizukommen, das hatte sie inzwischen gelernt, vor allem nicht mit so wilden Sturköpfen wie Sammi.
Sie flogen immer weiter hinaus, bis die blauen Inseln nur noch wie ein paar im Meer verstreute grüne Kiesel wirkten, umgeben von weißen Stränden und Riffen. Das Wasser glitzerte im Sonnenlicht, türkisfarbenes Flachwasser wechselte sich mit tiefen dunkelblauen Gräben ab.
Die Aussicht war wunderschön. Doch Sirin riss den Blick von der Welt unter sich los und suchte stattdessen den Himmel ab. Ihr Magen krampfte sich zusammen, als sie sich fragte, ob sie bald vielleicht zum ersten Mal den schrecklichen Raptoren begegnen würde – oder den gnadenlosen Menschen, die auf ihnen ritten.
Der salzige Wind des Meeres und der Luftzug von Lysanders großen Schwingen zischten über Joss und Sirin hinweg, als sie den Himmel absuchten. Sammi, deren ursprünglicher Energieschub abgeebbt war, flatterte im Kielwasser des Silberdrachen auf und ab und schlug verbissen mit den Flügeln, um nicht den Anschluss zu verlieren.
Riechst du was?, fragte Joss seinen Bundesgenossen.
Der Wind hat gedreht. Ich habe die Witterung verloren.
Joss wählte seine Worte mit Bedacht, denn er wollte den Silbernen nicht beleidigen. Bist du dir sicher, dass es der Geruch von …
Ich kenne ihren Geruch, Joss, schnitt Lysander ihm gereizt das Wort ab. Nach verkohlten Knochen und geronnenem Blut.
Okay, okay, ich glaub dir ja. Ich will es nur nicht wahrhaben.
Da sind wir schon zwei, mein Lieber.
Sie flogen in einem weiten Bogen um die Inseln, doch vor allem beobachteten sie den östlichen Himmel. In dieser Richtung lag das Festland, auch wenn sie es von hier aus nicht sehen konnten. Der Horizont war eine glitzernde gebogene Linie im Ozean, sodass der Eindruck entstand, als ob ihr Zufluchtsort auf den Inseln vom Rest der Welt abgeschnitten wäre. Joss wusste jedoch, dass die Küste kaum einen Tagesflug entfernt war, und zur Lennix-Festung war es von dort aus dann nur noch ein Katzensprung.
Sie suchten fünfzehn Minuten lang, flogen ostwärts, bis die blauen Inseln hinter ihnen verschwunden waren. Es gab keine Spur verdächtiger Drachen, seien es Raptoren oder andere. Je mehr leeren Himmel sie durchquerten, desto mehr begann Joss, sich zu entspannen.
Vielleicht … habe ich mich getäuscht, räumte Lysander schließlich mürrisch ein.
Joss tätschelte seinem Bundesgenossen den Hals. Es war doch richtig, vorsichtig zu sein. Besser, wir sind auf der sicheren Seite.
Er erklärte Sirin, dass sie noch einmal von Norden nach Süden fliegen würden, bevor sie zu den Inseln zurückkehrten. Sie nickte und schloss dann die Augen. Wahrscheinlich teilte sie Sammi die Botschaft mit, der ein Stückchen hinter ihnen flog.
Sirin faszinierte ihn. Sie hatte die großartigsten Geschichten aus den Verlorenen Landen auf Lager – oder von der Erde, wie sie ihre Welt nannte. Anscheinend hatte sie keine Angst vor Drachen, obwohl sie bis vor drei Tagen noch nichts von ihrer Existenz gewusst hatte. Und sie beklagte sich nicht, wenn Lysander Loopings oder Schrauben flog, sodass Joss’ und Sirins Kraft auf eine harte Probe gestellt wurde, bis sie beide oft nur noch mit den Fingerspitzen an seinem silbernen Rücken hingen. Sirin war mutig und sie wollte alles über Drachen lernen.
Joss war sich inzwischen ziemlich sicher, dass sich den Inseln keine Raptoren näherten, und dennoch hörte er nicht auf, den Horizont abzusuchen. Wenn er eins über die Lennix gelernt hatte, dann dass sie eine Menge hinterhältiger Tricks auf Lager hatten.
»Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich auf einem Drachen reite!«, sagte Sirin in sein Ohr.
Er grinste. »Ziemlich toll, oder?«
»Gibt es denn auch Einhörner?«
»Ein… was?«
»Du weißt schon, Pferde mit Hörnern, die glitzern und möglicherweise auch Regenbogen kacken?«
Joss keuchte auf. »Das hört sich furchtbar an! Sind diese Einhörner in den Verlorenen Landen ein großes Problem?«
Sirin musste lachen. »Vergiss es. Wie steht’s mit Zauberern?«
»Zauberer?«
»Ach, komm schon! Zauberstäbe, spitze Hüte, lange weiße Bärte? Ernste, grimmige Typen, die sich gern Eulen und Salamander halten?«
Joss blickte sie über die Schulter hinweg an. »Sind alle Mädchen in den Verlorenen Landen so komisch wie du?«
»Ich nehme an, du meinst nerdig.« Sirin seufzte. »Leider nicht. Viele von ihnen sind sterbenslangweilig. Wenigstens die in meiner Klasse waren es. Sie konnten Drachen nicht von Trollen unterscheiden, aber wenn du versucht hast, es ihnen zu erklären, warst du sofort unten durch.«
»Ah«, sagte er und begann zu verstehen. »Ja, die Menschen hier können genauso sein. Manche sind okay, aber manche sind echte Schafsköttel.« Er dachte vor allem an Kaan Lennix.
»Wie viele Menschen gibt es denn in den Drachenlanden?«, fragte Sirin.
»Den Drachenlanden?«
Sirin machte eine weit ausholende Bewegung über die Wasserfläche unter ihnen. »So habe ich eure Welt getauft. Wie nennt ihr sie denn?«
»Darüber hab ich noch nie nachgedacht«, entgegnete er. »Es ist einfach die Welt, glaub ich. Aber Drachenlande mag ich lieber.«
»Und wie viele Menschen leben hier jetzt?«
»Keine Ahnung. Ein paar Tausend, nehme ich an.«
»Ein paar Tausend?«, wiederholte sie in eigenartigem Tonfall.
»Warum? Wie viele gibt es denn in den Verlorenen … auf der Erde, meine ich?«
»Milliarden.«
Joss blinzelte. Er konnte sich eine solche Zahl nicht mal vorstellen. Aber vielleicht gäbe es auch hier Milliarden von Menschen, wenn die Raptoren sie nicht ständig auffressen würden.
JOSS!
Joss erstarrte, unmittelbar nachdem Lysanders geistiger Ruf in seinem Kopf widerhallte. Was ist los?
Da drüben. Siehst du es?
Joss fühlte, wie sein Bundesgenosse per Gedankenkraft seine Augen in die richtige Richtung lenkte, und starrte in den Himmel – und dann sah er es. Einen kleinen dunklen Fleck vor dem blassen Himmel, unverkennbar der Umriss von Schwanz und Flügeln. Er hörte, wie Sirin hinter ihm scharf einatmete. Sie hatte es ebenfalls gesehen.
Lysander ging in den Sturzflug über und Sammi tat es ihm gleich, bis sie direkt über der krausen Meeroberfläche flogen. Der Silberne war vor den glitzernden Wellen gut getarnt.
Raptor?, fragte Joss.
Lysanders Nüstern bebten, während er Witterung aufnahm. Ja. Ein einzelner. Wahrscheinlich ein Kundschafter.
Ein Angstschauer ließ Joss seinen Rücken straffen. Hat er uns gesehen?
Ich glaube nicht.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Sirin.
»Wir müssen zurück. Wenn sie diese Gegend auskundschaften, könnten sie die Inseln sogar noch früher finden, als wir befürchtet haben. Wir müssen Ash warnen, dass der blaue Clan in Gefahr schwebt. Vielleicht hört er jetzt endlich zu.«
Lysander flog eine Kurve und Sirins Arme umschlangen Joss so fest, dass er kaum noch Luft bekam, aber er hielt geduldig durch, bis der Flug des Drachen wieder ruhiger wurde und Sirin ihn losließ. Joss fühlte, wie Lysanders Muskeln sich unter den glänzenden Schuppen anspannten, und in seinem Kopf spürte er, wie Lysanders Sorge sich mit seiner deckte.
Zereth, der Rote, wünschte sich nichts mehr als ein warmes Lager und ein heißes Abendessen, doch stattdessen war er hier am äußersten Rand des Raptorenterritoriums und flog mit leerem Magen über einen kalten Himmel. Währenddessen krähte sein Reiter herum und stieß die Faust in die Luft.
»Fliegt, ihr Dummköpfe!«, rief Kaan Lennix dem silbernen Punkt nach, der in der Ferne immer kleiner wurde. »Ganz richtig, Schafsjunge! Wir kommen dich holen … ahhhhhh!« Sein Ruf wurde zu einem Schrei, als Zereth unter ihm zum Sturzflug ansetzte. Der Rote konnte es nicht mehr ertragen. Er hatte Hunger und im Wasser unter sich entdeckte er einen glitzernden Fleck – ein Fischschwarm. Mit ausgefahrenen Krallen grapschte sich der Drache zwei Klauen voll zappelnder, zuckender Fische, warf sie hoch in die Luft und drehte sich dann, um sie mit dem Maul aufzufangen.
Während er sich mit aller Kraft am Rückenkamm seines Reittiers festklammerte, trieb Kaan seine Sporen in die empfindliche Drachenhaut. Er hing nun kopfüber und begann, den Halt zu verlieren, den dunklen Ozean weit unter sich.
»Hör damit auf!«, brüllte er. »Dreh dich sofort wieder um!«
Zereth knurrte zur Antwort und nahm wieder seine übliche Fluglage ein. Zwei wütende Rauchsäulen stiegen ihm aus den Nüstern. Zereth war das jüngste Mitglied des Ersten Geschwaders. Er war befördert worden, um den Platz des feigen Deserteurs Timoleon einzunehmen, und er hatte es für eine Ehre gehalten, einen Lennix-Sohn als Reiter zugeteilt zu bekommen – bis er dann tatsächlich mit Kaan geflogen war. Der jüngste Lennix hatte mit seinen scharfen Sporen und seinen noch schärferen Beleidigungen nicht gegeizt, bis Zereth zu der Überzeugung gelangt war, es wäre besser gewesen, gar nicht befördert zu werden, als diese menschliche Pustel auf seinem Rücken ertragen zu müssen. Er hatte große Lust, sich wieder zu überschlagen, nur um zu sehen, ob er dieses kreischende Balg nicht abschütteln konnte. Valkea hätte genau das getan und Zereth war ein großer Bewunderer von Valkea. Sie hätte sich Kaans Unverschämtheiten bestimmt nicht gefallen lassen. Tatsächlich war es ihr gelungen, den Jungen ganz loszuwerden. Jetzt flog sie mit Tamra Lennix, die ebenso gerissen wie grausam war. Zereth wünschte, er hätte auch so eine Reiterin – oder überhaupt keinen Reiter.
Doch letztendlich fügte er sich Kaans Befehlen, flog Richtung Küste zurück, dann in Richtung der fernen Lennix-Festung und ließ dabei voller Bedauern all diese äußerst schmackhaften Fische zurück. So befriedigend es gewesen wäre, Kaan ins Meer zu werfen, wäre es den Zorn nicht wert, den er sich von Demara Lennix deshalb zuziehen würde. Er musste an das denken, was Valkea ihm erst letzte Woche im Geheimen in ihrer Kammer im Raptorenhorst zugeflüstert hatte – ihm und zwei weiteren Drachen, Valkeas innigsten Vertrauten.
Wir müssen abwarten, hatte sie gesagt. Die Lennix werden schwächer. Ihr Erbe Declan hat sie verlassen. Crane wird immer älter und langsamer. Und sie haben Bellacrux nicht mehr, um ihre Regeln durchzusetzen. Wir müssen nur abwarten und bald werden die anderen Raptoren nach einer neuen Führung verlangen. Dann, meine Freunde, werden wir bereit sein. Dann, ihr Fürchterlichen, werden wir zuschlagen!
Er hoffte, dass es bald so weit wäre. Etwas musste sich ändern. Die Jagd ergab jeden Tag weniger Beute. Der Hunger in Zereths Magen war zu einem scharfen, dauerhaften Schmerz geworden und er musste den spontanen Drang niederkämpfen, sich umzudrehen und Kaan aufzufressen. Die Raptoren mussten den Silbernen finden, mussten in die Verlorenen Lande zurückkehren, wo sie sich, wenn man den sich immer weiter verdichtenden Gerüchten Glauben schenkte, nach Belieben würden satt fressen können. Doch bisher hatten die Lennix jeden Versuch vermasselt, sich den Silbernen zunutze zu machen.
Genau wie Valkea und eine ständig wachsende Zahl von Raptoren war Zereth bereit für einen Führungswechsel. Wenn es nach Zereth ging, sollten die Menschen den Drachen dienen, nicht umgekehrt. Drachen waren größer, tödlicher und lebten länger – die ultimativen Beutegreifer in jeder Welt, die sie bevölkerten. Die Lennix hatten die Nahrungskette lange genug missachtet.
Ganz offensichtlich benötigten sie einen Drachen, der sie in die Verlorenen Lande führte.
Doch bis ihre Anzahl groß genug war, um die Raptoren zu überwältigen, die den Lennix noch immer loyal gegenüberstanden, mussten Valkea, Zereth und all die anderen, die wie sie dachten, abwarten.
Und … gewisse Erniedrigungen ertragen.
Mit knirschenden Kiefern flog Zereth in gleichmäßiger Geschwindigkeit, der Schmerz von Kaans Sporenhieben strahlte noch immer von seinen Seiten in die Flügel aus.
»Wart nur ab, bis Mama das hört«, rief Kaan voller Vorfreude mit sich überschlagender Stimme in sein Ohr. Das war in letzter Zeit oft passiert, Kaans Stimme war von Hoch zu Tief gesprungen und mitten im Satz gebrochen. »Ich war es – nicht Tamra oder Mirra oder Papa oder Decimus – ich, Kaan Lennix hab sie gefunden: diesen vertrottelten Schafsjungen und seinen hochnäsigen Silberdrachen. Oh, ich kann es gar nicht abwarten, Mamas Gesichtsausdruck zu sehen, wenn ich ihr das erzähle!«
Ausnahmsweise war Zereth mit dem jüngsten Lennix-Spross einer Meinung. Lysander war der Schlüssel zu den Verlorenen Landen, der begehrteste Drache der Welt und der Raptorenfeind Nummer eins. Kaan hatte Lysander durch ein Portal hindurchgeritten und bei seiner Rückkehr Zereth und den anderen von den Verlorenen Landen erzählt – eine Welt voller glitzernder Türme, grüner Hügel und so vieler fetter Schafe, um auch die hungrigsten Raptoren satt zu machen. Die Verlorenen Lande waren alles, was diese Welt nicht war, und sie könnten den Raptoren gehören, wenn sie einfach nur diesen Silbernen in die Klauen bekommen würden.
»Außerdem«, fügte Kaan noch immer voller diebischer Freude hinzu, »ganz egal wo Joss und Lysander sich verstecken, dort finden wir auch seine Schafsmädchen-Schwester und die Verräterin Bellacrux! Das ist der beste Tag meines Lebens!« Dann kriegte er sich vor grunzendem Gelächter nicht mehr ein.
Unter ihm fletschte Zereth seine Reißzähne zur grausamen Version eines Lächelns. Auch er freute sich und konnte es nicht erwarten, ihre fantastischen Neuigkeiten zu teilen. Sicherlich würde Valkea Zereth dafür belohnen, bevor sie ihn und die restlichen Raptoren zu Lysander führen würde, um diesen gefangen zu nehmen und dann den Silberdrachen, Bellacrux und deren menschliche Bundesgenossen zu vernichten.
Allie saß, die Arme vor der Brust verschränkt, auf dem großen grünen Drachen, der einstmals die Lennix-Oberste gewesen war. Bellacrux segelte in einem warmen Aufwind hoch über der größten der Blauen Inseln und ihr ausgeglichener Gemütszustand wurde durch Allies stürmische Gedanken durcheinandergewirbelt.
Irgendwann nehme ich Joss an die Leine – wenn die Raptoren ihm noch nicht den Hals umgedreht haben! Dann binde ich ihn an einen Baum und Lysander gleich dazu! Ich werde …
Beruhige dich, kleine Kriegerin, seufzte Bellacrux zum hundertsten Mal. Sie sind eben ungestüm, wie alle Jungen.
Ich bin auch jung, aber ich bin nicht ungestüm.
Das bist du tatsächlich nicht, meine Genossin. Aber die Umstände haben dich auch dazu gezwungen, schnell erwachsen zu werden.
Allie fühlte sich nicht sehr erwachsen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich irgendeine Erwachsene so sehr fürchten konnte wie sie in diesem Moment. Mit wachem Blick suchte sie jeden Zentimeter des Horizonts ab, und der Schweiß, der ihr dabei den Hals hinabrann, stammte nicht nur von der heißen Sonne.
Joss war nun seit über einer Stunde verschwunden, ohne auch nur Bescheid zu sagen, wohin er gehen wollte oder warum, sodass Allie nur hoffen konnte, dass sie entgegen aller Wahrscheinlichkeit nicht von Raptoren geschnappt worden waren. Sie hatte Bellacrux dazu veranlasst, das Zwiegespräch mit Ash zu unterbrechen, um sich mit ihr zusammen auf die Suche zu machen, aber ohne zu wissen, in welche Richtung Joss und Lysander geflogen waren, konnten sie nicht viel mehr tun, als hilflos über den Inseln zu kreisen.
Er hat Sirin mitgenommen, sagte Allie zu ihrer Bundesgenossin.
Allie wusste nicht recht, was sie von Sirin halten sollte. Joss hatte sich sofort mit ihr angefreundet, aber Allie befürchtete, das Mädchen könnte nicht hart genug sein, um in einer Welt voller gefährlicher Drachen zu überleben. Auf den ersten Blick war sie zwar ziemlich nett, aber nett zu sein, half einem nicht viel gegen eine Horde ausgehungerter Raptoren. Allie hatte immer noch blaue Flecken und Schmerzen von ihrer letzten Begegnung, und jetzt rieb sie über die versengten Haarspitzen, wo ein Schwall Drachenfeuer sie erst vor ein paar Tagen fast geröstet hatte. Sie musterte jede Wolke, die über sie hinwegzog, fürchtete sich, dass Raptoren jeden Augenblick fauchend und beißend aus ihnen hervorquellen würden.
Hast du heute irgendwelche Fortschritte mit Ash gemacht?, fragte sie in einem Versuch, sich abzulenken.
Bellacrux knirschte mit den Zähnen und eine Rauchwolke stieg kräuselnd von ihren Lippen auf. Er ist so standfest wie ein Berg! Er könnte uns dabei helfen, das Blatt zuungunsten unserer Feinde zu wenden, wenn er einfach nur mit dem rausrücken würde, was er über die Waffe weiß.
Was hat er dir denn darüber erzählt?
Nur dass, als er noch ein Jungdrache war, die Ältesten der Blauen etwas von einer verlorenen Waffe raunten, einer starken Macht, die sie verwenden wollten, um der Bedrohung durch die Raptoren ein Ende zu bereiten. Es war dieselbe Waffe, die einstmals benutzt worden war, um die Raptoren in den Verlorenen Landen zu besiegen, aber sie wurde zurückgelassen, als meine Art aus jener Welt vertrieben wurde, und die Blauen hatten ohnehin keine Hoffnung, sie ohne einen Silbernen zu finden, der sie zurückbringen konnte. Als sie dann starben, nahmen sie das ganze Wissen über die Waffe mit ins Grab. Nur Ash ist noch alt genug, um zu wissen, um was es sich bei der Waffe handelte, doch der betonköpfige Narr weigert sich, es mir zu verraten.
Allie seufzte. Zunächst war sie begeistert gewesen, als Bellacrux ihr am Tag, nachdem sie den Lennix entkommen waren und Sirin in den Verlorenen Landen aufgelesen hatten, von ihrem Plan erzählt hatte, diese geheimnisvolle Waffe wiederzufinden. Aber ihre Hoffnung hatte sich mit jedem Tag, den Ash sich geweigert hatte, irgendetwas preiszugeben, allmählich in Luft aufgelöst. Sie wusste zwar, was Ash Sorgen machte und seine Lippen versiegelte: Jede Waffe, die ihnen helfen konnte, konnte ebenso den Lennix nutzen, falls sie sie zuerst in die Finger bekamen. Er hielt es für sicherer, dass sie für immer verloren blieb. Doch für Allie schien es ein kalkulierbares Risiko zu sein.
Da! Bellacrux änderte mit einem gewaltigen Flügelschlag ihre Position in der Luft und wandte sich ostwärts. In der Ferne entdeckte Allie etwas, was wie eine silberne Reflexion auf der Meeresoberfläche aussah, bis der Glanz sich davon löste und zu einem dunklen Fleck am Himmel wurde. Nur ein Drache glänzte so. Allies Körper entkrampfte sich erst vor Erleichterung – und verhärtete sich dann aus Wut wieder.
Sie hielt die Flamme ihrer Wut über die Viertelstunde hinweg am Brennen, die Lysander und Sammi noch bis zu den Inseln brauchten. Joss und Sirin saßen auf dem Rücken des Silberdrachen.
Noch bevor alle Drachen auf dem Strand gelandet waren, begann sie schon zu brüllen.
»Blödmann!«, rief sie. »Blödmann, Blödmann, Blödmann! Du schwachköpfiger, hirnloser Vollidiot!«
Joss schielte ängstlich zu ihr hinüber, während er von Lysander hinunterrutschte. Sirin landete neben ihm. Sie war blass und mied Allies Blick. Bellacrux starrte Lysander an, bis die Flügel des Silbernen erschlafften und er unterwürfig das Haupt neigte.
»Was ist hier eigentlich los?«, fragte Allie. »Vermisst du es, ein Lennix zu sein, geht es darum? Möchtest du gern zu ihnen zurück?«
»W-was?«, stotterte Joss.
»Vermisst du die schicken Klamotten oder die glänzende Uhr? Vermisst du es, herumzustolzieren und den Leuten Befehle zu erteilen?«
Joss sah sie finster an. »Lysander hat etwas Seltsames gewittert, Allie. Wir mussten es nachprüfen, bevor er die Spur verloren hätte. Wir hatten keine Zeit, dir Bescheid zu sagen.«
Allies Magen zog sich zusammen und sie blickte reflexhaft zum Himmel hinauf. »Also bist du einfach auf eigene Faust losgezogen? Joss!«
»Er war nicht allein«, merkte Sirin an. »Ich war bei ihm.«
»Nichts für ungut, Sirin«, entgegnete Allie, »aber du weißt nichts über diese Welt oder uns oder die Lennix. Ihr hättet beide draufgehen können.«
»Hey!«, protestierte Joss. »Es reicht! Wir brauchen nicht für alles deine Erlaubnis. Du bist nicht unsere Mutter, Allie.«
»Ja«, sagte Sirin in einem harten Ton. »Du bist nicht meine Mutter.«
Vielleicht war sie niemandes Mutter, aber Allie hatte eine Aufgabe, und zwar eine einzige: dafür zu sorgen, dass Joss in Sicherheit war. Das hätten ihre Eltern von ihr erwartet und sie wollte sie nicht enttäuschen. Nicht schon wieder. Sie hatte den Mund gehalten, als Joss der geheimnisvollen Fremden vertraut hatte, die sich als Demara Lennix entpuppt hatte. So einen Fehler konnte sie sich kein zweites Mal erlauben.
»Und, was habt ihr entdeckt?«, fragte Allie.
»Einen Raptor, einen Kundschafter«, erwiderte er. »Und bevor du nachfragst, nein, er hat uns nicht gesehen.«
Doch Allie bekam eine Gänsehaut. »Woher weißt du das? Wenn du ihn sehen konntest, konnte er dich vielleicht auch sehen! Sämtliche Raptoren des gesamten Horstes könnten in diesem Moment auf dem Weg zu uns sein!«
Joss wirkte ein wenig verunsichert. »Nun … wir sind aber einen ganzen Tagesflug von der Lennix-Festung entfernt. Selbst wenn er uns gesehen hat, hat der Kundschafter bis jetzt nicht mal den halben Weg dorthin zurückgelegt.«
Das ist schlecht, sehr schlecht, teilte Bellacrux Allie mit. Sie schnupperte und nickte in Richtung Westen, wo sich inzwischen dunkle Wolken auftürmten. Heute Nacht gibt es einen Sturm. Bei solchen Böen können sie nicht übers offene Wasser fliegen, aber wir können das auch nicht.
Allie gab Bellacrux’ Worte an die anderen weiter und fügte dann noch hinzu: »Also brechen wir auf, sobald der Sturm sich wieder gelegt hat. Das ist dann unsere letzte Nacht auf den Blauen Inseln und unseretwegen könnte der gesamte Clan jetzt in Gefahr schweben.«
Joss nickte und wirkte wie benommen und ein wenig beschämt.
»Du darfst nie mehr einfach so losfliegen«, sagte Allie in einem leisen und schrecklichen Ton zu ihrem Bruder. Sie wusste es nicht, aber dabei klang sie ein bisschen wie Bellacrux selbst, wenn die Oberste in ihrer gefährlichsten Stimmung war. »Bitte, Joss, versprich mir das.«
»Ich verspreche es«, erwiderte ihr Bruder kleinlaut. »Ich wollte niemanden in Gefahr bringen. Aber ich bin mir sicher, er hat uns nicht gesehen.«
»Nun, wir müssen trotzdem davon ausgehen, dass er es getan hat.« Allie wusste, wie harsch sie klang, aber sie musste Joss verständlich machen, wie groß die Gefahr war, in der sie nun schwebten. Erinnerte er sich denn nicht an die erbitterte Schlacht, die sie ausgefochten hatten? Hatte er nicht selbst gesehen, wie der Drache Herlenna vom Himmel gefallen war und der desertierte Raptor Timoleon Feuer gefangen hatte? Im Traum sah Allie noch immer diese furchtbare Nacht vor sich und schreckte oft mit dem Gefühl hoch, dass ihr gesamter Körper von Raptorenfeuer eingehüllt wäre.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Joss und wirkte dabei gründlich eingeschüchtert. Er ließ den Kopf hängen wie ein Jungdrache, der sich eine Standpauke von einem älteren eingefangen hatte.
»Ich …« Allie hatte keine Ahnung. Wo konnten sie sich sonst verstecken? Nicht einmal Bellacrux kannte das Versteck der Roten tief in ihren Berghöhlen. Die Gelben waren sehr weit weg in den Sandwüsten und hätten sie wohl ohnehin nicht aufgenommen, solange ihnen Raptoren auf den Fersen waren.
»In den Verlorenen Landen?«, dachte Allie laut nach. »Schließlich haben wir doch Lysander. Was hält uns davon ab, einfach zu gehen? Wir könnten uns dort für immer verstecken, und solange sie keinen anderen Silbernen finden, können uns die Raptoren nicht folgen. Dort wären wir sicher.«
Alle sahen zu Sirin, die mit den Schultern zuckte. »Es gibt auf der Erde ziemlich viele Orte, an denen sich drei Drachen verstecken könnten. Es wäre zwar nicht einfach, aber möglich.«
Joss und Lysander tauschten einen Blick miteinander, dann sagte Joss: »Na ja … okay. Aber das würde bedeuten …«
Er musste den Satz nicht beenden, damit Allie wusste, was er meinte.
Es würde bedeuten, dass sie alle anderen guten und aufrichtigen Drachen dieser Welt im Stich ließen. Ash, die freien Clans, die frisch geschlüpften Drachenjungen, die in der Bucht planschten, ganz zu schweigen von den Menschen, die hier lebten … Sie würden sie den Raptoren ausliefern.
»Wir könnten unser eigenes Leben retten«, flüsterte Allie. »Wir könnten sofort aufbrechen, in dieser Minute.«
Darauf folgte ein langes Schweigen und Allie konnte sehen, wie die anderen darüber nachdachten. Der Gedanke an echte Sicherheit war verlockend. Aber sie sah auch, wie Joss zusammenzuckte, wie Lysander seufzte, wie selbst Sirin, die immer noch so wenig über alles wusste, unbehaglich dreinblickte.
Bellacrux sah Allie ruhig an und schwieg. Sie wartete darauf, dass sie sich entschied.
Allie sah zu ihrer Bundesgenossin zurück. »Wir müssen wohl eine Entscheidung treffen. Fliehen und unsere eigene Haut retten …«
»… oder bleiben und versuchen, alle zu retten«, beendete Joss ihren Satz. »Die guten Drachen und die Menschen in dieser Welt, sie verdienen es nicht, in Raptorenfeuer zu verbrennen, Allie. Vielleicht könnten wir weglaufen, uns ewig verstecken und überleben. Aber ich glaube nicht, dass wir dann noch mit uns leben könnten. Oder?«
Lysander schnaubte zustimmend, er stand auf Joss’ Seite.
Allie warf Bellacrux einen Blick zu, als ihre Bundesgenossin ihr mitteilte: Diesmal spricht der Junge weise Worte.
»Sirin?«, fragte Joss. »Was denkst du?«
Sirin blinzelte, als wäre sie überrascht, dass sie überhaupt eine Stimme hatte. »Ich will nicht, dass noch weiteren kleinen Drachen wie Sammi Schaden zugefügt wird. Ich bin dabei.«
»Bei was genau denn?«, fragte Allie, die offenbar als Einzige noch unentschlossen war. Es war wirklich, wirklich schwer, die Idee aufzugeben, sich in den Verlorenen Landen zu verkriechen und sich niemals wieder vor der Hitze des Raptorenfeuers fürchten zu müssen. »Wie lautet unser Plan? Was können wir denn überhaupt gegen die Übermacht der Raptoren ausrichten? Ich meine, lasst uns das doch mal ganz praktisch betrachten. Wir könnten doch damit beginnen, die anderen Drachen in die Verlorenen Lande und dadurch in Sicherheit zu bringen, aber wir bräuchten Monate, um sie alle zu finden, und die Lennix würden uns zweifellos aufspüren, bevor wir damit fertig wären. Wie halten wir sie also so lange auf?«
Es gibt nur einen Weg, ertönte Bellacrux’ Stimme in Allies Kopf. Fragend blickte diese zu ihrer Bundesgenossin und sah, wie sie eindringlich zu ihr zurückstarrte. Es ist der Grund, warum wir überhaupt auf die Blauen Inseln gekommen sind.
Aber Ash hat doch ziemlich deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er nichts verraten will, rief Allie ihrer Bundesgenossin ins Gedächtnis. Was auch immer er über die verschollene Waffe weiß, er wird es uns nicht verraten.
Das war, bevor die Lennix-Kundschafter eine Flugstunde von seiner Insel entdeckt worden sind. Egal ob sie Lysander nun entdeckt haben oder nicht, es bedeutet, dass sich die Raptoren dem Versteck der Blauen nähern.
Allie rieb erneut ihre verkohlten Haarspitzen zwischen den Fingern. Du glaubst, das bringt ihn dazu, seine Meinung zu ändern?
Ich denke, es ist wenigstens einen letzten Versuch wert, entgegnete Bellacrux.
Allie biss sich auf die Lippe und dachte nach. Und diese Waffe, bist du sicher, dass es sie auch wirklich gibt und dass sie die Raptoren aufhalten kann?
Ich weiß jedenfalls, würde es sie nicht geben, würde es Ash nicht so sehr widerstreben, von ihr zu sprechen. Wenn sie tatsächlich die Macht hatte, die Verlorenen Lande zu beschützen und die Raptoren einmal aus ihnen zu verbannen, dann kann sie es auch noch ein zweites Mal hier tun.
Während Allie ihr privates Zwiegespräch mit Bellacrux für die anderen zusammenfasste, blickte die große Grüne ins endlose Blau des Himmels über ihr; am östlichen Horizont breiteten sich die Wolken wie ein wütender dunkler Fleck aus. Der Sturm, den sie vorausgesagt hatte, war unterwegs.
Wir müssen alle zustimmen, erklärte Bellacrux Allie. Ein uneiniges Geschwader verhungert bald, aber ein einiges Geschwader jagt erfolgreich.
Allie legte ihrer Bundesgenossin die Hand auf die Schulter. »Darauf läuft es nun also hinaus. Wir müssen als Team eine Entscheidung treffen. Entweder fliehen wir in die Verlorenen Lande und kehren nie mehr zurück oder wir überzeugen Ash, uns zu erzählen, wie wir die Waffe finden können, die die Raptoren ein für alle Mal stoppt und diese Welt genauso retten wird, wie sie einst die Verlorenen Lande gerettet hat.«
Sie ließ ihnen kurz Bedenkzeit.
»Alle, die dafür sind, in die Verlorenen Lande zu gehen, heben die Hand. Oder, ähm, die Kralle.«
Niemand rührte sich. Ein leichter Wind strich über den Strand, sodass überall um sie herum weißer Sand aufgewirbelt wurde. In der Bucht planschten und quiekten die Jungdrachen, die den Sturm, der sich in der Ferne zusammenbraute, noch nicht bemerkt hatten.