Slow Dating Ahoi! - Alexa Hirth - E-Book

Slow Dating Ahoi! E-Book

Alexa Hirth

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Beschreibung

Kontrolle ist für Tina Ternes, Chefin der erfolgreichen Dating-Agentur Slow Happy, das Wichtigste. Kontrolle über ihren Körper, ihre Arbeit, ihre Finanzen - und ihr Herz. Doch beim Slow Dating-Workshop an Bord des Kreuzfahrtschiffs Bella Luna gerät ihr geordnetes Leben gehörig durcheinander. Gerade hat ihr Valentine's, der Platzhirsch unter den Partnervermittlungen, ein millionenschweres Angebot für ihr Start-up gemacht. Und ihr verheirateter Liebhaber feiert den vierzigsten Geburtstag seiner Frau ausgerechnet auf der Bella Luna. Weil das noch nicht reicht, um sie völlig aus dem Gleichgewicht zu bringen, tanzt sie gleich am ersten Abend den Tango ihres Lebens - mit einem Mann, der eine Frau ist, die ein Mann ist. Manche mögen's eben heiß! "Slow Dating Ahoi!" ist der zweite Roman von Alexa Hirth und Teil einer Miniserie. Sowohl "Slow Dating", im Februar 2017 erschienen, mit der Heldin Sandra Wegener, als auch "Slow Dating Ahoi!" mit der Agenturchefin Tina Ternes als Hauptfigur, sind in sich abgeschlossen. Die Romane beziehen sich zwar in wenigen Details aufeinander, können aber auch völlig unabhängig voneinander gelesen werden.

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Slow Dating Ahoi!

Über dieses BuchInhalt1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. KapitelEpilogLiebe Leser*innenDie AutorinImpressum

Über dieses Buch

Slow Dating Ahoi! ist der zweite Roman von Alexa Hirth und Teil einer Miniserie. Sowohl Slow Dating, im Februar 2017 erschienen, mit der Heldin Sandra Wegener, als auch Slow Dating Ahoi! mit der Agenturchefin Tina Ternes als Hauptfigur, sind in sich abgeschlossen. Die Romane beziehen sich zwar in wenigen Details aufeinander, können aber auch völlig unabhängig voneinander gelesen werden.

Inhalt

Kontrolle ist für Tina Ternes, Chefin der erfolgreichen Dating-Agentur Slow Happy, das Wichtigste. Kontrolle über ihren Körper, ihre Arbeit, ihre Finanzen – und ihr Herz. Doch beim Slow Dating-Workshop an Bord des Kreuzfahrtschiffs Bella Luna gerät ihr geordnetes Leben gehörig durcheinander. Gerade hat ihr Valentine's, der Platzhirsch unter den Partnervermittlungen, ein millionenschweres Angebot für ihr Start-up gemacht. Und ihr verheirateter Liebhaber feiert den Geburtstag seiner Frau ausgerechnet auf der Bella Luna. Weil das noch nicht reicht, um sie völlig aus dem Gleichgewicht zu bringen, tanzt sie gleich am ersten Abend den Tango ihres Lebens – mit einem Mann, der eine Frau ist, die ein Mann ist. Manche mögen’s eben heiß!

1. Kapitel

Kontrolle.

            Kontrolle war das Wichtigste.

            Tina Ternes stand in ihrem großen Schlafzimmer an der Ballettstange, die sie hatte einbauen lassen, absolvierte ihre morgendlichen Übungen, und kontrollierte jede ihrer Bewegungen in dem verspiegelten, fünftürigen Kleiderschrank gegenüber. Sie machte eine gute Figur dabei, was nicht nur daran lag, dass sie Balletttraining seit ihrem vierten Lebensjahr gewohnt war. Mit vierunddreißig veränderte sich der Körper, aber Tina achtete auf ihre Ernährung, joggte zusätzlich zu ihrem Tanztraining zwei Mal die Woche, sorgte für ausreichenden Schlaf, und wenn sie mit ihrem Leben heute nicht hundertprozentig zufrieden war, lag das an Marcus Witt und daran, dass er sie gestern zum zweiten Mal innerhalb von drei Wochen versetzt hatte.

          Während Tina ihr linkes Bein, geführt von ihrer Hand, zum senkrechten Spagat streckte, schaute sie aus dem riesigen Fenster auf das faszinierende Panorama der Hamburger Hafencity. Die Elbe schimmerte im gleißenden Morgenlicht des frühen Julitags, Schwimmkräne und Containerschiffe lagen an den Kais, und Tina dachte mit einer gewissen Vorfreude, aber auch ein wenig Unruhe an das Kreuzfahrtschiff Bella Luna, das morgen im Laufe des Vormittags elbabwärts festmachen würde. Es würde die Gäste, die vier Tage auf der Nordsee unterwegs gewesen waren, entlassen, und am gleichen Tag noch neue, erlebnishungrige Touristen an Bord nehmen. Und zwölf dieser neuen Gäste hatten über Tinas Partneragentur Slow Happy ein Slow Dating-Seminar gebucht. Obwohl Tina mittlerweile eine große Routine besaß, was diese Workshops betraf, war sie heute leicht nervös. Normalerweise fanden die Events in luxuriösen Hotels statt und dauerten zweieinhalb Tage. Doch diesmal handelte es sich um eine besondere Veranstaltung. Der 999. Teilnehmer würde begrüßt werden, und die Zeitschrift My Dream wollte Stoff für das aktuelle Dating-Special, das in der Novemberausgabe erscheinen sollte. Die Kreuzfahrt war eine Idee der Redaktion gewesen, und die Journalistin Sandra Wegener würde wieder dabei sein, nicht undercover wie vor zwei Jahren in Nordeby, sondern ganz offen. Und die Kreuzfahrt dauerte nicht zweieinhalb, sondern vier Tage – Freitag bis Montag. Eine lange Zeit, für die die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ein überzeugendes Konzept erwarten konnten. Schließlich ließen sie sich das Ganze ja eine Menge kosten, in der Hoffnung, den Partner oder die Partnerin fürs Leben zu finden.

            Tina seufzte, ließ ihr linkes Bein graziös sinken, bis sie wieder auf zwei Füßen stand, drehte sich um und streckte das rechte Bein, bis die Fußspitze senkrecht zur Zimmerdecke zeigte.

            Da klingelte es an ihrer Wohnungstür.

            Jetzt? Um sechs Uhr morgens?

            Sie schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich hatte sie sich verhört.

            Es klingelte erneut, diesmal nachdrücklich.

            Langsam löste sie sich aus ihrer Pose, blieb aber, wo sie war.

            Klingeln. Zwei, drei, vier Mal hintereinander.

         Ihr Herz begann zu klopfen. Sie wohnte noch nicht lange hier, erst ein halbes Jahr. Wer in aller Welt klingelte morgens um diese Uhrzeit bei ihr Sturm? Vorsichtig und leise ging sie barfuß zur Tür und schaute durch den Spion.

            Rosen. Viele Rosen. Dunkelrote Rosen.

            Ihr Herz klopfte noch wilder, aber jetzt nicht mehr aus Furcht.

            Marcus!

            Lächelnd schloss sie die Tür auf, löste den Hightech-Riegel, und öffnete. Hinter dem riesigen Strauß roter Rosen erschien das Gesicht eines bärtigen jungen Mannes, der durchdringend nach Zigarettenrauch roch.

            Tinas Lächeln erstarb.

            Nicht Marcus.

            „Ja, bitte?“, fragte sie eisig.

            „Ich soll das hier abgeben“, erwiderte der Mann. „Schönen Tach auch.“ Damit drückte er ihr die Blumen in die Hand, drehte sich um und nahm nicht den Lift, sondern rannte die Treppe hinunter.

            Einen Moment stand Tina nur da und schaute ihm hinterher. Dann, mit den Rosen im Arm, schloss sie die Tür, ging zum Tresen der offenen, chromglänzenden Küche, die völlig unbenutzt wirkte, nahm das Kuvert, das oben zwischen den dunkelroten Blüten steckte, und legte den Strauß ab.

            Ärgerlich, weil ihre Finger zitterten, riss sie den elegant getönten Umschlag auf, holte die Karte heraus, und starrte sekundenlang blicklos auf die runde, große Frauenschrift in blauer Kugelschreibertinte. Dann gelang es ihr, den Text zu fokussieren. Er lautete: Bitte verzeih mir. Ich liebe Dich. Marcus.

            Einen Moment zögerte sie, dann riss sie die Karte mechanisch zwei Mal durch, so dass vier akkurate Schnipsel entstanden. Er hatte sich noch nicht einmal die Mühe gemacht, selbst zu schreiben, sondern hatte der Verkäuferin im Blumenladen diktiert, was er zu sagen hatte. Er hatte da angerufen, vierundzwanzig rote Rosen bestellt, und einer wildfremden Frau gesagt, sie solle Bitte verzeih mir. Ich liebe dich. Marcus auf die Karte schreiben. Wenn sie nicht so wütend gewesen wäre, hätte Tina am liebsten laut aufgelacht.

            Auf bloßen Füßen tappte sie hinüber zum großen Wohnbereich, von dessen Fenster aus man den Hamburger Michel und Teile der denkmalgeschützten Speicherstadt sehen konnte. Dort, auf dem Couchtisch, standen in einer hohen Glasvase vierundzwanzig ziemlich verblühte Rosen in grünlichem Restwasser. Tina packte die Vase, warf die verwelkten Rosen in den verchromten Riesenmülleimer in der Küche, goss das modrige Wasser weg, füllte frisches Wasser in die Vase, und wollte die neuen Rosen hineinstellen. „Ach, verflixt“, sagte sie und stopfte die frischen Rosen dem alten Strauß hinterher. „So“, konstatierte sie energisch, als der schwere Deckel des Mülleimers zufiel, und ging duschen.

            Wenig später, als sie sich die Zähne putzte, studierte sie aufmerksam ihr Gesicht im Spiegel. Ihre blauen Augen unter den dunklen Brauen schienen heute noch größer als gewohnt, ihr ovales Gesicht schmaler. Sie dachte an die Rosen im Mülleimer. Schade drum. Trotzdem machte es sie immer noch sauer, dass Marcus nicht selbst gekommen war. Oder nicht wenigstens selbst geschrieben hatte. Zum ersten Mal wünschte sie, sie hätte sich nicht darauf eingelassen, mit Marcus auf elektronische Kommunikation per SMS, WhatsApp oder E-Mail zu verzichten. „Wie schnell klickt man auf Senden, und die Nachricht erreicht eine Person, die gar nicht gemeint ist“, hatte er gleich zu Beginn ihrer Beziehung gesagt. Und mit der „Person“, die vielleicht fälschlicherweise eine Nachricht von ihm erhalten könnte, meinte er seine Frau. „Wir telefonieren“, hatte er gesagt. „Das ist viel direkter. Ich möchte deine Stimme hören, dein Lachen.“

            Marcus rief tatsächlich so oft an, dass Tina nichts vermisst hatte. Und sie vertrat die Überzeugung, dass sie ihr Leben mit einem verheirateten Liebhaber viel besser unter Kontrolle haben konnte, als mit einem Partner, der Ansprüche an ihre Zeit und ihre Gefühle stellte, die sie vielleicht gar nicht erfüllen wollte. Sie blieb frei und hatte trotzdem Sex. Eigentlich perfekt. Sie sahen sich regelmäßig, und es war immer aufregend und schön. Aber dieser blaue Kugelschreiber und diese runde, biedere Frauenschrift machten die Worte Verzeih mir. Ich liebe dich, zu einer Farce. Sie erwartete eine Erklärung, und zwar persönlich.

            Die Digitaluhr auf dem Badregal piepte. Drei Minuten Zähneputzen waren um. Tina spülte den Mund aus, trocknete ihr Gesicht ab und begann, sich einzucremen. Neulich hatte Marcus’ Flug vier Stunden Verspätung gehabt. Noch vom Flughafen aus hatte er nachts angerufen und sich dafür entschuldigt, dass sie in ihrem Lieblingsrestaurant vergeblich auf ihn gewartet hatte. Die Rosen kamen am nächsten Morgen ins Büro. Was diesmal der Grund dafür war, dass er sie mit zwei Tickets vor der Staatsoper hatte stehen lassen, wo sie zusammen Puccinis La Bohème anschauen wollten, würde sie wohl hoffentlich bald erfahren. Wenn er Zeit genug hatte, Rosen zu ordern und einen Text für eine Karte zu diktieren, konnte er schließlich auch anrufen. Denn Marcus wusste genau, dass sie jeden Morgen um halb sechs auf den Beinen war.

            Tina schüttelte ihr feuchtes Haar und ging ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Schwarze Spitzenunterwäsche, schwarze, halterlose Strümpfe, einen schwarzen Bleistiftrock, dazu ein schwarzes, ärmelloses Top aus Seidenstrick mit Stehkragen. Schwarz war heute definitiv ihre Wahl. Auf Strümpfen ging sie zur Spiegelkommode, nahm den Föhn, der dort lag, und trocknete ihr dunkelbraunes Haar, bis es in weichem Schwung bis auf ihre Schultern fiel. Ein prüfender Blick in den Spiegel und in ihre blauen Augen, die heute eher skeptisch als unternehmungslustig blickten, brachte sie dazu, ihr Haar straff nach hinten zu bürsten, einen Ballerinaknoten zu zwirbeln und ihn festzustecken. Um die Strenge etwas aufzulockern, wählte sie Perlenohrringe, doch als sie den zweiten Ohrring befestigte, entdeckte sie im Spiegel etwas und rief erschrocken: „Nein!“

            Tina beugte sich vor und inspizierte ihren Haaransatz. „Das ist nicht wahr“, murmelte sie, schaute weg und wieder hin. Mit demselben Ergebnis. Da war etwas, das da nicht hingehörte. Ein graues Haar. Das allererste. Mit vierunddreißig! Ein Friseurtermin war definitiv fällig. Denn vielleicht war dieses eine graue Haar ein Einzelfall auf ihrem Kopf. Vielleicht aber auch nicht! „Daran bist nur du schuld, Marcus Witt“, sagte sie laut. „Du und sonst keiner!“

            Es klingelte.

            Nicht schon wieder. Tina beschloss, es diesmal zu ignorieren. Außerdem war sie auf dem Weg ins Büro. Sollte DHL oder UPS oder Hermes oder wie diese Dienste auch immer hießen, das Paket doch bei irgendjemand anderem abgeben.

            Es klingelte erneut.

            „Lasst mich doch alle in Ruhe“, rief sie und schlüpfte in schwarze, hochhackige Pumps mit angedeutetem Plateau.

            Es klingelte ohne abzusetzen.

            Tina stürmte entnervt zur Wohnungstür und riss sie auf. „Ich bin nicht da, kapieren Sie das doch endlich!“

            „Aber ich bin da, und ich liebe dich“, sagte der Mann, der lächelnd vor ihr stand.

            „M...Marcus“, stammelte Tina verblüfft.

            Er betrat den Flur, schloss die Tür, nahm Tina in die Arme und küsste sie ohne Umschweife.

            Als sie sich voneinander lösten, flüsterte sie: „Ich muss ins Büro.“

            Marcus verteilte kleine Küsse auf ihrem Hals. „Später.“

            „Aber ich habe Termine, ich muss ...“

            „Später“, wiederholte er zärtlich und küsste sie erneut.

Zwei Stunden danach setzte er sie in der Rothenbaumchaussee vor dem schlichten weißen Jugendstilgebäude mit den grün gestrichenen Sprossenfenstern ab, in dem sich im Erdgeschoss die Agentur Slow Happy befand.

            „Wir sehen uns Dienstag, wenn du von großer Fahrt zurück bist“, flüsterte Marcus dicht an ihrem Ohr und küsste ihre Wange. „Auf mich wartet ja leider am Wochenende nur die langweilige Geburtstagsüberraschung, die sich meine Schwiegereltern für ihre Tochter zum Vierzigsten ausgedacht haben. Wahrscheinlich ein Landgasthof in der Lüneburger Heide. Gruselig. Ich werde dauernd daran denken, was wir beide miteinander anstellen, wenn ...“

            Tina legte ihm lächelnd einen Finger auf die Lippen. „Pflicht ist Pflicht“, sagte sie.

            „Aber lästig“, erwiderte er. „Und nur Verwandtschaft. Zu viel essen, zu viel trinken, und endlose Gespräche über Themen, die mich nicht im geringsten interessieren ...“

            „Dafür muss ich zwölf liebeshungrige Slow Dater auf einer Kreuzfahrt in den Hafen der Ehe bugsieren“, gab sie zu bedenken. „Hoffentlich werde ich nicht seekrank!“

            „Das hoffe ich auch. Bis Dienstag, meine Schöne.“ Er küsste sie kurz auf den Mund, ehe sie ausstieg. Tina winkte, als Marcus davonfuhr. Er warf ihr, in den Rückspiegel schauend, noch eine Kusshand zu. Beschwingt ging sie zwischen schattigen Kastanienbäumen über den sich zu einem kleinen Platz weitenden Bürgersteig zum Eingang ihres Büros, das ehemals ein Ladengeschäft gewesen war. Sie trug immer noch den schwarzen Bleistiftrock und schwarze High Heels, dazu aber nun ein rotes, ärmelloses Top mit V-Ausschnitt, und ihr Haar war nicht mehr in einem Knoten gebändigt, sondern umrahmte in sanften Wellen ihr schönes Gesicht.

            Eine Angestellte des benachbarten Bistros löste gerade die Ketten von den Stühlen des Straßencafés. Tina grüßte freundlich. „Guten Morgen, Aisha.“

            „Moin“, kam es zurück. „Heute wird es heiß“, bemerkte die junge Frau, die einen pinkfarbenen Hijab trug, der ihre tiefschwarzen, von Kajal umrandeten Augen noch größer wirken ließ.

            „Endlich“, erwiderte Tina. „Es hat ja lange genug geregnet.“

            Ein Blick auf ihre Armbanduhr zeigte ihr, dass es kurz vor neun war. Normalerweise kam sie um Punkt acht ins Büro. Ein Lächeln flog über ihr Gesicht, als sie daran dachte, was der Grund für ihre Verspätung war. Und erst, als der Summer ertönte, weil ihre Assistentin sie durch die Milchglastür bereits erspäht hatte, und sich die Tür mit einem Klicken öffnen ließ, fiel ihr auf, dass Marcus mit keinem Wort erwähnt hatte, weshalb er sie gestern allein vor der Oper hatte stehen lassen. Nun, das ließ sich ja nachholen.

            „Hallo, Maike“, sagte sie, als sie zum Empfangstresen ging, auf dem ein hübscher bunter Blumenstrauß stand.

            Maike Schirmer passte mit ihrem von einem blauen Tuch gebändigten hennaroten Haar, ihrem langen blau-weißen Batikfummel, ihren Birkenstocksandalen und ihren schwarz lackierten Fingernägeln irgendwie überhaupt nicht in das elegante Ambiente, das eine Innenarchitektin im letzten Frühjahr für Slow Happy geschaffen hatte, nachdem sich der Erfolg des neuen Dating-Konzepts auch in barer Münze ausgezahlt hatte. Als Tina die Agentur vor drei Jahren gegründet hatte, war nicht viel Geld da gewesen, daher hatte sie beim Arbeitsamt nach einer Sekretärin gefragt. Und die hatten ihr Maike geschickt. Alleinerziehend, abgebrochenes Studium, seitdem Jobs und immer wieder arbeitslos. Tina hatte zwei Mal geschluckt und dann „erstmal nur auf Probe“ gesagt. „Zwei Wochen.“ Und sie war davon ausgegangen, Maike nach diesen zwei Wochen nie wiederzusehen. Stattdessen hatte sie schon nach wenigen Tagen das Organisationstalent, die Fröhlichkeit und die Geschwindigkeit schätzen gelernt, mit der die Achtundzwanzigjährige ihre Aufgaben erledigte. Allerdings vermied es Tina immer, einen allzu genauen Blick auf Maikes Schreibtisch zu werfen. Denn dort herrschte kreatives Chaos, und Tina wurde beim Anblick der Papierstapel, Post-it-Notes am Computer, angebissenen Mettbrötchen und Kaffeetassen mit unterschiedlicher Füllmenge und in verschiedenen Alterungszuständen immer leicht schwindlig.

            „Morgen, Tina“, sagte Maike etwas undeutlich, da sie gerade auf einem Stück Schokomuffin kaute. Sie wählte aus der Tassensammlung auf ihrem Schreibtisch zielsicher diejenige mit dem frischen Kaffee und trank einen Schluck hinterher. Dann zwinkerte sie Tina zu. „Du siehst gut aus. So ... entspannt.“ Sie grinste breit, und es war klar, dass sie genau Bescheid wusste. Denn wie gewohnt hatte sie die cremefarbene Lamellenjalousie am ehemaligen Schaufenster, hinter dem sich der Empfangsbereich befand, halb aufgezogen, so dass sie genau sehen konnte, was auf der Straße vor sich ging. Dass dadurch auch die Passanten sie bei der Arbeit sehen konnten, störte Maike nicht im Geringsten.

            Weiter hinten war der große, langgestreckte Raum durch eine eingezogene Wand mit Oberlicht und einer Glastür unterteilt. Dahinter, mit Blick in den kleinen Garten, den Maike mit Hingabe pflegte, befand sich der Arbeitsplatz von Katrin Lindner, deren Aufgabe es war, die Anfragen von potenziellen Slow Datern, die per Mail oder Telefon reinkamen, zu beantworten, Infomaterial online oder per Post zu verschicken, und die Buchungen zu bearbeiten. Ihr gegenüber war der Schreibtisch von Yvonne Schuchardt, der Buchhalterin, die zwei Mal pro Woche kam und sich um die Finanzen von Slow Happy kümmerte.

            Tina begrüßte Katrin und ging dann zu ihrem eigenen Arbeitsplatz. Sie teilte sich den vorderen Raum mit Maike. Während Tina ihre Handtasche in der Schreibtischschublade verstaute und den Computer anschaltete, hatte Maike sich mit einem Stapel Bewerbungsmappen, ein paar Zetteln und einem Stift bewaffnet, und sich auf einen der beiden schicken Ledersessel vor Tinas Schreibtisch gesetzt.

            „Bist du schon aufnahmefähig, oder möchtest du erst einen Tee?“, fragte Maike.

            Tina schüttelte den Kopf. „Danke, keinen Tee. Leg los. Was haben wir heute?“

            „Einiges. Die Seminare in dem Schlosshotel bei Bamberg und auf dieser Burg am Rhein, deren Namen ich mir nie merken kann, sind jetzt ausgebucht.“

            „Oberwesel“, sagte Tina. „Burg Oberwesel.“

            „Okay, Burg Oberwasauchimmer“, erwiderte Maike grinsend. „Ein Veranstalter von Donaukreuzfahrten hat angefragt, ob wir auf einem seiner Schiffe ein Slow Dating-Seminar durchführen möchten. Sie wollen ein gutes Angebot mit Sonderkonditionen schicken.“

            „Lustig.“ Tina gab am Computer ihr Passwort ein und wandte ihre Aufmerksamkeit dann wieder ihrer Assistentin zu. „Jetzt bekommen wir schon Angebote direkt von den Veranstaltungsorten, statt dass wir uns selbst bemühen müssen.“

            „Slow Dating ist die perfekte Werbung für alle Locations, an denen wir bisher Seminare durchgeführt haben“, bemerkte Maike. „Und Paare, die sich gefunden haben, heiraten dann auch oft an dem Ort, wo sie sich kennengelernt haben. Das war schon in Nordeby so, erinnerst du dich? Anke und Nina. Das erste Paar, das sich aufgrund von Slow Dating getraut hat.“ Sie runzelte die Stirn. „Apropos Nordeby. Wollen Sandra und Jonathan nicht endlich mal heiraten?“

            Tina zuckte die Achseln. „Sieht nicht so aus. Ich treffe Sandra ja morgen auf der Bella Luna. Dann frage ich sie, wenn du willst.“

            Maike lachte. „Ja, unbedingt. Ich würde zu gern mal ein Wochenende an jenem Ort verbringen, an dem alles begonnen hat.“

            „Das klingt, als gäbe es Slow Dating schon eine Ewigkeit“, erwiderte Tina, legte den Kopf in den Nacken, und schaute versonnen ins Leere. „Dabei haben wir erst im Mai vor zwei Jahren richtig losgelegt.“

            „Und jetzt wächst uns die Arbeit über den Kopf, so viel Erfolg haben wir“, ergänzte Maike. „Was mich zum nächsten Punkt gelangen lässt. Du hast ab zehn Uhr im Halbstundentakt Bewerbungsgespräche zur Vorauswahl, und zwar bis zwölf Uhr dreißig.“

            Es stimmte. Slow Dating war derart erfolgreich, dass Tina nach einer Stellvertreterin suchte, die in der Lage sein sollte, die Slow Dating-Workshops selbstständig zu leiten. Die Termine waren mittlerweile derart dicht gedrängt, dass sie es demnächst allein nicht mehr schaffen würde.

            „Meinst du, es ist was dabei?“, fragte sie. „Es hat sich auch ein Mann beworben. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das eine Option für mich wäre.“

            „Er hat ganz gute Referenzen. Und er übersetzt amerikanische Liebesromane ins Deutsche. Scheint also einen Sinn für Romantik zu haben.“

            „Oder einen Schuss“, konterte Tina.

            Maike kicherte und legte die Bewerbungsmappen auf Tinas Schreibtisch. „Du kannst ja noch mal drüberschauen.“

            „Mache ich. Was gibt es noch?“

            „Einen etwas seltsamen Anruf. Heute morgen um zwei Minuten nach acht. Von einem Herrn Ritter. Offenbar Assistent der Geschäftsführung. Die Firma heißt Lorenus AG. Er sagt, sein Chef wäre heute in Hamburg und würde dich gern um halb zwei zum Lunch im Elysee einladen, um dir ein Angebot zu unterbreiten.“

            „Wieso von jetzt auf gleich? So ganz ohne Vorlauf? Was für ein Angebot wollen die mir denn machen?“

            „Das wollte er mir nicht sagen. Der Typ tat furchtbar wichtig und geheimnisvoll.“

            „Lorenus AG“, wiederholte Tina nachdenklich. „Nie gehört.“

            „Ich hab die mal gegoogelt“, sagte Maike. „Es handelt sich um ein Konsortium mit einem riesigen Portfolio. Und jetzt pass auf: Unter anderem gehört denen Valentine’s“.

            „Valentine’s?“ Plötzlich war Tina hellwach. Valentine’s war der Platzhirsch am Markt für Online-Dating. Eine seriöse Partneragentur, die Millionen Kunden hatte. „Vielleicht möchten sie mit uns kooperieren? Das wäre doch toll!“

            „Weiß nicht.“ Maike blickte zweifelnd. „Egal. Heißt das, du möchtest diesen Termin wahrnehmen?“

            „Auf jeden Fall! Wann? Um halb zwei?“

            Ihre Assistentin nickte.

            „Und wo genau im Elysee?“

            „In der Brasserie Flum.“

            Das Grand Hotel Elysee lag ebenfalls in der Rothenbaumchaussee, unten beim Dammtor, und die verschiedenen Restaurants gehörten zu den besten in ganz Hamburg.

            „Meinst du, ich muss mich umziehen?“, fragte Tina.

            „Quatsch. Du siehst immer aus wie aus dem Ei gepellt. Ich glaube, ich hab dich noch nie in Jeans gesehen. Hast du überhaupt welche?“

            „Ja, klar. Das heißt, so genau weiß ich das gar nicht ...“

            „Und wenn, dann Designerjeans mit Swarowski-Applikationen.“

            Tina lachte. „Vermutlich.“ Sie öffnete ihr Mailprogramm. Es war zu dumm. Obwohl sie mit Marcus ja diese Vereinbarung hatte: Keine Mails, keine SMS, keine WhatsApp, erwartete sie jedes Mal, wenn sie ihre Mails checkte, eine Nachricht von ihm. Und war jedes Mal enttäuscht, wenn es keine gab. Sie seufzte. „Okay, Maike. Bewerbungsgespräche bis halb eins, dann Lunch im Elysee. Gab es sonst noch was?“

            „Pampers möchte auf unserer Homepage eine Anzeige schalten“, verkündete Maike grinsend.

            „Pampers?“

            „Wo erfolgreich gedated und geheiratet wird, sind die Babys nicht weit.“

            „Na ja, ich weiß nicht. Unsere Kunden sind wohlhabend und erfolgreich, aber nicht mehr die Allerjüngsten. Zwischen Ende Dreißig und Ende Fünfzig tut sich da nicht mehr so viel.“

            „Wieso? Gerade erfolgreiche Frauen kriegen ihre Kinder immer später. Was sage ich den Pampersleuten also?“

            „Dass wir leider auf unserer Homepage keine Werbung schalten. Es gehört zu unserer Corporate Identity, und das soll auch so bleiben.“

            „Soll ich dir die Summe nennen, die sie zahlen würden?“

            „Und wenn sie mir eine Million bieten. Nein bleibt nein.“

            Maike warf ihr eine Kusshand zu. „Ich liebe dich, Tina. „Sie stand auf, ging zu ihrem Platz am großen Schaufenster, nahm das Telefon und suchte im Display einen Kontakt. Gleich darauf meldete sie sich mit „Agentur Slow Happy, mein Name ist Maike Schirmer. Sie hatten um einen Termin mit Frau Ternes gebeten. ... Ja, genau ... Ich möchte diesen Termin bestätigen. Heute um dreizehn Uhr dreißig in der Brasserie Flum im Elysee. Wie bitte? ... Moment, ich frage.“ Sie wandte sich an Tina. „Möchtest du, dass sie dir einen Wagen schicken?“

            Tina schüttelte den Kopf und tippte sich an die Stirn.

            Maike grinste und sagte ins Telefon: „Nein, das ist nicht nötig. Es ist ja quasi um die Ecke. ... Ja, danke. Auf Wiederhören.“

            Während Tina sich nun noch einmal oberflächlich den Bewerbungsmappen widmete, die sie bereits in den vergangenen Tagen durchgearbeitet hatte, um für die Gespräche vorbereitet zu sein, wanderten ihre Gedanken immer wieder zu Marcus. Warum hatte er sie jetzt schon zum zweiten Mal versetzt? Mehrmals griff sie nach ihrem Smartphone, um ihn anzurufen, doch im letzten Moment legte sie das Telefon wieder beiseite, nagte an ihrer Unterlippe, und versuchte, sich auf die Kandidatinnen und den einen Kandidaten für den Seminarleiterposten zu konzentrieren. Gegenüber flogen Maikes Finger flink über die Tastatur des Computers. Aus dem Nebenraum hörte man ab und zu das Klingeln des Telefons und die Stimme von Katrin Lindner. Gerade als Tina sich entschlossen hatte, Marcus tatsächlich anzurufen, erschien die erste Bewerberin. In den nächsten anderthalb Stunden war sie viel zu sehr damit beschäftigt, herauszufinden, ob eine der Kandidatinnen zu Slow Happy passte, und sie sie ein zweites Mal zu einem längeren Gespräch einladen wollte, um an Marcus zu denken.

            Die Bewerberin, die um halb zwölf dran gewesen wäre, kam allerdings nicht, und Tina erhielt eine willkommene Verschnaufpause.

            „Puh, das war anstrengend“, sagte sie zu Maike, die dabei war, das Silbertablett mit Kaffeetasse, Zuckerdose und Milchkännchen sowie das halb geleerte Wasserglas der letzten Kandidatin abzuräumen. „Jetzt könnte ich einen grünen Tee vertragen.“

            „Ich mach dir einen“, sagte Maike lächelnd.

            „Nein, lass mal, danke. Das schaffe ich gerade noch selbst. Zu lange sitzen macht mich kribbelig.“ Sie stand auf und begleitete Maike in die Pantryküche. Während sie den Wasserkocher anschaltete, bemerkte sie: „Nummer zwei fand ich ganz gut. Was meinst du?“

            Maike nickte. „Dumm ist nur, dass sie erst in drei Monaten anfangen kann wegen der Kündigungsfrist.“

            „Ja, blöd“, stimmte Tina zu und hängte einen Teebeutel in ihre Bürotasse. „In drei Monaten bin ich ein Wrack, wenn das so weitergeht. Wir haben mittlerweile jedes Wochenende einen Workshop und manchmal sogar noch einen in der Woche. Ich hätte nie gedacht, dass es so viele Leute gibt, die ein Heidengeld dafür ausgeben würden, um einen Partner zu finden.“

            „Hast du schon gedacht“, warf Maike ein. „Sonst hättest du Slow Happy ja nicht gegründet.“

            „Klar wollte ich Erfolg haben. In den USA habe ich ja gesehen, dass das Konzept zieht. Aber vor allem wollte ich etwas Eigenes aufbauen. Ich bin einfach nicht der Angestelltentyp. Mir macht es Spaß, ein Risiko einzugehen. Ich trage gern Verantwortung, plane gerne. Etwas aufbauen, nützlich sein. Auf das Geld kommt es mir gar nicht so sehr an.“

            „Das sagt die Frau, die sich gerade ein Luxusapartment in der Hafencity gekauft hat ...“

            „Auf Pump.“ Das Wasser kochte. Tina überbrühte den Tee und trug die Tasse zu ihrem Schreibtisch. „Natürlich möchte ich auch Geld verdienen. Aber dass das Geschäft mit Slow Dating so lukrativ sein würde, hätte ich nicht erwartet.“

            Maike hörte nur mit halbem Ohr zu, denn sie hatte sich gerade wieder auf den Stuhl hinter dem Empfangstresen geschwungen und auf eine Mail geklickt, die gerade eingetroffen war. Sie überfliegend, fragte sie: „Wann gehst du morgen an Bord? Kommst du vorher nochmal ins Büro?“

            Tina schüttelte den Kopf. „Nein. Ich möchte mir das ganze Schiff anschauen, ehe der Ansturm kommt. Bisher kenne ich ja nur das Video. Um halb elf habe ich einem Termin mit dem Cruise Manager. Ab vierzehn Uhr checken die Gäste dann ein. Unsere Slow Dater werden alle bis spätestens halb vier an Bord sein. Um vier Uhr geht es dann mit der Vorstellungsrunde los. Alles ziemlich hektisch, weil um siebzehn Uhr die Seenotrettungsübung stattfindet und es ab sechs Uhr schon Essen gibt. Ich hatte noch gar keine Zeit, mir die einzelnen Profile unserer Kandidaten genauer anzuschauen. Hast du im Kopf, wann genau das Schiff ablegt?“

            „Soweit ich mich erinnere, um einundzwanzig Uhr. Die Unterlagen hast du auf deinem iPad.“

            „Ja, ich weiß. Irgendwie bin ich noch nicht dazu gekommen, mir alles durchzulesen. Es ist ärgerlich, aber ich bin diesmal nicht gut genug vorbereitet.“

            „Ach, nicht schlimm. Du hast mittlerweile so viel Routine, dass es keiner merken wird.“

            „Mich stört viel mehr, dass ich es weiß“, widersprach Tina.

            „Du wirkst tatsächlich ein bisschen nervös“, bemerkte Maike. „Das kenne ich gar nicht an dir. Hast du was?“

            „Nein“, antwortete Tina ein wenig zu schnell. „Alles gut.“

            „Scheint mir nicht so. Sag schon. Was ist los?“

            „Nichts. Wirklich.“

            „Warum glaube ich dir das bloß nicht?“ Maike legte den Kopf schief. „Ist was mit Marcus?“

            Maike konnte man einfach nichts vormachen. „Nein“, wiederholte Tina nicht sehr überzeugend, und als Maike schwieg und wartete, sagte sie schließlich: „Doch. Es ist was mit Marcus. Er hat mich gestern vor der Oper stehen lassen. Heute Morgen um sechs kam ein Kurier mit einem Riesenstrauß roter Rosen. Ich habe sie in den Müll befördert. Eine halbe Stunde später klingelte es Sturm, und Marcus stand vor der Tür.“

            „Verstehe. Hat er sich entschuldigt?“

            „Nicht ... nicht, hm, nicht mit Worten ...“

            „Aha. Typisch männliche Überrumpelungstaktik. Ich mach es dir schön, dann fragst du nicht nach.“

            „Maike!“

            „Ist doch wahr. Oder hast du etwa nachgefragt?“

            „Hab’s vergessen“, gestand Tina.

            „Siehst du? Und jetzt sitzt du die ganze Zeit hier und kaust an deinen Fingernägeln, weil du eine Erklärung haben willst, die du nicht kriegst.“

            „Hör mal!“, protestierte Tina. „Ich kaue nicht an meinen Fingernägeln!“

            „War ja auch nur im übertragenen Sinn gemeint. Ruf ihn an.“

            „Ich weiß nicht ... Wahrscheinlich hat er ein Meeting und geht gar nicht ran.“

            „Egal. Ruf ihn an.“

            „Na gut.“ Tina nahm ihr Smartphone und wollte auf das Display tippen, als es an der Tür klingelte.

            Beide Frauen schauten automatisch zu der durch Milchglasstreifen blickgeschützten Eingangstür, hinter der die Silhouette eines hochgewachsenen Mannes erschienen war.

            „Kandidat Nummer fünf ist zehn Minuten zu früh“, sagte Maike und drückte den Türöffner.

            Ein dunkelblonder, schlanker Mann mit einem kleinen schwarzen Rucksack über der linken Schulter betrat die Agentur und kam zum Empfangstresen. Er lächelte Maike an, und seine weißen, ebenmäßigen Zähne blitzten. „Guten Morgen“, sagte er mit tiefer, wohlklingender Stimme. „Mein Name ist Petros Meyer-Roussi. Ich komme zum Vorstellungsgespräch.“

            Ein Blick in seine braunen Augen genügte, und Maike, die den Mund bereits geöffnet hatte, verstummte und wurde vermutlich das erste Mal in ihrem Leben rot.

2. Kapitel

„Oh, mein Gott. Es tut mir so Leid. Es tut mir ja so Leid“, rief Maike, die gerade das Tablett mit einem Glas Cola über die Hose von Petros Meyer-Roussi gekippt hatte. „Ich weiß nicht, wie das passieren konnte ... Ich hole einen Schwamm. Mit warmem Wasser und Spülmittel kriege ich das wieder hin.“

            Petros saß auf dem Designersessel vor Tinas Schreibtisch, schaute auf seine Hose, schaute hoch zu Maike, sah ihr verzweifeltes Gesicht, und musste grinsen. „Nicht nötig. Ist doch nichts passiert“, beruhigte er sie. „War doch nur Cola. Heißer Kaffee wäre schlimmer gewesen.“

            „Aber jetzt ist Ihre Hose ruiniert“, jammerte sie.

            „Besser ein Fleck auf der Hose als eine Brandblase auf der Haut“, gab er humorvoll zurück.

            Maike schaute anbetend in seine braunen Augen. „Ja, das stimmt“, hauchte sie.

            Tina, die eigentlich gern mit dem Bewerbungsgespräch begonnen hätte, war hin und her gerissen zwischen amüsiertem Beobachterstatus und chefinnenhafter Ungeduld. „Können wir ...“

            „Ich hole einen Föhn“, rief Maike enthusiastisch und wollte davonstürmen.

            „Nein, keinen Föhn“, mischte Tina sich ein. „Bring Herrn Meyer-Roussi eine neue Cola. Ich möchte dann gern anfangen.“

            Maike wirkte nicht so, als sei sie bereit, die Hose des Angebeteten sich selbst zu überlassen, doch ein Blick von Tina brachte sie zur Vernunft. „Ja, sofort“, flüsterte sie und schlich mit hängendem Kopf davon.

            „Es tut mir Leid“, sagte Tina zu Petros, doch der winkte ab.

            „Schon gut“, erwiderte er. „Ich besitze mehr als eine Hose.“

            „Das freut mich“, antwortete Tina und musste lachen. „Schicken Sie uns die Rechnung für die Reinigung.“ Dann sprang sie mitten ins Thema. „Sie sind Lehrer für Deutsch und Englisch, aber Sie haben in Ihrer Vita geschrieben, dass Sie nicht mehr unterrichten. Warum?“

            Petros Meyer-Roussi lehnte sich entspannt zurück. „Ich habe dem Beruf nicht auf immer Lebewohl gesagt. Aber fürs Erste möchte ich noch ein paar andere Dinge ausprobieren. Ich fühle mich mit Dreißig zu jung, um die nächsten fünfunddreißig Jahre einen Lehrplan umzusetzen, den eine schwachsinnige Kultusministerkonferenz erarbeitet hat.“

            „Und deshalb übersetzen Sie Liebesromane aus dem Amerikanischen? Ist das nicht genau so schwachsinnig?“

            „Ziemlich“, gab er zu und lachte dieses ansteckende, jungenhafte Lachen, dem sich Tina nicht entziehen konnte. „Aber es ernährt mich halbwegs, bis ich einen Job gefunden habe, der mich wirklich interessiert. Und es hat mir ermöglicht, freiberuflich zu arbeiten und hier in Hamburg ein neues Leben zu beginnen.“

            „Was heißt das? Ein neues Leben?“

            „Das heißt, ich bin wegen einer Frau nach Hamburg gezogen.“

            Maike war mit einer neuen Cola aus der Küche zurückgekommen und wollte das Glas gerade vor ihn auf den Tisch stellen. Doch bei seinen Worten zuckte sie derart zusammen, dass sie fast erneut ein Desaster angerichtet hätte. Petros fasste wie selbstverständlich nach ihrer Hand und dirigierte sie so, dass das Glas sicher auf dem Schreibtisch landete.

            Danach entriss Maike ihm ihre Hand, als habe sie sich verbrannt, und verdrückte sich hastig hinter ihren Empfangstresen. Dort vertiefte sie sich ganz in die neu eingetroffenen E-Mails.

            Nachdem Petros einen Schluck getrunken hatte, fuhr er fort: „Wobei gezogen nicht ganz das richtige Wort ist, denn ich habe noch keine Wohnung. Zurzeit wohne ich bei meiner Freundin, aber wir möchten nicht sofort zusammenziehen. Daher suche ich etwas Eigenes.“

            Maike hob interessiert den Kopf.

            „Haben Sie, abgesehen von Ihrer Lehrtätigkeit, Erfahrung mit der Leitung von Gruppen?“, wollte Tina wissen.

            „Ich habe in Groß-Gerau, wo ich als Lehrer tätig war, die Volleyballjugendmannschaft des örtlichen Vereins trainiert“, sagte er. „Falls Ihnen das weiterhilft.“

            „Und weshalb bewerben Sie sich nun ausgerechnet als Slow Dating-Coach?“

            Wieder erschien sein ansteckendes Lächeln. „Weil ich heillos romantisch bin, Ihr Konzept überzeugend finde und glaube, dass ich Spaß daran hätte, Menschen zusammenzubringen.“

            „Was an unserem Konzept finden Sie besonders überzeugend?“

            Ohne zu zögern erwiderte er: „Die Rollenspiele. Ehekrach zum Beispiel. Oder im Supermarkt gemeinsam einkaufen. Ich könnte mir vorstellen, dass es da schon bei der Entscheidung, ob man zu Aldi oder in den Bioladen geht, Meinungsverschiedenheiten gibt.“

            Tina lachte. „Das stimmt. Es ist tatsächlich so, dass diese Rollenspiele, die wir am ersten Tag durchführen, für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer oft entscheidend sind. Wer sich dabei gut versteht, auch wenn im Spiel die Fetzen fliegen, füllt am Ende oft den Fragebogen aus. Und manchmal funkt es dann tatsächlich.“

            „Dieser Fragebogen nach Dr. Arthur Aron – ist er wirklich so ein Liebesgarant?“

            „Er ist psychologisch sehr geschickt gebaut. Sie geben, wenn Sie ihn beantworten, viel mehr über sich preis, als Sie denken. Und ich habe gelernt, dass es Vertrauen schafft und sexy ist, wenn man sich dem Anderen gegenüber öffnet, anstatt den üblichen Dating-Kanon abzuarbeiten.“

            „Der da wäre?“, wollte Petros wissen.

            „Ich stelle mich im besten Licht dar“, erklärte Tina. „Erzähle vor allem Dinge, die mich attraktiv, erfolgreich und begehrenswert erscheinen lassen. Und dabei handelt es sich meist um Stereotype. Vieles davon ist schlicht gelogen. Leute, die viel daten, erfinden ein Ich, von dem sie glauben, dass es ankommt. Das reicht für ein erneutes Treffen oder einen One-Night-Stand. Aber nicht für eine echte Beziehung. Meine Kunden sind reife Menschen, die kein Interesse an flüchtigen Bekanntschaften haben. Sie haben meist auch gar keine Zeit zu chatten oder online zu daten. Sie wollen eine echte Chance, ohne großen Zeitaufwand, und sie sind bereit, für ein Slow Dating-Wochenende viel Geld zu bezahlen, weil sie wissen, dass dort diese echten Chancen warten.“

            Petros nickte, schaute aber nachdenklich. „Was ist mit denen, die trotz Slow Dating niemanden finden? Fordern die ihr Geld zurück?“

            Tina lächelte. „Das ist auch schon vorgekommen. Ein oder zwei Mal. Normalerweise ist das Honorar für ein Slow Dating-Seminar etwas, das unsere Kunden aus der viel zitierten Portokasse bezahlen. Und oft höre ich von Teilnehmern, es hätte ihnen viel gebracht, auch wenn sie sich nicht verliebt haben. Manchmal kommt es vor, dass sich zwei Teilnehmer, bei denen es während des Workshops nicht gefunkt hat, später nochmal treffen, und dann klappt es plötzlich. Wir öffnen Türen, und manchmal auch Herzen.“

            „Das haben Sie schön gesagt.“ Petros schaute ihr in die Augen. „Sind Sie romantisch?“

            „Eigentlich nicht. Warum?“

            „Weil dieser Satz sehr romantisch ist. Und weil ich annehme, jemand, der eine Dating-Agentur gründet, müsse einen Sinn für Romantik haben.“

            Tinas Miene wurde kühl. „Ich bin Geschäftsfrau. Romantik kann ich mir nicht leisten.“ Ohne ihm die Gelegenheit zu geben, etwas zu erwidern, forderte sie ihn auf:  „So, Herr Meyer-Roussi, zurück zu Ihnen. Antworten Sie mir ehrlich und rasch, ohne nachzudenken: Waren Sie jemals beim Speed-Dating?“