Slow Dating - Alexa Hirth - E-Book

Slow Dating E-Book

Alexa Hirth

4,5

Beschreibung

Weil ihr neununddreißigster Geburtstag auf einen Freitag, den Dreizehnten fällt und ihr Bett so leer ist wie ihr Kühlschrank und ihr Konto, nützt der Journalistin Sandra Wegener auch ihr Mantra "Das Leben ist schön", nichts mehr. Doch unerwartet erhält sie den Auftrag, für eine Frauenzeitschrift undercover am bundesweit ersten Slow-Dating-Seminar in einem Schlosshotel nahe der dänischen Grenze teilzunehmen. Was sie nicht ahnt: Auch ihr Exmann, der charmante, gutaussehende Illustrator Linus, ist im Auftrag des Magazins dabei. Umgehend beweist ihr Linus, dass er es immer noch mühelos schafft, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Während beim Slow Dating-Rollenspiel "Ehekrach" die Fetzen fliegen und beim gemeinsamen Backen in der Schlossküche zarte Bande geknüpft werden, setzt Linus alles daran, um Sandra zurückzugewinnen. Aber da gibt es auf dem Gutshof, der zum Schloss gehört, auch noch den attraktiven Jonathan Dankwerth und seine Pferde, die mächtigen Schleswiger Kaltblüter. Schon am ersten Tag hat es zwischen Jonathan und Sandra geprickelt - ganz ohne Speed- oder Slow-Dating. Doch Jonathan scheint ein düsteres Geheimnis mit sich herumzutragen ...

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Epilog

1. Kapitel

An ihrem neununddreißigsten Geburtstag saß Sandra Wegener um zehn Uhr morgens am Esstisch ihres winzigen Apartments, schaute auf ihr grotesk verzerrtes Spiegelbild in der silbernen Thermoskanne und sagte: „Das Leben ist schön.“

Nochmal.

„Das Leben ist schön.“

Klang nicht überzeugend. Nochmal.

„Das Leben ist schön.“

Nochmal.

„Das Leben ist schön.“

Nochmal. Nochmal. Nochmal.

Es funktionierte nicht. Wenn das Konto ebenso leer war wie das Bett und der Kühlschrank, half auch positives Denken nichts mehr. Vor allem, wenn dieser Geburtstag auf einen Freitag, den Dreizehnten fiel. In einem Jahr wurde sie vierzig, und dann war das Leben sowieso vorbei …

Sandra nahm einen Schluck aus der nur noch halbvollen Sektflasche, die neben der Thermoskanne auf dem Tisch stand, und verzog das Gesicht. Eklig. Aber sie war fest entschlossen, sich zu betrinken, deshalb setzte sie die Flasche noch einmal an und hätte sich beinah verschluckt, als ihr Handy klingelte.

Sie erwartete keinen Anruf.

Es klingelte weiter.

Sandra war zu deprimiert, um aufzustehen und das Ding zu suchen. Das Klingeln kam aus Richtung des Sofas. Irgendwo dort unter den Kissen musste das Handy vergraben sein.

Irgendwann hörte das Klingeln auf.

Na siehst du, geht doch, dachte sie, und trank noch einen Schluck Sekt. In Sekundenschnelle wurde ihr speiübel. Sekt am Morgen auf nüchternen Magen war noch nie ihr Ding gewesen. Sie rannte ins Bad und übergab sich. Währenddessen hatte das Telefon wieder angefangen zu klingeln.

Mit wackligen Knien kam sie wenig später zurück, wühlte das Handy unter den Sofakissen hervor und warf einen verschwommenen Blick auf das Display.

Es – war – die – Redaktion!

Seit Wochen hatten die sich nicht mehr gemeldet. Auftragsflaute. Die waren schuld, dass sie pleite und depressiv war. Sie hatte sich in diesem Zustand eingerichtet. Hatte ihr Elend akzeptiert. Tausend anderen freien Journalisten ging es genau wie ihr. Also, Schicksal. Sie hatte sich daran gewöhnt, Selbstmitleid zu haben. Warum riefen die gerade heute an? An ihrem Geburtstag! Eigentlich eine Frechheit. Und sie hatte nicht vor, ans Telefon zu gehen.

Hicks.

Jetzt hatte sie auch noch einen Schluckauf.

Diesmal klingelte es so lange, bis die Mailbox ansprang. Einen Moment zögerte Sandra, dann tippte sie auf das Lautsprechersymbol. Sie hörte die Stimme der Chefredakteurin Wiebke Schultz höchstpersönlich: „Sandra, bitte rufen Sie mich zurück, es ist dringend.“

Hicks.

Sandra hielt die Luft an und versuchte, bis sechzig zu zählen. Bei siebenundzwanzig machte es: Hicks. Sie presste die Lippen aufeinander, spannte die Bauchmuskeln an und konzentrierte sich. Und diesmal klappte es. Erleichtert atmete sie auf. Ihr Kopf fühlte sich wattig an, und ihre Zunge pelzig.

Wasser.

Sie ging zur Pantryküche hinüber, füllte ein Glas mit lauwarmem Leitungswasser, und trank es in vorsichtigen Schlucken. Igitt. Aber der widerliche Geschmack im Mund ging davon immerhin weg.

Was jetzt?

Obwohl sie nicht die geringste Lust hatte, Wiebke Schultz zurückzurufen und lieber weiterhin geschmollt hätte, besaß sie noch genügend Überlebenswillen, um ihr Handy zu nehmen und in den Kontakten den Eintrag „Anja“ zu suchen. Den direkten Link zur Redaktion hatte sie nämlich schon letzte Woche von ihrem Display verbannt. Erst mal im Sekretariat anklopfen. Wiebke konnte ruhig ein bisschen schmoren.

Dringend! dachte sie verächtlich. Das hieß, die Chefredakteurin hatte mindestens schon fünf andere freie Journalistinnen durchtelefoniert, bis ihr Sandra eingefallen war.

„Redaktion My Dream, mein Name ist Anja Mittig“, meldete sich die Sekretärin.

„Hallo, Anja, hier ist …“ Das kam krächzend heraus, weil sie so lange mit niemandem gesprochen und vom Kotzen eine wunde Kehle hatte. Peinlich.

„Sandra! Endlich! Wiebke ist völlig fertig mit den Nerven. Du bist ihre letzte Rettung! Ich stelle dich sofort durch.“

Das hieß, sie hatte mindestens schon zehn Leute vor ihr angerufen. Sandra war kurz davor, aufzulegen, doch da war Wiebke Schultz bereits in der Leitung.

„Wunderbar! Ich grüße Sie, Sandra.“ Wiebkes Stimme war keinerlei Not anzumerken. Sie klang heiter und völlig gelassen und nicht wie jemand, der gerettet werden musste.

„Worum …“ Sandra räusperte sich. „Worum geht es?“, wiederholte sie, diesmal mit halbwegs normaler Stimme.

„Slow Dating“, antwortete die Chefredakteurin.

„Slow Dating?“

„Genau. Slow Dating – Damit die Liebe hält! Der neueste Trend aus – raten Sie mal – ja, gewonnen, den USA!“ Wiebke sprach in rasender Geschwindigkeit weiter. „Wir haben eine große Kooperation mit Slow Happy, der neuen Partneragentur. Die haben vor, Wochenendseminare für ihre Kundinnen und Kunden zu veranstalten, bei denen man sich in Ruhe kennenlernen kann. Nicht Ex und Hopp wie beim Speed Dating, sondern in gepflegter Atmosphäre für Menschen ab Ende Dreißig, die die letzten Jahre vor allem mit ihrer Karriere verbracht haben und sich jetzt ernsthaft binden möchten. Anderthalb Tage intensiver Austausch. Kein Handy, kein Laptop, Slow Food, Slow Motion. Und natürlich kein Sex.“

„Kein Sex“, pflichtete Sandra automatisch bei.

„Und als Highlight der Fragebogen nach Dr. Arthur Aron“, fuhr die Redaktionsleiterin fort.

Wiebke hörte sich an, als müsste Sandra diesen Dr. Aron und seinen Fragebogen kennen. „Hm?“

„Kommen Sie schon, Sandra, davon müssen Sie gehört haben. Vor einem halben Jahr war das DER Hype in sämtlichen Magazinen. Spiegel, Focus, Brigitte, Glamour, Cosmo – und natürlich My Dream“, klärte Wiebke sie ungeduldig auf.

Mist. Jetzt habe ich ihr auch noch gesteckt, dass ich My Dream schon ewig nicht mehr gelesen habe, dachte Sandra. Wozu auch? Wenn sie keine Aufträge bekam, boykottierte sie die Zeitschrift halt.

„Dr. Aron hat schon vor zwanzig Jahren in einer Studie herausgefunden, dass seine von ihm entwickelten sechsunddreißig Fragen ausreichen, damit zwei völlig Fremde sich ineinander verlieben. Egal. Ich muss da jetzt nicht ins Detail gehen, das erfahren Sie alles vor Ort“, feuerte Wiebke die nächste Wortsalve ab. „Wir hatten ein Online-Preisausschreiben, finanziert von Slow Happy, um die Seminare bekannt zu machen. Die beiden Gewinner dürfen kostenlos am ersten Slow Dating-Seminar teilnehmen. Und Sie sind die Gewinnerin, Sandra!“

„Aber ich habe doch gar nicht am Preisausschreiben teilgenommen“, wagte Sandra vorsichtig einzuwenden.

„Natürlich nicht“, bestätigte Wiebke fröhlich. „Diesmal haben wir die Auslosung ein bisschen beeinflusst. In Abstimmung mit der Agentur selbstverständlich. Beim nächsten Mal gibt es echte Gewinner. Aber für den Start will ich eine authentische Reportage, deshalb brauchen wir eine Journalistin vor Ort.“

„Heißt das etwa, ich muss beim Dating mitmachen?“

„Unbedingt.“

Sandra schluckte. „Undercover? Das … das geht doch nicht. Die anderen Teilnehmer …“

„Die anderen Seminarteilnehmer wissen, dass in der Oktoberausgabe und online ein Artikel erscheinen wird, und haben schriftlich erklärt, dass sie damit einverstanden sind. Natürlich werden alle Namen geändert, und es gibt keine Fotos, sondern Illustrationen. Trotzdem – nicht notwendig, dass jemand erfährt, dass Sie für My Dream arbeiten. Sie haben ein Preisausschreiben gewonnen, mehr braucht niemand zu wissen.“

Sandra schüttelte den Kopf, obwohl Wiebke das ja gar nicht sehen konnte. „Tut mir leid. Ich habe keine Zeit.“

„Unsinn. Sagen Sie den anderen Job ab, falls es überhaupt einen gibt, packen Sie Ihre Sachen und fahren Sie los. Das Seminar beginnt heute Abend um sechs Uhr.“

„Heute Abend?“

„Ist das ein Problem?“

Für Wiebke Schultz eine rein rhetorische Frage, wie Sandra wusste, denn Probleme existierten für die Chefredateurin von My Dream nicht. Nach einem Moment, in dem keine der beiden Frauen sprach, räusperte sich Sandra schließlich. „Nein, kein Problem.“ Anscheinend hatte das nicht überzeugend geklungen, denn Wiebke schwieg immer noch am anderen Ende der Leitung, als warte sie auf etwas. Na gut, dachte Sandra und erkundigte sich: „Wo findet dieses Slow Dating denn überhaupt statt?“

„In einem Ort namens Nordeby“, antwortete Wiebke prompt. „Ich habe Ihnen die Unterlagen bereits mailen lassen.“

„Nordeby? Wo ist das denn, um Himmels willen?“

„Irgendwo bei Flensburg.“

„Bei Flensburg? Es ist doch jetzt schon …“

„Halb elf“, half Wiebke aus.

„Halb elf! Ich bin in München! Flensburg ist fast in Dänemark!“

„Anja bucht Ihnen einen Flug nach Hamburg. Von dort nehmen Sie sich einen Mietwagen. Besprechen sie alles Weitere mit ihr, hier klingelt es auf der anderen Leitung. Ciao, Sandra. Viel Spaß beim Slow Dating!“

Blass und sprachlos starrte Sandra auf den Telefonhörer.

„Hallo? Sandra? Bist du noch dran?“, meldete sich Anja, die Sekretärin.

„Ja, irgendwie schon.“

Anja kicherte. „Hat sie dich mal wieder plattgewalzt?“

„So platt, dass ich noch nicht einmal weiß, wie viel Honorar ich kriege.“

„Ach, das machen wir ganz einfach. Schick mir eine Bestätigungsmail, dass du den Auftrag annimmst, und schreib deine Honorarvorstellung rein. Ich sorge dafür, dass sie abgenickt wird. Sei nicht zu billig, Honey.“

„Danke, Anja. Sag mal …“

„Ja?“

„Weshalb war es eigentlich so dringend?“

„Na ja, das Seminar beginnt doch schon heute Abend um sechs.“

„Du weißt genau, was ich meine. Hat jemand abgesagt?“

„Ach so. Ja. Die Kollegin, die ursprünglich fahren sollte, rief heute Morgen an. Sie hat sich beim Klettern in den Alpen den Fuß gebrochen.“

„Und da habt ihr sofort an mich gedacht?“

„Sicher, sofort“, log Anja ungeniert und lachte, während ihre Finger auf der Tastatur klapperten. „Sei friedlich, Sandra. Du hast den Job, alles andere ist doch egal … Puh, ich sehe gerade, dass die Maschine um halb zwei ausgebucht ist. Dann musst du die um halb eins nehmen.“

„Das schaffe ich nie!“

„Doch, das schaffst du. Vielleicht findest du ja beim Slow Dating den Mann fürs Leben.“

„Bloß nicht!“

Anja lachte. „Trotzdem, viel Spaß in Nordeby!“

„Was ist Slow Happy eigentlich für eine Agentur? Klingt eher wie Thai-Massage, wenn du mich fragst“, meinte Sandra.

Doch niemand fragte, denn Anja hatte längst aufgelegt.

„Ich habe heute übrigens Geburtstag!“, schrie Sandra aufgebracht in das Handy und warf das Ding aufs Sofa. „Ich hasse Männer! Ich war bisher noch nicht mal beim Speed Dating. Und ich weiß vor allen Dingen nicht, wie ich das Taxi zum Flughafen bezahlen soll. Scheiße, Scheiße, Scheiße!“

Einen Moment stand sie unschlüssig mitten im Wohnzimmer, dann straffte sie die Schultern. „Reiß dich zusammen und krieg deinen Arsch hoch, Wegener. Du musst Geld verdienen“, sagte sie laut und setzte sich umgehend in Bewegung.

2. Kapitel

Kühe. Schwarzweiße Kühe. Schafe. Weiße Schafe mit weißen Köpfen oder weiße Schafe mit schwarzen Köpfen. Blühender Raps. Grüne Felder, unterbrochen von Hecken. Schöne alte Einzelbäume in frischem Laub oder Stumpfbäume in Reih und Glied mit dickem Stamm und rasierter Krone. Ab und zu ein reetgedecktes Bauernhaus, Blumenpracht im Vorgarten. Sandra hatte das Wagenfenster einen Spaltbreit geöffnet. Da sie gemächlich fuhr, konnte sie Vogelgezwitscher hören. Sie kam durch ein Dorf, das aus ein paar Höfen mit großen Scheunen und hübschen, reetgedeckten Häusern bestand. Etwas erhöht stand zwischen Bäumen eine Backsteinkirche, die sehr alt aussah. Als sie den Ort verließ, las sie auf einem Schild: Kiek mol wedder in. Und den Namen des Dorfes: Nordeby. Danach wieder Landstraße, rechts und links Wassergräben. Die Rapsfelder waren so gelb, dass es fast in den Augen wehtat.

Biegen Sie links ab, sagte das Navi. Biegen Sie links ab.

Sandra bog links ab in eine schmale asphaltierte Straße, die zwischen Weidezäunen, hinter denen Kühe grasten, ins Nichts führte.

Nach zweihundert Metern rechts abbiegen, verkündete das Navigationsgerät. Nach zweihundert Metern rechts abbiegen.

Weit und breit war nichts zu sehen, aber Sandra bog gehorsam nach zweihundert Metern rechts ab. Eine Weile später wurde sie belohnt, denn vor ihr erstreckte sich eine lange Lindenallee, und an deren Ende sah sie ein massives Gebäude aus rotem Backstein.

Das musste es sein. Herrenhaus Dankwerth oder seit 2006 – wie der Prospekt erklärte, den Sandra während des kurzen Fluges in den elektronischen Unterlagen gefunden hatte, die Anja ihr gemailt hatte – Schlosshotel Nordeby.

Sie haben Ihr Ziel erreicht, schnurrte das Navi. Sie haben Ihr Ziel erreicht.

Sandra stellte ihren Mietwagen auf dem schattigen Parkplatz ab, der zwischen hohen Silberpappeln lag, deren Blätter sich noch nicht ganz entfaltet hatten. Mai in Norddeutschland war Frühling pur. In München dagegen waren die Kastanien bereits verblüht. Neugierig schaute sie sich die Nummernschilder der anderen Fahrzeuge an. Alles Kennzeichen aus dem Norden, Hamburg, Bremen, Lüneburg, Kiel, und vier mit jeweils drei Buchstaben, die sie nicht zuordnen konnte. Und dann noch ein Wagen aus Berlin.

Bisher war ihre Reise völlig problemlos verlaufen. Als sie auf ihre Armbanduhr blickte, sah sie, dass es erst halb fünf war. Also hatte sie noch richtig gut Zeit. Gemächlich holte sie ihr Gepäck aus dem Kofferraum, drückte die Fernbedienung, um den Wagen abzuschließen, und schlenderte über den Parkplatz zum Hotel. Das Herrenhaus war von einem breiten Wassergraben umgeben, auf dem ein Entenpärchen seine Jungen ausführte. Weiter hinten ein Schwan, der sich majestätisch im dunklen Wasser spiegelte.

Auf dem Damm, der zwischen zwei großen, moosbewachsenen Löwenskulpturen den Graben überbrückte, blieb sie stehen und schaute fasziniert auf das breite, dreistöckige Gebäude mit dem mächtigen Walmdach und einem schlichten, klassizistischen Giebel in der Mitte. Vögel zwitscherten, von weither kam das Motorengeräusch eines Kleinflugzeugs. Es war warm, die maigrünen Bäume rauschten im mäßig frischen Wind. Herrlich. Am liebsten hätte sie ihr Gepäck abgestellt und wäre einfach spazieren gegangen. Ein Pferd wieherte.

Sandra wandte den Kopf und entdeckte eine weitere Allee – Kastanienbäume kurz vor der Blüte – die hinüber zu einem großen, alten, von Bäumen und Büschen halb verdeckten Backsteinbau mit weißen Fenstern und Reetdach führte. Wahrscheinlich gehörte eine Landwirtschaft zum Herrenhaus, doch von hier aus waren Stallungen oder Scheunen höchstens zu erahnen.

Irgendwie fühlte sie sich etwas desorientiert. Fehl am Platz. Fliegen war eine schwachsinnige Art, sich von A nach B zu bewegen. Der Körper war längst angekommen, während das Hirn noch hinterher hechelte. Gerade noch hatte sie heulend und halb besoffen in ihrem winzigen, viel zu teuren Münchener Apartment gehockt und sich selbst bemitleidet. Jetzt, fünf Stunden später, stand sie hier vor einem Wasserschloss auf dem platten holsteinischen Land, und gleich würde sie auf – wie hatte es Wiebke Schultz ausgedrückt – Menschen zwischen Ende Dreißig und Mitte Fünfzig treffen, die die letzten Jahre mit ihrer Karriere verbracht hatten und sich ernsthaft binden wollten.

Sie war hier definitiv fehl am Platz. Denn weder hatte sie etwas vorzuweisen, was auch nur annähernd nach „Karriere“ aussah, noch wollte sie sich „ernsthaft binden“.

Dann fiel ihr ein, dass sie ja gar nicht hier war, um zu daten. Weder slow noch speed. Sie war hier, um über diese Veranstaltung einen launigen Artikel für My Dream zu schreiben, der noch mehr bindungswillige Menschen im besten Alter dazu bringen sollten, ihre persönlichen Daten durch den Rechner der neuen Partneragentur Slow Happy jagen zu lassen und umgehend ein vermutlich sündhaft teures Slow Dating-Seminar mit dem Fragebogen nach Dr. Arthur Aron zu buchen.

Sandra setzte sich wieder in Bewegung. Ihre Schritte knirschten auf dem gepflegten Kies des Vorplatzes, der zum Haupteingang führte – ein barockes Portal aus hellem Sandstein, darüber ein Wappen mit einer blauen Raute und einem roten Schwan.

Da entdeckte sie den Mann, der ein Stück entfernt lässig an der Hauswand lehnte und rauchte. Er trug Jeans, dazu ein weißes Hemd mit offenem Kragen. Mit ziemlich weit offenem Kragen, darunter glatte braune Haut. Der Mann hatte tiefschwarzes Haar und schaute jetzt intensiv zu Sandra herüber.

„Nein!“, entfuhr es ihr. Denn sie kannte diesen Mann. Und zwar verdammt gut. Leider.

Jetzt warf er die halb gerauchte Zigarette weg, trat sie aus, grinste und kam herüber.

„Schön, dich wiederzusehen, Sandra.“

„L…Linus“, stammelte sie. Dann fiel es ihr ein. Keine Fotos. Illustrationen, hatte Wiebke Schultz gesagt. Linus war eigentlich Maler, aber damals, während ihrer kurzen Ehe, hatte er bereits angefangen, für Zeitschriften zu arbeiten. Wieso hatte sie Wiebke Schultz nicht gefragt, wer der zweite „Gewinner“ des Preisausschreibens war? Wieso hatte sie nicht geschaltet, als die Chefredakteurin von Illustrationen sprach? Es war ja nicht neu, dass Linus für My Dream zeichnete. Begegnet waren sie sich allerdings seit elf Jahren nicht mehr. Das letzte, was sie von ihm gehört hatte, war, dass er mit einer Spanierin liiert war und in Berlin lebte. Aber das war auch schon wieder fünf Jahre her. Gegoogelt hatte sie ihn nie. Warum auch? Er war auch so noch präsent genug in ihrem Kopf, obwohl sie weiß Gott was unternommen hatte, um die Erinnerung an ihn loszuwerden. Psycho-Onkel, Selbsterfahrungsgruppe, Yoga, sogar zu einer Wahrsagerin war sie gegangen. Irgendwann hatte sie aufgegeben und gehofft, dass es von selbst vorbeigehen würde. Dass sie eines Morgens aufwachen und frei sein würde. Und jetzt war der Mistkerl hier!

Als er dicht vor ihr stehen blieb, klopfte ihr Herz bis zum Hals. Diese grünen Augen! Und aus der Nähe sah sie, dass sein schwarzes Haar graue Schläfen bekam, was ihn nur noch attraktiver machte. Er war nicht groß, vielleicht knapp einsachtzig, dabei schlank, beweglich, sportlich. Während er redete, suchte er Blickkontakt mit Sandra; sein rasches Lächeln lenkte ihre Aufmerksamkeit auf seine sinnlich geschwungenen Lippen. Ihre Knie begannen zu zittern. Linus hatte immer noch diesen Wow-Effekt.

„Du siehst gut aus“, bemerkte er, dann legte er ihr einen Arm um die Taille, zog sie an sich und küsste sie auf den Mund.

Einen Moment lang war sie viel zu verblüfft, um sich zu wehren, ließ es zu, dass seine Lippen auf ihren verweilten, sanft, oh, so sanft. Sie schloss die Augen.

Ehe sie wusste, wie ihr geschah, war es auch schon wieder vorbei. Ernüchtert machte sie die Augen wieder auf und sah, dass Linus noch breiter grinste.

„Hey, ich dachte schon, diese Veranstaltung hier wird todlangweilig“, meinte er. „Aber seit ich weiß, dass auch du dazu verdonnert bist … Wer weiß, was beim Slow Dating so alles passiert.“

„Zwischen uns wird jedenfalls nichts passieren“, fauchte sie. „Wenn ich gewusst hätte, dass du hier bist, hätte ich nie zugesagt.“ Sandra nahm ihr Gepäck, riss die Tür auf und ging zielgerichtet durch die imposante Eingangshalle auf die Rezeption zu. Da dort niemand war, hieb sie auf die Klingel.

Linus war ihr gefolgt. „Ach, komm, sei nicht so. Zwei Tage lecker essen und trinken und ein bisschen Rumbalzen. Alles auf Kosten der Redaktion. Wer wird denn da nein sagen. Ich hoffe, du hast dich beim Honorar nicht über den Tisch ziehen lassen. Du warst schon immer zu …“

„Billig, wolltest du wohl sagen.“ Ihre Stimme war eisig. „Du hast dich nicht im Geringsten verändert, Linus. Hau ab. Lass mich in Ruhe.“

Er lachte nur. „Wir sehen uns“, sagte er und ging wieder nach draußen.

„Arschloch“, sagte sie laut.

Im gleichen Moment kam eine blonde, hoch gewachsene Frau im geblümten Kleid aus einer Tür hinter dem Empfangstresen. „Wie bitte?“

„Oh, Entschuldigung“, rief Sandra und errötete hektisch. „Das war nicht an Sie gerichtet. Ich habe nur …“

„Kein Problem“, sagte die Frau lächelnd und gab ihr die Hand. „Ich bin Frauke Dankwerth. Willkommen im Schlosshotel Nordeby. Sie müssen Sandra Wegener sein.“

Sandra nickte.

„Die anderen Teilnehmer und die Seminarleiterin, Frau Ternes, sind bereits eingetroffen. Um halb acht gibt es Abendessen in unserem Restaurant im Gewölbekeller. Um achtzehn Uhr findet die Begrüßung im Salon statt. Der Salon liegt im ersten Stock.“ Frauke Dankwerth schaute auf die Uhr. „Jetzt ist es zehn vor fünf. Ich sage Frau Ternes Bescheid, dass Sie da sind. Sie haben Zimmer 15. Ich hoffe, es wird Ihnen bei uns gefallen.“ Sie reichte Sandra den Zimmerschlüssel. „Es gibt leider keinen Lift. Gehen Sie die Haupttreppe nach oben in den zweiten Stock, dann nach links. In Ihrem Zimmer finden Sie auch einen Plan des Hauses, damit Sie sich nicht verlaufen.“

„Danke.“ Sandra nahm den Schlüssel, doch dann hielt sie inne und fragte: „Haben Sie hier WLAN?“

Frauke Dankwerth schüttelte lächelnd den Kopf. „Wir sind ein so genanntes Black-Hole-Hotel. Hier gibt es weder WLAN noch Funksignale. Das heißt, Sie haben auch keinen Handyempfang.“

„Oh.“ Das hatte ihr keiner gesagt. Oder vielleicht doch?

„Wir haben eine hübsche altmodische Telefonzelle unten vor dem Restaurant“, erklärte Frau Dankwerth und fügte hinzu: „Sie funktioniert nicht nur mit Münzen, sondern auch mit Telefonkarten, die Sie bei mir kaufen können.“

Sandra nickte und war zu verwirrt, um noch etwas zu sagen. Ich bin in einem schwarzen Loch gelandet, dachte sie. Mit meinem Exmann. Und zehn Slow Dating-Kandidaten. Gleich drehe ich durch.

Mechanisch durchquerte sie die Halle. Sie nahm weder die hellen, antiken Steinplatten wahr noch den eleganten Schwung der breiten, dunklen Holztreppe mit dem geschnitzten Geländer, deren runder, polierter Handlauf sich so glatt anfühlte wie Seide. Oben angekommen, betrat Sandra durch einen Vorraum, in dem alte Kupferstiche von Pferden hingen, den langen Flur. Mehrere Fenster gewährten rechts von ihr einen weiten Blick ins Land mit seinen Rapsfeldern, Kuhweiden und Pferdekoppeln. Einen Moment blieb sie stehen und vergaß für Sekunden ihr Dilemma. Der Anblick, der sich ihr bot, war zu schön. Direkt an den Wassergraben angrenzend, der das Herrenhaus auf allen Seiten umgab, lag ein Park mit einem See und riesigen alten Bäumen.

Linus, Linus, Linus, hämmerte es in ihrem Kopf, als sie weiterging, bis sie Nummer 15 fand.

Sie hatte das Eckzimmer bekommen, mit Fenstern zu beiden Seiten. Aus dem einen Fenster sah sie den Park und den See, malerisch mit Holzsteg und blaugestrichenem Ruderboot, aus dem anderen schaute sie auf das schöne alte Reetdachhaus zwischen den Bäumen und ein weiteres, langgestrecktes Gebäude mit zwei großen Toreinfahrten.

Linus, Linus, Linus.

Ob die Möbel echt antik waren oder nachgemacht, interessierte Sandra nicht. Es gab ein Himmelbett, eine Spiegelkommode, einen Sekretär, einen großen Kleiderschrank, zwei Sesselchen mit Tisch – und keine Glotze. Auch kein Telefon. Natürlich kein Telefon. Black Hole. Sandra warf einen Blick ins Bad. Es war groß und modern.

Das Zimmer war ein Traum. Aber ihr wäre eine Gummizelle lieber gewesen. Dann hätte sie jetzt mit ihren Fäusten die Wände traktieren können, denn genau danach war ihr zumute.

Linus, Linus, Linus.

Traummann, Liebster, Exmann, Mistkerl. Arschloch. Verräter …

Ihm nach elf Jahren so plötzlich zu begegnen, war ein Schock. Er sah immer noch so gut aus wie zu Unizeiten. Klar war er reifer geworden, aber er war immer noch ständig in Bewegung. Sie hatte sich damals sofort in ihn verliebt. Weil er so sexy war. So angesagt. So lässig. So intelligent. So redegewandt. So … Nie hätte sie gedacht, dass er sich für sie interessierte. Sie ging nicht in Clubs, rauchte nicht, trank wenig, studierte fleißig und schrieb kleine Artikel für die Lokalzeitung. Eigentlich kannten sie sich nur vom Sehen. Trafen sich ab und zu auf einer Party. Kaum, dass sie mal ein paar Worte wechselten. Wie oft hatte sie ihm beim Tanzen zugeschaut. Er war ein Naturtalent. Sie dagegen fühlte sich auf der Tanzfläche immer unbeholfen. Und dann war es passiert. Auf einer Party bei einer gemeinsamen Freundin. Vielleicht hatte Linus damals nur ausprobieren wollen, ob er sie rumkriegen konnte. Woher sollte er auch wissen, dass er seit Monaten durch ihre wilden Träume geisterte? Sie war ihm gegenüber immer kühl gewesen. Fast abweisend. Doch als er sie spätnachts nach Hause brachte und sie küsste, hatte sie die Chance mit beiden Händen ergriffen. Hatte sich nicht geziert, kein Spiel gespielt. Hatte ihm gezeigt, wie sehr sie ihn begehrte und nicht an Morgen gedacht. Zu ihrer Überraschung hatten sie sich danach wieder getroffen. Um miteinander zu schlafen. Um zu reden. Zu lachen. Sie hatten zusammen gekocht, waren ins Museum für moderne Kunst gegangen. Aus dem One-Night-Stand wurde eine Beziehung, doch immer noch hatte sie damit gerechnet, dass es jederzeit vorbei sein konnte. Bis Linus eines Tages mit einem Strauß roter Rosen bei ihr aufgekreuzt war und ihr eine Liebeserklärung machte. Sie war verwirrt gewesen. Und glücklich. Ihr war bewusst, dass sie sich verändert hatte, offener geworden war. Irgendwie lebendiger. Schöner.

„Und jetzt machen wir etwas ganz Verrücktes“, hatte Linus nach einem halben Jahr verkündet. „Wenn wir unser Examen mit eins bestehen, dann heiraten wir.“

Examen mit Auszeichnung. Beide. Er an der Kunstakademie, sie an der Uni. Heirat. Gemeinsame Wohnung. Der erste Job. Sie als Volontärin in einer Zeitschriftenredaktion, er in einem Trickfilmstudio. Eine aufregende Zeit. Für beide. Neue Kollegen, erste Erfolge, ein paar Niederlagen. Es gab immer etwas zu erzählen, wenn sie sich sahen. Oft war das spät in der Nacht. Und oft gingen sie dann noch weg. Was trinken, Leute treffen. Sandra war glücklich gewesen, fast berauscht. Bis zu diesem Abend im Doors, ihrer Lieblingskneipe. Es war Juni gewesen, warm, alle saßen draußen, die ganze Straße vibrierte vor Leben. Sandra und Linus waren mittendrin, hatten jeder einen Gin Tonic vor sich stehen, warteten auf Freunde, die später dazu stoßen wollten. Die Szene, die sich dann abspielte, stand Sandra immer noch so klar vor Augen, als wäre es gerade erst passiert.

Eine junge Frau kam an ihren Tisch, setzte sich unaufgefordert dazu und legte Linus die Hand auf den Arm, während sie Sandra herausfordernd ansah. Linus entzog ihr seinen Arm, schüttelte den Kopf und wollte aufstehen. Die dunkelhaarige Schönheit mit dem üppigen Mund und den großen Augen hielt ihn fest.

„Bleib sitzen“, befahl sie, und er tat, was sie verlangt hatte.

„Linus?“, fragte Sandra vorsichtig. „Was soll das?“

„Sandra, das ist …“, setzte Linus an, doch die junge Frau unterbrach ihn.

„Linus und ich haben seit zwei Monaten eine Beziehung“, erklärte sie. „Da ich es satt habe, darauf zu warten, dass er dir endlich die Wahrheit sagt, tue ich das eben. Wir lieben uns.“

Sandra war so erschrocken, dass sie keinen Ton herausbrachte. Es fühlte sich an, als würde in ihrem Kopf eine gekappte Starkstromleitung wild durch die Gegend peitschen. Äußerlich hingegen war sie reglos wie ein Betonpfeiler. Kontrollverlust bei Totalkontrolle. Wut und Scham raubten ihr die Worte. Scham, weil sie Linus geglaubt hatte. Weil sie ihm nichts angemerkt hatte. Sie hatte doch gewusst, wie er war. Hätte sich denken können, dass er sich nicht ändern würde. Nicht in einer Ehe mit einer so langweiligen Frau wie ihr. Mein Gott, wie blöd konnte man sein! Eifersucht blies ihr Selbstbewusstsein davon wie ein Tornado.

Das ist das Ende, dröhnte es immer und immer wieder in ihrem Kopf. Das ist das Ende. Sie stand auf und ging.

Die ganze Nacht wartete sie in der gemeinsamen Wohnung auf Linus. Sie hatte Magenschmerzen vor Angst und Hoffnung und konnte sich kaum rühren, so weh tat es.

Er kam nicht.

Am nächsten Tag räumte sie ihre Sachen aus der Wohnung. Irgendwann tauchte er dann auf. Wollte reden. Sie nicht. Sie war stumm geworden. Schockstarre, auch noch beim Anwalt. Sandra unterschrieb alles. Scheidung mit achtundzwanzig. Ihre Mutter bemerkte dazu nur: „Ich habe es dir ja gleich gesagt.“ Danke, Mama.

In ersten Wochen rief Linus immer wieder bei ihr an. Sie legte jedes Mal, wenn sie seine Stimme hörte, auf. Er schrieb ihr, bat um Verzeihung, bat um ein Treffen. Sie ignorierte seine Mails und Briefe. Irgendwann kündigte sie ihre Wohnung, wechselte ihre Telefon- und ihre Handynummer, änderte ihren Mailaccount.

Dann eine neue Stadt. Ein neues Leben.

Das alles war elf Jahre her.

Und gerade eben hatte sie das Gefühl gehabt, sie und Linus hätten sich gestern zuletzt gesehen.

Sie stand mitten im Zimmer und starrte blicklos vor sich hin. Heute Morgen war es ihr beschissen gegangen. Aber das war kein Vergleich zu jetzt. Wie unverschämt er sich gerade eben aufgeführt hatte. Und noch schlimmer – er hatte sie geküsst! Und sie war nicht einmal in der Lage gewesen, ihm endlich in die Eier zu treten. Stattdessen bekam sie Herzrasen, wenn sie nur daran dachte, dass sie Linus in knapp einer Stunde erneut begegnen würde. Wieso hatte sie jemals gehofft, mit diesem Thema fertig zu sein? Elf Jahre waren wie weggewischt. Und vor ihr lag ein Wochenende, an dem sie wildfremden Menschen gegenüber so tun musste, als wäre sie an einer Beziehung interessiert. Um eine „authentische Reportage“ zu schreiben. Ha!

Ihr fiel etwas ein, und sie nahm ihr Handy. Auf dem Display stand: Nur Notrufe. Die Netzanzeige wies keinen einzigen Balken auf. Schlimmer geht’s immer, dachte sie. Dummes Sprichwort, aber wahr. Ihr erster Impuls war, diesem Funkloch den Rücken zu kehren und einfach abzureisen. Sie seufzte, nahm ihr Gepäck, warf einen letzten wehmütigen Blick auf das luxuriöse Zimmer, und wollte gehen, als es klopfte.

„Hau ab!“

„Frau Wegener?“, kam eine Frauenstimme von draußen.

Oh, nein, nicht schon wieder ein Fettnapf. Sandra stellte ihre Sachen wieder ab, ging zur Tür und öffnete sie. „Tut mir leid, ich dachte …“

„Kein Problem.“ Die zierliche Dunkelhaarige lächelte. „Darf ich Sie kurz stören? Ich bin Tina Ternes, die Seminarleiterin. Mit Herrn Patacca habe ich bereits gesprochen, aber ich wollte mich Ihnen ebenfalls kurz vorstellen.“

„Bitte, kommen Sie rein.“

Frau Ternes folgte ihrer Aufforderung und sah sich um. „Schönes Zimmer. Herr Patacca hat das Gleiche, nur am anderen Ende des Flurs.“

Danke, das wollte ich gar nicht wissen, dachte Sandra. Tina Ternes war höchstens Anfang Dreißig, mit einem schmalen, klassisch geformten Gesicht, schulterlangem braunem Haar und blauen Augen. Sie trug einen schlichten hellen Hosenanzug, der ihre sexy Figur aber mehr betonte, als sie zu verstecken. Die beiden Knöpfe des tief ausgeschnittenen Blazers waren geschlossen, doch das hellblaue Seidentop, das die Seminarleiterin darunter trug, war allenfalls zu erahnen.

Sie war genau Linus’ Typ. Dunkle Haare, aufregender Mund, selbstbewusst … Ihr Outfit jedenfalls täuschte Zurückhaltung nur vor und ließ eher auf Speed als auf Slow Dating schließen. Na ja, wo sein Zimmer war, wusste sie ja schon …

„Ich habe Ihnen unsere Pressemappe mitgebracht“, sagte Frau Ternes nun. „Damit Sie sich schon einmal einen Überblick verschaffen können, wer wir sind und welchen Service wir unseren Kunden bieten.“ Sie drückte Sandra einen Folder in die Hand, der vorne drauf nicht das übliche glückliche Paar zeigte, sondern das Symbol für Yin und Yang in Form von zwei stilisierten Schnecken.

„Danke“, erwiderte Sandra und verstummte wieder. Sie stand da, die Mappe in der Hand, und erwartete, dass die Seminarleiterin nun wieder gehen würde.

Doch Tina Ternes schlenderte zum Fenster und schaute hinaus. „Schönes Zimmer“, wiederholte sie. „Herr Patacca – Linus – hat mir erzählt, dass Sie sich kennen.“

„Wir waren verheiratet“, sagte Sandra grob. „Möchten Sie sonst noch etwas wissen, Frau Ternes?“

Die Seminarleiterin legte den Kopf schief und lächelte. „Nein. Das ist Ihre Privatsache. Und bitte nennen Sie mich Tina. Ich wollte Sie nur darum bitten, den anderen Seminarteilnehmern Ihre … Beziehung … zu verschweigen.“

„Es gibt keine Beziehung zwischen Linus und mir“, fauchte Sandra. „Wir sind seit elf Jahren geschieden. Der Rest geht niemanden etwas an.“

Tina lächelte immer noch. „Schon gut, schon gut. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Aber bitte verstehen Sie auch mein Problem. Wir haben mit Ihnen und Linus nicht nur zwei Presseleute an Bord, sondern jetzt auch noch ein geschiedenes Ehepaar. Unsere Kunden haben Slow Dating in der Hoffnung gebucht, einen neuen Partner zu finden …“

„Ich suche aber keinen Partner, sondern mache meine Arbeit. Was Linus betrifft, kann ich Ihnen leider keine Auskunft geben.“

„Ich möchte einfach nur, dass unsere Teilnehmer sich so frei wie möglich fühlen“, erklärte Tina Ternes freundlich und ging zur Tür.

„Und ich möchte einfach nur auspacken und duschen“, erwiderte Sandra.

„Selbstverständlich.“ Das Lächeln stand auf Tinas Gesicht wie mit dem Beamer draufprojiziert. „Wir sehen uns bei der Begrüßung um sechs.“

Als die Seminarleiterin draußen war und die Tür hinter sich zugezogen hatte, ließ sich Sandra auf die Bettkante sinken. Mannomann. Das konnte ja heiter werden. Sie warf einen Blick in die Pressemappe, überblätterte das Editorial, las in der Programmauswahl: „Rollenspiel: Wir stellen uns vor, wir sind zehn Jahre verheiratet und haben einen Ehekrach“, „Wir backen gemeinsam“, „10 Thesen zu: Wie viel Nähe verträgt eine Beziehung?“ und als Finale „Der Fragebogen nach Dr. Arthur Aron“.

Slow Dating war offensichtlich harte Arbeit. Immerhin gab es auch „Zeit zur freien Verfügung“ und die üblichen Unterbrechungen des Seminars durch Nahrungsaufnahme.

Ich will nicht, dachte Sandra immer wieder. Ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht.

Aber sie hatte keine Wahl. Sie musste hierbleiben, ob es ihr passte oder nicht. Weil sie verdammt nochmal das Geld brauchte. Dringend. Am besten gestern schon. Sie konnte nur hoffen, dass ihr „Hauptgewinn“ wie beim All-Inclusive-Urlaub auch die Getränke enthielt, sonst gab es nur Leitungswasser. Seufzend begann sie mit dem Auspacken und lenkte ihre Gedanken gewaltsam in eine andere Richtung. Vielleicht war ja tatsächlich jemand Interessantes in der Dating-Gruppe? Jemand für einen heftigen Flirt? Dann konnte sie Linus beweisen, dass er in ihrem Leben keine Rolle mehr spielte. Vorhin hatte er sich benommen, als sei er überzeugt, dass sie die ganzen Jahre nur auf ihn gewartet habe.

Aber war es nicht genau so?

Nicht, dass sie seit der Scheidung keine Beziehung mehr gehabt hätte. Da war Hendrik gewesen, der Banker, der immer vorbeikam, nachdem er abends mit Kollegen durch die Bars gezogen war. Da war John, der verheiratete Ire, der schon lange von seiner Frau getrennt lebte, sich aber nicht scheiden lassen wollte, weil er streng katholisch war. Ach ja, und Frederick nicht zu vergessen, den Schauspieler. Mit dem wäre es fast was geworden. Aber diesmal war sie es gewesen, die einen Rückzieher machte. Warum, hätte sie selbst nicht so genau sagen können. Schrecklich, dass Verliebtheit einfach von heute auf morgen vorbei sein konnte. Völlig grundlos. Einfach verpufft. Während das mit Linus …

„Reiß dich zusammen, Wegener“, sagte sie zum zweiten Mal an diesem Tag. War das normal, dass man mit neununddreißig anfing, mit sich selbst zu reden? Wurde sie jetzt alt? „Ich werde nicht alt, ich bin alt“, konstatierte sie bissig wider alle Tatsachen, denn als sie einen Blick in den antiken Kommodenspiegel warf, sah sie nicht älter aus als gestern, als sie noch achtunddreißig gewesen war. Mit ihrem rotblonden kurzen Haar, dessen Strähnen dank eines Wirbels am Hinterkopf alle nach vorn fielen und ein ovales Gesicht mit etwas zu breitem Mund, kurzer gerader Nase und bernsteinfarbenen, von dunklen Wimpern beschatteten Augen umrahmten, galt sie eher als apart als schön. Ihr Teint war von Natur aus hell karamellfarben, ein Ton, der sich in der Sonne schnell vertiefte. Woher ihre ungewöhnliche Haarfarbe und ihre sanft gebräunte Haut stammten, konnte sie sich nicht erklären. Beide Eltern hatten dunkles Haar, ihre Mutter blaue Augen und helle Haut, ihre acht Jahre ältere Schwester maß stolze einssechsundsiebzig und sah ihrer Mutter sehr ähnlich. Sandra dagegen war nicht groß und nicht superschlank, die Hüften ein bisschen zu breit, der Busen ein bisschen zu klein, aber sie war sportlich und kleidete sich entsprechend, was allerdings auch mit ihrem schmalen Geldbeutel zu tun hatte.

Sie zog ihrem Spiegelbild eine Grimasse und begann, auszupacken. Was sollte sie heute Abend anziehen? Um sechs war Begrüßung, um halb acht musste sie mit elf völlig fremden Leuten und ihrem Exmann zum Slow Dating-Dinner in den Gewölbekeller von Schloss Dankwerth. Sie beschloss, zur Begrüßung im Salon erst mal genau so zu erscheinen, wie sie war, in schmaler schwarzer Hose und kanariengelbem Top. Das würde zur Not mit einem schwarzen Blazer auch beim Abendessen funktionieren, falls sie keine Zeit mehr haben sollte, sich umzuziehen. Seit sie vor einem Dreivierteljahr entdeckt hatte, dass die neue Modefarbe Kanariengelb ihr stand, peppte sie ihre vorzugsweise schwarzen Klamotten damit auf, wenn es ihr Geldbeutel erlaubte. Das war nicht allzu oft der Fall, und so verloren sich ihre wenigen Sachen in dem massiven Kleiderschrank ihres Hotelzimmers. Unwillkürlich musste sie grinsen, als sie sich vorstellte, wie la bella TT, die Seminarleiterin, vor dem Spiegel stand und ein Kleid nach dem anderen auf den Boden wanderte, weil sie sich nicht entscheiden konnte, welches davon den größten Eindruck auf Linus machen würde.

Scheiße, schon wieder dieser Name. Aufhören damit, Wegener, schimpfte sie im Stillen und sah auf die Uhr ihres Handys. Kurz vor halb sechs. Also noch eine halbe Stunde Zeit bis zu Meet and Greet