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Bühne frei für das Smythe-Smith-Quartett: Große Gefühle für alle »Bridgerton«-Fans! Ein Konzert des Smythe-Smith-Quartetts ist wirklich nur schwer zu ertragen. Ob deshalb kein Gentleman um ihre Hand anhält? Dem will Honoria Smythe-Smith gewitzt entgegenwirken. Doch in ihre Falle tappt ausgerechnet Marcus Holroyd, Earl of Chatteris. Weil er einen verstauchten Knöchel davonträgt, muss Honoria ihn pflegen - und liegt plötzlich in seinen Armen! Gerne würde Honoria die erste Geige in seinem Leben spielen. Bis sie erfährt, was er einst ihrem Bruder geschworen hat …
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Seitenzahl: 431
Zum Buch:
Für Marcus Holroyd waren die Smythe-Smiths wie die Familie, von der er als Kind immer geträumt hat. Deshalb, und weil er es seinem besten Freund Daniel Smythe-Smith in die Hand versprochen hat, kümmert er sich natürlich um dessen jüngste Schwester Honoria, als er sie in Cambridge trifft. Honoria scheint fest entschlossen zu sein, in dieser Saison einen Ehemann zu finden. Keine Frage, dass Marcus darüber wachen will, wessen Herz Honoria ins Visier genommen hat – dass er sich dabei selbst in sie verliebt, konnte er nicht ahnen!
Zur Autorin:
Julia Quinn wird als zeitgenössische Jane Austen bezeichnet. Sie studierte zunächst Kunstgeschichte an der Harvard Universität, ehe sie die Liebe zum Schreiben entdeckte. Ihre überaus erfolgreichen historischen Romane präsentieren den Zauber einer vergangenen Epoche und begeistern durch ihre warmherzigen, humorvollen Schilderungen.
Lieferbare Titel:
Bridgerton – Der Duke und ich (Bridgerton 1)
Bridgerton – Wie bezaubert man einen Viscount? (Bridgerton 2)
Bridgerton – Wie verführt man einen Lord? (Bridgerton 3)
Bridgerton – Penelopes pikantes Geheimnis (Bridgerton 4)
Bridgerton – In Liebe, Ihre Eloise (Bridgerton 5)
Bridgerton – Ein hinreißend verruchter Gentleman (Bridgerton 6)
Bridgerton – Mitternachtsdiamanten (Bridgerton 7)
Bridgerton – Hochzeitsglocken für Lady Lucy (Bridgerton 8)
Bridgerton – Neues von Lady Whistledown
Queen Charlotte – Bevor es die Bridgertons gab, veränderte diese Liebe die Welt
Smythe-Smith – Der Earl, der mir zu Füßen liegt (Smyhte-Smith 1)
Smythe-Smith – Spiel mit dem Feuer (Smythe-Smith 2)
Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem TitelJust Like Heaven bei Avon Books, an imprint of HarperCollins Publishers, New York
© 2011 by Julie Cotler Pottinger Neuausgabe © 2023 für die deutschsprachige Ausgabe by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Published by arrangement with HarperCollins Publishers L.L.C., New York Covergestaltung von zero Werbeagentur, München Coverabbildung von Richard Jenkins Fotography
ISBN E-Book 9783749905805
www.harpercollins.de
Für Pam Spengler-Jaffee.
Du bist in jeder Hinsicht eine Göttin.
Und auch für Paul,
obwohl ich, als ich ihn um medizinischen Rat bat,
um meinen kranken Helden zu retten,
antwortete er: »Er muss sterben.«
Marcus Holroyd war ein einsames Kind.
Als er vier Jahre alt war, starb seine Mutter, was sich jedoch erstaunlicherweise kaum auf sein Leben auswirkte. Die Countess of Chatteris sorgte für ihren Sohn genauso, wie ihre Mutter sich um ihre Kinder gekümmert hatte – aus der Ferne. Dabei war sie nicht leichtfertig: Sie gab sich vielmehr größte Mühe, für den kleinen Erben ihres Gatten die beste Kinderfrau aufzutreiben, die es gab. Miss Pimm war jenseits der fünfzig und hatte bereits die Erben zweier Herzöge und eines Viscounts versorgt. Lady Chatteris hatte ihr Baby in Pimms Arme gelegt, die Kinderfrau noch rasch daran erinnert, dass der Earl keine Erdbeeren vertrug, das Baby also wohl auch nicht, und sich dann erleichtert in die Vergnügungen der Londoner Saison gestürzt.
Marcus hatte seine Mutter bis zu ihrem Tod genau sieben Mal zu Gesicht bekommen.
Lord Chatteris konnte dem Landleben mehr abgewinnen als seine Frau und war daher öfter in Fensmore anzutreffen, einem weitläufigen Tudorbau im nördlichen Cambridgeshire, der den Holroyds seit Generationen als Familiensitz diente. Er kümmerte sich um seinen Sohn, wie sein eigener Vater sich um ihn gekümmert hatte. Das hieß, er sorgte dafür, dass Marcus mit drei Jahren aufs Pferd gesetzt wurde. Ansonsten sah er keinen Anlass, sich weiter mit dem Kind abzugeben, ehe es alt genug für ein halbwegs vernünftiges Gespräch war.
Der Earl wollte nicht wieder heiraten. Als man ihm nahelegte, einen zweiten Sohn zu zeugen, der seinen Erben notfalls ersetzen könne, nahm er Marcus gründlich in Augenschein und sah einen recht intelligenten, erfreulich sportlichen und hinreichend gut aussehenden Knaben. Vor allem aber war er kerngesund. Da mit dem vorzeitigen Ableben seines Nachkommen also nicht zu rechnen war, sah der Earl keinen Grund, noch einmal auf Brautschau zu gehen oder, schlimmer noch, sich erneut mit einer Ehefrau zu arrangieren. Stattdessen beschloss er, in seinen einzigen Sohn zu investieren.
Marcus hatte die besten Hauslehrer. Seine Ausbildung war in jeder erdenklichen Hinsicht die eines Gentlemans. Er konnte die regionale Flora und Fauna benennen. Er ritt, als wäre er im Sattel auf die Welt gekommen, und wenn er mit seinen Fecht- und Schießkünsten auch keinen Preis gewinnen würde, so war er doch besser als die meisten. Er konnte multiplizieren und Zahlenkolonnen addieren, ohne dabei einen Tropfen Tinte zu verschwenden. Als er zwölf Jahre alt war, konnte er Latein und Griechisch lesen.
Ungefähr zu dieser Zeit befand sein Vater, der Sohn sei nun zu einer vernünftigen Unterhaltung fähig – und damit reif für den nächsten Schritt seiner Ausbildung.
Marcus sollte Fensmore verlassen und nach Eton gehen. Alle männlichen Holroyds hatten dort das Internat besucht. Für den Knaben war dies die günstigste und glücklichste Wendung, die sein junges Leben nehmen konnte. Denn was Marcus Holroyd, Erbe des Earl of Chatteris, nicht besaß, das waren Freunde.
Er hatte tatsächlich keinen einzigen Freund.
Im Norden von Cambridgeshire wohnten keine gesellschaftlich passenden Knaben, mit denen er hätte spielen können. Die nächsten Nachbarn von Adel waren die Crowlands, und die hatten nur Mädchen. Die nächstbeste Familie entstammte dem niederen Landadel, was in dieser Lage noch akzeptabel gewesen wäre, doch die Söhne waren alle im falschen Alter. Bauernkinder kamen als Gefährten für seinen Sohn nicht infrage, und so heuerte Lord Chatteris einfach noch mehr Hauslehrer an. Ein Knabe, der viel zu tun hatte, kam gar nicht erst dazu, sich einsam zu fühlen. Abgesehen davon konnte sein Sohn ja wohl kaum Interesse daran haben, mit den wilden Bäckergören über die Felder zu toben.
Hätte der Earl Marcus gefragt, hätte er möglicherweise eine andere Antwort erhalten. Doch er sah seinen Sohn nur einmal am Tag vor der Abendmahlzeit für ungefähr zehn Minuten. Anschließend ging Marcus hinauf in den Kindertrakt, der Earl begab sich in den eleganten Speisesaal, und damit hatte es sich.
Im Nachhinein betrachtet war es ein Wunder, dass Marcus in Eton nicht kreuzunglücklich wurde. Schließlich hatte er keine Ahnung, wie er sich seinen Altersgenossen gegenüber verhalten sollte. Während sich die anderen Knaben am ersten Schultag wie ein Haufen Wilder gebärdeten (wie der Kammerdiener seines Vaters, der ihn ins Internat brachte, pikiert angemerkt hatte), stand Marcus am Rand, bemühte sich, die anderen nicht zu sehr anzustarren – und so zu tun, als wollte er mit abgewandtem Blick am Rand stehen.
Er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
Daniel Smythe-Smith hatte in dieser Hinsicht keine Probleme.
Daniel Smythe-Smith war nicht nur der Erbe des Earl of Winstead, er hatte auch fünf Geschwister und zweiunddreißig Vettern und Cousinen und war entsprechend geübt im Umgang mit Gleichaltrigen. Sein ungezwungenes Lächeln und fröhliches Selbstvertrauen machten ihn binnen Stunden zum unangefochtenen König unter den jüngsten Schülern in Eton. Und er war tatsächlich der geborene Anführer – so selbstverständlich, wie er Witze machte, konnte er auch Entscheidungen fällen.
Er bekam das Bett direkt neben Marcus zugewiesen.
Sie wurden die besten Freunde, und als Daniel ihn in den ersten Ferien zu sich nach Hause einlud, fuhr Marcus mit ihm mit. Daniels Familie lebte auf Whipple Hill, nicht weit entfernt von Windsor, es war ihm also ein Leichtes, öfter nach Hause zu fahren. Marcus hingegen … Nun, es war nicht so, als hätte er hoch oben in Schottland gewohnt, aber auch bis in den Norden von Cambridgeshire war es mehr als eine Tagesreise. Außerdem war sein Vater für die kleinen Ferien auch nie nach Hause gefahren und sah nun keinen Grund, warum sein Sohn es tun sollte.
Als die nächsten Ferien näher rückten, lud Daniel Marcus erneut ein, und wieder fuhr er mit.
Und das nächste Mal auch.
Und das übernächste Mal auch.
Schließlich verbrachte er mehr Zeit bei den Smythe-Smiths als bei seiner eigenen Familie. Die bestand zwar, musste er der Gerechtigkeit halber einräumen, nur noch aus seinem Vater, aber trotzdem: Selbst wenn Marcus das Ganze auf sämtliche beteiligten Personen umrechnete (was er öfter tat), verbrachte er immer noch mehr Zeit mit jedem einzelnen Smythe-Smith als mit seinem eigenen Vater.
Sogar mit Honoria.
Honoria war Daniels jüngste Schwester. Im Unterschied zu den restlichen Smythe-Smiths hatte sie keine Geschwister in ihrem Alter. Sie war der fünf Jahre jüngere Nachzügler, ein vermutlich freudiger Unfall, mit dem Lady Winstead ihre erstaunlich fruchtbare Laufbahn krönte.
Aber fünf Jahre zur Nächstjüngeren waren ein großer Altersunterschied, vor allem, wenn man selbst erst sechs war, wie Honoria bei Marcus’ erstem Besuch. Ihre drei älteren Schwestern waren damals bereits verlobt oder verheiratet, und die elfjährige Charlotte wollte nichts von ihr wissen. Daniel eigentlich auch nicht, doch Honorias Liebe war mit der Entfernung offenbar ins Unermessliche gewachsen: Sobald ihr Bruder nach Hause kam, wich sie ihm nicht mehr von der Seite.
»Schau ihr bloß nicht in die Augen«, sagte Daniel einmal zu Marcus, als sie versuchten, die anhängliche Kleine auf einem Spaziergang zum See abzuschütteln. »Sobald wir sie wahrnehmen, ist alles vorbei.«
Entschlossen und mit gesenktem Kopf strebten sie voran. Sie wollten zum Angeln, und als Honoria beim letzten Mal mitgekommen war, hatte sie die Würmer ausgekippt.
»Daniel!«, schrie sie gellend.
»Einfach nicht beachten«, murmelte Daniel.
»Daniel!!!« Das Schreien schwoll jetzt zu einem ohrenbetäubenden Kreischen an.
Daniel kniff die Augen zusammen. »Schneller. Wenn wir es in den Wald schaffen, können wir sie abhängen.«
»Sie weiß doch, wo der See ist«, gab Marcus zu bedenken.
»Ja, aber …«
»Daniel!!!!!!!«
»… aber sie weiß, dass Mutter ihr den Kopf abreißt, wenn sie allein in den Wald geht. Nicht einmal Honoria ist so dumm, Mutters Zorn derart herauszufordern.«
»Dan…« Doch sie unterbrach sich. Und wimmerte dann so elend, dass man gar nicht anders konnte, als sich zu ihr umzudrehen: »Marcus?«
Er drehte sich um.
»Neiiiiiiiiiiin!«, stöhnte Daniel.
»Marcus!«, rief Honoria beglückt. Sie hüpfte näher und blieb dann vor ihnen stehen. »Wohin wollt ihr?«
»Wir gehen angeln«, knurrte Daniel, »und du kommst nicht mit.«
»Aber ich angle gern.«
»Ich auch. Ohne dich.«
Jämmerlich verzog sie das Gesicht.
»Wein doch nicht«, sagte Marcus rasch.
Daniel ließ sich nicht beeindrucken. »Die tut doch nur so.«
»Ich tue nicht nur so!«
»Wein doch bitte nicht«, bat Marcus noch einmal, denn das schien ihm wirklich das Allerwichtigste.
»Ich weine nicht, wenn ich mit euch angeln gehen darf«, erklärte sie, mit den Wimpern klimpernd.
Woher wusste eine Sechsjährige, wie man mit den Wimpern klimperte? Aber vielleicht war es auch nur Zufall, denn im nächsten Augenblick verzog sie wieder das Gesicht und rieb sich die Augen.
»Was ist denn jetzt schon wieder?«, fragte Daniel.
»Ich hab etwas im Auge.«
»Vielleicht eine Fliege«, vermutete Daniel arglistig.
Honoria schrie entsetzt auf.
»Das zu sagen, war vielleicht doch nicht so klug«, merkte Marcus an.
»Holt sie raus! Holt sie raus!«, kreischte Honoria.
»Jetzt beruhig dich mal wieder«, sagte Daniel. »Dir fehlt doch überhaupt nichts.«
Doch sie hörte nicht auf zu kreischen und fuhr sich mit den Händen im Gesicht herum. Schließlich legte Marcus seine Hände sanft auf ihre und hielt ihren Kopf ganz ruhig. »Honoria«, sagte er in bestimmtem Ton. »Honoria!«
Sie blinzelte, keuchte und beruhigte sich schließlich.
»Da ist gar keine Fliege«, sagte er zu ihr.
»Aber …«
»Wahrscheinlich war es eine Wimper.«
Ihre Lippen rundeten sich zu einem kleinen O.
»Kann ich dich jetzt loslassen?«
Sie nickte.
»Und du fängst nicht wieder an zu kreischen?«
Sie schüttelte den Kopf.
Ganz langsam gab Marcus sie frei und trat einen Schritt zurück.
»Kann ich mit euch kommen?«, fragte sie.
»Nein!«, heulte Daniel auf.
Marcus wollte Honoria eigentlich auch nicht dabeihaben. Sie war sechs. Und ein Mädchen. »Wir haben alle Hände voll zu tun«, erklärte er, klang dabei aber viel weniger entrüstet als Daniel.
»Bitte!«
Marcus stöhnte. Sie wirkte so verloren, wie sie da mit ihren tränennassen Wangen stand. Ihr hellbraunes Haar, das zu einem Seitenscheitel frisiert war und auf der anderen Seite von einer Spange festgehalten wurde, hing ihr ziemlich kraftlos auf die Schultern herab. Und ihre Augen – beinahe von derselben Farbe wie Daniels, ein ganz ungewöhnliches Lilablau – waren so riesig und so tränenfeucht und …
»Ich habe dir doch gesagt, dass du ihr nicht in die Augen schauen sollst«, schimpfte Daniel.
Marcus stöhnte. Er hatte verloren. »Na gut, ausnahmsweise.«
»Oh, prima!« Honoria machte einen kleinen Luftsprung, der an ein verschrecktes Kätzchen erinnerte, und schloss Marcus dann spontan, aber zum Glück nur kurz in die Arme. »Oh, danke, Marcus, danke! Du bist der Beste! Der Allerbeste!« Dann warf sie ihrem Bruder aus schmalen Augen einen beängstigend erwachsenen Blick zu. »Im Gegensatz zu dir.«
Daniels Miene stand ihrer an Boshaftigkeit nicht nach. »Ich bin stolz darauf, der Allerschlimmste zu sein!«
»Mir doch egal!«, verkündete sie. Sie nahm Marcus bei der Hand. »Gehen wir?«
Marcus blickte auf ihre Hand in seiner. Es war ein vollkommen fremdes Gefühl, und in seiner Brust regte sich ein merkwürdiges, vage unangenehmes Ziehen, das er mit einiger Verspätung als Panik erkannte. Er konnte sich nicht erinnern, wann ihn das letzte Mal jemand bei der Hand genommen hatte. Seine Kinderfrau vielleicht? Nein, die hatte ihn lieber am Handgelenk gepackt. Auf die Art könne sie ihn besser festhalten, hatte er sie einmal zur Haushälterin sagen hören.
Sein Vater? Seine Mutter, bevor sie gestorben war?
Sein Herz pochte, und er spürte, wie Honorias kleine Hand in seiner allmählich feucht wurde. Anscheinend hatte er zu schwitzen begonnen, vielleicht auch sie, aber eigentlich war er sicher, dass er es war.
Er blickte auf sie herab. Sie strahlte ihn an.
Abrupt ließ er ihre Hand los. »Ähm, wir müssen jetzt los«, sagte er verlegen, »solange es noch hell genug ist.«
Beide Smythe-Smiths warfen ihm einen merkwürdigen Blick zu. »Es ist noch nicht mal Mittag«, meinte Daniel. »Wie lang wolltest du denn angeln gehen?«
»Ich weiß nicht«, erklärte Marcus abwehrend. »Es könnte ja ein bisschen dauern.«
Daniel schüttelte den Kopf. »Vater hat den See gerade erst neu bestückt. Wahrscheinlich würde man schon einen Fisch fangen, wenn man nur einen Stiefel durchs Wasser zieht.«
Honoria keuchte vor Entzücken laut auf.
Sofort drehte Daniel sich zu ihr um. »Komm bloß nicht auf die Idee, das auszuprobieren.«
»Aber …«
»Wenn meine Stiefel irgendwo am Wasser auftauchen, lasse ich dich vierteilen, ehrlich.«
Schmollend schob sie die Lippen vor und murmelte: »Ich hätte ja meine eigenen Stiefel genommen.«
Marcus lachte leise auf. Honoria sah zu ihm hoch; ihre Miene verriet, wie sehr sie sich verraten fühlte.
»Dann hätten es aber ganz kleine Fische sein müssen«, sagte er rasch.
Das schien sie nicht zufriedenzustellen.
»Wenn sie so klein sind, kann man sie nicht essen«, sagte er versuchsweise. »Sie bestehen dann nur aus Gräten.«
»Gehen wir«, brummte Daniel. Und so brachen sie auf, marschierten zu dritt durch den Wald, wobei Honoria sich mächtig anstrengen musste, mit ihren kleinen Beinchen Schritt zu halten.
»Eigentlich mag ich Fische gar nicht«, plapperte sie, eifrig bemüht, ein Gespräch in Gang zu halten. »Sie riechen grässlich. Und sie schmecken so fischig …«
Und auf dem Rückweg:
»… ich finde ja immer noch, dass der Rosafarbene groß genug zum Essen gewesen wäre. Wenn man Fisch mag. Ich mag Fisch ja nicht. Aber wenn man Fisch mag …«
»Erlaub ihr bloß nie wieder mitzukommen«, sagte Daniel zu Marcus.
»… ich ja nicht. Aber Mutter mag Fisch, glaube ich. Und bestimmt hätte sie den rosa Fisch ganz besonders gemocht …«
»Mach ich ganz bestimmt nicht«, versprach Marcus. Es kam ihm zwar ziemlich unhöflich vor, ein kleines Mädchen so zu kritisieren, aber Honoria war furchtbar anstrengend.
»… Charlotte würde ihn aber nicht mögen. Charlotte hasst Rosa. Sie will nichts Rosanes tragen. Sie sagt, sie sieht dann ganz ausgemergelt aus. Ich weiß nicht, was ausgemergelt bedeutet, aber es klingt ziemlich unangenehm. Mir gefällt ja Lavendel gut.«
Die beiden Knaben stießen unisono einen tiefen Seufzer aus und wären einfach weitergegangen, wenn ihnen Honoria nicht plötzlich in den Weg gesprungen wäre und breit grinsend erklärt hätte: »Er passt zu meinen Augen.«
»Der Fisch?«, fragte Marcus und schaute auf den Eimer in seiner Hand. Darin schwammen drei ausgewachsene Forellen. Sie hätten noch mehr gehabt, wenn Honoria nicht aus Versehen den Eimer umgeworfen und Marcus’ erste beiden Fänge in den See zurückgekippt hätte.
»Nein. Hast du nicht zugehört?«
An diesen Augenblick würde er sich immer erinnern. Es war das erste Mal, dass er mit der wohl ärgerlichsten Eigenheit des weiblichen Geschlechts konfrontiert wurde: eine Frage zu stellen, auf die es nichts als falsche Antworten gab.
»Lavendel passt zu meinen Augen«, wiederholte Honoria mit Nachdruck. »Das hat Papa mir gesagt.«
»Dann muss es auch wahr sein«, versicherte Marcus erleichtert. Sie wickelte sich eine Haarsträhne um den Finger, doch die Locke löste sich gleich wieder auf, als sie losließ. »Braun passt zu meinem Haar, aber ich mag Lavendel lieber.«
Marcus setzte den Eimer ab. Er wurde allmählich schwer, und der Henkel schnitt ihm in die Handfläche.
»Oh nein«, sagte Daniel, packte mit der freien Hand Marcus’ Eimer und gab ihn seinem Freund zurück. »Wir gehen nach Hause.« Erbost funkelte er Honoria an. »Aus dem Weg.«
»Warum bist du zu allen nett, bloß zu mir nicht?«, fragte sie.
»Weil du eine schreckliche Nervensäge bist!« Jetzt schrie ihr Bruder beinahe.
Er hatte recht, aber Marcus tat die Kleine trotzdem leid. Manchmal. Sie war praktisch ein Einzelkind, und wie sich das anfühlte, wusste er genau. Sie wollte doch nur dazugehören, bei Spielen und Festen und all den anderen Aktivitäten mitmachen, für die ihre Familie sie dauernd für zu jung erklärte.
Honoria nahm den verbalen Schlag hin, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie stand ganz still und starrte ihren Bruder böse an. Dann zog sie einmal laut und deutlich die Nase hoch.
Marcus wünschte, sie hätte ein Taschentuch.
»Marcus«, sagte sie und drehte sich zu ihm um, beziehungsweise wandte vor allem ihrem Bruder den Rücken zu. »Möchtest du eine Teegesellschaft mit mir veranstalten?«
Daniel kicherte spöttisch.
»Ich bringe auch meine schönsten Puppen mit«, erklärte sie tiefernst.
Lieber Himmel, alles, bloß das nicht.
»Kuchen gibt es auch«, fügte sie hinzu. Ihr gezierter, formeller Ton jagte ihm eine Heidenangst ein.
Marcus warf Daniel einen panischen Blick zu, doch von seinem Freund kam keine Hilfe.
»Na, wie ist es?«, hakte Honoria nach.
»Nein!«, platzte Marcus heraus.
»Nein?« Schon wieder richtete sie diesen tränenfeuchten Blick auf ihn.
»Ich kann nicht. Ich habe zu tun.«
»Was denn?«
Marcus räusperte sich. Zweimal. »Dinge.«
»Was für Dinge?«
»Dinge eben.« Gleich darauf fühlte er sich schrecklich: Gar so unerbittlich hatte er nicht klingen wollen. »Daniel und ich haben schon etwas vor.«
Sie wirkte tief verletzt. Ihre Unterlippe fing an zu zittern, und diesmal war es nicht gespielt, davon war Marcus überzeugt.
»Tut mir leid«, fügte er hinzu, weil er ihr wirklich nicht hatte wehtun wollen. Aber zum Kuckuck, eine Teegesellschaft! Es gab auf der ganzen Welt keinen zwölfjährigen Jungen, der auf eine Teegesellschaft gehen wollte.
Mit Puppen.
Marcus schauderte.
Honoria lief vor Zorn puterrot an und wirbelte zu ihrem Bruder herum. »Das hat er nur wegen dir gesagt!«
»Ich habe doch gar nichts gemacht«, verteidigte sich Daniel.
»Ich hasse euch!«, erklärte sie mit gepresster Stimme. »Ich hasse euch alle beide.« Dann schrie sie es noch einmal heraus: »Ich hasse euch! Vor allem dich, Marcus. Ich hasse dich!«
Und dann rannte sie ins Haus, so schnell ihre dünnen Beinchen sie tragen wollten, was nicht sehr schnell war. Marcus und Daniel standen da und sahen ihr schweigend nach.
Als sie beinahe am Haus angekommen war, nickte Daniel und sagte: »Sie hasst dich. Jetzt gehörst du ganz offiziell zu unserer Familie.«
Und so war es auch. Von diesem Augenblick an gehörte er dazu.
Bis zum Frühling 1821, als Daniel alles kaputt machte.
März1824
Cambridge
Lady Honoria Smythe-Smith war verzweifelt.
Sie sehnte sich nach etwas Sonnenschein, einem Ehemann und – sie betrachtete seufzend ihre kaputten blauen Slipper – nach einem Paar neuer Schuhe.
Sie ließ sich auf die Steinbank vor Mr. Hillefords Tabakladen für den geschmacksbewussten Gentleman sinken und drängte sich an die Wand – in dem verzweifelten Bemühen (schon wieder dieses schreckliche Wort), sich vor dem Regenguss zu schützen. Es regnete in Strömen. In Strömen. Es tröpfelte nicht, es regnete nicht, es schüttete wie aus den sprichwörtlichen Eimern, wenn nicht gar aus Fässern.
Aus großen Fässern.
Und es stank. Bisher hatte Honoria immer gedacht, Zigarrenrauch wäre der übelste Geruch, den sie kannte, aber nun musste sie feststellen, dass Moder noch schlimmer war: An der Außenwand von Mr. Hillefords Tabakladen für den geschmacksbewussten Gentleman, dem es egal war, wenn seine Zähne gelb wurden, wucherte etwas verdächtig Schwarzes in die Höhe, das nach Tod und Verderben roch.
Wirklich, könnte sie sich in einer noch schlimmeren Lage befinden?
Vermutlich. Aber es war schlimm genug. Denn sie war (natürlich) völlig allein gewesen, als die ersten Regentropfen unvermutet zum Wolkenbruch angeschwollen waren. Ihre Gefährtinnen kramten derweil selig in Miss Pilasters warmem, gemütlichem Putzladen auf der anderen Straßenseite herum. Dort gab es nicht nur hübsche Bänder und Spitzen zu bewundern, es roch auch sehr viel besser als in (oder vor) Mr. Hillefords Geschäftsräumen.
Miss Pilaster verkaufte Parfüm. Miss Pilaster verkaufte getrocknete Rosenblätter und kleine Kerzen, die nach Vanille dufteten.
Mr. Hilleford baute Schimmel an.
Honoria seufzte. Ihr Leben war ein Desaster.
Sie hatte nur noch rasch die Auslage eines Buchladens begutachten wollen und ihren Freundinnen versprochen, gleich in Miss Pilasters Laden zu ihnen zu stoßen. Doch dann trödelte sie zu lange herum, und gerade, als sie endlich aufbrechen wollte, hatte der Himmel seine Schleusen geöffnet. Ihr war gar nichts anderes übrig geblieben, als unter der einzigen Markise Zuflucht zu suchen, die auf der Südseite der Cambridge High Street zu finden war.
Betrübt starrte sie in den Regen, der auf die Straßen prasselte. Die Tropfen schlugen mit beträchtlicher Macht auf dem Pflaster auf, spritzten und stoben auf wie winzig kleine Explosionen. Der Himmel verdunkelte sich zusehends, und wenn Honoria sich auch nur ein wenig mit dem englischen Wetter auskannte, dann würde der Wind jeden Augenblick auffrischen – und ihre erbärmliche Zuflucht unter Mr. Hillefords Markise völlig nutzlos sein.
Unmutig verzog sie den Mund und spähte zum Himmel empor.
Ihre Füße waren nass.
Ihr war kalt.
Und sie hatte England in ihrem ganzen Leben noch nie verlassen, was bedeutete, dass sie sich mit dem englischen Wetter tatsächlich bestens auskannte und ihr folglich in etwa drei Minuten noch elender und kälter sein würde als jetzt.
Was sie eigentlich gar nicht für möglich gehalten hatte.
»Honoria?«
Sie blinzelte und wandte den Blick vom Himmel zu der Kutsche, die eben vor ihr zum Stehen gekommen war.
»Honoria?«
Diese Stimme kannte sie. »Marcus?«
Ach, du lieber Himmel, das hatte ihr zu ihrem Glück gerade noch gefehlt. Marcus Holroyd, der Earl of Chatteris, der frohgemut in seiner plüschigen Kutsche im Trockenen saß. Honoria merkte, dass ihr vor Überraschung immer noch der Mund offen stand, obwohl es doch eigentlich gar nicht erstaunlich war, dass sie Marcus hier traf. Er lebte schließlich in Cambridgeshire, nicht allzu weit von der Stadt entfernt. Außerdem, wenn schon jemand sie entdecken musste, während sie aussah wie eine völlig durchweichte Katze, dann war das natürlich er.
»Lieber Himmel, Honoria«, sagte er und blickte auf seine hochmütige Art auf sie herunter, »dir muss doch eiskalt sein.«
Sie zuckte leicht mit den Schultern. »Es ist ein bisschen frisch.«
»Was machst du hier?«
»Mir die Schuhe ruinieren.«
»Was?«
»Einkaufen«, sagte sie und deutete auf die andere Straßenseite. »Mit ein paar Freundinnen. Und Cousinen.« Nicht dass ihre Cousinen nicht auch Freundinnen gewesen wären. Aber sie hatte so viele Cousinen, dass sie fast wie eine eigene Kategorie wirkten.
Die Tür wurde noch weiter aufgedrückt. »Steig ein«, sagte er. Nicht: Würdest du bitte einsteigen? oder: Bitte, du musst jetzt erst mal ins Trockene. Sondern nur: Steig ein.
Eine andere junge Frau hätte vielleicht nur das Haar zurückgeworfen und gesagt: Von dir lasse ich mich nicht herumkommandieren! Eine dritte, weniger stolze junge Frau hätte es wenigstens gedacht, selbst wenn sie sich nicht getraut hätte, es zu sagen. Aber Honoria fror, und ihr Wohlergehen war ihr wichtiger als ihr Stolz, und außerdem war das Marcus Holroyd, den sie kannte, seit sie ein kleines Mädchen war.
Seit sie sechs war, um genau zu sein.
Vermutlich war es ihr damals auch zum letzten Mal gelungen, sich ihm vorteilhaft zu präsentieren, dachte sie und verzog peinlich berührt das Gesicht. Mit sieben hatte sie sich bereits zu einer derartigen Plage entwickelt, dass Marcus und ihr Bruder Daniel sie nur noch Moskito nannten. Als sie sich daraufhin geschmeichelt gab und betonte, wie sehr ihr der exotische und gefährliche Klang des Worts gefalle, hatten die beiden Knaben nur gegrinst und sie stattdessen Mücke gerufen.
Und dieser Name war an ihr hängen geblieben.
Er hatte sie zudem auch schon nasser gesehen. Mit acht war sie einmal ins Geäst der alten Eiche auf Whipple Hill geklettert, im festen Glauben, man könne sie dort nicht sehen. Marcus und Daniel, die am Fuß des Baums – unter Ausschluss der Mädchenwelt – ein Fort errichtet hatten, warfen mit kleinen Steinchen nach ihr, bis sie den Halt verlor und herunterfiel.
Es wäre, stellte sie im Nachhinein fest, vermutlich wirklich klüger gewesen, sich nicht ausgerechnet auf dem Ast niederzulassen, der über dem Teich hing.
Marcus hatte sie immerhin aus der Brühe gefischt, was mehr war, als sie von ihrem eigenen Bruder behaupten konnte.
Marcus Holroyd, dachte sie reuig. Seit sie denken konnte, gehörte er zu ihrem Leben. Sie kannte ihn, bevor er Lord Chatteris geworden war und Daniel Lord Winstead. Bevor Charlotte, die Schwester, die ihr im Alter am nächsten stand, geheiratet und ihr Heim verlassen hatte.
Und bevor Daniel sie verlassen hatte.
»Honoria.«
Sie sah auf. Marcus’ Stimme klang ungeduldig, doch in seiner Miene zeigte sich auch leise Sorge. »Steig ein«, wiederholte er.
Sie nickte gehorsam, nahm seine große Hand und ließ sich von ihm in die Kutsche helfen. »Marcus«, sagte sie und versuchte, so elegant und anmutig in den Sitz zu sinken, wie sie das in einem vornehmen Salon getan hätte. Die Pfützen, die sich zu ihren Füßen sammelten, strafte sie mit Nichtachtung. »Was für eine reizende Überraschung, dir hier zu begegnen.«
Er starrte sie nur an, und seine dunklen Brauen berührten sich beinahe. Bestimmt suchte er wieder mal nach dem effektivsten Weg, sie auszuschelten.
»Ich bin hier in der Stadt untergekommen, bei den Royles«, sagte sie, obwohl er sie noch gar nicht danach gefragt hatte. »Wir sind für fünf Tage hier – Cecily Royle, meine Cousinen Sarah und Iris und ich.« Sie wartete einen Augenblick, ob in seinen Augen ein Zeichen des Erkennens aufblitzte, und fragte dann: »Du weißt nicht mehr, wer das ist, nicht wahr?«
»Du hast so viele Cousinen«, erklärte er.
»Sarah ist diejenige mit den dicken dunklen Haaren und Augen.«
»Dicke Augen?«, murmelte er und grinste ein wenig.
»Marcus!«
Er lachte. »Also schön. Dicke Haare. Dunkle Augen.«
»Iris hat sehr helle Haut. Und rotblondes Haar«, führte sie weiter aus. »Du erinnerst dich immer noch nicht.«
»Sie kommt aus dieser Blumenfamilie.«
Honoria seufzte leicht gereizt. Es stimmte, dass ihr Onkel William und ihre Tante Maria beschlossen hatten, ihre Töchter Rose, Lavender, Iris und Daisy zu nennen, aber trotzdem …
»Miss Royle kenne ich«, sagte Marcus.
»Sie ist ja auch deine Nachbarin. Die musst du schließlich kennen.«
Er zuckte nur mit den Schultern.
»Jedenfalls sind wir hier in Cambridge, weil Cecilys Mutter fand, wir könnten alle ein wenig Schliff vertragen.«
Sein Mund verzog sich zu einem etwas spöttischen Lächeln. »Schliff?«
Honoria fragte sich in der Tat, warum Mädchen immer »ein wenig Schliff« brauchten, während Knaben einfach auf die Schule gehen durften. »Sie hat zwei Professoren bestochen, damit sie uns bei ihren Vorlesungen zuhören lassen.«
»Wirklich?« Er klang neugierig. Und skeptisch.
»Über das Leben und Wirken von Queen Elizabeth«, erläuterte Honoria pflichtbewusst. »Und danach irgendetwas Griechisches.«
»Du verstehst Griechisch?«
»Keine von uns«, räumte sie ein. »Aber der Professor war der einzige andere, der sich bereit erklärt hatte, Frauen zu unterrichten.« Sie verdrehte unmutig die Augen. »Er will seine Vorlesung zweimal hintereinander halten. Wir müssen in einem Büro warten, bis die Studenten den Vorlesungssaal verlassen haben, damit sie uns nicht sehen und womöglich den Verstand verlieren.«
Marcus nickte nachdenklich. »Für einen Herrn ist es unmöglich, sich im Beisein derart holder Weiblichkeit auf seine Studien zu konzentrieren.«
Für einen kurzen Augenblick glaubte Honoria, es sei sein Ernst. Doch nach einem kurzen Seitenblick prustete sie vor Lachen. »Nimm mich nicht auf den Arm«, sagte sie und boxte ihn leicht gegen die Schulter. Derartige Vertraulichkeiten wären in London unerhört gewesen, doch hier und mit Marcus …
Schließlich war er fast ihr Bruder.
»Wie geht es deiner Mutter?«, erkundigte er sich.
»Gut«, erwiderte Honoria, obwohl das eigentlich nicht stimmte. Lady Winstead hatte sich nie recht von dem Skandal erholen können, der Daniel damals zwang, das Land zu verlassen. Sie schwankte in ihrem Verhalten zwischen zwei Extremen: Mal regte sie sich über die geringste Kränkung auf, dann wieder tat sie so, als hätte ihr Sohn nie existiert.
Es war … schwierig.
»Sie hofft, sich nach Bath zurückziehen zu können«, fügte Honoria hinzu. »Dort lebt ihre Schwester, und ich könnte mir vorstellen, dass die beiden gut miteinander auskommen. London gefällt ihr eigentlich nicht.«
»Deiner Mutter?«, fragte Marcus einigermaßen überrascht.
»Nicht so wie früher«, erklärte Honoria. »Nicht seit Daniel … Na ja, du weißt schon.«
Marcus presste die Lippen zusammen. Er wusste es nur zu gut!
»Sie glaubt, dass die Leute immer noch darüber reden«, sagte Honoria.
»Und, tun sie das?«
Hilflos zuckte sie mit den Achseln. »Keine Ahnung. Ich glaube nicht. Mir hat bis jetzt noch niemand die kalte Schulter gezeigt. Außerdem liegt die Sache schon drei Jahre zurück. Sollte man da nicht meinen, dass die Leute inzwischen etwas anderes gefunden haben, über das sie reden können?«
»Ich hätte gedacht, dass die Leute selbst damals, als es passiert ist, über etwas anderes hätten reden können«, sagte er düster.
Angesichts seiner finsteren Miene zog Honoria die Brauen hoch. Kein Wunder, dass er so viele Debütantinnen abschreckte. Ihre Freundinnen hatten alle panische Angst vor ihm.
Nun ja, so ganz stimmte das nicht. Sie fürchteten sich nur dann, wenn sie sich in seiner Nähe aufhielten. Die übrige Zeit saßen sie an ihren Schreibpulten und malten seinen Namen, verschnörkelt mit ihrem eigenen, das Ganze verziert mit lächerlichen Herzchen und Engelchen.
Marcus Holroyd war eben eine schrecklich gute Partie.
Nicht etwa, weil er so schön gewesen wäre, denn das war er nicht, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn. Zwar hatten seine Haare und Augen einen ansprechenden dunklen Ton, doch seine Züge verrieten eine gewisse Härte, fand Honoria. Die Stirn zu schwer, die Brauen zu gerade, und seine Augen lagen ein wenig zu tief in den Höhlen.
Trotzdem hatte er etwas an sich, was Aufmerksamkeit erregte. Er strahlte eine gewisse arrogante Überlegenheit aus, fast schon Missbilligung. Jedenfalls wirkte er so, als würde er keinerlei Unfug dulden.
Vielleicht waren die Mädchen, die meist den lieben langen Tag nichts als Unfug trieben, gerade deshalb so verrückt nach ihm.
Sie tuschelten über ihn, als wäre er irgendein düsterer Romanheld – oder doch zumindest der geheimnisvolle und romantische Schurke, der nur durch die Liebe einer schönen Maid erlöst werden konnte.
Für Honoria hingegen war er einfach nur Marcus. Was allerdings in Wahrheit alles andere als einfach war. Einerseits hasste sie seine herablassende Art. Unter seinen missbilligenden Blicken fühlte sie sich jedes Mal wieder wie damals – wie ein nervtötendes Kind oder eine unbeholfene Heranwachsende.
Doch gleichzeitig empfand sie seine Nähe als ungeheuer wohltuend. In jüngster Zeit kreuzten sich ihre Wege nicht mehr so oft wie früher – mit Daniels Weggang hatte sich alles verändert –, aber wenn sie einen Raum betrat, und er war auch da …
Dann wusste sie es sofort, spürte es einfach.
Merkwürdigerweise gefiel ihr das.
»Fährst du zur Saison nach London?«, fragte sie jetzt höflich.
»Nicht die ganze Zeit«, erwiderte er mit unergründlicher Miene. »Ich muss mich hier um einiges kümmern.«
»Oh, ich verstehe.«
»Und du?«, fragte er.
Sie blinzelte.
»Fährst du zur Saison nach London?«, präzisierte er.
Sie starrte ihn mit offenem Mund an. Das konnte er doch unmöglich ernst meinen, oder? Wohin sollte sie denn sonst gehen, als unverheiratete Frau? Es war ja nicht so, als ob …
»Machst du dich lustig über mich?«, erkundigte sie sich misstrauisch.
»Aber nein.« Doch er lächelte.
»Das ist nicht komisch«, erklärte sie. »Es ist ja nicht so, als könnte ich es mir aussuchen. Ich muss zur Saison nach London. Ich bin verzweifelt auf der Suche nach einer angemessenen Partie.«
»Verzweifelt«, wiederholte er und schaute sie skeptisch an. Wie so oft.
»In diesem Jahr muss ich einfach einen Mann finden.« Sie ertappte sich dabei, wie sie den Kopf schüttelte, aber wogegen verwahrte sie sich eigentlich? Ihre Lage war schließlich nicht viel anders als die ihrer Freundinnen. Sie war nicht die einzige junge Dame, die auf Heirat hoffte. Aber sie suchte nicht etwa deshalb einen Mann, weil sie den Ring an ihrem Finger bewundern oder sich im Glanz ihres neuen Status als flotte junge Ehefrau sonnen wollte. Sie wollte endlich einen eigenen Haushalt. Eine eigene Familie – eine große, laute, die nicht immer nur auf Manieren achtete.
Sie hatte die Stille so satt, die seit einiger Zeit in ihrem Zuhause herrschte. Sie konnte es nicht ertragen, dass das Klicken ihrer Absätze auf dem Fußboden so oft das einzige Geräusch war, das sie den ganzen Nachmittag über zu hören bekam.
Sie brauchte einen Ehemann. Es war der einzige Ausweg.
»Ach, nun komm schon, Honoria«, sagte Marcus, und sie brauchte sein Gesicht gar nicht zu sehen, um zu wissen, welche Miene er aufgesetzt hatte – herablassend, skeptisch, gewürzt mit einer Prise ennui. »So schlimm kann dein Leben doch gar nicht sein.«
Sie knirschte unhörbar mit den Zähnen. Diesen Ton konnte sie gar nicht vertragen. »Vergiss, dass ich überhaupt etwas gesagt habe«, brummte sie dann, weil es wirklich keinen Sinn hatte, ihm die Situation erklären zu wollen.
Er atmete tief aus und brachte es fertig, sogar das noch herablassend klingen zu lassen. »Hier jedenfalls wirst du kaum einen Mann finden«, stellte er dann fest.
Sie presste die Lippen zusammen und bedauerte, überhaupt etwas gesagt zu haben.
»Die Studenten sind zu jung«, erklärte er.
»Sie sind genauso alt wie ich«, gab sie zurück und ging ihm damit geradewegs in die Falle.
Aber Marcus kostete seinen Sieg nicht aus, er war nicht der hämische Typ. »Deswegen bist du also in Cambridge, nicht wahr? Um die Studenten zu treffen, die noch nicht nach London abgereist sind?«
Den Blick streng geradeaus gerichtet, erwiderte sie: »Ich habe dir doch gesagt, dass wir hier sind, um die Vorlesungen zu hören.«
Er nickte. »Auf Griechisch.«
»Marcus.«
Jetzt grinste er. Nur, dass es eigentlich kein Grinsen war. Marcus war immer so ernst, so steif, dass ein Grinsen von ihm bei anderen höchstens als halbes Lächeln durchgegangen wäre. Honoria fragte sich, wie oft er wohl lächelte, ohne dass es jemand bemerkte. Er konnte wirklich froh sein, dass sie ihn so gut kannte. Jeder andere hätte gedacht, er hätte überhaupt keinen Humor.
»Was war das jetzt?«
Sie zuckte zusammen und sah ihn an. »Was war was?«
»Du hast mit den Augen gerollt.«
»Wirklich?« Sie hatte tatsächlich keine Ahnung, ob sie es getan hatte oder nicht. Viel wichtiger war aber: Warum beobachtete er sie so intensiv? Du liebe Güte, das war schließlich Marcus! Sie sah aus dem Fenster. »Glaubst du, der Regen hat nachgelassen?«
»Nein«, erwiderte er, ohne den Kopf auch nur einen Zoll zu drehen. Warum auch? Der Regen trommelte immer noch gnadenlos auf das Kutschendach. Es war eine dumme Frage gewesen, sie hatte damit nur das Thema wechseln wollen.
»Soll ich dich zu den Royles fahren?«, fragte er höflich.
»Nein, danke.« Honoria reckte den Hals und versuchte, durch die Scheibe, den Regen und das Schaufenster in Miss Pilasters Laden zu blicken. Sie konnte überhaupt nichts erkennen, doch es war ein guter Vorwand, ihn nicht ansehen zu müssen, und so schaute sie weiter eifrig durch das Kutschenfenster. »Ich gehe gleich zu meinen Freundinnen hinüber.«
»Hast du Hunger?«, erkundigte er sich. »Ich habe vorhin bei Findle’s vorbeigeschaut und ein paar Stücke Kuchen gekauft.«
Ihre Miene hellte sich auf. »Kuchen?«
Sie seufzte das Wort eher, als dass sie es sagte. Vielleicht stöhnte sie es auch. Aber es war ihr egal. Er wusste, dass sie eine Schwäche für Süßes hatte, er war da nicht anders. Daniel hatte für Nachtisch nie viel übriggehabt; als sie klein waren, hatten sie und Marcus sich öfters gemeinsam über einen Teller Kuchen und Plätzchen hergemacht.
Daniel fand, sie sähen dabei aus wie ein Haufen Wilder, worüber Marcus laut lachen musste. Honoria hatte nie verstanden, warum.
Er bückte sich und zog etwas aus einer Schachtel, die auf dem Boden stand. »Schwärmst du immer noch für Schokolade?«
»Aber ja.« Sie lächelte verschwörerisch und voller Vorfreude.
Er lachte. »Erinnerst du dich noch an diese Torte, die eure Köchin einmal gebacken hat …«
»Die, die der Hund gefressen hat?«
»Ich habe damals beinahe geweint.«
Sie verzog das Gesicht. »Ich glaube, ich habe wirklich geweint.«
»Ich hatte gerade mal einen Bissen abbekommen.«
»Ich gar nichts«, sagte sie sehnsüchtig. »Aber sie hat göttlich geduftet.«
»Oh ja.« Er sah aus, als würde allein die Erinnerung an jene Torte ihn in Entzücken versetzen. »Oh ja, das hat sie.«
»Weißt du, ich hatte ja immer den Verdacht, dass Daniel Buttercup ins Haus gelassen hat.«
»Das glaube ich allerdings auch«, stimmte Marcus zu. »Er hatte diesen sehr schuldigen Blick …«
»Hoffentlich hast du ihn ordentlich verprügelt.«
»Grün und blau«, versicherte er.
Sie grinste und fragte dann: »Das stimmt nicht, oder?«
Marcus lachte leise in sich hinein. »Nein, es stimmt nicht.« Er bot ihr einen kleinen Schokoladenkuchen an, der dunkel und verlockend auf einem Stück sauberen weißen Papier thronte. Er duftete einfach himmlisch. Honoria schnupperte beglückt.
Dann sah sie Marcus an und musste lächeln. Einen Augenblick lang fühlte sie sich wieder wie das unbeschwerte Mädchen, das sie noch vor wenigen Jahren gewesen war, damals, als die Welt vor ihr gelegen hatte wie eine helle, strahlende, verheißungsvoll glitzernde Kugel. Es war ein Gefühl, von dem sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie es vermisste – ein Gefühl der Zugehörigkeit, des Vertrautseins. Das Gefühl, mit jemandem zusammen zu sein, der einen durch und durch kannte und trotzdem noch gern mit einem lachte.
Seltsam, dass ausgerechnet Marcus dieses Gefühl in ihr weckte.
Und dann wiederum auch gar nicht seltsam.
Sie nahm den Kuchen und betrachtete ihn unentschlossen.
»Ich habe leider keinerlei Besteck«, sagte Marcus entschuldigend.
»Das könnte ein schreckliches Gematsche geben«, gab sie zu bedenken und hoffte, dass er verstand, was sie damit eigentlich meinte: Bitte sag mir, dass es dir nichts ausmacht, wenn ich dir die ganze Kutsche vollkrümele.
»Ich nehme auch einen«, entschied er. »Damit du dich nicht so allein fühlst.«
Sie unterdrückte ein Lächeln. »Das ist überaus großmütig von dir.«
»Ich bin mir ganz sicher, dass es meine Pflicht als Gentleman ist.«
»Kuchen zu essen?«
»Es ist eine meiner angenehmeren Pflichten als Gentleman«, räumte er ein.
Honoria kicherte und biss in ihren Kuchen. »Hmmmmm.«
»Gut?«
»Himmlisch.« Sie nahm noch einen Bissen. »Überirdisch himmlisch.«
Er grinste und biss in seinen Kuchen, verschlang die Hälfte mit einem Bissen. Unter Honorias überraschtem Blick steckte er sich die zweite Hälfte in den Mund und aß sie auf.
Das Stück war nicht sehr groß gewesen, aber trotzdem. Sie knabberte lieber vorsichtig an ihrem Kuchen, damit er möglichst lange vorhielt.
»Das hast du schon immer gemacht«, sagte er.
Sie blickte auf. »Was?«
»Deinen Nachtisch ganz langsam gegessen, nur um uns andere zu quälen.«
»Ich will möglichst lange etwas davon haben.« Sie warf ihm einen spitzbübischen Blick zu. »Wenn du dich davon quälen lässt, bist du selbst daran schuld.«
»Wie herzlos«, murmelte er.
»Bei dir immer.«
Er lachte noch einmal, und Honoria war wieder einmal erstaunt, wie locker er sein konnte, wenn sie mit ihm allein war. Es war dann beinahe so, als hätte sie ihren alten Marcus wieder, den, der praktisch auf Whipple Hill gelebt hatte. Er gehörte damals wirklich zur Familie – sogar bei ihren schrecklichen weihnachtlichen Krippenspielen machte er mit. Er hatte meist einen Baum gespielt, was sie aus irgendeinem Grund immer sehr lustig fand.
Diesen Marcus hatte sie gemocht. Sie hatte ihn angebetet.
Aber vor ein paar Jahren war er verschwunden, hatte dem stillen, strengen Mann Platz gemacht, den der Rest der Welt als Lord Chatteris kannte. Es war wirklich traurig. Für sie, vor allem aber wohl für ihn selbst.
Sie aß ihren Kuchen auf, versuchte dabei, seinen amüsierten Blick zu ignorieren, und nahm sein Taschentuch entgegen, um sich die Krümel von den Händen zu wischen. »Danke«, sagte sie und gab es zurück.
Er nickte und fragte: »Wann willst du …«
Ein lautes Klopfen am Fenster unterbrach ihn.
»Verzeihung, Sir«, sagte eine Stimme, die ihr nicht ganz unbekannt vorkam, »ist das Lady Honoria?«
»Ja.«
Honoria beugte sich vor, linste an Marcus vorbei und sah einen Lakaien in vertrauter Livree. »Das ist ja …« Sie hatte keine Ahnung, wie er hieß, aber er hatte die Mädchen auf ihren Einkaufsbummeln begleitet. »Er gehört zu den Royles.« Sie warf Marcus ein flüchtiges, verlegenes Lächeln zu und erhob sich dann in gebückter Haltung, um aus der Kutsche klettern zu können. »Ich muss gehen. Meine Freundinnen werden schon auf mich warten.«
»Ich besuche dich morgen.«
»Was?« Sie erstarrte und beugte sich vor wie eine bucklige alte Frau.
Spöttisch hob er eine Augenbraue. »Deine Gastgeberin wird doch bestimmt nichts dagegen haben.«
Mrs. Royle sollte etwas dagegen haben, dass ein unverheirateter Earl unter dreißig ihrem Haus einen Besuch abstatten wollte? Honoria würde Mühe haben, sie davon abzuhalten, eine Willkommensparade zu veranstalten.
»Das wäre bestimmt ganz reizend«, brachte sie hervor.
»Gut.« Er räusperte sich. »Wir haben uns viel zu lang nicht mehr gesehen.«
Überrascht sah sie ihn an. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er auch nur einen Gedanken an sie verschwendete, wenn sie nicht gerade beide zur Saison in London waren.
»Ich bin froh, dass es dir gut geht«, sagte er abrupt.
Honoria hatte keine Ahnung, warum diese Bemerkung sie so beunruhigte, aber sie beunruhigte sie.
Sie beunruhigte sie sogar sehr.
Marcus sah zu, wie der Lakai der Royles Honoria zu dem Laden auf der anderen Straßenseite geleitete. Sobald er sich überzeugt hatte, dass sie sicher angekommen war, klopfte er dreimal an die Trennwand, um dem Kutscher zu signalisieren, dass er weiterzufahren wünschte.
Es hatte ihn überrascht, sie hier in Cambridge zu sehen. Es stimmte schon, normalerweise verfolgte er nicht so genau, was Honoria tat, doch er hätte schon angenommen, dass er davon erfuhr, wenn sie sich in der Nähe seines Zuhauses aufhielt.
Er sollte wohl doch anfangen, für die Londoner Saison zu planen. Er hatte nicht gelogen, als er ihr sagte, er habe zu tun, auch wenn es vermutlich ehrlicher gewesen wäre, zuzugeben, dass er sich einfach lieber auf dem Lande aufhielt. Seine Anwesenheit in Cambridgeshire war nicht unverzichtbar, doch vieles wurde leichter dadurch.
Ganz zu schweigen davon, dass er die Saison hasste. Doch wenn Honoria so wild entschlossen war, sich einen Ehemann zu suchen, würde er nach London reisen müssen, um aufzupassen, dass sie keinen verhängnisvollen Fehler beging.
Schließlich hatte er es geschworen.
Daniel Smythe-Smith war sein bester Freund gewesen. Nein, sein einziger Freund, sein einzig wahrer Freund.
Tausend Bekannte und ein echter Freund.
So war sein Leben.
Doch Daniel war weg, irgendwo in Italien, wenn der letzte Brief noch aktuell war. Und so schnell würde er auch nicht zurückkommen, nicht solange der Marquess of Ramsgate noch am Leben war und nach Rache dürstete.
Was für ein verdammtes Fiasko das Ganze gewesen war! Marcus hatte Daniel davor gewarnt, mit Hugh Prentice Karten zu spielen. Aber nein, Daniel hatte nur gelacht; er wollte unbedingt sein Glück versuchen. Prentice gewann immer. Immer. Er war brillant, das wusste jeder. Egal ob es sich um Mathematik, Physik oder Geschichte handelte – am Schluss war stets er es, der die Professoren in Cambridge belehrte. Hugh Prentice schummelte nicht beim Spielen, er gewann immer, weil er einfach ein unglaublich gutes Gedächtnis hatte und einen scharfen, analytischen Geist, der die Welt in Mustern und Gleichungen sah.
Das zumindest hatte er Marcus erzählt, als sie zusammen in Eton gewesen waren. Wenn er ehrlich war, verstand Marcus immer noch nicht so ganz, wovon er damals gesprochen hatte. Und er war immerhin in Mathematik der zweitbeste Schüler gewesen. Aber mit Hugh konnte sich keiner messen.
Niemand, der auch nur halbwegs bei Verstand war, spielte mit Hugh Prentice Karten, aber Daniel war an diesem Abend nicht bei Verstand gewesen, nicht einmal halbwegs, sondern ein bisschen betrunken und ziemlich überdreht, weil er gerade mit irgendeinem Mädchen im Bett gewesen war. Und so setzte er sich zu Hugh und spielte mit ihm.
Und gewann.
Selbst Marcus hatte es nicht fassen können.
Nicht, dass er geglaubt hätte, dass Daniel schummelte. Niemand glaubte das. Er war allseits beliebt. Jeder vertraute ihm. Andererseits hatte niemand je gegen Hugh Prentice gewonnen.
Hugh hatte getrunken. Daniel hatte ebenfalls getrunken. Sie hatten alle getrunken, und als Hugh den Tisch umwarf und Daniel des Betrugs bezichtigte, war in dem Raum plötzlich die Hölle los.
Bis heute war Marcus sich nicht ganz sicher, was damals alles gesagt wurde, aber binnen Minuten stand fest: Daniel Smythe-Smith würde Hugh Prentice im Morgengrauen gegenübertreten. Mit Pistolen.
Blieb nur zu hoffen, dass die beiden bis dahin wieder nüchtern genug wären, um ihre eigene Dummheit zu erkennen.
Hugh hatte als Erster geschossen und Daniel in die linke Schulter getroffen. Und während alle noch verstört nach Luft schnappten – ehrenhaft wäre es gewesen, in die Luft zu schießen –, hob Daniel den rechten Arm und schoss.
Und – verdammt, Daniel war noch nie besonders zielsicher gewesen – er hatte Hugh in den Oberschenkel getroffen. Die Wunde hatte dermaßen geblutet, dass Marcus noch heute beim bloßen Gedanken daran schlecht wurde. Sogar der anwesende Arzt hatte entsetzt aufgeschrien. Die Kugel musste eine Arterie getroffen haben, nichts anderes hätte eine derartige Blutung verursachen können. Drei Tage lang sorgte man sich vor allem darum, ob Hugh durchkommen würde; niemand dachte groß an das Bein und den zerschmetterten Oberschenkelknochen.
Hugh überlebte, doch er konnte nicht mehr richtig laufen, zumindest nicht ohne Stock. Und sein Vater – der überaus mächtige und überaus zornige Marquess of Ramsgate – schwor, dass er Daniel zur Rechenschaft ziehen würde.
Daher Daniels Flucht nach Italien.
Daher Daniels atemlose Versprich-es-mir-jetzt-weil-das-Schiff-jederzeit-auslaufen-kann-Bitte: »Pass auf Honoria auf, ja? Sieh zu, dass sie keinen Dummkopf heiratet.«
Natürlich hatte Marcus es versprochen. Was hätte er sonst tun sollen? Aber er hatte Honoria nie von diesem Versprechen erzählt. Lieber Himmel, das wäre eine Katastrophe gewesen. Es war schon schwer genug, ohne ihr Wissen mit ihr Schritt zu halten. Wenn sie auch noch gewusst hätte, dass er, Marcus, in loco parentis handelte, beziehungsweise anstelle ihres Bruders und Familienoberhaupts, wäre sie außer sich vor Zorn gewesen. Und wenn er eins nicht gebrauchen konnte, dann eine Honoria, die seine fürsorglichen Pläne durchkreuzte.
Was sie tun würde, wenn sie davon erfuhr. Dessen war er sich sicher.
Dabei war sie nicht etwa stur aus Prinzip. Normalerweise war sie sogar vollkommen vernünftig. Aber selbst die vernünftigsten Frauen nahmen Anstoß, wenn sie das Gefühl hatten, man wolle sie herumkommandieren.
Und so beobachtete er sie aus der Ferne und vergraulte in aller Stille ein oder zwei Verehrer.
Oder drei.
Vielleicht auch vier.
Er hatte es Daniel versprochen.
Und Marcus Holroyd brach nie ein Versprechen.
»Wann will er kommen?«
»Weiß ich nicht«, erwiderte Honoria zum ungefähr siebten Mal. Sie lächelte die anderen jungen Damen im grüngrauen Salon der Royles höflich an. Marcus’ Auftauchen am Tag davor war bereits ausgiebig diskutiert, analysiert und – von Lady Sarah Pleinsworth, Honorias Cousine und eine ihrer besten Freundinnen – sogar in Verse gegossen worden.
»Er kam im Regen«, deklamierte Sarah. »Es war ein Segen.«
Beinahe hätte Honoria sich an ihrem Tee verschluckt.
»Auf schlammigen Wegen …«
Cecily Royle blinzelte spöttisch über den Rand ihrer Teetasse hinweg. »Hast du mal in Erwägung gezogen, auf die Reime zu verzichten?«
»Unsere Heldin, ganz verlegen …«
»Ich war nicht verlegen, mir war kalt«, warf Honoria ein.
Iris Smythe-Smith, eine weitere Cousine, zeigte ihre typische kühle Miene und verkündete spitz: »Ich bin verlegen. Diese Dichterei hält man ja im Kopf nicht aus.«
Honoria warf ihr einen Blick zu, der deutlich besagte: Sei höflich. Iris zuckte nur mit den Schultern.
»Und unsere Jungfer auf Abwegen …«
»Das stimmt nicht!«, protestierte Honoria.
»Über Genie lässt sich nicht streiten«, säuselte Iris zuckersüß.
»Versuchte die Hand auf ihr Herz zu legen …«
»Mit diesem Gedicht geht es rapide bergab«, urteilte Honoria.
»Mir fängt es gerade an zu gefallen«, behauptete Cecily.
»Und dann die Krümel von den Polstern zu fegen …«
Honoria schnaubte indigniert. »Jetzt hör aber auf!«
»Ich finde, sie macht das ganz großartig«, widersprach Iris, »wenn man sich vor Augen hält, wie beschwerlich diese Reimerei ist.« Sie sah zu Sarah hinüber, die plötzlich verstummt war. Auch Iris, Honoria und Cecily schauten die verhinderte Dichterin gespannt an.
Sarah hatte zwar den Mund geöffnet und die Hand in großer Geste ausgestreckt, doch anscheinend waren ihr gerade die Worte ausgegangen.
»Pflegen?«, schlug Cecily vor. »Degen?«
»Abregen?«, sagte Iris.
»Eher aufregen«, warf Honoria gereizt in die Runde. »Wenn ich noch viel länger hier mit euch eingesperrt bin, dann regt mich das furchtbar auf.«
Sarah lachte und ließ sich auf das Sofa fallen. »Der Earl of Chatteris«, sagte sie seufzend und blickte Honoria vorwurfsvoll an. »Ich werde dir nie verzeihen, dass du uns letztes Jahr nicht miteinander bekannt gemacht hast.«
»Ich habe ihn dir doch vorgestellt!«
»Na, dann hättest du es eben noch mal tun müssen«, beschwerte sich Sarah. »Damit es haften bleibt. Ich glaube nicht, dass er die ganze Saison mehr als zwei Worte mit mir gewechselt hat.«
»Mit mir hat er auch kaum mehr geredet«, erwiderte Honoria.
Sarah neigte den Kopf zur Seite und hob die Brauen, als wollte sie sagen: Ach, wirklich?
»Er ist nicht sehr gesellig«, führte Honoria aus.
»Ich finde, er sieht sehr gut aus«, schwärmte Cecily.
»Ehrlich?«, fragte Sarah. »Ich finde ihn ziemlich düster.«
»Düster sieht gut aus«, behauptete Cecily.
Iris verdrehte entnervt die Augen. »Ich bin wohl in einen schlechten Roman geraten!«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet, Honoria«, quengelte Sarah. »Wann will er kommen?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Honoria zum bestimmt achten Mal. »Er hat nicht gesagt, wann.«
»Wie unhöflich«, beschied Cecily und nahm sich einen Keks.
Honoria zuckte mit den Schultern. »So ist er eben.«
»Das finde ich ja so interessant«, murmelte die Tochter ihrer Gastgeberin, »dass du weißt, wie er eben ist.«
»Die beiden kennen einander doch schon seit Jahrzehnten«, erklärte Sarah. »Seit Jahrhunderten!«
»Sarah …« Honoria liebte ihre Cousine heiß und innig, wirklich. Meistens jedenfalls.
Sarah lächelte durchtrieben, und ihre dunklen Augen blitzten verschmitzt. »Er hat sie immer Mücke genannt.«
»Sarah!« Honoria funkelte sie wütend an. Auf keinen Fall sollte sich herumsprechen, dass ein Earl sie einmal mit einem Insekt verglichen hatte. »Das ist ewig her«, erklärte sie mit aller Würde, die ihr zur Verfügung stand. »Ich war sieben.«
»Wie alt war er?«, fragte Iris.
Honoria dachte einen Augenblick nach. »Dreizehn wahrscheinlich.«
Cecily winkte ab. »Na, das erklärt doch alles. Jungen sind nun mal Bestien.«
Honoria nickte höflich. Ihre Freundin hatte sieben jüngere Brüder. Sie sollte es wissen.
»Trotzdem«, fuhr Cecily dramatisch fort, »was für ein Zufall, dass er dir gestern einfach so auf der Straße begegnet ist.«
»Eine Fügung«, stimmte Sarah zu.
»Fast als wäre er dir gefolgt«, ergänzte Cecily und beugte sich mit weit aufgerissenen Augen vor.
Honoria war nicht begeistert. »Also, das wird mir jetzt zu albern.«
»Ach nein«, stimmte Cecily zu, nun wieder ganz energisch und geschäftsmäßig. »So etwas würde er nie tun. Ich habe nur gesagt, dass es so gewirkt hat, als hätte er es getan.«
»Er wohnt in der Nähe«, erklärte Honoria und wedelte unbestimmt mit der Hand. Sie hatte überhaupt keinen Orientierungssinn und hätte nicht einmal dann sagen können, wo Norden war, wenn es um ihr Leben gegangen wäre. Außerdem wusste sie überhaupt nicht, in welche Richtung man Cambridge verlassen musste, um nach Fensmore zu gelangen.
»Sein Land grenzt an unseres«, sagte Cecily.
»Wirklich?« Das kam von Sarah. Sehr interessiert.