SMYTHE-SMITH. Die Geheimnisse von Sir Richard - Julia Quinn - E-Book

SMYTHE-SMITH. Die Geheimnisse von Sir Richard E-Book

Julia Quinn

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Beschreibung

Schlagfertig, witzig, herzerwärmend: Julia Quinn ist die Königin des Regency-Romans »Das solltest du über deine Ehepflichten wissen.« Verschämt lauscht Iris Smythe-Smith den Worten ihrer Mutter. In wenigen Stunden wird sie Sir Richard Kenworthy heiraten und mit ihm das Bett teilen! Im Sturm hat er sie erobert, gerade mal zwei Wochen von ihrem ersten Treffen bis zu seinem Heiratsantrag gebraucht. Seine Berührungen entflammen in Iris ein hitziges Feuer, aber sie wird das Gefühl nicht los, dass er ihr etwas verschweigt. Dann ist er tagsüber charmant und zärtlich - aber abends hält er sich von ihr fern. Warum nur?

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Seitenzahl: 446

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Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem TitelThe Secrets of Sir Richard Kenworthy bei Avon Books,

an imprint of HarperCollins Publishers, New York.

Bereits veröffentlicht unter dem Titel Der Lord, der mich verführte, Mira Taschenbuch, 2017.

Das Zitat auf ist zitiert nach: Jane Austen. Stolz und Vorurteil. Aus dem Engl. von Karin von Schwab. Anaconda Verlag, München, 2007. S. 5.

© 2015 by Julie Cotler Pottinger

Neuausgabe

© 2023 für die deutschsprachige Ausgabe

by HarperCollins in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Covergestaltung von zero Werbeagentur, München

Coverabbildung von mislaw, majeczka / Shutterstock;

Joanna Czogala / Arcangel

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749906345

www.harpercollins.de

WIDMUNG

Für Tillie, meine Schwester im Herzen.

Für Paul auch, obwohl ich immer noch finde, du hättest das mit der Jedi-Ritterschaft verfolgen sollen.

1. KAPITEL

Pleinsworth House

London

Frühling1825

Um das Buch zu zitieren, das seine Schwester schon zwei Dutzend Mal gelesen hatte, so war es eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass ein alleinstehender Mann im Besitz eines ansehnlichen Vermögens unbedingt eine Frau brauchte.

Sir Richard Kenworthy besaß zwar kein Vermögen, doch er war alleinstehend. Und was die Frau anging …

Nun, das war kompliziert.

Brauchen war nicht das richtige Wort. Wer brauchte schon eine Frau? Höchstens Männer, die verliebt waren, aber er war nicht verliebt, war es nie gewesen, und er rechnete auch nicht damit, sich demnächst zu verlieben.

Nicht dass er grundsätzlich etwas dagegen einzuwenden gehabt hätte. Er hatte einfach keine Zeit dafür.

Die Frau hingegen …

Unbehaglich rutschte er auf seinem Stuhl herum und schaute auf das Programm in seiner Hand.

Herzlich willkommen zur

19. musikalischen Soiree der Smythe-Smith.

Es musiziert ein wohlgeschultes Quartett,

bestehend aus Violine, Violine, Cello und Pianoforte

Es flößte ihm ein ungutes Gefühl ein.

»Noch mal danke, dass du mich begleitest«, sagte Winston Bevelstoke zu ihm.

Richard warf seinem Freund einen skeptischen Blick zu. »Ich finde es beunruhigend«, bemerkte er, »dass du dich so oft bei mir bedankst.«

»Ich bin für meine geschliffenen Manieren bekannt«, erklärte Winston und zuckte die Achseln. Er war schon immer ein Achselzucker gewesen. Die meisten Erinnerungen, die Richard von ihm hatte, beinhalteten irgendeine Art von »Was soll ich sagen«-Achselzucken.

»Eigentlich spielt es keine große Rolle, wenn ich mein Lateinexamen vergesse. Ich bin der zweite Sohn.« Achselzuck.

»Das Ruderboot war schon gekentert, als ich ans Ufer kam.« Achselzuck.

»Wie bei den meisten Dingen ist es am besten, die Schuld auf meine Schwester zu schieben.« Achselzuck. (Und Bösegrins.)

Früher einmal war Richard ebenso leichtfertig wie Winston gewesen. Im Grunde wäre er sehr gern wieder so leichtfertig geworden.

Doch wie er bereits festgestellt hatte, fehlte ihm dazu die Zeit. Ihm blieben wohl noch zwei, drei Wochen. Vier allerhöchstens.

»Kennst du welche davon?«, fragte er Winston.

»Welche wovon?«

Richard hielt das Programm in die Höhe. »Von den Musikerinnen.«

Winston räusperte sich und blickte schuldbewusst zu Boden. »Musikerinnen würde ich sie jetzt nicht gerade nennen …«

Richard sah zu der Bühne, die im Ballsaal der Pleinsworths aufgebaut worden war. »Kennst du sie?«, wiederholte er. »Bist du ihnen vorgestellt worden?« Für Winston mochte es ja recht und billig sein, sich wie üblich in rätselhaften Bemerkungen zu ergehen, doch Richard war aus einem bestimmten Grund hier.

»Die Smythe-Smith-Mädchen?« Winston zuckte die Achseln. »Die meisten. Mal sehen, wer dieses Jahr mitspielt.« Er schaute in sein Programm. »Lady Sarah Prentice am Pianoforte – wie merkwürdig, sie ist doch verheiratet.«

Verdammt.

»Normalerweise treten nur die unverheirateten Damen auf«, erklärte Winston. »Man setzt sie uns jedes Jahr aufs Neue vor. Wenn sie dann heiraten, dürfen sie aufhören.«

Richard war sich dessen bewusst. Tatsächlich war das der Hauptgrund, warum er sich zum Mitkommen bereit erklärt hatte. Nicht dass sich irgendwer darüber gewundert hätte. Wenn ein unverheirateter Gentleman von siebenundzwanzig Jahren in London auftauchte, nachdem er sich dort drei Jahre nicht hatte sehen lassen … dann musste man keine ehestiftende Mutter sein, um zu wissen, was die Stunde geschlagen hatte.

Er hatte nur nicht erwartet, so unter Zeitdruck zu stehen.

Stirnrunzelnd blickte er zum Pianoforte. Es wirkte gut gearbeitet. Teuer. Viel besser als das, welches bei ihm zu Hause in Maycliffe Park stand.

»Wen haben wir noch?«, murmelte Winston und ging die elegant gedruckten Namen auf dem Programm durch. »Miss Daisy Smythe-Smith an der Geige. Oh ja, die kenne ich. Die ist furchtbar.«

Verdammt und zugenäht. »Was ist denn mit ihr?«, erkundigte er sich.

»Kein Sinn für Humor. Was nicht so schlimm wäre, die anderen sind schließlich auch keine ausgewachsenen Spaßvögel. Sie lässt es sich nur immer so … anmerken.«

»Wie lässt man sich denn anmerken, dass man keinen Humor hat?«

»Keine Ahnung«, räumte Winston ein. »Bei ihr ist es jedenfalls so. Hübsch ist sie ja. Blonde Kringellocken und so.« Er machte eine blonde kringelnde Bewegung am Ohr, worauf Richard sich fragte, wie es sein konnte, dass Winstons Geste so offensichtlich nicht brünett war.

»Lady Harriet Pleinsworth, ebenfalls Geige«, fuhr Winston fort. »Der wurde ich, glaube ich, noch nicht vorgestellt. Sie muss Lady Sarahs kleine Schwester sein. Kaum aus dem Schulzimmer rausgewachsen, wenn ich mich recht erinnere. Viel älter als sechzehn kann sie nicht sein.«

Verdammt, zugenäht und verflixt. Vielleicht sollte er einfach aufstehen und gehen.

»Und am Cello …«, Winston ließ den Finger über das auf festen Karton gedruckte Programm gleiten, bis er die richtige Stelle gefunden hatte, »… Miss Iris Smythe-Smith.«

»Und was ist gegen sie einzuwenden?«, fragte Richard, da es ihm unwahrscheinlich erschien, dass es bei ihr nichts gäbe.

Winston zuckte die Achseln. »Nichts. Zumindest weiß ich von nichts.«

Was vermutlich hieß, dass sie in ihrer Freizeit jodelte. Wenn sie nicht gerade irgendwelche Tiere ausstopfte.

Krokodile beispielsweise.

Früher hatte er immer Glück gehabt. Wirklich.

»Sie ist sehr blass«, sagte Winston.

Richard sah ihn an. »Ist das ein Makel?«

»Natürlich nicht. Es ist nur …« Winston hielt inne und runzelte angestrengt die Stirn. »Nun ja, um ehrlich zu sein, ist das so ziemlich alles, was mir zu ihr einfällt.«

Richard nickte langsam und richtete den Blick auf das Cello auf der Bühne. Es sah ebenfalls teuer aus, obwohl er von sich nicht behaupten konnte, irgendetwas von der Cellomanufaktur zu verstehen.

»Warum so neugierig?«, erkundigte sich Winston. »Ich weiß, dass du heiraten willst, aber du kannst es doch sicher besser treffen als mit einer Smythe-Smith.«

Vor zwei Wochen hätte das wohl noch gestimmt.

»Außerdem brauchst du doch jemanden mit Mitgift, nicht wahr?«

»Brauchen wir nicht alle jemanden mit Mitgift?«, meinte Richard düster.

»Wie wahr, wie wahr.« Winston mochte der Sohn des Earl of Rudland sein, doch er war der zweite Sohn. Er würde kein spektakuläres Vermögen erben, schließlich erfreute sich sein älterer Bruder bester Gesundheit und hatte bereits zwei eigene Söhne. »Die kleine Pleinsworth bekommt vermutlich zehntausend mit«, bemerkte er und sah mit abschätzendem Blick auf das Programm. »Aber wie gesagt, sie ist noch ziemlich jung.«

Richard verzog das Gesicht. Sogar er kannte Grenzen.

»Die Blumenmädchen …«

»Die Blumenmädchen?«, unterbrach Richard ihn.

»Iris und Daisy«, erklärte Winston. »Ihre Schwestern heißen Rose und Lavender, wie die fünfte heißt, weiß ich nicht mehr. Tulpe vielleicht? Schneeglöckchen? Hoffentlich nicht Chrysantheme, das arme Ding.«

»Meine Schwester heißt Fleur«, fühlte Richard sich verpflichtet einzuwerfen.

»Und ist ein ganz reizendes Mädchen«, erwiderte Winston, obwohl er ihr noch nie begegnet war.

»Aber du sagtest gerade …«, drängte Richard.

»Was? Ach ja, die Blumenmädchen. Ich bin mir nicht sicher, wie viel sie zu erwarten haben, aber viel kann es nicht sein. Es sind insgesamt fünf Töchter.« Winston schürzte die Lippen. »Vielleicht mehr.«

Was nicht heißen muss, dass die jeweilige Mitgift klein ausfällt, dachte Richard hoffnungsvoll. Von diesem Zweig der Smythe-Smith’schen Familie wusste er nur wenig – eigentlich wusste er von den anderen Zweigen auch nicht mehr, wenn er ehrlich war. Was er wusste, war nur, dass sie sich einmal im Jahr zusammenfanden, vier Musikerinnen aus ihren Reihen erkoren und ein Konzert veranstalteten, dem die meisten seiner Freunde nur höchst widerstrebend beiwohnten.

»Hier, nimm«, sagte Winston plötzlich und reichte ihm zwei Wattebäusche. »Du wirst mir noch dankbar sein.«

Richard starrte ihn an, als wäre er plötzlich übergeschnappt.

»Für deine Ohren«, erklärte Winston. »Vertrau mir.«

»Dir vertrauen? Wenn du so etwas zu mir sagst, läuft es mir kalt den Rücken hinunter.«

»Diesmal«, sagte Winston und stopfte sich seinerseits Wattebäusche in die Ohren, »übertreibe ich nicht.«

Richard sah sich diskret im Raum um. Winston gab sich keinerlei Mühe, die Aktion zu verbergen, dabei würde es doch sicher als unhöflich angesehen werden, wenn er sich bei einem Konzert die Ohren zustopfte. Doch die meisten Leute beachteten ihn gar nicht weiter, und die, die es taten, schienen ihn eher zu beneiden als zu missbilligen.

Richard zuckte die Achseln und tat es ihm nach.

»Gut, dass du hier bist«, sagte Winston und beugte sich zu ihm herüber, damit er ihn trotz der Wattebäusche verstehen konnte. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich es ohne Verstärkung ertragen hätte.«

»Ohne Verstärkung?«

»Die gequälte Gesellschaft angeschlagener Junggesellen«, scherzte Winston.

Die gequälte Gesellschaft angeschlagener Junggesellen? Richard verdrehte die Augen. »Gott steh dir bei, wenn du in volltrunkenem Zustand versuchst, Sätze zu drechseln.«

»Oh, dieses Vergnügen steht dir kurz bevor«, versetzte Winston und lüpfte seinen Rock mit dem Zeigefinger gerade so weit, um den Blick auf die kleine metallene Flasche in der Innentasche freizugeben.

Richard riss die Augen auf. Er war nicht sittenstreng, besaß aber doch genügend Anstand, um auf einer musikalischen Veranstaltung, bei der junge Mädchen auftraten, nicht in aller Öffentlichkeit zur Flasche zu greifen.

Und dann fing es an.

Nach einer Minute ertappte Richard sich dabei, wie er die Watte in seinen Ohren zurechtzupfte. Am Ende des ersten Satzes spürte er in der Stirn das schmerzhafte Pochen einer Vene. Der wahre Ernst seiner Lage wurde ihm jedoch erst bewusst, als ein langes Geigensolo einsetzte.

»Die Flasche«, keuchte er beinahe.

Es gereichte Winston zur Ehre, dass er sich das selbstgefällige Grinsen verkniff.

Richard nahm einen großen Schluck von dem gewürzten Wein, der sich in der Flasche befand, doch das vermochte seinen Schmerz nicht zu lindern. »Können wir in der Pause gehen?«, flüsterte er Winston zu.

»Es gibt keine Pause.«

Voller Entsetzen starrte Richard auf sein Programm. Er verstand nicht viel von Musik, aber die Smythe-Smiths mussten doch wissen, was sie da taten … dass dieses sogenannte Konzert …

Es war ein Angriff auf die Menschenwürde.

Laut Programm spielten die jungen Damen auf der behelfsmäßigen Bühne ein Klavierkonzert von Wolfgang Amadeus Mozart. In Richards Augen legte der Begriff Klavierkonzert nahe, dass auch Klavier gespielt wurde. Die Dame an diesem schönen Instrument schlug jedoch höchstens die Hälfte der erforderlichen Noten an, wenn überhaupt. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, doch ihre Art, sich über die Tasten zu beugen, erweckte den Anschein, dass sie hoch konzentriert zu Werke ging.

Allerdings auch bar jeder Kunstfertigkeit.

»Das ist die ohne Sinn für Humor«, sagte Winston und deutete mit dem Kopf auf eine der Violinistinnen.

Ah, Miss Daisy. Die mit den blonden Kringellocken. Von allen Mitwirkenden war sie diejenige, die sich wohl am ehesten für eine veritable Künstlerin hielt. Sie neigte und wiegte sich wie eine große Virtuosin, während ihr Bogen über die Saiten flog. Ihre Bewegungen waren beinahe hypnotisch. Ein Gehörloser hätte wohl gemeint, sie wäre eins mit der Musik.

Stattdessen war sie lediglich eins mit dem Lärm.

Und was die andere Violinistin anging … Sah er denn als Einziger, dass sie keine Noten lesen konnte? Sie schaute überallhin, nur nicht auf ihren Notenständer, und seit Konzertbeginn hatte sie noch kein einziges Mal umgeblättert. Sie hatte die ganze Zeit damit zugebracht, auf ihrer Unterlippe zu kauen, Miss Daisy panische Blicke zuzuwerfen und zu versuchen, deren Bewegungen nachzuahmen.

Blieb noch die Cellistin. Richard nahm sie in Augenschein, während sie den Bogen über die langen Saiten ihres Instruments zog. Es war außerordentlich schwierig, sie im frenetischen Getöse der Geigen spielen zu hören, doch hin und wieder entschlüpfte dem Wahnsinn der eine oder andere klagende Ton, und dann dachte Richard sich …

Die ist eigentlich recht gut.

Sie faszinierte ihn irgendwie, diese kleine Frau, die sich hinter dem großen Cello zu verstecken suchte. Sie zumindest wusste, wie schlecht sie spielten. Ihr Elend war akut, mit Händen greifbar. Jedes Mal, wenn sie eine Pause hatte, schien sie in sich zusammenzusinken, als wollte sie sich ganz kleinmachen, bis sie nicht mehr zu sehen wäre und mit einem »Plopp!« verschwinden würde.

Das war Miss Iris Smythe-Smith, eines der Blumenmädchen. Unbegreiflich, dass sie mit Daisy verwandt sein sollte, die sich immer noch in seliger Unwissenheit mit ihrer Geige herumwiegte.

Iris. Ein merkwürdiger Name für ein so unscheinbares Mädchen. Er hatte die Iris mit ihren tiefen Blau- und Lilatönen immer für eine besonders farbenprächtige Blume gehalten, doch diese junge Frau war so blass, dass sie beinahe farblos wirkte. Ihr Haar war eine winzige Spur zu rot, um als blond durchzugehen, doch rotblond konnte man es auch nicht nennen. Ihre Augen konnte er von seinem Platz aus nicht sehen, doch bei dem blassen Teint und den hellen Haaren mussten sie ebenfalls hell sein.

Sie gehörte zu dem Typ Frau, der niemandem auffiel.

Und dennoch konnte Richard den Blick nicht von ihr wenden.

Es liegt am Konzert, sagte er sich. Wohin hätte er denn sonst schauen sollen?

Außerdem hatte es etwas Beruhigendes an sich, den Blick auf einen einzigen Fleck zu richten. Die Musik war so misstönend, dass ihm schwindelig wurde, sobald er den Blick abwandte.

Beinahe hätte er gelacht. Miss Iris Smythe-Smith mit dem schimmernden hellen Haar und dem viel zu großen Cello erwies sich als seine Retterin.

Sir Richard Kenworthy glaubte nicht an Vorzeichen, aber an dieses hier wollte er sich halten.

Wieso starrte dieser Mann sie so an?

Die musikalische Soiree war schon Qual genug, das war Iris deutlich bewusst – sie war nun schon zum dritten Mal auf die Bühne geschoben und gezwungen worden, sich vor dem handverlesenen vornehmen Publikum zu blamieren. Die Gäste der Smythe-Smiths bildeten immer eine interessante Mischung. Zuerst kam die Familie, die man allerdings gerechterweise noch in zwei Untergruppen aufteilen musste – die Mütter und alle anderen.

Die Mütter blickten mit seligem Lächeln zur Bühne, geborgen in ihrem unerschütterlichen Glauben, dass sie wegen der exquisiten musikalischen Fähigkeiten ihrer Töchter von allen glühend beneidet wurden. »So begabt«, jubelte Iris’ Mutter Jahr für Jahr. »So souverän.«

So blind, war Iris’ unausgesprochene Antwort, so taub.

Was die restlichen Smythe-Smiths anging – vornehmlich die Männer und ein Großteil der Frauen, die bereits auf dem Altar musikalischer Unfähigkeit geopfert wurden –, so bissen sie die Zähne zusammen und bemühten sich, möglichst zahlreich zu erscheinen, um den Kreis der Demütigung klein zu halten.

Die Familie war wunderbar fruchtbar, und so betete Iris darum, ihre Verwandtschaft möge eines Tages so zahlreich sein, dass die Mütter niemand Familienfremdes mehr einladen konnten. »Es gibt einfach nicht genügend Plätze«, konnte sie sich schon sagen hören.

Leider konnte sie auch hören, wie ihre Mutter den Verwalter ihres Vaters bat, sich nach einem geeigneten Konzertsaal zu erkundigen.

Unter den restlichen Zuschauern befanden sich einige, die jedes Jahr kamen. Ein paar taten es aus Freundlichkeit, vermutete Iris. Manche kamen sicher nur, um sich über sie lustig zu machen. Und dann gab es ein paar ahnungslose Naive, die offenbar hinter dem Mond lebten. Hinter dem Jupitermond.

Dem letzten.

Iris konnte gar nicht glauben, dass es irgendwo Leute gab, die noch nicht von den Smythe-Smith’schen Soireen gehört hatten beziehungsweise davor gewarnt worden waren, doch es gab jedes Jahr ein paar neue verstörte Gesichter.

Wie zum Beispiel das des Mannes in der fünften Reihe. Warum starrte er sie so an?

Sie war sich sicher, dass sie ihn noch nie gesehen hatte. Er hatte dunkles Haar, die Sorte, die sich lockte, wenn es draußen zu feucht wurde, und sein Gesicht war von einer fein gemeißelten Eleganz, die ihr gut gefiel. Er war attraktiv, befand sie, aber nicht überwältigend schön.

Vermutlich trug er keinen Titel. Iris’ Mutter hatte die gesellschaftliche Ausbildung ihrer Töchter sehr gründlich betrieben. Kaum vorstellbar, dass es einen jungen unverheirateten Gentleman mit Titel geben sollte, den Iris und ihre Schwestern nicht auf Anhieb erkennen konnten.

Vielleicht ein Baronet. Oder ein Landadeliger. Er musste über gute Verbindungen verfügen, denn sie sah, dass er in Begleitung des jüngeren Sohnes des Earl of Rudland gekommen war. Sie waren sich bei mehreren Gelegenheiten vorgestellt worden – nicht dass das etwas anderes hieß, als dass der Ehrenwerte Mr. Bevelstoke sie zum Tanzen auffordern konnte, wenn er das Bedürfnis dazu verspürte.

Was er nicht tat.

Iris war nicht beleidigt, jedenfalls nicht sehr. Bei einem Ball wurde sie selten mehr als zur Hälfte aller Tänze aufgefordert, und es gefiel ihr, Gelegenheit zu haben, die Gesellschaft in vollem Schwung zu beobachten. Sie fragte sich oft, ob die gefeierten Lieblinge des ton überhaupt bemerkten, was um sie herum geschah. Wenn man immer im Auge des sprichwörtlichen Sturms stand, spürte man dann überhaupt den rauschenden Regen, den beißenden Wind?

Schon möglich, dass sie ein Mauerblümchen war. Das war keine Schande. Vor allem nicht, wenn man gern Mauerblümchen war. Tatsächlich hatte sie eine der …

»Iris«, zischte jemand.

Es war ihre Cousine Sarah, die sich mit drängender Miene vom Klavier herüberbeugte.

Ach, verflixt, nun hatte sie ihren Einsatz verpasst. »Entschuldigung«, murmelte Iris leise, auch wenn keiner sie hören konnte. Sonst verpasste sie nie ihren Einsatz. Auch wenn das restliche Quartett so abgrundtief fürchterlich musizierte, dass es eigentlich egal war, ob ihr Einsatz rechtzeitig kam – ihr ging es ums Prinzip.

Irgendwer musste wenigstens den Versuch machen, ordentlich zu spielen.

Die nächsten Notenseiten widmete sie sich ihrem Cello, bemühte sich nach Kräften, Daisy auszublenden, die beim Spielen über die gesamte Bühne marschierte. Als Iris die nächste längere Pause erreicht hatte, konnte sie es sich jedoch nicht verkneifen aufzublicken.

Er beobachtete sie immer noch.

Hatte sie etwas an ihrem Kleid? In ihrem Haar? Automatisch griff sie sich an die Frisur und rechnete halb damit, einen Zweig abzustreifen.

Nichts.

Nun wurde sie zornig. Er versuchte sie aus dem Konzept zu bringen. Das war die einzig mögliche Erklärung. Was für ein unhöflicher Flegel. Und ein Idiot. Glaubte er wirklich, dass er sie mehr irritieren konnte als ihre eigene Schwester? Es bedurfte schon eines Akkordeon spielenden Minotaurus, um Daisy auf der Skala von Nervtötend bis Siebter Kreis der Hölle zu übertrumpfen.

»Iris!«, zischte Sarah.

»Arrrgh«, knurrte Iris. Schon wieder den Einsatz verpasst. Andererseits, was bildete Sarah sich eigentlich ein? Sie hatte im zweiten Satz zwei ganze Seiten ausgelassen.

Iris fand die korrekte Stelle in der Partitur und fand sich wieder ein. Zu ihrer Erleichterung näherten sie sich dem Ende des Konzerts. Nun brauchte sie nur noch die letzten Noten zu spielen, sich zu verbeugen, als wäre es ihr ernst damit, und den gezwungenen Applaus mit einem Lächeln entgegenzunehmen.

Danach könnte sie Kopfschmerzen vorschützen, nach Hause gehen, die Tür hinter sich schließen, ein Buch lesen, Daisy ignorieren und so tun, als müsste sie das Ganze nächstes Jahr nicht wieder von vorn durchmachen.

Außer natürlich, sie würde heiraten.

Das war der einzige Ausweg. Jede unverheiratete Smythe-Smith (das galt nur für den weiblichen Teil der Familie) musste im Quartett mitspielen, wenn für ihr jeweiliges Instrument ein Platz frei wurde, und zwar so lange, bis sie vor den Traualtar trat und dort ihren Bräutigam ehelichte.

Einer einzigen Cousine war es gelungen zu heiraten, bevor sie auf die Bühne gezwungen wurde. Dabei hatte es sich um ein spektakuläres Zusammenspiel von Glück und Kriegslist gehandelt. Frederica Smythe-Smith, inzwischen Frederica Plum, war an der Geige ausgebildet, genau wie ihre ältere Schwester Eleanor.

Doch Eleanor hatte keinen Anklang gefunden, wie Iris’ Mutter sich ausgedrückt hatte. Eleanor hatte rekordverdächtige sieben Jahre musiziert, bevor sie sich Hals über Kopf in einen freundlichen Hilfsgeistlichen verliebte, der so erstaunlich vernünftig war, diese Liebe ebenso heftig zu erwidern. Iris mochte Eleanor, selbst wenn diese sich für eine begabte Musikerin hielt. (Was sie nicht war).

Was Frederica anging … Eleanors verspäteter Erfolg auf dem Heiratsmarkt hatte zur Folge gehabt, dass im Quartett kein Platz für Frederica frei war, als diese debütierte. Und wenn Frederica nur dafür sorgte, dass sie schleunigst einen Ehemann fand …

Es war der Stoff, aus dem man Legenden machte. Zumindest für Iris.

Frederica lebte nun in Südindien, was, wie Iris vermutete, durchaus mit ihrer orchestralen Flucht zu tun hatte. Von den Verwandten hatte sie seit Jahren niemand mehr gesehen, obwohl hin und wieder ein Brief nach London gelangte, in dem von der Hitze, Gewürzen und hin und wieder einem Elefanten die Rede war.

Iris hasste Hitze, würzigem Essen konnte sie auch nicht allzu viel abgewinnen, doch während sie im Ballsaal ihrer Cousinen saß und so tat, als würde sie nicht von fünfzig Leuten dabei beobachtet, wie sie sich blamierte, konnte sie sich des Gedankens nicht erwehren, dass Indien recht angenehm klang.

Was die Elefanten anging, so hatte sie dazu keine Meinung.

Vielleicht könnte sie dieses Jahr einen Mann finden. Um ehrlich zu sein, hatte sie sich in den zwei Jahren, die seit ihrem Debüt vergangen waren, in dieser Hinsicht keine allzu große Mühe gegeben. Es war einfach so schwierig, sich Mühe zu geben, wenn man – sie konnte es nicht leugnen – so unscheinbar war wie sie.

Was allerdings – sie sah auf, senkte sofort wieder den Blick – dieser merkwürdige Mann in der fünften Reihe offenbar anders sah. Warum beobachtete er sie?

Es ergab einfach keinen Sinn. Und Iris widerstrebte es zutiefst – noch mehr, als sich zu blamieren –, wenn die Dinge keinen Sinn ergaben.

2. KAPITEL

Richard war klar, dass Iris Smythe-Smith vorhatte, nach dem Konzert so schnell wie möglich zu verschwinden. Sie ließ es sich nicht direkt anmerken, doch Richard beobachtete sie nun schon seit etwa einer Stunde und war inzwischen beinahe Experte, was die Gesten und Gesichtsausdrücke der unwilligen Cellistin anging.

Er würde rasch handeln müssen.

»Stell mich vor«, sagte Richard zu Winston und wies dann diskret mit dem Kopf auf sie.

»Wirklich?«

Richard nickte knapp.

Winston zuckte die Achseln, offenbar überrascht von dem Interesse, das sein Freund an der farblosen Miss Iris Smythe-Smith zeigte. Doch wenn er neugierig war, ließ er es sich nicht weiter anmerken. Stattdessen bahnte er sich wie immer geschickt einen Weg durch die Menge. Die Frau, um die es ging, mochte ein wenig linkisch an der Tür stehen, doch der Blick, mit dem sie sich im Raum umsah und die Gäste und deren Interaktionen beobachtete, war überaus scharf.

Bestimmt plante sie gerade ihre Flucht, Richard war sich dessen sicher.

Doch da wollte er ihr einen Strich durch die Rechnung machen. Winston kam vor ihr zum Stehen, ehe sie noch aufbrechen konnte. »Miss Smythe-Smith«, sagte er in munterstem, liebenswürdigstem Ton. »Wie reizend, Sie wiederzusehen.«

Misstrauisch knickste sie. Offenbar stand sie mit Winston nicht auf so gutem Fuß, dass es eine solch warmherzige Begrüßung gerechtfertigt hätte. »Mr. Bevelstoke«, murmelte sie.

»Darf ich Ihnen meinen guten Freund Sir Richard Kenworthy vorstellen?«

Richard verneigte sich. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte er.

»Ganz meinerseits.«

Ihre Augen waren genauso hell, wie er sie sich vorgestellt hatte, die genaue Farbe konnte er im Kerzenlicht allerdings nicht ausmachen. Grau vielleicht, oder blau, von Wimpern umrahmt, die so hell waren, dass man sie übersehen hätte, wenn sie nicht so erstaunlich lang gewesen wären.

»Meine Schwester lässt sich entschuldigen«, sagte Winston.

»Ja, normalerweise kommt sie mit, nicht wahr?«, murmelte Miss Smythe-Smith mit leisem Lächeln. »Das ist sehr gutherzig von ihr.«

»Ach, ich weiß nicht, ob das etwas mit Gutherzigkeit zu tun hat«, versetzte Winston jovial.

Miss Smythe-Smith hob eine blasse Braue und warf Winston einen starren Blick zu. »Ich bin der Meinung, dass es vor allem mit Gutherzigkeit zu tun hat.«

Richard neigte dazu, ihr zuzustimmen. Warum sonst hätte sich Winstons Schwester einem derartigen Auftritt mehr als einmal aussetzen sollen? Miss Smythe-Smiths Gespür in diesem Punkt nötigte ihm Respekt ab.

»Sie hat stattdessen mich hergeschickt«, fuhr Winston fort. »Sie sagte, es ginge nicht an, dass unsere Familie in diesem Jahr unterrepräsentiert wäre.« Er blickte zu Richard. »In diesem Punkt war sie sehr energisch.«

»Bitte richten Sie ihr meinen Dank aus«, sagte Miss Smythe-Smith. »Wenn Sie mich jetzt jedoch entschuldigen wollen, ich muss …«

»Dürfte ich Ihnen eine Frage stellen?«, unterbrach Richard sie.

Sie erstarrte in der Bewegung, nachdem sie sich schon halb zur Tür umgedreht hatte. Überrascht sah sie ihn an. Winston ebenfalls.

»Aber natürlich«, murmelte sie. Ihr Blick war nicht halb so gelassen wie ihr Ton. Sie war eine wohlerzogene junge Dame und er ein Baronet. Sie konnte ihm gar keine andere Antwort geben, und das wussten sie beide.

»Wie lange spielen Sie schon Cello?«, platzte er heraus. Es war die erste Frage, die ihm in den Kopf kam, und erst nachdem er sie ausgesprochen hatte, fiel ihm auf, dass es eine recht unhöfliche war. Iris wusste, wie schrecklich das Quartett war, und sie wusste, dass er ähnlich empfinden musste. Sich nach ihrem Cellounterricht zu erkundigen war schlicht grausam. Aber er hatte so unter Druck gestanden. Er konnte sie nicht gehen lassen. Nicht ohne wenigstens ein wenig mit ihr geplaudert zu haben.

»Ich …« Sie geriet ins Stammeln, und Richard spürte, wie er unsicher wurde. Er hatte nicht gewollt … Ach, verdammt noch mal.

»Es war ein wunderbares Konzert«, lobte Winston und sah dabei aus, als würde er seinem Freund am liebsten einen Tritt versetzen.

Richard, darauf bedacht, verlorenes Terrain wiedergutzumachen, sagte rasch: »Was ich eigentlich meinte war, dass Sie offenbar um einiges besser spielen als Ihre Cousinen.«

Sie blinzelte ein paar Mal. Verflixt, nun hatte er ihre Cousinen beleidigt, aber vermutlich immer noch besser die Cousinen als sie selbst.

Er mühte sich weiter ab. »Ich habe auf Ihrer Seite des Raums gesessen, und hin und wieder konnte ich das Cello unter den anderen Instrumenten heraushören.«

»Verstehe«, sagte sie langsam und vielleicht eine Spur misstrauisch. Sie wusste nicht, wie sein Interesse zu interpretieren war, so viel wurde deutlich.

»Sie sind ziemlich gut«, sagte er.

Winston warf ihm einen ungläubigen Blick zu. Richard konnte nachvollziehen, warum. Es war nicht leicht gewesen, das Cello in all dem Radau auszumachen, und für das ungeschulte Ohr klang Iris sicher genauso schrecklich wie der Rest. Dass Richard nun etwas anderes behauptete, musste wie die schlimmste Heuchelei klingen.

Miss Smythe-Smith allerdings wusste, dass sie besser musizierte als ihre Cousinen. Er hatte es an dem Blick gesehen, mit dem sie auf seine Bemerkung reagiert hatte. »Wir haben alle fleißig von klein auf geübt«, erklärte sie.

»Natürlich«, erwiderte er. Mit dieser Antwort war zu rechnen gewesen. Sie würde ihre Familie nicht vor irgendeinem x-beliebigen Fremden beleidigen.

Verlegenes Schweigen senkte sich auf das Trio herab, und dann setzte Miss Smythe-Smith wieder ihr höfliches Lächeln auf, das ganz klar kundtat, dass sie sich nun zu verabschieden gedachte.

»Die Violinistin ist Ihre Schwester?«, fragte Richard, bevor sie noch etwas sagen konnte.

Winston warf ihm einen merkwürdigen Blick zu.

»Eine davon, ja«, erwiderte sie. »Die blonde.«

»Ihre jüngere Schwester?«

»Ja, vier Jahre jünger«, erwiderte sie etwas schärfer. »Das ist ihre erste Saison, auch wenn sie schon letztes Jahr mit dem Quartett aufgetreten ist.«

»Apropos«, warf Winston ein und rettete Richard dankenswerterweise davor, sich eine weitere Frage auszudenken, die sie am Abgang hinderte, »warum saß eigentlich Lady Sarah am Pianoforte? Ich dachte, nur unverheiratete Damen dürften im Quartett mitspielen.«

»Uns hat eine Pianistin gefehlt«, erwiderte sie. »Wenn Sarah nicht eingesprungen wäre, hätte das Konzert abgesagt werden müssen.«

Die offensichtliche Frage hing in der Luft. Wäre das denn so schlimm gewesen?

»Es hätte meiner Mutter das Herz gebrochen«, ergänzte Miss Smythe-Smith, und es war unmöglich zu sagen, welches Gefühl in ihrem Ton mitschwang. »Und meinen Tanten.«

»Wie überaus nett von ihr, mit ihren Fähigkeiten auszuhelfen«, sagte Richard.

Und dann äußerte Miss Smythe-Smith etwas ganz Erstaunliches. »Sie war uns das schuldig.«

Richard starrte sie an. »Wie bitte?«

»Nichts«, sagte sie mit einem strahlenden – und falschen – Lächeln.

»Nein, ich muss darauf bestehen«, sagte Richard fasziniert. »Sie können nicht einfach eine solche Bemerkung fallen lassen und sie dann nicht erklären.«

Ihr Blick huschte nach links. Vielleicht wollte sie sich vergewissern, dass ihre Familie sie nicht hören könnte. Oder sie versuchte nur, nicht gar zu sehr die Augen zu verdrehen. »Es ist wirklich nichts weiter. Sie hat letztes Jahr nicht mitgespielt; dabei hat sie sich erst am Tag des Konzerts entschuldigt.«

»Wurde das Konzert abgesagt?«, fragte Winston und runzelte die Stirn, als versuchte er sich zu erinnern.

»Nein, die Gouvernante ihrer Schwestern ist eingesprungen.«

»Ach ja«, sagte Winston und nickte, »jetzt erinnere ich mich. War wirklich sehr nett von ihr. Erstaunlich eigentlich, dass sie das Stück kannte.«

»War Ihre Cousine krank?«, erkundigte sich Richard.

Miss Smythe-Smith öffnete den Mund, entschied sich aber im letzten Moment, etwas anderes zu sagen als das ursprünglich Geplante, dessen war er sich sicher.

»Ja«, meinte sie schlicht. »Sie war ziemlich krank. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, ich habe leider zu tun.«

Sie knickste, die beiden Herren verneigten sich, und dann war sie weg.

»Was sollte das denn?«, fragte Winston sofort.

»Was?«, fragte Richard unschuldig.

»Du hast dich praktisch vor die Tür geworfen, um Miss Smythe-Smith am Gehen zu hindern.«

Richard zuckte die Achseln. »Ich fand sie interessant.«

»Sie?« Winston blickte zur Tür, durch die Miss Smythe-Smith eben gegangen war. »Warum?«

»Ich weiß nicht«, log Richard.

Winston wandte sich zu Richard, zur Tür und dann wieder zu Richard. »Ich muss schon sagen, sie entspricht nicht gerade deinem Typ.«

»Nein«, erwiderte Richard, obwohl er seine Vorlieben nie in diesem Licht gesehen hätte. »Nein, wohl nicht.«

Aber bisher hatte er auch noch nie eine Frau finden müssen. Und das in nicht einmal zwei Wochen.

Am nächsten Tag saß Iris mit ihrer Mutter und Daisy im Salon und wartete auf das Rinnsal an Besuchern, das sich unvermeidlich einstellen würde. Ihre Mutter hatte darauf bestanden, dass sie für Besuch zu Hause sein müssten. Die Leute würden ihnen zu ihrem Auftritt gratulieren wollen.

Ihre verheirateten Schwestern würden wohl vorbeischauen, dachte Iris, und vermutlich ein paar andere Damen. Jene, die jedes Jahr aus reiner Gutherzigkeit zum Konzert kamen. Der Rest würde die Smythe-Smith’sche Residenz – jedwede Smythe-Smith’sche Residenz – meiden wie der Teufel das Weihwasser. Niemand machte gern höfliche Konversation über ein auditives Desaster.

Es war beinahe so, als würden die Klippen von Dover ins Meer stürzen und alle säßen davor, würden Tee trinken und sagen: »Oh ja, was für ein großartiges Schauspiel. Um das Pfarrhaus ist es allerdings schade.«

Aber noch war es früh am Tag, bisher hatte sie noch niemand mit einem Besuch beehrt. Iris hatte etwas zu lesen mitgebracht, doch Daisy glühte immer noch vor Entzücken und Triumph.

»Ich fand uns wunderbar«, verkündete sie.

Iris sah gerade lange genug von ihrer Lektüre auf, um zu sagen: »Waren wir nicht.«

»Du vielleicht nicht, du hast dich ja die ganze Zeit bloß hinter deinem Cello versteckt, aber ich habe mich noch nie so lebendig und eins mit der Musik gefühlt.«

Iris biss sich auf die Lippe. Es gab so viele Möglichkeiten, was sie hätte antworten können. Es war, als flehte ihre kleine Schwester sie förmlich an, jede ihr zur Verfügung stehende sarkastische Bemerkung einzusetzen. Doch sie hielt den Mund. Nach dem Konzert war sie immer gereizt, und so nervtötend Daisy auch sein mochte – und sie war es, keine Frage –, sie war nicht schuld an Iris’ schlechter Stimmung. Nicht allein jedenfalls.

»Bei unserem Auftritt letzten Abend waren so viele attraktive Herren anwesend«, erklärte Daisy. »Hast du sie gesehen, Mama?«

Iris verdrehte die Augen. Natürlich hatte ihre Mutter sie gesehen. Es war ihre Aufgabe, alle passenden Junggesellen im Raum wahrzunehmen. Nein, es war mehr als das. Es war ihre Berufung.

»Mr. St. Clair war da«, sagte Daisy. »Er ist so unglaublich schneidig mit seinem Zopf.«

»Der würde dich kein zweites Mal ansehen«, erklärte Iris.

»Sei nicht so unfreundlich, Iris«, schalt ihre Mutter. Doch dann wandte sie sich an Daisy. »Aber sie hat recht. Und wir würden das auch gar nicht wollen. Für eine anständige junge Dame ist er viel zu verwegen.«

»Er hat sich mit Hyacinth Bridgerton unterhalten«, verkündete Daisy.

Amüsiert sah Iris zu ihrer Mutter hinüber, gespannt, wie diese darauf reagieren würde. Die Bridgertons waren eine der beliebtesten, angesehensten Familien, auch wenn einige Leute vor Hyacinth – der Jüngsten – ein wenig Angst hatten.

Mrs. Smythe-Smith tat, was sie immer tat, wenn sie nicht zu antworten wünschte: Sie hob die Brauen, senkte das Kinn und sog verächtlich die Luft ein.

Ende der Debatte. Zumindest dieses speziellen Themas.

»Winston Bevelstoke ist nicht verwegen«, wich Daisy zur Seite aus. »Er saß ziemlich weit vorn.«

Iris schnaubte.

»Er ist umwerfend!«

»Ich habe nie das Gegenteil behauptet«, erwiderte Iris. »Aber er geht doch mindestens auf die dreißig zu. Und er saß in der fünften Reihe.«

Das schien ihre Mutter zu verblüffen. »In der fünften …«

»Jedenfalls nicht vorn«, unterbrach Iris sie. Verflixt, sie konnte es nicht ausstehen, wenn sich die Leute im Detail irrten.

»Ach, zum Kuckuck«, meinte Daisy, »es spielt doch gar keine Rolle, wo er saß. Hauptsache, er war da.«

Das stimmte zwar, war aber nicht der springende Punkt. »Winston Bevelstoke würde sich nie für eine Siebzehnjährige interessieren«, meinte Iris.

»Warum denn nicht?«, fragte Daisy. »Ich glaube, du bist bloß eifersüchtig.«

Iris seufzte. »Das ist so weit von der Wahrheit entfernt, dass ich es nicht mal messen kann.«

»Er hat mich beobachtet«, beharrte Daisy. »Dass er noch unverheiratet ist, zeigt, wie wählerisch er ist. Vielleicht hat er einfach nur gewartet, bis er die perfekte junge Dame trifft.«

Iris atmete tief durch und unterdrückte die Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag. »Wenn du Winston Bevelstoke heiratest«, sagte sie ruhig, »werde ich die Erste sein, die dir gratuliert.«

Daisy kniff die Augen zusammen. »Sie macht sich schon wieder über mich lustig, Mama.«

»Mach dich nicht lustig, Iris«, sagte Maria Smythe-Smith, ohne von ihrer Stickerei aufzusehen.

Iris’ Miene verfinsterte sich angesichts dieses automatischen Tadels.

»Wer war der Gentleman, der Mr. Bevelstoke gestern Abend begleitet hat?«, erkundigte sich Mrs. Smythe-Smith. »Der mit den dunklen Haaren?«

»Nach dem Konzert hat er mit Iris gesprochen«, sagte Daisy.

Mrs. Smythe-Smith fixierte Iris mit einem scharfen Blick. »Ich weiß.«

»Er heißt Sir Richard Kenworthy«, sagte Iris.

Ihre Mutter hob die Augenbrauen.

»Er war bestimmt nur höflich«, sagte Iris.

»Da war er aber ziemlich lange höflich«, kicherte Daisy.

Iris sah sie ungläubig an. »Wir haben doch nur fünf Minuten miteinander geredet. Wenn überhaupt so lang.«

»Länger, als ein Gentleman sonst mit dir redet.«

»Daisy, sei nicht so unfreundlich«, sagte ihre Mutter. »Allerdings muss ich dir zustimmen. Ich glaube wirklich, dass es mehr als fünf Minuten waren.«

»Waren es nicht«, murmelte Iris.

Ihre Mutter hörte sie nicht. Oder, wahrscheinlicher noch, sie zog es vor, Iris zu ignorieren. »Wir müssen mehr über ihn herausfinden.«

Vor Empörung blieb Iris der Mund offen stehen. Gerade einmal fünf Minuten hatte sie in Sir Richards Gesellschaft verbracht, und schon plante ihre Mutter den Untergang des armen Mannes.

»Du wirst nicht jünger«, erklärte Mrs. Smythe-Smith.

Daisy feixte.

»Na gut«, verkündete Iris. »Wenn ich ihn das nächste Mal sehe, versuche ich, sein Interesse für eine volle Viertelstunde zu fesseln. Das sollte wohl reichen, um eine Sondergenehmigung zu besorgen.«

»Ach, findest du?«, fragte Daisy. »Das wäre ja so romantisch.«

Iris konnte sie nur anstarren. Ausgerechnet jetzt war Daisy die Ironie entgangen?

»In einer Kirche kann jeder heiraten«, sagte Daisy. »Eine Sondergenehmigung aber ist etwas Besonderes.«

»Daher auch der Name«, brummte Iris.

»Die kosten wahnsinnig viel Geld«, fuhr Daisy fort, »und außerdem bekommt nicht jeder eine.«

»Deine Schwestern haben alle ganz normal in der Kirche geheiratet«, erklärte ihre Mutter, »und du wirst das auch.«

Das setzte dem Gespräch für mindestens fünf Sekunden ein Ende. Länger konnte Daisy nicht schweigend dasitzen. »Was liest du denn da?«, fragte sie und reckte den Hals in Iris’ Richtung.

»Stolz und Vorurteil«, erwiderte Iris. Sie sah nicht auf, steckte jedoch den Finger ins Buch, um die Seite zu markieren. Nur für alle Fälle.

»Hast du das nicht schon einmal gelesen?«

»Es ist ein gutes Buch.«

»Wie kann ein Buch so gut sein, dass man es zweimal liest?«

Iris zuckte die Achseln, was eine weniger begriffsstutzige Person als Wink verstanden hätte, dass sie dieses Gespräch nicht fortzusetzen wünschte.

Daisy jedoch nicht. »Ich habe es auch gelesen, weißt du.«

»Ach ja?«

»Ganz ehrlich, ich fand es nicht so gut.«

Da hob Iris endlich den Blick. »Wie bitte?«

»Es ist sehr unrealistisch«, befand Daisy. »Wird von einem wirklich erwartet zu glauben, dass Miss Elizabeth Mr. Darcys Heiratsantrag ablehnt?«

»Wer ist Miss Elizabeth?«, fragte Mrs. Smythe-Smith, dadurch nun endlich bewogen, von ihrer Stickerei aufzusehen. Sie blickte von Tochter zu Tochter. »Und wo wir schon dabei sind, wer ist Mr. Darcy?«

»Es war doch völlig offensichtlich, dass sie es niemals besser treffen könnte als mit Mr. Darcy«, fuhr Daisy fort.

»Genau das hat Mr. Collins auch gesagt, als er ihr einen Antrag gemacht hat«, schoss Iris zurück. »Und danach hat Mr. Darcy sie gefragt.«

»Wer ist Mr. Collins?«

»Das sind alles Figuren aus einem Roman, Mama«, sagte Iris.

»Sehr alberne, wenn ihr mich fragt«, erklärte Daisy hochmütig. »Mr. Darcy ist sehr reich. Und Miss Elizabeth hat keine nennenswerte Mitgift. Dass er sich dazu herablässt, ihr einen Heiratsantrag …«

»Er hat sie geliebt!«

»Ja, schon«, sagte Daisy gereizt. »Warum hätte er sie denn sonst bitten sollen, ihn zu heiraten! Und dann weist sie ihn zurück!«

»Sie hatte ihre Gründe.«

Daisy rollte mit den Augen. »Sie hatte wirklich Glück, dass er sie noch mal gefragt hat. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.«

»Ich glaube, ich sollte das Buch einmal lesen«, erklärte Mrs. Smythe-Smith.

»Hier«, sagte Iris. Auf einmal fühlte sie sich deprimiert. Sie streckte ihrer Mutter das Buch hin. »Du kannst meins lesen.«

»Aber du bist doch mittendrin.«

»Ich kenne es schon.«

Mrs. Smythe-Smith nahm den Roman entgegen, schlug die erste Seite auf und las den ersten Satz, den Iris inzwischen auswendig kannte:

Es ist eine Wahrheit, über die sich alle Welt einig ist, dass ein unbeweibter Mann von einigem Vermögen unbedingt auf der Suche nach einer Lebensgefährtin sein muss.

»Na, das ist auf alle Fälle wahr«, sagte Mrs. Smythe-Smith zu sich.

Iris seufzte und fragte sich, womit sie sich jetzt beschäftigen sollte. Sie könnte sich ein anderes Buch holen, aber sie saß momentan so gemütlich auf dem Sofa, dass sie keine Lust hatte aufzustehen. Sie seufzte erneut.

»Was?«, fragte Daisy.

»Nichts.«

»Du hast geseufzt.«

Iris unterdrückte ein Stöhnen. »Nicht jeder Seufzer hat mit dir zu tun.«

Daisy schniefte und wandte sich ab.

Iris schloss die Augen. Vielleicht könnte sie ein Nickerchen halten. Letzte Nacht hatte sie nicht besonders gut geschlafen. Das tat sie in der Nacht nach der musikalischen Soiree nie. Sie sagte sich immer, eigentlich hätte sie doch jeden Grund dazu, nachdem sie ein ganzes Jahr Zeit hatte, ehe sie sich wieder davor grausen musste.

Doch der Schlaf hatte sich nicht einstellen wollen, sie hatte ihren Verstand einfach nicht davon abhalten können, jeden Moment, jede vergeigte Note noch einmal zu erleben. Die spöttischen, mitleidigen, schockierten und überraschten Blicke … Fast konnte sie ihrer Cousine Sarah verzeihen, die sich letztes Jahr krank gestellt hatte, um nicht spielen zu müssen. Sie konnte es verstehen. Wirklich, niemand konnte Sarah besser verstehen als sie.

Und dann hatte sich Sir Richard Kenworthy Gehör verschafft. Worum war es da gegangen? Sie war nicht so dumm zu glauben, dass er sich für sie interessierte. Sie war kein lupenreiner Diamant. Eines Tages würde sie sicher heiraten, aber wenn es so weit war, dann gewiss nicht, weil irgendein Gentleman ihrem Zauber auf den ersten Blick erlegen war.

Sie besaß keinen Zauber. Laut Daisy hatte sie ja nicht mal Wimpern.

Nein, wenn sie einmal heiratete, wäre es eine Vernunftangelegenheit. Irgendein ganz gewöhnlicher Gentleman würde sie nett finden und entscheiden, dass es nicht schlecht wäre, die Enkelin eines Earls in der Familie zu haben, selbst wenn ihre Mitgift nur bescheiden war.

Und außerdem habe ich Wimpern, dachte sie missmutig. Nur eben sehr helle.

Sie musste mehr über Sir Richard herausfinden. Vor allem aber musste sie einen Weg finden, dabei unauffällig zu Werke zu gehen. Keineswegs durfte sie den Anschein erwecken, sie stelle ihm nach. Vor allem …

»Besuch, Madam«, verkündete ihr Butler.

Iris setzte sich auf. Es wird Zeit für eine gute Haltung, dachte sie mit gespielter Munterkeit. Schultern zurück, Rücken gerade …

»Mr. Winston Bevelstoke«, meldete der Butler.

Daisy richtete sich auf und drückte den Rücken durch. Vorher warf sie Iris noch einen »Hab ich’s nicht gesagt?«-Blick zu.

»Und Sir Richard Kenworthy.«

3. KAPITEL

»Hör mal«, sagte Winston zu ihm, als sie unten an der Vordertreppe zum Smythe-Smith’schen Stadthaus innehielten, »es geht nicht an, den Mädchen falsche Hoffnungen zu machen.«

»Und ich dachte, es sei ein allgemein üblicher Brauch, einer jungen Dame einen Besuch abzustatten«, erwiderte Richard.

»Ist es auch. Aber hier handelt es sich um die Smythe-Smiths.«

Richard hatte sich angeschickt, die Treppe hinaufzugehen, doch nun hielt er noch einmal inne. »Hat diese Familie irgendetwas Besonderes an sich?«, erkundigte er sich in mildem Ton. »Mal abgesehen von ihren einmaligen musikalischen Fähigkeiten?« Er musste rasch heiraten, gleichzeitig musste der Klatsch – oder, Gott behüte, Skandal – auf ein absolutes Mindestmaß begrenzt bleiben. Wenn die Smythe-Smiths irgendwelche dunklen Geheimnisse hatten, musste er es wissen.

»Nein«, sagte Winston und schüttelte den Kopf. »Keineswegs. Es ist nur … Na ja, vermutlich könnte man sagen …«

Richard wartete ab. Irgendwann würde Winston es schon ausspucken.

»Dieser spezielle Zweig der Smythe-Smiths ist ein wenig …« Winston seufzte, unfähig, den Satz zu vollenden. Er ist wirklich ein netter Kerl, dachte Richard lächelnd. Er mochte sich während eines Konzerts die Ohren mit Watte verstopfen und aus einer Taschenflasche trinken, aber er brachte es nicht fertig, schlecht von einer Dame zu sprechen, auch wenn die Beleidigung nur darin bestand, dass sie nicht beliebt war.

»Wenn du einer Miss Smythe-Smith den Hof machst«, sagte Winston schließlich, »werden sich die Leute fragen, warum.«

»Weil ich ja eine so tolle Partie bin«, sagte Richard trocken.

»Bist du das denn nicht?«

»Nein.« Typisch Winston, so etwas nicht zu erkennen. »Bin ich nicht.«

»Na komm, so schlimm kann es doch nicht sein.«

»Ich habe es gerade so geschafft, dass sich die Maycliffe-Ländereien von der Vernachlässigung und Misswirtschaft meines Vaters erholt haben, ein ganzer Flügel des Hauses ist im Moment unbewohnbar, und ich habe zwei Schwestern, deren Vormund ich bin.« Richard warf ihm ein ausdrucksloses Lächeln zu. »Nein, ich würde nicht sagen, dass ich ein großartiger Fang bin.«

»Richard, du weißt, dass ich …« Winston runzelte die Stirn. »Warum ist ein Teil von Maycliffe unbewohnbar?«

Richard schüttelte den Kopf und ging die Stufen hinauf.

»Nein, wirklich, ich bin neugierig. Ich …«

Doch Richard hatte den Türklopfer schon betätigt. »Überschwemmungen«, sagte er. »Ungeziefer. Vermutlich ein Geist.«

»Wenn du so knapp bei Kasse bist«, sagte Winston rasch, während er die Tür im Blick behielt, »brauchst du wohl eine größere Mitgift, als hier zu holen ist.«

»Vielleicht«, murmelte Richard. Doch er hatte auch noch andere Gründe, Miss Smythe-Smith aufzusuchen. Sie war intelligent, das hatte sich schon nach kurzer Zeit in ihrer Gesellschaft herausgestellt. Und sie legte Wert auf Familie. Musste sie wohl. Warum sonst hätte sie an diesem elenden Konzert teilgenommen?

Aber würde sie seine Familie ebenso schätzen wie ihre eigene? Das würde sie müssen, wenn er sie heiratete.

Die Tür wurde von einem etwas beleibten Butler geöffnet, der seine und Winstons Karte mit steifer Verneigung entgegennahm. Einen Augenblick später wurden sie in einen kleinen, aber eleganten Salon geführt, der in Cremeweiß, Gold und Grün gehalten war. Richard entdeckte Iris gleich auf dem Sofa. Sie beobachtete ihn ruhig durch ihre Wimpern. An einer anderen Frau hätte dieser Ausdruck vielleicht kokett ausgesehen, doch an Iris wirkte er eher wachsam. Abschätzend.

Sie begutachtete ihn. Richard war sich nicht sicher, wie er das finden sollte. Es hätte ihn amüsieren sollen.

»Mr. Winston Bevelstoke«, sagte der Butler, »und Sir Richard Kenworthy.«

Die Damen erhoben sich, um sie zu begrüßen, und sie widmeten sich zuerst Mrs. Smythe-Smith, wie es sich gehörte.

»Mr. Bevelstoke«, sagte sie und lächelte Winston an. »Wir haben uns ja ewig nicht gesehen. Wie geht es Ihrer lieben Schwester?«

»Sehr gut. Ihre Niederkunft steht kurz bevor, sonst wäre sie gestern Abend mitgekommen.« Er wies auf Sir Richard. »Soweit ich weiß, sind Sie mit meinem guten Freund Sir Richard Kenworthy noch nicht bekannt. Wir haben gemeinsam in Oxford studiert.«

Sie lächelte höflich. »Sir Richard.«

Er neigte den Kopf. »Mrs. Smythe-Smith.«

»Meine beiden jüngsten Töchter«, sagte sie und deutete auf die beiden Damen hinter ihr.

»Ich hatte gestern Abend die Ehre, Miss Smythe-Smiths Bekanntschaft zu machen«, sagte Richard und verneigte sich kurz vor Iris.

»Ja, natürlich.« Mrs. Smythe-Smith lächelte, doch das Lächeln erreichte nicht ihre Augen. Wieder hatte Richard den deutlichen Eindruck, dass er eingeschätzt wurde. Nach welchen Kriterien, das wusste er nicht. Es brachte ihn ziemlich aus der Fassung. Nicht zum ersten Mal dachte er, dass Napoleon lange vor Waterloo hätte besiegt werden können, wenn man nur die Londoner Mütter mit der Strategie betraut hätte.

»Meine Jüngste«, sagte Mrs. Smythe-Smith und nickte zu Daisy, »Miss Daisy Smythe-Smith.«

»Miss Daisy«, sagte Richard höflich und beugte sich über ihre Hand. Winston tat dasselbe.

Nachdem alle einander vorgestellt waren, nahmen die Herren Platz.

»Wie hat Ihnen das Konzert gefallen?«, fragte Miss Daisy.

Sie schien ihre Frage an Winston gerichtet zu haben, wofür Richard unglaublich dankbar war.

»Sehr«, sagte er, nachdem er sich sechsmal geräuspert hatte. »Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal, ähm …«

»Vermutlich haben Sie Mozart noch nie derartig inbrünstig interpretiert gehört«, kam Iris ihm zu Hilfe.

Richard lächelte. Sie hatte etwas Pfiffiges an sich, das er ziemlich anziehend fand.

»Nein«, sagte Winston rasch und offenkundig erleichtert. »Es war ein einmaliges Erlebnis.«

»Und Sie, Sir Richard?«, fragte Iris. Er sah ihr in die Augen – die, wie er schließlich befand, von einem sehr, sehr hellen Blau waren – und entdeckte dort einen Funken Impertinenz. Wollte sie ihn etwa provozieren?

»Ich muss sagen, ich bin sehr dankbar, dass ich mich zum Kommen entschloss«, erwiderte er.

»Das ist doch keine Antwort«, sagte sie. Ihre Stimme war so leise, dass ihre Mutter sie nicht richtig hören konnte.

Er hob die Augenbrauen. »Eine bessere bekommen Sie nicht.«

Sie sah aus, als wollte sie empört nach Luft schnappen, doch dann sagte sie einfach nur: »Touché, Sir Richard.«

Das Gespräch mäanderte durch vorhersehbare Themen – das Wetter, der König, dann wieder das Wetter –, bis Richard sich die Banalität der Unterhaltung zunutze machte und einen Spaziergang im nahen Hyde Park vorschlug.

»Weil so herrliches Wetter ist«, schloss er.

»Ja, es ist genau, wie ich sagte«, rief Daisy aus. »Die Sonne scheint außerordentlich strahlend. Ist es warm draußen, Mr. Bevelstoke? Ich habe das Haus heute noch nicht verlassen.«

»Recht warm«, erwiderte Winston und warf Richard einen raschen, aber tödlichen Blick zu. Jetzt waren sie quitt, oder vielleicht stand er sogar in Winstons Schuld. Die musikalische Soiree der Smythe-Smiths konnte nicht halb so quälend sein wie eine Stunde an Miss Daisys Arm. Sie wussten ja beide, dass Winston nicht derjenige sein würde, der Iris begleitete.

»Es hat mich überrascht, Sie so bald nach dem Konzert wiederzusehen«, sagte Iris, sobald sie draußen waren und auf dem Weg zum Park.

»Und mich überrascht es, Sie das sagen zu hören«, konterte er. »Ich habe doch bestimmt nicht den Eindruck erweckt, kein Interesse zu haben.«

Ihre Augen weiteten sich. Normalerweise würde er nicht so dreist vorgehen, doch für eine zarte Werbung hatte er keine Zeit.

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte sie vorsichtig, »was ich getan habe, um Ihren Respekt zu verdienen.«

»Nichts«, gab er zu. »Allerdings muss man sich Respekt nicht immer verdienen.«

»Nicht?« Sie klang verblüfft.

»Nicht sofort.« Er lächelte auf sie herab, erfreut, dass die Krempe ihres Huts so schmal war, dass er ihr Gesicht sehen konnte. »Ist das nicht Sinn und Zweck des Umwerbens? Herauszufinden, ob der anfängliche Respekt standhält?«

»Was Sie Respekt nennen, nenne ich Anziehung, glaube ich.«

Er lachte. »Sie haben natürlich recht. Bitte akzeptieren Sie meine Entschuldigung.«

»Dann sind wir einer Meinung. Sie respektieren mich nicht.«

»Aber ich fühle mich durchaus zu Ihnen hingezogen«, murmelte er kühn.

Sie errötete, und wenn Iris Smythe-Smith errötete, dann mit jedem Quadratzoll Haut. »Sie wissen, dass ich das nicht so gemeint habe«, murmelte sie.

»Meinen Respekt haben Sie«, erklärte er fest. »Wenn Sie ihn sich nicht schon gestern Abend verdient haben, dann an diesem Morgen.«

Sie warf ihm einen verwirrten Blick zu und schüttelte den Kopf.

»Ich habe noch nie zu den Männern gehört, die Dummheit an Frauen anziehend finden«, sagte er leichthin, fast als machte er eine Bemerkung zu einem Schaufenster.

»Sie kennen mich kaum so gut, dass Sie meine Intelligenz beurteilen könnten.«

»Gut genug, um zu wissen, dass Sie nicht dumm sind. Ob Sie Deutsch sprechen oder Rechnen können, kann ich noch bald genug erfahren.«

Sie sah aus, als unterdrückte sie ein Lächeln, und sagte dann: »Ja zum einen, nein zum anderen.«

»Deutsch?«

»Nein, Rechnen.«

»Schade.« Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu. »Die Sprachkenntnisse kämen Ihnen bei der königlichen Familie wirklich gelegen.«

Sie lachte. »Ich glaube, inzwischen sprechen sie alle Englisch.«

»Ja, aber sie heiraten immer wieder neue Deutsche, nicht wahr?«

»Vor allem rechne ich nicht damit, demnächst eine Audienz beim König zu erhalten.«

Richard lachte leise, genoss ihre Schlagfertigkeit. »Es gibt ja immer noch die kleine Prinzessin Victoria.«

»Die vermutlich nicht Englisch spricht«, gab Iris zu. »Ihre Mutter kann es jedenfalls nicht.«

»Sie sind ihr begegnet?«, fragte er trocken.

»Natürlich nicht.« Sie warf ihm einen Blick zu, und er hatte das Gefühl, dass sie ihm, wenn sie sich besser gekannt hätten, einen freundschaftlichen Rippenstoß versetzt hätte. »Also gut, ich bin überzeugt. Ich muss mir umgehend einen Deutschlehrer suchen.«

»Sind Sie sprachbegabt?«, erkundigte er sich.

»Nein, aber wir mussten alle Französisch lernen, bis Mama das für unpatriotisch erklärte.«

»Immer noch?« Lieber Himmel, der Krieg war seit beinahe zehn Jahren vorüber.

Iris warf ihm einen kecken Blick zu. »Sie kann sehr nachtragend sein.«

»Erinnern Sie mich daran, sie nicht zu verärgern.«

»Ich würde es nicht empfehlen«, murmelte sie abwesend. Sie legte den Kopf schief und verzog das Gesicht. »Ich fürchte, wir müssen Mr. Bevelstoke retten.«

Richard sah zu Winston hinüber, der ungefähr zwanzig Fuß vor ihnen ging. Daisy umklammerte seinen Arm und redete so energisch auf ihn ein, dass ihre blonden Kringellocken auf und ab wippten.

Winston machte gute Miene, doch er wirkte ein wenig angeschlagen.

»Ich habe Daisy von Herzen gern«, erklärte Iris seufzend, »aber sie ist wirklich gewöhnungsbedürftig. Oh, Mr. Bevelstoke!« Damit ließ sie Richards Arm los und eilte auf Winston und ihre Schwester zu. Richard setzte sich ebenfalls in Bewegung und folgte ihr.

»Ich wollte Sie schon die ganze Zeit fragen«, hörte er Iris sagen, »was Sie vom Vertrag von Sankt Petersburg halten.«

Winston sah sie an, als spräche sie in einer fremden Sprache. Deutsch vielleicht.

»Es stand gestern in der Zeitung«, fuhr Iris fort. »Sie haben doch sicher davon gelesen.«

»Natürlich«, sagte Winston, was offensichtlich gelogen war.

Mit strahlendem Lächeln wandte Iris sich von der finsteren Miene ihrer Schwester ab. »Es klingt, als wäre die Sache zur allseitigen Zufriedenheit geregelt worden. Finden Sie nicht auch?«

»Ähm … ja«, sagte Winston mit wachsender Begeisterung. »Allerdings.« Er hatte Iris’ Absicht erkannt, selbst wenn er keine Ahnung hatte, wovon sie redete. »Ganz Ihrer Meinung.«

»Wovon sprecht ihr?«, fragte Daisy.

»Dem Vertrag von Sankt Petersburg«, sagte Iris.

»Ja, das hast du bereits erwähnt«, erklärte Daisy ärgerlich. »Aber was ist das?«

Iris erstarrte. »Oh, na ja, ähm …«

Richard unterdrückte ein Lachen. Iris wusste es nicht. Sie war in die Bresche gesprungen, um Winston vor ihrer Schwester zu retten, und konnte nun ihre eigene Frage nicht einmal beantworten.

Man kam wirklich nicht umhin, ihre Schamlosigkeit zu bewundern.

»Weißt du, es ist ein Abkommen«, fuhr Iris fort, »zwischen Großbritannien und Russland.«

»Allerdings«, ergänzte Winston hilfreich. »Ein Vertrag. Ich glaube, er wurde in Sankt Petersburg unterzeichnet.«

»Es ist wirklich eine Erleichterung«, warf Iris ein. »Finden Sie nicht auch?«

»Oh ja«, erwiderte Winston. »Nun können wir alle wieder ruhiger schlafen.«

»Den Russen habe ich noch nie über den Weg getraut«, erklärte Daisy und atmete geräuschvoll ein.

»Also, so weit würde ich wohl nicht gehen«, sagte Iris. Sie sah zu Richard, doch der zuckte nur die Achseln. Er genoss die Episode viel zu sehr, um einzugreifen.

»Meine Schwester hätte beinahe einen russischen Fürsten geheiratet«, bemerkte Winston leichthin.

»Wirklich?«, fragte Daisy, die plötzlich wieder strahlte.

»Nun ja, nicht wirklich«, gab Winston zu. »Aber er wollte sie heiraten.«

»Oh, wie himmlisch«, schwärmte Daisy.

»Gerade hast du noch gesagt, du traust den Russen nicht über den Weg«, erinnerte Iris sie.

»Damit habe ich doch nicht den Hochadel gemeint«, meinte Daisy wegwerfend. »Sagen Sie«, fuhr sie, an Winston gewandt, fort, »war er umwerfend schön?«

»Das kann ich wirklich nicht beurteilen«, wand Winston sich und meinte dann: »Er war aber sehr blond.«

»Oh, ein Fürst«, seufzte Daisy und presste eine flatternde Hand aufs Herz. Dann wurden ihre Augen schmal. »Warum um alles in der Welt hat sie ihn denn nicht geheiratet?«

Winston zuckte die Achseln. »Ich glaube, sie wollte nicht. Sie hat stattdessen einen Baronet geheiratet. Die beiden sind ekelhaft verliebt. Harry ist allerdings ein recht netter Bursche.«

Daisy schnappte so laut nach Luft, dass es sicher bis nach Kensington zu hören war, dessen war Richard sich sicher. »Sie hat einen Baronet einem Fürsten vorgezogen?«

»Manche Frauen lassen sich von Titeln nicht beeinflussen«, sagte Iris. Sie drehte sich zu Richard um und bemerkte leise: »Ob Sie es glauben oder nicht – dieses Gespräch führen wir heute schon zum zweiten Mal.«

»Wirklich?« Er hob die Augenbrauen. »Um wen ging es denn beim ersten Mal?«

»Um Romanfiguren«, erklärte sie, »aus einem Buch, das ich gerade lese.«

»Welches denn?«

»Stolz und Vorurteil«, sagte sie und winkte ab. »Bestimmt haben Sie es nicht gelesen.«

»Oh doch. Es ist ein Lieblingsbuch meiner Schwester, und ich hielt es für ratsam, mich mit ihrer Lektüre vertraut zu machen.«

»Nehmen Sie immer einen so väterlichen Standpunkt ein, wenn es um Ihre Geschwister geht?«, fragte sie neckend.

»Ich bin ihr Vormund.«