Sommernachtsfunkeln - Beatrix Gurian - E-Book

Sommernachtsfunkeln E-Book

Beatrix Gurian

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Beschreibung

Luke ist schon lange Katis bester Freund. Dass sie mehr für ihn empfindet, will sie ihm nach einer Party endlich sagen. Doch dann passiert ein tragischer Unfall, von dem Kati schwere Narben davonträgt. Niedergeschlagen reist sie als Au-Pair nach L.A., wo ihr Leben einen geradezu magischen Aufschwung nimmt. In einer Bar namens "LIVED" findet Kati in den attraktiven Geschwistern Jeff und Lucy neue Freunde. All ihre Träume scheinen plötzlich wahr zu werden. Doch die Glamour-Welt verbirgt etwas - und erst mit Lukes Hilfe erkennt Kati, dass sie längst in einem Albtraum gefangen ist.

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Seitenzahl: 410

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Beatrix Gurian

SOMMER NACHTS FUNKELN

Weitere Bücher von Beatrix Gurian im Arena Verlag: PrinzentodHöllenflirtLiebesfluchLügenherz Wie du ihm, so ich dir Dann fressen sie die Raben Der süße Kuss der Lüge Stille Nacht. Mörderisch schöne WeihnachtsthrillerStigmata. Nichts bleibt verborgen Nixenrache Glimmernächte

Schreibworkshops mit Beatrix Gurian: www.münchner-schreibakademie.de

 

 

Für Janosch

1. Auflage 2017 © 2017 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Covergestaltung: Martina Eisele, unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com ISBN 978-3-401-80733-1

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Inhaltsverzeichnis

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Epilog

To be wise and love exceeds man’s might.

Weise sein und lieben vermag kein Mensch.

William Shakespeare Troilus und Cressida III. Aufzug, 2. Szene

1

Kati sah sich nervös in der menschenleeren Gegend um, überprüfte noch einmal, ob sie Lindas SUV auch wirklich abgeschlossen hatte, und machte sich auf die Suche. Reichlich runtergekommen war es hier – wie in den düsteren Graphic Novels über Rapper in Los Angeles, die Luke so gern gelesen hatte.

Luke. Die Narbe auf Katis Wange fing an zu kribbeln. Nicht an Luke denken, nicht jetzt. Sie musste nach vorn sehen. Denk »Linda«, nicht »Luke«. Tausch einfach die Buchstaben hinter dem L.

Linda hatte behauptet, das Viertel wäre gerade dabei, hipp zu werden, aber wenn es Linda Vorteile brachte, dann hätte sie auch eine atomverseuchte Insel als Vergnügungspark ausgegeben. Und um Kati dazu zu bringen, für sie in diese ominöse Bar zu gehen und sich dort »ein bisschen umzusehen«, hatte sie ihr nicht nur Extra-Taschengeld angeboten, sondern sie war sogar so weit gegangen, Kati zum ersten Mal wie eine Freundin und nicht wie ihre Untergebene zu behandeln. Hinter vorgehaltener Hand hatte sie ihr zugeflüstert, sie wüsste aus todsicherer Quelle, die aber leider absolut Top Secret bleiben müsste, dass in dieser Bar neben Jennifer Lawrence auch Matthew Macfadyen und Ellen Terry Stammgäste waren.

Kati hatte ein Augenrollen nur mühsam unterdrücken können, denn damit kamen nur zwei Secrets ans Licht: Erstens, Linda hatte in ihrem Zimmer rumgeschnüffelt, um rauszukriegen, womit sie Kati ködern könnte, und zweitens hatte Linda keine Ahnung, dass Ellen Terry, die berühmteste Shakespearedarstellerin aller Zeiten, schon lange tot war und deshalb nur als Zombie in der Bar hätte aufkreuzen können.

Aber wo zum Teufel sollte die Bar denn sein? Diese Adresse konnte einfach nicht stimmen! Suchend sah Kati sich an der Kreuzung um, laut ihrem Navi müsste sie sich irgendwo hier befinden.

Links gegenüber war nur ein einsamer Ed-Hardy-Klamottenladen, der von einer Straße um die Ecke bis zur anderen Straße reichte. Und in jedem der drei garagentorgroßen Schaufenster hingen knallrote Plakate, die jetzt schon einen großen Supersale zum elften November, dem Veteransday, ankündigten.

Rechts von ihr befand sich eine Ladenzeile, in der die meisten Geschäfte mit heruntergelassenen Rollläden verrammelt und mit Graffiti besprüht waren. Einige waren mit neongelben Zetteln beklebt, die vor Ratten warnten. Nur ein einsames Nail-and-Fish-Beautystudio hielt dort noch die Stellung.

Das einzige Gebäude, in dem Menschen ein und aus gingen, stand auf der anderen Straßenseite etwas versetzt von ihr. Es war kein gewöhnliches Haus, sondern ein strahlend weiß getünchter Bau, offensichtlich eine kleine mexikanische Kirche.

Das konnte unmöglich die Bar sein, die Linda gemeint hatte. Aber die Adresse stimmte und deshalb lief Kati wie magisch von dem prächtigen Eingangsportal der Kirche angezogen, über die Straße, um das Gebäude genauer unter die Lupe zu nehmen. Rechts und links ragten zwei nicht sehr hohe Türme auf, die mit einem Querbalken verbunden waren. Daran hing eine große eiserne Glocke, die sich im heißen Nachmittagswind leicht hin und her bewegte. Zwischen den Türmen im quadratischen Mittelbau befand sich der imposante Eingang zur Kirche, aus dem gerade drei miteinander lachende Frauen in Nadelstreifenkostümen und eleganten Laptoptaschen herauskamen. Nein, dachte Kati, während sie direkt darauf zusteuerte, das hier war definitiv keine Bar.

Hinter den drei Frauen fiel das riesige Holztor völlig lautlos ins Schloss. Als Kati nur noch wenige Meter davorstand, musste sie den Kopf in den Nacken legen, um es betrachten zu können. Das Tor wurde nämlich von drei gewaltigen Bögen eingerahmt. Der erste war dunkelgrün gestrichen und in viele Rechtecke unterteilt, bemalt mit merkwürdigen Symbolen, von denen keines dem anderen glich: Spiralen, bunte Kreise und Kreuzvariationen, darüber verlief ein dunkelblauer Bogen mit Schmetterlingen und Totenköpfen. Abgeschlossen wurde das Ganze durch einen dritten und letzten Bogen, der in einem knalligen Türkis gestrichen war und in dem sich die Symbole der unteren Bögen abwechselnd wiederfanden.

Es war gerade so, als würde dieser Eingang sie in sein Inneres hineinsaugen wollen. Keine schlechte Idee, um Gläubige anzulocken, überlegte Kati und ging die letzten Schritte nach vorne. Genau in dem Moment öffnete sich das Tor und ihr kamen zwei bärtige Typen in Shorts entgegen. Jeder von ihnen hatte ein handbemaltes Skateboard unter den Arm geklemmt. Als die beiden sie bemerkten, trat der eine wieder etwas zurück, hielt ihr das Tor auf und nickte ihr zu.

»It’s really amazing!«, sagte er so ehrfurchtsvoll, als befände sich in der Kirche der Heilige Gral. Sein Buddy nickte bestätigend, musterte Kati und fügte noch hinzu: »It’ll do wonders for you, you sure will love it!«

Was sollte das denn heißen? Während er redete, glotzte der Typ bedeutungsvoll auf Katis rechte Wange. Ihr schoss sofort das Blut ins Gesicht; reflexartig legte sie die Hand auf ihre Narbe und drehte den beiden ihre gute Seite zu. Wollten sie ihr damit sagen, dass man in der Kirche Wunderheilungen vollbringen konnte, oder was?

Nein, natürlich war das keine Anspielung gewesen, seit dem Unfall war sie nur extrem überempfindlich.

»Go, try it!«, sagten dann beide und schubsten sie mit ihren Skateboards geradezu in die Kirche.

Es dauerte einen Moment, bis sich Katis Augen an die schummrige Stimmung gewöhnt hatten. Zuerst fielen ihr die wagenradgroßen Gestelle auf, die von der hohen gewölbten Decke hingen und auf denen unzählige weiße Kerzen flackerten.

Kati lief ungläubig ein paar Schritte, dann schüttelte sie immer wieder verblüfft den Kopf. Wie abgefahren war das denn? Hier drin war tatsächlich die Bar, zu der Linda sie in geheimer Mission geschickt hatte.

Nichts, was sie je gesehen hatte, war vergleichbar mit dem, was vor ihr lag. Es sah aus, als ob eine Bar aus den Fünfzigern sich mit einer mittelalterlichen Kirche verheiratet hätte und auf Hochzeitsreise in einer fremden Galaxie war. Kati wusste gar nicht, wo sie zuerst hinsehen sollte. Da waren die chromglänzenden, mit dickem rotem Leder bezogenen Barhocker aus den Fünfzigern, die aber auf einem Boden standen, der den Eindruck erweckte, man befände sich auf einem Flug durchs All. So, als stünde man in einer gläsernen Raumkapsel, unter sich nur Sterne, Milchstraßenwirbel und schwarze Löcher. In den weiß getünchten Bartresen, der sich wie eine Schlange über den Boden wand, waren LED-Lampen eingebaut, die farblich in einem ewig dauernden Sonnenuntergang hin und her changierten, was Kati ganz schwindelig werden ließ.

Oben auf dem Tresen befanden sich Kacheln, die die gleichen Ornamente zeigten wie die Bögen über dem Eingang: Totenköpfe, Spiralen, Schmetterlinge. In den seitlichen Gewölben der Kirche standen kleine, mit gelben Blumen geschmückte Altäre, außerdem Kugeln aus Milchglas aus denen weißlicher, sehr aromatischer Dampf aufstieg, dessen angenehmer Duft sofort ein Lächeln auf Katis Lippen zauberte.

Und es war merkwürdig still hier drin, obwohl auf jedem der Stühle jemand saß, der an einem Getränk nippte. Als hätte man Ohrstöpsel an und würde nur noch seinem eigenen Puls lauschen.

Offensichtlich lohnte sich der ganze Aufwand, auch wenn hier laut Linda nur gesunde alkoholfreie Smoothies verkauft wurden. Sonst hätte sie Kati mit ihren siebzehn Jahren auch nicht dorthin schicken können. Immerhin war Alkohol in den USA bis zum Alter von einundzwanzig Jahren strengstens verboten, was Katiziemlich lächerlich fand – man durfte ja auch mit achtzehn wählen, und wie sie von Spider und den anderen Au-pairs gehört hatte, gab es einen regen Handel mit gefälschten Ausweisen, um an Alkohol zu kommen. Anderseits, wenn sie an den Unfall dachte …

Nein. Schluss damit. All dieses »hätte, könnte und wenn«-Zeug brachte sie nicht weiter. Sie musste endlich damit aufhören und alles, was mit dem Unfall zu tun hatte, vergessen.

»Zum ersten Mal hier?«, fragte eine dunkle, aber samtig wirkende Stimme hinter ihr.

Kati drehte sich um. Vor ihr stand ein junger, schwarzhaariger Typ, der sie anlächelte, als wäre sie der Hauptgewinn in einer ansonsten schrecklich öden Tombola. Er war größer als sie, mit breiten Schultern und schmaler Taille und wirkte in seinem engen roten T-Shirt irgendwie geschmeidig und angespannt zugleich. Und es verschlug ihr den Atem, als sie ihm dann ins Gesicht sah. Doch wärt Ihr auch der Teufel, Ihr seid schön, dachte Kati verwirrt an Shakespeare – wie immer, wenn sich ihre Gedanken sonst nur im Kreis drehten.

Sein Mund und dieses starke Kinn wirkten ein bisschen herrisch, doch die besondere Farbe seiner Augen … die erinnerte Kati an etwas. Tiefbraun waren diese Augen und durchsetzt von intensiv schimmernden Einsprengseln. Sprengsel, die genau wie bei Luke träge glitzerten wie Sonnenstrahlen, die bei ihrer Reise zur Erde tief durch goldenen Honig getaucht sind.

H wie Honig, schoss es Kati automatisch durch den Kopf. Sie biss sich auf die Lippen. Dieses verdammte Buchstabenspiel. Sie konnte es einfach nicht lassen. Hör schon auf damit, denk immer daran, dieses H wie Hölle hast du hinter dir gelassen, konzentrier dich auf das, was jetzt ist.

»Alles okay mit dir?«, fragte der Typ, den Kati womöglich schon viel zu lange angestarrt hatte. Sie zwang sich zu lächeln und nickte ihm zu.

»Ja. Sorry, tut mir leid, ich wollte nicht unhöflich sein«, antwortete sie auf Englisch.

»Schon gut. Schön, dass du zu uns gekommen bist. Beim ersten Mal servieren wir einen Smoothie umsonst. Such dir einen aus.«

Ah, er gehörte also zum Personal, dachte Kati. Wenn er lächelte, dann hatte er gar nichts Herrisches mehr an sich. Sein Lächeln machte ihn sanft.

»Wir haben heute den Green Glowing Star Smoothie im Angebot, aber so wie ich dich einschätze …« Er musterte sie von oben bis unten und dann von unten bis oben. Kati war gespannt, ob er sich genau so verhalten würde wie alle anderen. Jeder, der sie zum ersten Mal genau betrachtete, kam irgendwann an den Punkt, an dem er zusammenzuckte.

Manche konnten das sehr gut überspielen und es war nicht mehr als ein unkontrollierter Wimpernschlag, andere waren so überrascht, dass sie nach Luft schnappen mussten. Aber dieser Typ verfügte entweder über eine perfekte Selbstbeherrschung oder das diffuse Licht schmeichelte ihr mehr, als sie gedacht hätte, denn er reagierte gar nicht auf ihre Narbe.

»So, wie ich dich einschätze, würde einer Persönlichkeit wie dir unser Sunrise Glory mehr zusagen.« Er legte seine Hand leicht auf ihren Ellenbogen, dirigierte sie zu einem gerade frei gewordenen Barhocker und verschwand hinter der Bar.

Kati musste sich am Tresen festhalten, weil ihr von all diesen Eindrücken immer noch ein wenig schwindelig war. Aber als sie dann auf dem Hocker saß, der im All zu schweben schien, merkte sie, wie sie sich immer mehr entspannte. All ihre Ängste und Sorgen schienen sich in dem magischen Sonnenauf- und -untergangslicht und dem Flackern der Kerzen aufzulösen. Sie fühlte sich plötzlich leicht und frei und so, als ob alles möglich wäre.

Was für ein Ort war das hier?

Ein flüchtiger Blick nach rechts und links zeigte ihr, dass sie mit Abstand am schlechtesten gekleidet war, aber es machte ihr nichts aus. Sie mochte die figurbetonten, ärmellosen und tief dekolletierten Kleider der anderen Frauen, die sich genauso gut zu fühlen schienen wie sie. Die meisten Männer trugen elegante Anzüge und redeten viel leiser als in den Bars, in denen Lindas Mann Derek mit seinen Kumpels Baseballspiele anschaute. Sie standen in kleinen Grüppchen am Tresen, nur einer saß allein, der einzige, der keinen Anzug anhatte. Es sah aus, als ob er eine schwarze Kapuze über dem Kopf tragen würde, aber er war so weit entfernt, dass Kati ihn nicht so genau erkennen konnte.

Erst als eine asiatisch aussehende Frau etwas hinter der Bar hervorholte, bemerkte Kati, dass sich dort große Kühlschränke mit Glastüren befanden, in denen Obst, Gemüse, Algen und Sprossen zu appetitanregenden Stillleben arrangiert waren. Beeren in kleinen Körbchen, Granatäpfel, Orangen und Avocados, Kräutersträuße in mit Ornamenten bemalten Bechern. Kati wusste gar nicht, wo sie zuerst hinschauen sollte.

Da kreuzte der schwarzhaarige Typ wieder auf. Er trug ein Körbchen voller Früchte und Grünzeug, von dem sie nicht wusste, was das alles war. Mit wenigen Bewegungen schnippelte er alles klein und warf es in einen altmodischen Mixer, der aussah wie aus Zurück in die Zukunft. Zum Schluss holte er noch drei Glasflakons mit goldenen grünlichen und orangen Ölen aus einem anderen Kühlschrank und gab davon jeweils ein paar Tropfen in den Mixer.

Als er ihren skeptischen Blick bemerkte, nickte er ihr zu und sagte: »Extrakte und Gewürze, alles sehr gesund und ganz speziell für dich.«

Nachdem er die Masse noch einmal durchgemixt hatte, goss er die Flüssigkeit in einen weißen Keramikbecher, dessen Form entfernt an die Kirche erinnerte, in der sie sich befanden.

Nachdem er den Becher vor sie hingestellt hatte, sah sie im unteren Drittel des Bechers ein durchsichtiges Tor aus Glas, das wie das Eingangsportal der Bar mit drei Bögen überspannt war. Durch dieses »Guckfenster« konnte Kati in ihren Drink schauen.

Verblüfft registrierte sie, dass sich trotz des Mixens mehrere sauber getrennte Lagen von Flüssigkeit in ihrem Becher befanden. Der Farbverlauf ihres Sunrise Glorys ging von Orange über Rot zu Rosa und erinnerte sie zwar eher an den Sonnenuntergang, den sie von ihrem Zimmer in Venice verfolgen konnte, aber hey, who cares? Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang, das sah sehr schön aus.

»Man kann das auch trinken!«, sagte der Typ und grinste nun nicht mehr nur sanft, sondern so intensiv, dass Kati gar nicht anders konnte, als zurückzulächeln. Dabei trafen sich ihre Augen und jetzt, auf den zweiten Blick, erkannte sie, dass die Ähnlichkeit mit Luke wirklich nur oberflächlich war. Die goldenen Einsprengsel in seinen braunen Augen hatten ein flackerndes Eigenleben. Das waren überhaupt keine Honigsonnenstrahlen, sondern vielmehr ein freundliches Feuer.

Das muss aufhören, dachte Kati. Ich kann nicht immer alle mit Luke vergleichen.

»Was ist?«, fragte er und zeigte auf den Becher. »Magst du nicht probieren?«

»Doch!« Kati nahm einen Schluck. Himmlisch, dachte sie, was für ein unfassbar runder Geschmack: süß, aber nicht zu süß, fruchtig, aber nicht säuerlich, warm auf der Zunge, aber nicht klebrig und beim Runterschlucken angenehm kühl in der Kehle. Ein Hauch Zimt, ein bisschen Kokos oder war das Ingwer?

»Wow!«, sagte sie und meinte es auch so. Wenn Linda damit konkurrieren wollte, musste sie sich warm anziehen.

»Wie schön, das freut mich. Ich bin übrigens Jeff«, stellte er sich vor, nachdem sie den Becher abgestellt hatte. Er reichte ihr eine weiße Serviette, auf der wieder die drei Bögen des Portals aufgedruckt waren. Inmitten des unteren Bogens stand in schlichten Buchstaben Lived.

»Du darfst sie auch benutzen.« Jeff deutete auf ihren linken Mundwinkel, was Kati dazu brachte, sofort ihre Lippen abzutupfen.

»Und«, fragte Jeff nach einem Moment, »was hat dich nach Los Angeles verschlagen?«

»Ist mein Englisch so schlecht?«, konterte Kati viel koketter als sonst. Das musste an dem Drink liegen – obwohl, da war ja kein Alkohol drin.

»Nein, im Gegenteil, du sprichst perfekt, vielleicht zu perfekt. Ich schätze, du kommst aus der Schweiz?« Jeff warf ihr einen fragenden Blick zu.

»Knapp daneben, aus Deutschland.«

»Ah. Und warum bist du hier?«

»Ich arbeite als Au-pair.« Das war immerhin nicht gelogen und sie würde einem Wildfremden sicherlich nicht erzählen, warum sie wirklich nach Kalifornien gekommen war. Zeit, das Thema zu wechseln.

»Lived – ist das der Name dieser Bar?«, fragte sie und deutete auf die Serviette. »Weißt du, warum sie so heißt?«

»Natürlich«, antwortete Jeff, »es ist schließlich meine Bar.«

Oh. Da hatte sie wohl endlich mal Glück gehabt und einen Volltreffer gelandet. Wenn sie es richtig anstellte, könnte sie aus ihm alles rauskriegen, was Linda wissen wollte. Leider war ihr Jeff sympathisch und irgendwie sträubte sich etwas in ihr, ihn so hinters Licht zu führen.

»Eigentlich sollte es heißen ›And they lived happily ever after‹ – aber das war den Leuten zu lang. Weißt du, was das bedeutet?«

Kati nickte. Das war die englische Version von »Sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende«. Und die fand sie viel schöner als die deutsche. »Lebensende« klang so traurig, nach Tod.

»Und warum hast du deine Bar so genannt?«

Jeff lachte mit offenem Mund und Kati war wie geblendet von all diesen perfekten Zähnen, die so weiß schimmerten wie frisch gefallener Pulverschnee auf einem gefrorenen Milchsee.

Was für ein faszinierender Kontrast zu diesen braungoldenen Feueraugen, dachte Kati und konnte nicht verhindern, dass sie ihn ebenfalls anlächelte.

Wie alt Jeff wohl war? Etwas älter als sie vermutlich, aber nicht älter als Mitte zwanzig.

»Was glaubst du denn, warum wir die Bar so genannt haben?«

»Damit jeder weiß, dass all die Versprechungen, die ihr hier macht, nichts anderes als Märchen sind?«

Jeff legte seine hohe glatte Stirn in Falten. »Ach ja? Und welche Versprechungen sollten das sein?«

Kati biss sich auf die Unterlippe. Sie war wohl ein wenig zu forsch, zu flapsig gewesen. »Ich meine nur … Ich habe gehört, eure Drinks würden die Kunden schöner und jünger machen«, stotterte sie und verfluchte Linda, die ihr das eingebrockt hatte.

»Schönheit und Jugend, na, das verspricht in Los Angeles eigentlich jeder Dienstleister«, sagte Jeff. »Denn in dieser Stadt kann man ja, wie dir sicher nicht entgangen ist, niemals schön und jung genug sein. Aber deine Antwort stimmt nicht ganz, das wäre auch nicht sehr kreativ, oder?«

»Vielleicht hast du das ›Happily ever after‹ ironisch gemeint, weil Los Angeles so eine Märchen-Traumfabrik ist?«, riet Kati. Sie dachte nach. »Oder glaubst du ernsthaft daran, es wäre möglich für immer glücklich zu sein? Und dass jeder seine wahre Liebe finden kann?«

Da lachte Jeff schallend. »Selbstverständlich glaube ich an die Liebe! Ihr Europäerinnen seid so voll düsterer Gedanken!« Er richtete sich auf, legte sehr viel übertriebenes Pathos in seine Stimme und sagte auf Deutsch: »Angst, Weltschmerz!«

Kati kam es so vor, als hätte er damit die ganze Bar beschallt, denn plötzlich wurde es total still. Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss, und sie hatte keine Ahnung, wie sie reagieren sollte.

Doch da redete er schon mit seiner normalen Stimme weiter. »Sorry, manchmal reitet mich einfach der Teufel.« Er zwinkerte ihr zu. »Darf ich fragen, wie du heißt?«

»Kati!« Sie schüttelte die Hand, die er über den Tresen reichte. Dabei wiederholte er ein paar Mal ihren Namen und sprach ihn dabei sehr weich und amerikanisch aus. Katy. Daran könnte ich mich gewöhnen, dachte sie.

»Lass es dir schmecken, Katy«, sagte er dann und nickte auffordernd zu ihrem Becher.

Sie nippte wieder an ihrem Drink und mit jedem Schluck fühlte sie sich wohler in ihrer Haut, wohler als die letzten Monate. Monate, in denen sie sich von allem verabschieden musste, was ihr wichtig gewesen war. Vom Theater und ihren Bühnenträumen und von Luke. Sie nahm einen weiteren Schluck, seufzte wohlig und fand das alles gar nicht mehr so schlimm. Sie war jetzt hier und hier würde sie neu anfangen. Linda konnte ihr gestohlen bleiben, sie würde nicht rumspionieren, sondern einfach nur dasitzen und alles genießen, ihr neues Leben in Los Angeles und diesen Sunrise Glory.

2

Sunrise Glory? Im Ernst jetzt?« Luke biss sich auf die Zunge, um nicht ausfallend zu werden. Ausgerechnet diese Schwachsinnsgeschichte hatte es auf den ersten Platz geschafft! Eine Graphic Novel über blinde goldene Einhörner, eine Story, die in etwa genauso viel von einer Graphic Novel hatte wie er von einem goldenen Einhorn.

»Hey, Mann, nimm’s nicht so schwer«, versuchte Joschi, ihn zu trösten. »Ist doch scheißegal, was irgend so eine Jury labert, du bist Zweiter geworden! Immerhin gibt’s da auch noch hundertfünfzig Mäuse!«

Joschi und Finn, die sich zu Ehren der Preisverleihung in ihre am wenigsten zerrissenen Jeans und sogar in Hemden geworfen hatten, griffen nach ihren Biergläsern und prosteten ihm zu.

»Die Zweiten sind die wahren Verlierer«, gab Luke zurück. Er hätte am liebsten gekotzt. Wie oberpeinlich, hinter so einem Schrott wollte er auf keinen Fall Zweiter sein.

»Jetzt mach mal halblang! Ganz ehrlich, ich hätte nicht gedacht, dass du überhaupt so weit vorne landest.« Finn wischte sich den Bierschaum vom Mund und nickte ihm aufmunternd zu. »Ich meine, dein Zeug ist einfach zu … na ja … zu …« Hilfe suchend wandte er sich an Joschi, der sofort in die Bresche sprang.

»… abgefahren. Für Normalsterbliche ist das eben zu hoch, was du so schreibst.«

Gegen seinen Willen musste Luke grinsen. »Da ist was dran. Jede Wette, ihr zwei Idioten wisst nicht mal mehr den Titel von meiner Story.«

»Doch, klar, Mann.« Joschi nahm einen gewaltigen Schluck Bier, um Zeit zu gewinnen. »Irgendwas Cooles über diesen Zombiematador, über den du ständig schreibst. Diesen Orroz.«

»Nee«, widersprach Finn, »nee, er hat doch was Neues ausprobiert, irgendwas mit dem Teufel und einem heulenden Tod.«

Na ja, dachte Luke. Das war zumindest nur knapp daneben. Die beiden sahen ihn fragend an, versuchten offensichtlich, ihr Lachen zu unterdrücken, aber dann konnten sie nicht anders und prusteten derart laut los, dass sich die wenigen Leute in der Kleinkunstbühne zu ihnen umdrehten.

Na toll. Luke versuchte, die leichte Verzweiflung, die sich gerade in ihm breitmachte, mit einem genauso lauten Lachen zu überspielen. So, wie seine zwei besten Freunde das gerade ausgedrückt hatten, klang seine Story eigentlich noch schlimmer als der Schwachsinn von den blinden goldenen Einhörnern. Aber die zwei interessierte das alles ja auch nicht die Bohne. Er seufzte. Klar, Kati war die Einzige gewesen, die je kapiert hatte, wie wichtig ihm seine Storys waren. Seit sie sich bei der Weihnachtsfeier ihrer Schule vor vier Jahren das erste Mal begegnet waren, hatte sie regelmäßig seine Geschichten gelesen – und ihn nie ausgelacht, egal, wie schrottig sie gewesen waren.

»Hey, schaut mal da drüben, Hammer!« Joschi hörte abrupt auf zu lachen, zog seine kleine Wampe ein, zeigte auf ein hübsches Mädchen, das zur Mikrofonprobe auf die Bühne kommandiert worden war, und schnappte nach Luft. Sie starrten alle drei hin und Finn fielen fast die Augen aus dem Kopf. Das also war die Siegerin des Wettbewerbs.

»Wahnsinn, egal, wie diese Braut wirklich heißt, das nenn ich mal ›Sunrise Glory‹ … Ich meine, bei der geht die Sonne aber so was von auf.« Finn schnalzte mit der Zunge und formte mit den Händen ihre Kurven nach. Joschi nickte dazu wie ferngesteuert und erinnerte Luke dabei an den Wackeldackel seiner Odenwälder Oma.

»Ehrlich, Luke«, Finn redete mit ihm, ohne den Blick von der Frau zu nehmen, »ist doch egal, um was es in deiner Story geht! Mit der da oben haben sie eindeutig die richtige Number One ausgesucht.«

»Alter, du fängst gleich an zu sabbern!«, stellte Luke fest.

»Und du darfst jetzt da hoch zur Preisverleihung«, stöhnte Joschi. »Ist das ungerecht, vielleicht küsst sie dich, so von Preisträger zu Preisträger. Scheiße, wisst ihr, was, ich fang jetzt auch an zu schreiben!«

»Besser nicht«, murmelte Luke und machte sich dann auf den Weg zur Bühne, um seinen Preis entgegenzunehmen. Einen Gutschein über hundertfünfzig Euro für die Eröffnung eines Girokontos bei der Bank, die den Schreibwettbewerb veranstaltet hatte, um an junge Kunden ranzukommen.

Sunrise Glory würde immerhin fünfhundert Euro abkassieren für ihre dämlichen blinden goldenen Einhörner.

Während er auf sie zusteuerte, betrachtete er die Siegerin, die eigentlich Ina Dinkelmann hieß, genauer und musste seinen Freunden zustimmen. Sie war wirklich sehr sexy, obwohl sie klobige Doc Martens zu ihrem schwarzen Lederminirock trug. Womöglich hatte die Jury ja nicht aus Literaturkennern bestanden, sondern nur aus Typen wie Joschi und Finn?

Als er näher kam, lächelte Ina ihn unsicher an und er sah etwas auf ihrer Stirn glitzern. War das Angstschweiß, der da im Scheinwerferlicht funkelte?

Plötzlich fühlte er sich wie ein Arsch. Natürlich hatte die Jury die Storys gelesen und Ina hatte genauso hart wie er an ihrer Geschichte gearbeitet und sie konnte überhaupt nichts dafür, dass er nur Zweiter geworden war.

Kati würde jetzt Witze über sein Monsterego reißen und darüber, was für ein mieser Verlierer er immer noch war. Einen Moment lang wünschte er sich, dass Kati hier wäre, ihm erst den Kopf waschen, dann aber gratulieren würde. Sie hätte sicher etwas Abgefahrenes zu seinem zweiten Platz auf Lager. Z wie zensationeller Zunder, würde sie sagen oder irgendeins ihrer Shakespearezitate aus dem Ärmel schütteln, das ihn aufmuntern würde.

Okay, jetzt bloß nicht sentimental werden. Kati hatte ihre Entscheidung getroffen, also scheiß auf Shakespeare! Sunrise Glory war hübsch und sie war hier. Das konnte noch ein richtig geiler Abend werden, wenn er sich nur ein bisschen Mühe gab.

Er straffte die Schultern, reichte seiner Rivalin die Hand und gratulierte ihr mit seinem strahlendsten Lächeln.

»Hat mir echt gefallen, deine Story«, sagte sie und ihre Stimme klang so angenehm rauchig und aufrichtig, dass er kurz in Erwägung zog, gleich mit ihr zu verschwinden und sie seinen Kumpels doch nicht vorzustellen. Immerhin hätten sie beide ein Gesprächsthema, während Joschi und Finn sie nur ansabbern würden.

Jetzt lächelte Ina auch gar nicht mehr so unsicher wie gerade eben noch, sondern so, als würde er ihr ziemlich gut gefallen.

»Danke«, antwortete Luke. »Ich fand deine Einhörner auch echt nett.« Er drückte ihre Hand fest und dekorierte seine dreiste Lüge noch mit einem vielsagenden Augenaufschlag.

Seine Freunde würden ihn dafür bewundern, Kati würde ihn für das Geschleime verachten und seine Schwester Gordana fände es wunderbar gentlemanlike.

Oh Mann, warum mischten die sich alle jetzt schon wieder ein? Sein Hirn war ihm manchmal echt ein Rätsel, denn er wollte gerade an niemand anderen denken und ganz besonders nicht an Miss von und zu Gordana, die in sechsundzwanzig Jahren nie etwas Schlechteres als den ersten Platz mit nach Hause gebracht hatte. Natürlich waren das immer nur erste Plätze bei seriösen wissenschaftlichen Wettbewerben und Kongressen. Orte, an denen blinde Einhörner nicht mal als Klopapieraufdruck vorkamen.

»Oh nett?«, wiederholte Ina und ihre Stimme troff nur so von Ironie. »Wow, du findest meine Story also echt nett!« Sie ließ seine Hand los, als hätte sie sich verbrannt. Sie murmelte etwas in sich hinein, was in Lukes Ohren so ähnlich klang wie »arroganter Idiot«, und er fühlte, dass er rot wurde.

Sie zuckte mit den Schultern und sagte dann lauter: »Tut mir echt leid für dich, aber nette Einhörner scheinen deutlich besser anzukommen als heulende Romantiker!«

Diese Abfuhr hatte er wirklich verdient. Schluss jetzt mit diesem Selbstmitleid. Dieser ganze Wettbewerb war ja nur ein Spiel. Genau wie in Blue Tears, seiner Geschichte.

Doch bevor er mit Sunrise darüber reden konnte, begann die offizielle Preisverleihung.

Ein Spiel, sagte er sich, während er dem Schwachsinn lauschte, den die Jury über ihn und seine Geschichte zum Besten gab. Ein Spiel und deshalb war es auch egal, dass seine Eltern doch nicht gekommen waren.

Er nahm seinen Preis entgegen, posierte für die Fotos, küsste Sunrise Glory und auch Eva, das dicke Mädchen, das den dritten Platz gemacht hatte mit ihrer genial düsteren Geschichte voller Anspielungen: 6x7 Deepthought.

Nachdem alles vorbei war, stellte er die beiden dann doch seinen Kumpels vor und nutzte das reichlich sprudelnde Freibier, um sich einen ordentlichen Kater anzutrinken.

Morgen, das nahm er sich fest vor, würde er seine Geschichte noch ein bisschen polieren. Er wusste, dass sie Potenzial hatte. Immerhin ging es darin nicht bloß um goldene Einhörner, sondern um die Liebe und das Leben und um eine Wette zwischen Teufel und Tod.

3

Ich wette Tod und Teufel, das da ist Madonna«, flüsterte ein kahlköpfiger Mann Kati hinter vorgehaltener Hand zu und versuchte dabei, so zu tun, als würde er die Frau, die gerade hereingekommen war, nicht anstarren.

Und während Kati noch überlegte, ob das nur ein misslungener Flirtversuch war, merkte sie, wie ein leises Raunen durch die Bar ging. Sie sah sich um, alle glotzten diese Frau an. Dann war das wohl eher kein Flirtversuch, wurde ihr klar. Jeder außer ihr fing eilig, aber betont unauffällig an, etwas in sein Smartphone zu tippen, während die Frau gerade von Jeff persönlich begrüßt und umarmt wurde.

Kati kramte in ihrem Gedächtnis nach Infos über Madonna, aber es fielen ihr keine ein. Auch keine Bilder. Luke hatte recht, ihr Nichtwissen über Musik war nicht nur legendär, sondern megapeinlich.

Und während Kati noch überlegte, ob sie Linda auch eine SMS schicken sollte, tauchte hinter Jeff eine hübsche Blondine auf, reichte der Frau die Hand und legte dann ihren Arm vertraulich um Jeffs Schultern.

Klar, ein Typ wie Jeff hatte sicher an jeder Hand drei Freundinnen. Er fing an, etwas für Vielleicht-Madonna zu mixen, und die Blonde half ihm dabei.

Offensichtlich waren alle schwer beschäftigt. Kati nahm den letzten Schluck, stellte den Becher auf den Tresen und beschloss zu gehen. Mission beendet.

»Katy, darf ich dir Lucy vorstellen?« Jeff stand wie aus dem Nichts plötzlich vor ihr und neben ihm die blonde Frau, die ihm beim Mixen des Drinks geholfen hatte.

Sie war kleiner und zierlicher als er, hatte lange kalifornisch-blonde Wellen und das gleiche T-Shirt an wie Jeff. Aber bei ihr wölbte sich die Aufschrift Lived vorn über der üppigen Brust. Die Buchstaben waren wie das Portal in kleine Rechtecke mit Ornamenten unterteilt. Ihr Shirt war türkis, seines tiefrot.

Wie exotisches Salz und Pfeffer, dachte Kati und bewunderte Lucys elegant gewellte Frisur. Etwas verlegen griff sie in ihre eigenen Haare. Strohig war noch milde ausgedrückt. Linda hatte ihr schon oft gesagt, dass sie in Los Angeles mehr auf ihr Äußeres achten musste, wenn sie es hier schaffen wollte.

Warum Linda allerdings auf die Idee kam, dass Kati derart ambitionierte Pläne haben könnte, war ihr schleierhaft. Schließlich hatte sie sehr deutlich gehört, wie Linda ihrer Pilatestrainerin Carla am Telefon erzählt hatte, dass sie sich für Kati nur wegen der Narben im Gesicht entschieden hätte. So eine würde ihren Mann Derek nicht so leicht in Versuchung führen. Man wüsste ja, wo das mit den europäischen Au-pairs oft endete: vor dem Scheidungsrichter.

Aber genau wie Jeff reagierte auch Lucy nicht, als Kati ihr die rechte Gesichtshälfte zuwandte, um ihre Hand zu schütteln. Womöglich war es doch nur das schmeichelhafte Space-Licht der Bar.

Nachdem Kati Lucys »Hi Honey, so nice to have you here«-Begrüßung hinter sich gebracht hatte, zwinkerte Lucy ihr zu und rückte dann erst damit heraus, dass sie die Zwillingsschwester von Jeff sei.

Kati war überrascht, wie sehr sie das freute. Da hätte ich auch selbst drauf kommen können, dachte sie, schließlich waren Lucys Augen völlig identisch mit denen ihres Bruders.

»Dann führt ihr diese Bar also zusammen?«, fragte sie.

»Yep.« Lucys Stimme war fast so tief wie die von Jeff, was einen interessanten Kontrast zu ihrer zierlichen blonden Gestalt ergab.

»Lived ist unser neuestes Baby.« Lucy warf ihr einen vielsagenden Blick zu. »Du weißt schon, nach unserem Ausstieg …«

»Bitte, Lucy«, meldete sich Jeff mit sanfter Stimme, »lass doch diese alten Kamellen.«

»Alte Kamellen?«, hakte Kati nach.

Er verdrehte die Augen. »Lucy und ich waren mal Kinderstars.«

Kati gelang es kaum, ein breites Grinsen zu unterdrücken. Jeder in Los Angeles war beim Film oder Fernsehen. Jeder Kellner war ein arbeitsloser Schauspieler, der gerade bei einem Casting mit Steven Spielberg gewesen war, jede Verkäuferin drehte gerade einen wichtigen innovativen Clip. Auch Linda und ihr Mann lebten vom Filmbusiness, allerdings hatten sie einen Cateringservice, mit dem sie Filmsets bei Außendrehs versorgten. Verrückt, dachte Kati. Kaum habe ich meine Schauspielträume endgültig abgehakt, treffe ich lauter Menschen, die irgendwie damit zu tun haben. Und dabei bin ich doch aus einem völlig anderen Grund hierhergekommen.

»Ist irgendwas?«, fragte Lucy und machte ihr klar, dass sie unverhältnismäßig lange geschwiegen hatte.

»Sie ist Europäerin …«, sagte ihr Bruder mit einem Schulterzucken, als würde das alles erklären.

»Ah, okay.«

Kati überlegte verzweifelt, ob sie die beiden kennen müsste. »Kinderstars?«, fragte sie schließlich kleinlaut.

Doch Jeff grinste nur und zeigte auf einen flimmernden Monitor über der Bar, den Kati noch gar nicht bemerkt hatte.

»Wir waren die Coleman-Twins in The Foxes, die Serie über eine verrückte Patchworkfamilie. Das war Ende der Neunziger, Anfang zweitausend in den USA ein ziemlicher Erfolg, hat es aber nie nach Europa geschafft.«

»Mit vier Jahren ging es los«, ergänzte Lucy und seufzte dann tief, »aber die Pubertät hat unsere Karriere dann leider beendet – da waren wir denen nicht mehr süß genug.«

»Das klingt hart. Wie war das für euch?«

»Okay«, sagte Jeff und gleichzeitig fügte seine Schwester hinzu: »Real hard.«

»Verstehe, es war für jeden anders.«

»Jeff hätten sie noch weiter beschäftigt, aber mich wollten sie durch eine süße kleine Neue ersetzen. Zum Glück hat mein Bruder da nicht mitgezogen. Wir sind beide weg und unser Abgang war dann auch das Ende der Serie.« Sie hielt Jeff die ausgestreckte Hand zum High Five hin. Er klatschte sie ab und sie lachten sich innig an.

Unwillkürlich sah Kati zum Monitor, auf dem gerade ein typisches amerikanisches Wohnzimmer zu sehen war, mit gemütlich braun und rot karierten Sofas, einem Fernseher aus den Neunzigern, davor ein Couchtisch voller Pappbecher. Ein Junge und ein Mädchen tobten zusammen mit einem bunten Papagei – einem Papagei? – über ein Sofa, während der Vorspann lief, der gerade den Titel zeigte: The Foxes.

Niemals wäre sie darauf gekommen, dass es sich bei den zwei niedlichen Kindern um Jeff und Lucy handelte.

Die Frau, die die ganze Bar zum Raunen gebracht hatte, winkte Lucy zu sich. »Oh, da muss ich wohl hin. Madonna hat sicher mal wieder einen Spezialwunsch.« Lucy nickte Kati noch einmal freundlich zu, dann eilte sie davon.

Also wirklich Madonna! Der kahlköpfige Mann hätte seine Wette gewonnen. Die asiatisch aussehende Frau kam zu ihnen und flüsterte Jeff zu, dass in fünfzehn Minuten Jennifer Lawrence vorbeischauen würde und sie am Telefon ausdrücklich nach Jeff verlangt hätte. Jeff sah auf seine goldene Uhr und nickte.

Okay, dachte Kati, der Superstar von Die Tribute von Panem ging hier ein und aus, Madonna schien Stammgast zu sein. Ja, sie war beeindruckt, gegen ihren Willen, denn eigentlich fand sie diesen ganzen Starrummel reichlich hohl.

Linda wäre natürlich entzückt. Sie behauptete, Tratsch sei ihr total zuwider und sie müsste Insiderklatsch nur deshalb kennen, weil das der Treibstoff ihres Jobs sei. Was Kati wieder zu ihrer Mission brachte.

»Und was hat dich nun wirklich hierher verschlagen?«, fragte Jeff, als ob er Gedanken lesen könnte.

»Neugier natürlich, was denn sonst?«

Jeff zwinkerte ihr wissend zu. »Verstehe. Dann willst du doch sicher noch einen Drink probieren. Wir haben einen der besonders gut bei problematischer Narbenheilung ist, möchtest du ihn versuchen?«

Narbenheilung! Kati zuckte zusammen. Ihr wurde bewusst, dass sie eine Weile lang nicht an ihr Gesicht gedacht hatte. Er hatte ihre Narbe also doch gesehen, er war nur höflich gewesen. Reflexartig betastete sie ihre rechte Wange, hörte aber sofort damit auf, als ihre Fingerkuppen die Narbe berührten. Es fühlte sich immer noch an, als trüge sie den Himalaya auf ihrem Gesicht spazieren. Die Verwerfungen ihrer Nähte fingen an zu kribbeln und zu pulsieren. Das war schon oft passiert und man konnte nichts dagegen tun. Die Ärzte hatten behauptet, das wäre ein rein psychisches Phänomen. Eine Theorie, die Kati noch mehr auf die Palme brachte als die Narbe selbst.

»Nein danke, ich habe wirklich genug für heute.« Das kam patziger raus, als sie es beabsichtigt hatte, doch das hatte er allein seiner Taktlosigkeit zuzuschreiben.

Jeff wollte etwas sagen, zuckte dann aber nur mit den Schultern und beugte sich hinter die Bar. Er zog ein Kärtchen und einen altmodischen Stempel hervor und verfiel in einen kühlen, geschäftsmäßigeren Ton. »Dann gebe ich dir unseren Gutschein mit. Für jeden Drink bekommst du einen Stempel, wenn du zehn davon hast, bekommst du den elften Drink fünfzig Prozent billiger.« Er stempelte die Karte einmal ab und überreichte sie.

Als Kati die Karte betrachtete, musste sie trotz des hektischen Kribbelns in ihrer Wange lächeln. In einem der leeren Felder prangte nun ein Totenkopf.

»Ein Totenkopf ist aber nicht gerade ein Symbol des Lebens, oder?«, fragte sie und zeigte auf den Schriftzug Lived, der in der Mitte der Karte angebracht war.

Jeff zog eine seiner dunklen Augenbrauen hoch. »Das ist eine sehr eingeschränkte Sichtweise, sehr westlich oder sagen wir mal christlich. Das hier«, er wies mit der Hand auf die mit gelben Blumen geschmückten Altäre in den seitlichen Gewölben des Raumes, »war ja mal eine mexikanische Kirche und die Mexikaner feiern jedes Jahr den Día de los Muertos, den Tag der Toten. Die Missionare haben ihn vom Frühling, wo man den Tag ursprünglich zusammen mit dem Neuanfang der Natur gefeiert hat, in den tristen November verlegt, damit er besser zu den christlichen Feiertagen passt.« Er hielt einen Moment inne und sah ihr tief in die Augen. »Schon die Azteken verstanden den Tod nicht als Ende, sondern als Anfang neuen Lebens, als eine Übergangsphase hin zu einer anderen Daseinsform.«

Davon hatte Kati auch schon gehört, seit sie hier in Los Angeles war, trotzdem fand sie diesen Totenkopf-Kult immer noch seltsam.

»Aber um ganz ehrlich zu sein«, fuhr Jeff fort, »hat das einfach gut in unser Konzept gepasst, schließlich macht der Totenkopf sehr deutlich, wie vergänglich alles ist. Nichts fürchtet man in Hollywood mehr als das. Alle kämpfen dagegen an …« Ein wehmütiges Lächeln schlich sich auf sein Gesicht und Kati fragte sich, ob er an The Foxes dachte und bedauerte, dass diese Zeit vorbei war. Aber in diesem Augenblick straffte er seine Schultern und redete schon weiter.

»Und was läge da näher, als der Vergänglichkeit gegenzusteuern, hier bei uns mit gesunden und nahrhaften Drinks.«

Kati sah sich in der Bar um, das war den beiden wirklich gut gelungen, jeder Platz war besetzt.

Jeff bemerkte ihren Blick und sagte: »Abends müssen wir sogar Türsteher einsetzen, und das, obwohl wir hier keinen Alkohol verkaufen. Es ist eigentlich ein bisschen verrückt, aber so what, das ist eben die Stadt der Engel.«

»Gibt es eine Karte?«, fragte sie. Irgendwas musste sie Linda ja vorweisen, wenn sie nach Hause kam.

»Die habe ich dir doch schon gegeben.«

»Ich meine eine Karte, auf der alle Drinks und Zutaten draufstehen.«

»So etwas haben wir nicht.«

Ungläubig sah Kati ihn an. »Wie?«

»Genau das ist das Geheimnis unseres Erfolges: Wir mixen die Drinks für jeden individuell. Selbst wenn wir so etwas wie einen Begrüßungsdrink und auch ein paar andere Standardsmoothies haben, schauen wir uns genau an, wer vor uns steht, und geben dann noch ein paar streng geheime Zutaten hinein. Deshalb mixen hier neben Lucy und mir nur noch Mossie und Izanami.« Er drehte sich um und zeigte Kati die beiden anderen Barkeeper. Sie war so auf Jeff und Lucy konzentriert gewesen, dass sie alles andere vernachlässigt hatte, dabei hatte Linda ihr einen ganzen Fragenkatalog eingeimpft, den sie abarbeiten sollte.

Izanami war sicher die asiatisch aussehende Frau, die zu ihren schwarzen Jeans und dem Lived-T-Shirt den gewaltigen Haaraufbau einer Geisha trug. Mossie hingegen sah aus wie ein gut beleibter Student, der eine Brille trug und schon reichlich kahlköpfig war. Das überraschte Kati. In einem Laden, der gesunde Drinks verkaufte, hätte sie einen Typen wie Mossie niemals erwartet. In der Smoothiebar, in der sie für Linda öfter mal »das Frühstück« holen musste, arbeiteten nur modellverdächtige junge Typen und Mädchen, neben denen Heidi Klum wie eine dicke alte Schachtel ausgesehen hätte.

Eigentlich sollte mich gar nichts mehr überraschen, dachte Kati, sicher war das auch der Grund, warum der Schuppen boomte. Allerdings änderte das nichts an ihrem Dilemma mit Linda. Das Einfachste wäre, ihr einen Drink mitzubringen. Den konnte sie ja dann vielleicht analysieren.

»Jeff, ich hab’s mir anders überlegt.« Sie schluckte, nicht wegen der Lüge, die sie ihm auftischen würde, sondern weil sie ihre Narben ansprechen musste. »Ich würde den Drink, der so gut für die …«, sie schaffte es immer noch nicht, das Wort auszusprechen, »… der so gut für die Haut ist, doch gern probieren.«

Jeff strahlte sie an, als hätte sie gerade eine Prüfung mit Auszeichnung bestanden. Er drehte sich zu den großen Kühlschränken um und nahm eine Avocado und ein Kännchen mit einer honigfarbenen Flüssigkeit heraus. »Na, dann mache ich mich mal an die Arbeit.«

»Arbeit, das ist ein gutes Stichwort«, flunkerte Kati, »ich muss leider los, ich nehme den Drink dann mit.«

Jeff hielt inne. »Tut mir leid, aber bei uns gibt es kein To-Go und keinen Außer-Haus-Service.« Er musterte sie kritisch. »Das müsste dir doch klar sein. Gerade habe ich dir erklärt, wie wir unsere Drinks mixen. Wenn sie außer Haus gehen, weiß man doch nicht, wer sie trinkt und zu welchem Zweck. Die Nähe zu den Menschen ist das Geheimnis unseres Erfolges.«

»Klingt logisch, trotzdem echt schade.« Zugegeben, das war ein genialer Schachzug, auch wenn es bedeutete, dass Linda selbst herkommen musste, um herauszufinden, was genau sie alles in ihre Drinks mischten.

»Dann weiß also niemand, was ihr in die Getränke reinschüttet. Ist das denn erlaubt? Ich dachte immer, in Amerika wird so etwas genau kontrolliert.«

»Wir verwenden nur Zutaten, die von der Lebensmittelbehörde freigegeben sind. Wir verkaufen ja auch keine Medizin.«

»Wie kannst du denn dann behaupten, ein Smoothie könnte gut für meine … spezielle Haut sein?«

Sag es endlich, Kati, steh endlich dazu. Sprich es laut aus: Narbe. Allein schon gedacht war es ein widerliches Wort. N wie Narkose, N wie Niemand, N wie Nein.

Jeff hob beide Hände in die Luft, legte sie dann vorne auf seine Brust und neigte dazu ergeben den Kopf. »Erwischt! Das können wir natürlich nicht wirklich, auch wenn es durchaus einige Zutaten gibt, die heilend wirken. Zermahlene Lotusblätter oder Aloesaft zum Beispiel. Man darf allerdings nicht zu viel davon nehmen, sonst muss man dringend aufs Klo.« Er grinste sie an. »Es tut mir leid. Ehrlich gesagt dachte ich, mit meinem Angebot könnte ich dich dazu bringen, noch länger hierzubleiben.«

Jetzt legte er wieder allen Charme in seine Worte und im nächsten Moment nahm er die Treue-Karte, die noch vor ihr lag, und stempelte wie in einem zu schnell gedrehten Film zackig alle leeren Rechtecke mit dem Totenkopf aus. »Machen wir es so: Du kommst bald wieder und schon nächstes Mal zahlst du nur die Hälfte!«

Unvermittelt tauchte Lucy wieder neben Jeff auf. Sie pfiff anerkennend. »Du verschenkst unser Geld, Bruderherz!«, sagte sie mit gespieltem Entsetzen. Und zu Kati gewandt: »Sonst ist er nicht so großzügig. Du musst ihn ziemlich beeindruckt haben.«

In der allerersten Sekunde dachte Kati: Ja, warum auch nicht, aber dann wurde ihr sofort wieder klar, wie sie aussah, und sie senkte den Kopf. Sie hatte das eben doch gerade tatsächlich vergessen. Und Jeff hatte definitiv mit ihr geflirtet. Obwohl er die Narbe gesehen hatte. Sie atmete tief durch. Ihr erster Flirt seit … ewig. Ein beschwingtes, kribbeliges Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus und es wunderte sie gar nicht, dass ihr ein bisschen schwindelig war, als sie aufstand. Allerdings war sie dann doch überrascht, dass es ihr sogar so vorkam, als wollte sich der Boden unter ihr auflösen und sie ins All entschweben lassen. Sie hielt sich kurz am Tresen fest und nickte den beiden zu.

»Leider muss ich jetzt wirklich gehen. Hat mich gefreut«, sagte sie, griff nach ihrer Handtasche und machte sich ein bisschen wackelig, aber glücklich wie schon seit Langem nicht mehr auf den Weg nach draußen.

4

Kati hatte den SUV noch nicht in die Garage gefahren, da stürmte Linda schon mit ihren Kindern heran. Wie immer, wenn sie die vier zusammen sah, fragte sich Kati, wie Linda zu diesen erstaunlichen Kindern gekommen war. Sie mochte alle drei gern. Dabei hatte sie davor am meisten Angst gehabt, immerhin hatte sie diesen Au-pair-Job nur angetreten, weil es sonst fast unmöglich war, in L.A. zu arbeiten, und nicht, weil sie Kinder so gut leiden konnte. Auf die Idee, dass es genau andersrum sein könnte, also dass die Mutter die Nervensäge war, wäre sie nie im Traum gekommen.

Linda hatte Marybelle auf dem Arm, das dickste Baby, das Kati je gesehen hatte. Es schien ihr unvorstellbar, wie die zierliche Linda es geschafft hatte, Marybelle auf die Welt zu bringen. Neben den beiden lief Mia, die zwar erst fünf Jahre alt war, Kati aber manchmal klüger vorkam als der gesamte Rest der Welt. Außerdem konnte Mia so gut Bilder malen, dass Luke neidisch geworden wäre. Hinter ihnen trottete Marlon her, der still wie ein Schatten war und nur mit Spago, seinem unsichtbaren Freund, redete.

Linda riss die Autotür auf. »Und, was hast du rausgekriegt? Du warst so lange weg, dass ich schon angefangen habe, mir Sorgen zu machen. Aber dann habe ich mir gesagt, dass du eben besonders gründlich bist!« Prompt reichte sie Kati das Baby, als ob sie ihr klarmachen wollte, dass sie jetzt wieder bei der Arbeit war.

Kati fing an zu schwitzen, nicht nur, weil Marybelle so schwer war, sondern weil es nicht leicht war, Linda zufriedenzustellen. Alles an Linda war hart. Ihr Körper war eine pilatesgestählte Maschine, dem sie unentwegt ihre Aufmerksamkeit schenkte. Die Haut in ihrem Gesicht spannte sich so fest über die Knochen, dass es ihr schwerfiel zu lachen. Linda lächelte zwar oft, dieses kalifornische Zahnlächeln ohne Augenbeteiligung (»Macht nur Augenfalten« – »Falten machen alt« – »Alt ist wie tot«), aber sie lachte nur ganz selten laut und so richtig aus dem Bauch raus. Das letzte Mal war zwei Wochen her, da hatte sie zugesehen, wie Mia vergeblich versucht hatte, Kati im Garten Pilates beizubringen. Linda fand es unglaublich, dass jemand seinen Körper dermaßen vernachlässigen konnte, und es war ihr persönlicher Ehrgeiz, Kati auch in dieser Hinsicht auf Vordermann zu bringen.

Linda wollte alles und jeden optimieren, denn ihrer Meinung nach war es um die Welt und um Amerikas Wirtschaft nur deshalb so schlecht bestellt, weil die Leute einfach nicht bereit waren, ihr Bestes zu geben. Aber Kati hatte den Verdacht, dass Linda ständig gegen ihre Ängste kämpfen musste. Und am meisten Angst hatte Linda davor, dass Derek sie verlassen würde und sie als verarmte, einsame und vor allem alleinerziehende Mutter enden würde.

Das konnte Kati kaum nachvollziehen, denn sie war bei einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen und hatte es überlebt. Na ja, gerade so. Ihre Mutter war zwar nie arbeitslos gewesen, weil sie als Steuerberaterin immer einen Job gehabt hatte, und einsam war sie auch nie, denn es hatte immer Männer gegeben. Männer, die das Leben ihrer Mom in antike Tragödien verwandelten. Ihre Mom war eine Dramaqueen, die alle paar Monate die eine einzige wahre Version von Romeo und Julia aufführte. Sie war immer erst unsterblich verliebt und dann unendlich verletzt. Etwas anderes gab es für sie nicht.

Als Kati klein gewesen war, hatte sie das Geschluchze ihrer Mutter entsetzlich beunruhigt und sie hatte oft Angst gehabt, sie könnte sich etwas antun. Doch heute hatte Kati nur noch ein müdes Schulterzucken dafür übrig. Wie konnte ihre Mutter allen Ernstes jedes Mal wieder glauben, dass Harald, Helmut oder Heiko der Traumprinz war, wo doch Kati schon deutlich erkennen konnte, dass der eine log wie gedruckt, der andere zu gern zu schnell zu viel trank und der Dritte sich nur für Angeln und Eierschalenschnitzen interessierte, während ihre Mutter von Tango und Tabasco träumte.

All diese Dramen hatten dazu geführt, dass Katis Hals sich sofort zuschnürte, wenn jemand von der großen Liebe redete. Große Liebe war eine große Illusion. Das Einzige, was Katis Meinung nach wirklich zählte, war Freundschaft. So wie ihre mit … Nein!

»Und?« Linda wedelte ungeduldig mit gezücktem Handy vor ihren Augen herum, so als könnte sie die Informationen von Kati sofort in Aktionen umsetzen. Marybelle war aufgewacht und verfolgte die Bewegungen ihrer Mutter mit einem trägen Lächeln.

»Ich wollte dir wirklich einen Drink mitbringen, aber sie verkaufen nicht außer Haus. Kein To-Go. Man darf nichts mit rausnehmen.« Kati schaukelte Marybelle wie einen Schutzschild vor sich hin und her.

Linda presste die Lippen zusammen. »What the …« Sie beherrschte sich wegen der Kinder und lief in den Garten zu der Holzveranda, wo um einen großen Tisch acht weiße ausladende Loomchairs mit dicken hellgrauen Leinenkissen gruppiert waren. Von hier hatte man einen guten Blick auf den gekachelten Pool, der am anderen Ende des Gartens unter zwei sehr hohen Palmen in sanften Blautönen schimmerte.

Sie setzte sich und deutete Kati an, sich zu beeilen, dann goss sie sich etwas von dem hausgemachten Eistee ein, der zusammen mit Minzzweigen, Zitronenscheiben, Gläsern und Servietten auf dem Tisch stand. Sie nippte daran, zupfte ein paar Minzblätter ab, warf sie in den Eistee und rührte hektisch darin herum. Dann rief sie: »Kati! Kommst du jetzt endlich?«

Kati beeilte sich und nahm mit Marybelle auf dem Arm neben Linda Platz. Mia hockte sich vor sie auf den Boden und kuschelte sich an ihre Beine. Marlon ließ sich im Schneidersitz auf den Kies vor der Veranda fallen und alle warteten gespannt auf Katis weiteren Bericht.

»Wirklich keine Chance, da was rauszuschmuggeln?«

Kati schüttelte den Kopf und erzählte von Jeff und Lucy und der Serie, woraufhin Linda blass wurde.

»Direkte Connections zum Film, das ist nicht gut. Gar nicht gut«, murmelte sie.

Und als Kati dann Madonna und Jennifer Lawrence erwähnte, schloss Linda wie von Kummer überwältigt ihre Lider.

»Warum ist das alles so wichtig für dich? Wenn das Lived nirgendwohin liefert und man auch nichts mitnehmen kann, dann ist das doch gar keine Konkurrenz für Linda’s Lifesavers. Ihr lebt schließlich davon, dass ihr das Essen an Filmsets hinbringt.«