Sommerzauber in Peru - Cara Lay - E-Book

Sommerzauber in Peru E-Book

Cara Lay

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Beschreibung

Jahrelang hat sich Rechtsanwältin Nele bemüht, den hohen Ansprüchen ihres Vorgesetzten gerecht zu werden. Doch als sie kurz vor einem Burnout steht, zieht sie die Reißleine. Sie fliegt spontan nach Peru, um auf einer Alpaka-Farm zu arbeiten. Von der herzlichen Familie der Alpaka-Züchter wird Nele sofort mit offenen Armen aufgenommen. Sie ist fasziniert von der atemberaubenden Natur und der Gelassenheit, die die Menschen ausstrahlen. Die Arbeit mit den Tieren hilft ihr dabei, darüber nachzudenken, was sie eigentlich im Leben will.

Aber dann lernt sie den Sohn der Familie kennen und vorbei ist es mit der Ruhe. Denn Adrián lässt Nele deutlich spüren, was er von der "deutschen Karrierefrau" hält. Erst als sie gemeinsam die Alpakas vor Viehdieben beschützen müssen und sich dabei näher kommen, bröckelt langsam Adriáns harte Fassade. Aber genau das bringt Neles Gefühlswelt und ihre neu strukturierten Pläne gehörig durcheinander ...

Alle Geschichten dieser Reihe zaubern dir den Sommer ins Herz und bringen dir den Urlaub nach Hause. Die Romane sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Inhalt

CoverGrußwort des VerlagsÜber dieses BuchTitel1.2.3.4.5.6.7.8.9.10.11.12.13.14.15.16.17.18.19.20.EpilogÜber die AutorinImpressum

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Über dieses Buch

Jahrelang hat sich Rechtsanwältin Nele bemüht, den hohen Ansprüchen ihres Vorgesetzten gerecht zu werden. Doch als sie kurz vor einem Burnout steht, zieht sie die Reißleine. Sie fliegt spontan nach Peru, um auf einer Alpaka-Farm zu arbeiten. Von der herzlichen Familie der Alpaka-Züchter wird Nele sofort mit offenen Armen aufgenommen. Sie ist fasziniert von der atemberaubenden Natur und der Gelassenheit, die die Menschen ausstrahlen. Die Arbeit mit den Tieren hilft ihr dabei, darüber nachzudenken, was sie eigentlich im Leben will.

Aber dann lernt sie den Sohn der Familie kennen und vorbei ist es mit der Ruhe. Denn Adrián lässt Nele deutlich spüren, was er von der »deutschen Karrierefrau« hält. Erst als sie gemeinsam die Alpakas vor Viehdieben beschützen müssen und sich dabei näher kommen, bröckelt langsam Adriáns harte Fassade. Aber genau das bringt Neles Gefühlswelt und ihre neu strukturierten Pläne gehörig durcheinander …

1.

Der Schlag dröhnte durch das gesamte Fahrzeug. Nele klammerte sich am Türgriff fest und verbot es sich, einen giftigen Blick nach links zu werfen. Die Genugtuung gönnte sie dem Fahrer nicht. Sie vermutete inzwischen nämlich, dass es Adrián Yovera eine diebische Freude bereitete, den Wagen über jede Bodenwelle springen zu lassen, die auf der Strecke zwischen Tumbes und der Farm bei Rica Playa zahlreich vorhanden waren.

Die vierundzwanzigstündige Reise von Düsseldorf über Madrid und Lima bis in die Küstenstadt Tumbes im Norden Perus steckte ihr in den Knochen, und sie verfluchte seit mindestens zwanzig Kilometern ihre Idee, ein Praktikum auf einer peruanischen Alpakafarm zu absolvieren. Sie könnte jetzt bequem in ihrem Büro in der Düsseldorfer Wirtschaftskanzlei sitzen. Die anfänglich noch asphaltierte Straße war immer schlechter geworden und hatte sich kurz hinter der kleinen Ortschaft Rica Playa in eine ungeteerte Piste verwandelt.

Nur noch vereinzelt tauchten die typischen Häuser der Region auf: bunte einstöckige Bauten mit einem flachen Satteldach, das seltsam niedergedrückt wirkte, als trauten sich die Gebäude nicht, in die Höhe zu wachsen. Davor oder daneben lag meist ein Gartenstück, umgeben von einem wackeligen Zaun und bewohnt von einer Handvoll Hühnern. Überall ragten die Wedel von Palmen oder irgendwelcher Stauden aus üppigem Buschwerk heraus. Dies war echte Wildnis. Zumindest für Nele, die seit Jahren im Herzen Düsseldorfs lebte und für die ein Spaziergang in den Rheinwiesen bereits als Naturexpedition durchging – sofern ihr der Job überhaupt Zeit dafür ließ.

Unter anderen Umständen hätte sie die Eindrücke in sich aufgesogen, aber heute starrte sie auf die Straße und versuchte, nicht an das ungute Gefühl in ihrem Magen zu denken.

Für einen winzigen Augenblick schöpfte Nele Hoffnung, weil Adrián das Tempo reduzierte, doch er bog nur ab, und danach wurde es noch schlimmer. Jetzt hüpfte sie neben Adrián auf einem besseren Feldweg durch eine Gegend, in der es sicher mehr Schlaglöcher als Einwohner gab.

»Könntest du nicht etwas langsamer fahren?«, bat sie entgegen ihrem Vorsatz, Adrián und seinen Fahrstil stoisch zu ertragen. Ihre Stimme klang fremd in ihren Ohren – und das nicht nur, weil sie Spanisch sprach.

Adrián warf ihr einen geringschätzigen Blick zu.

»Bitte«, schob sie hinterher, obwohl seine Rücksichtslosigkeit es wirklich schwer machte, höflich zu bleiben. »Du musst doch nicht jedes Schlagloch mitnehmen.«

Er reagierte nicht, aber den nächsten Krater im Weg umfuhr er immerhin. Allerdings riss er dabei so hart am Lenkrad, dass Nele hin und her geschleudert wurde und sich schmerzhaft das Knie anstieß. Sie unterdrückte einen deftigen Fluch und den Impuls, dem Kerl etwas an den Kopf zu werfen. Verbal oder auch tatsächlich. Sie war sich sicher, dass er das mit Absicht gemacht hatte.

»Du bist auf dem Land, die Straßen sind hier eben so«, sagte Adrián mit einem herablassenden Lächeln.

Nele reagierte mit einem giftigen Blick. Sie ärgerte sich. Weniger über seine Art als eher darüber, dass ihr sein Lächeln trotz allem gefallen hatte. Seine Lippen zeigten einen verflixt attraktiven Schwung, wenn sie nicht strichförmig zusammengepresst waren. Wirklich schade, dass er ein so ungehobelter Klotz war.

Als sie vor gut einer Stunde das Flughafengebäude von Tumbes verlassen hatte, war sie noch überzeugt gewesen, den schlimmsten Teil der Reise hinter sich zu haben. Vor allem, als sie den Mann mit dem Nele Sonnberg-Schild in den Händen gesehen hatte.

Adrián war Mitte dreißig und damit nur wenig älter als sie selbst. Seine Haut zeigte den attraktiven Bronzeton, den sie an Lateinamerikanern so mochte. Sein Haar glänzte heller als das hier übliche Schwarzbraun und wirkte in der Sonne sogar fast dunkelblond. Es war einige Zentimeter zu lang für einen akkuraten Schnitt und sah aus, als würde er sich häufig mit den Fingern hindurchfahren. Ein bisschen verwegen. Dazu passte der Bartschatten. Am ungewöhnlichsten waren jedoch seine Augen. Sie strahlten in einem unfassbar intensiven Blau. Wie kam ein Peruaner zu einer solchen Augenfarbe? Bei der Begrüßung hatte er sie förmlich mit seinem Blick geröntgt, was Neles Bauch mit einem nervösen Kribbeln quittiert hatte.

Franzi würde begeistert sein, wenn sie ihr von ihm erzählte. Ihre beste Freundin behauptete ohnehin, Nele sei nur wegen der heißen Typen nach Peru aufgebrochen. Was natürlich nicht stimmte, aber ihr gefiel trotzdem, was sie sah.

Doch ehe sie hatte reagieren können, hatte sich bereits ein Schatten über seine Miene gelegt. Nach einer knappen Begrüßung war er zu seinem Pick-up gestapft. Dort hatte er ihren Koffer mit Schwung auf die Ladefläche gedonnert, war zum Fahrerhaus des Wagens marschiert und losgefahren, kaum dass Nele neben ihm auf den Beifahrersitz geklettert war. Seither demonstrierte er schlechte Laune, und Nele fragte sich, ob sie ihn mit irgendetwas verärgert hatte oder ob er einfach generell so feindselig war.

Welche Ironie, dass sie nach Peru gekommen war, um in der entspannten Atmosphäre einer Alpakafarm die Weichen für die Zukunft zu stellen – und gleich der erste Mensch, den sie traf, wirkte gestresster als die gesamte Chefetage der Wirtschaftskanzlei daheim.

Die Warnungen ihrer Eltern kamen ihr in den Sinn, die von ihren Reiseplänen nichts hielten und in den vergangenen Wochen nicht müde geworden waren, ihr die Kriminalitätsstatistiken von Lima und Trujillo, den gefährlichsten Städten Perus, vorzubeten. Nun war Tumbes nicht Lima, und Nele erwartete auf einer Alpakafarm im Hinterland von Rica Playa weder Bandenmorde noch Auftragskiller. Adriáns halsbrecherischer Fahrstil ließ sie diesen Punkt allerdings noch einmal überdenken.

»Hast du eigentlich die Anweisung, mich in möglichst vielen Einzelteilen auf der Farm abzuliefern?«, presste sie hervor.

Adriáns Mundwinkel zuckten kurz.

Sieh an, besaß er etwa Humor? Tatsächlich – auch seine Augen funkelten belustigt. Und vor der nächsten Bodenwelle bremste er sogar sanfter ab.

»Es ist nicht mehr weit, nur noch ein paar Minuten«, sagte er, und seiner Stimme fehlte zum ersten Mal die Gereiztheit. Mit einer Kopfbewegung zeigte er auf eine Baustelle, die sich in wenigen Hundert Metern Entfernung auf der linken Seite erhob. »Das Herzstück des neuen Resorts. Wir sind gleich da.«

Nele reckte den Kopf. Das gepriesene Herzstück ließ bisher nicht viel von dem Hotel erkennen, das hier entstehen sollte.

Bei ihrer Recherche nach Alpakafarmen, die Gäste beherbergten, war sie auf dieses Projekt gestoßen. Sanfter Tourismus für anspruchsvolle Touristen, hatte die Website versprochen. Obwohl die Seite genau wie der Hotelkomplex noch weitgehend im Entstehen gewesen war, hatte sich Nele ein Herz gefasst und sich um einen Praktikumsplatz beworben. Es hatte nach dem geklungen, was sie suchte. Gerichtet an Ruheliebende, die es naturnah und dennoch ein wenig komfortabel wünschten. Entsprechend würde sich das Freizeitangebot präsentieren: mit Wanderungen, Vogelexkursionen, Kajaktouren auf dem Rio Tumbes – und Spaziergängen mit Alpakas.

Die Tiere waren der Grund, warum sie um die halbe Welt geflogen war. Natürlich gab es auch in Deutschland Möglichkeiten, sich mit diesen Neuweltkamelen zu beschäftigen. Aber Nele hatte einen Hang zum Perfektionismus. Wenn sie ein Projekt anging, sollte es optimal vorbereitet sein – und Peru war nun einmal das Alpakaland schlechthin.

Die Gebäude, die sie ein Stück weiter passierten, sahen ebenfalls nach reger Bautätigkeit aus.

»Dein Quartier«, erklärte Adrián.

Nele bemerkte sein Grinsen zu spät. Sie hatte bereits entsetzt auf diese halb fertigen Unterkünfte geblickt. Bei einigen zeigte sich noch nacktes Mauerwerk, andere waren verputzt, doch fehlten ihnen Fenster und Türen.

»Oh, da erwartet jemand mehr Luxus«, spottete er, und plötzlich war der bissige Tonfall wieder da. »Aber zu deiner Beruhigung: Die Häuser dort werden für die Hotelangestellten sein. Du wohnst auf der Farm, wir haben Wasser und Strom und meistens sogar beides gleichzeitig.« Er warf ihr einen abschätzigen Seitenblick zu. »Trotzdem verlangt das Leben als Praktikantin auf einer Farm mehr Einsatz, als im Businesskostüm vom Schreibtisch zum Konferenzraum zu stöckeln.«

Nele schnaubte. Er hielt sie also für ein Püppchen. Das kannte sie schon. Mit ihrer zierlichen Figur und den langen blonden Haaren bekam sie diesen Stempel häufig aufgedrückt. Allerdings reagierten Männer darauf in aller Regel nicht mit einer solchen Angriffslust wie Adrián. Obendrein sah sie in ihrer praktischen Reisekleidung – Sneakers, Jeans und ein dünnes Shirt – und dem vom langen Flug zerrupften Zopf heute alles andere als püppchenhaft aus. Ohne seine Bemerkung mit einer Erwiderung zu würdigen, drehte sie sich demonstrativ zum Fenster.

Überrascht starrte sie hinaus. Die Gegend hatte sich zwischenzeitlich dramatisch verändert. Das Grün, das sie bis kurz vor Rica Playa begleitet hatte, war einem dominanten Braun gewichen. Aus fast blattlosen Baumkronen ragten dürre Äste wie abgemagerte Finger in die Höhe. Bevor sie Adrián auf diese plötzliche Kargheit ansprechen konnte, bog er schwungvoll in einen Hof ein.

»Wir sind da.« Adrián parkte mitten auf einer großen betonierten Fläche.

Vor ihnen erhob sich ein zweistöckiges cremeweißes Gebäude, das mit seiner Satellitenschüssel auf dem Dach nur ein Wohnhaus sein konnte. Zur Straße hin war der Hof offen, zwei weitere Bauten – Stallungen offenbar – bildeten gemeinsam mit dem Wohnhaus eine Art U. Alles wirkte gepflegt und neu, hier war sichtlich vor Kurzem renoviert worden. Überall lagen noch Baumaterialien und Werkzeuge herum. Es wurde wohl Geld in die Hand genommen, um das Anwesen für Besucher herzurichten.

Da Adrián ihr zwar auffordernd zunickte, aber selbst keine Anstalten machte auszusteigen, schnappte sich Nele ihren Rucksack und kletterte aus dem Führerhaus.

Sofort prallte sie vor der Hitze zurück. Im Wagen war es klimatisiert gewesen, und jetzt am späten Mittag brannte die Sonne mit voller Kraft auf sie hinunter. Ein warmer Wind blies ihr eine Haarsträhne vor die Augen, die ihrem Zopf entwischt war. Nele schob sie hinter das Ohr und sah mit gemischten Gefühlen zur geschlossenen Haustür. Eigentlich fehlte nur noch, dass ein trockener Busch über den Hof rollte. Wenn die übrigen Mitglieder der Familie Yovera genauso abweisend auf sie reagierten wie Adrián, würden die vor ihr liegenden vier Wochen verdammt lang werden.

Ratlos blickte sie zu Adrián, der weiterhin auf dem Fahrersitz hockte. Ohne ihn würde sie ihren schweren Koffer nicht von der Ladefläche wuchten können. Aber er durfte lange darauf warten, dass sie ihn um Hilfe bat.

Noch während sich Nele einen Plan für den Kampf mit ihrem Gepäckstück zurechtlegte, öffnete sich die Tür des Wohnhauses, und eine Frau in Jeans, T-Shirt und einfachen Sandalen erschien. Sie hatte ungefähr Neles Alter. Das dunkle Haar trug sie zu einem Zopf geflochten, ihre Augen blitzten temperamentvoll. Mit einem strahlenden Lächeln kam sie auf Nele zu, die erleichtert aufatmete. Nicht jeder hier schien Adriáns Griesgrämigkeit zu teilen. Der Peruanerin auf den Fersen folgte ein etwa zehnjähriges Mädchen, das einen kleineren Jungen an der Hand hinter sich herzog. Auch die Kinder lächelten, wenngleich etwas schüchtern. Immerhin überwogen nun die freundlichen Mienen.

»Nele«, rief die Frau aus, und betonte den Namen auf eine spanische Art mit zwei kurzen E, als ob sie Nelle geschrieben würde. »Komm herein, du musst von der langen Reise erschöpft sein und durstig und hungrig. Vielleicht möchtest du duschen und dich ausruhen?« Sie unterbrach ihren Redefluss für einen Augenblick, um Nele einen Kuss auf die Wange zu drücken. Dann schob sie Nele in Richtung Tür. Im Vorbeigehen wies sie Adrián an, das Gepäck ins Haus zu bringen. Nele grinste in sich hinein. Die Runde mit dem Koffer ging an sie. Zu gern hätte sie jetzt das Gesicht des Peruaners gesehen.

»Ich heiße Yoly.« Die nette junge Frau platzierte Nele in der Küche auf einen Stuhl. Aus einem Kochtopf auf dem Herd zogen aromatische Gerüche durch den Raum, und Nele hoffte, ihr Magen würde nicht unhöflich laut knurren. Zuletzt hatte sie im Flieger nach Lima etwas gegessen, und das war Stunden her.

»Das sind Edgar und Pilar«, plauderte Yoly weiter und deutete auf die Kinder, die sich neugierig vor dem Küchenschrank herumdrückten. »Meinen Schwager Adrián hast du ja bereits kennengelernt. Fehlen noch zwei Männer: mein Schwiegervater Eduardo und mein Mann Leis. Mit beiden hast du schon telefoniert.«

»Ja, stimmt. Bei meiner Bewerbung.« Sie bekam heute noch schweißnasse Hände bei dem Gedanken an das Gespräch. Peruanisches Spanisch war anders als das Castellano, das sie in der Schule gelernt und seither allenfalls noch hervorgekramt hatte, um im Urlaub ein Glas Wein zu bestellen. Zum Glück hatte sich Eduardo Yovera als geduldiger Mann erwiesen, der es nicht übel genommen hatte, wenn sie etwas länger nach dem passenden Wort suchen musste. Er schien viel zu gespannt auf die Deutsche zu sein, die überlegte, ihren Job in einer angesehenen Wirtschaftskanzlei aufzugeben, um zukünftig Alpakaspaziergänge für gestresste Businessmenschen anzubieten. Er hatte sie sofort auf seine Farm eingeladen.

»Danke, dass ich herkommen durfte … und auch für die freundliche Begrüßung.« Letzteres meinte sie nach Adriáns unterkühltem Empfang aus tiefster Seele.

»Koffer ist im Zimmer«, erklärte Adrián, der in diesem Moment die Küche betrat und sich einen Kaffee aus einer großen Warmhaltekanne eingoss. Er warf Nele einen undefinierbaren Blick zu, den nur hoffnungslose Optimisten als freundlich beschreiben würden.

»Ihr geht nach draußen zum Spielen«, scheuchte Yoly ihre Kinder aus dem Raum, stellte eine Tasse Kaffee vor Nele auf den Tisch und ließ sich auf einen der Stühle fallen. »Ich liebe sie von Herzen, aber heute hingen sie zu lange an meinem Rockzipfel. Sie waren aufgeregt wegen unseres Gastes.« Sie lächelte Nele an. Ohnehin schien sie gern und oft zu lächeln. Nele konnte gar nicht anders, als sich trotz der Müdigkeit von Yolys fröhlicher Art anstecken zu lassen. Sie mochte sie sofort.

Adrián trank nur einen kleinen Schluck Kaffee. Das angebotene Gebäckteilchen nahm er in die Hand und war schon auf halbem Weg aus der Küche.

»Wo willst du denn so schnell hin?«, rief Yoly ihm nach.

»Surfen. Die Wellen sind heute großartig.«

»Kannst du vorher bitte nach den Crias gucken?«

»Ich dachte, Leis macht das.« Adrián bemühte sich nicht, seinen Unwillen zu verbergen, und zum ersten Mal seit Neles Ankunft schlich sich Anspannung in Yolys Miene.

»Leis ist bei den oberen Weiden«, sagte sie. »Gustavo hat einen Schaden am Gatter festgestellt und frische Reifenspuren entdeckt.«

»Verdammt.« Adrián fuhr sich durch die Haare. »Fehlen Tiere?«

»Sie haben sie noch nicht zusammengetrieben und gezählt.«

»Okay.« Er seufzte. »Ich übernehme den Stall.«

Nele war wie elektrisiert. Crias – so hießen die Alpakafohlen. Vergessen waren Müdigkeit und Adriáns Abneigung. »Darf ich mitkommen?«, bat sie.

Adrián setzte zu einer Erwiderung an, und sein Gesichtsausdruck verriet, dass er ablehnen würde, doch Yoly antwortete schneller. »Natürlich darfst du«, rief sie aus. Sie lächelte wieder gut gelaunt, ganz im Gegensatz zu Adrián, der Nele mit finsterer Miene ignorierte, während sie über den Hof auf einen länglichen flachen Bau zuhielten.

»Der Stall für die Problemfälle«, erklärte er kurz angebunden an der Tür. »Wenn ein Tier krank oder verletzt ist, behandeln wir es hier. Wir haben derzeit zwei Crias mit den Müttern in den Boxen. Ein Jungtier ist schwach, es gab Komplikationen bei der Geburt, das andere hat eine Wunde am Bein.«

Sie betraten das helle, saubere Gebäude. Der Geruch nach Heu und Stroh wehte ihnen entgegen.

Und dann sah Nele ihr erstes Alpakafohlen.

Es war von einem goldenen Braun und sah unglaublich flauschig aus. Als Nele in die dunklen seelenvollen Augen blickte, war es um sie geschehen. »Ist das niedlich«, stieß sie hervor, und obwohl sie Deutsch gesprochen hatte, musste Adrián den Sinn ihrer Worte erfasst haben, denn als sie kurz zu ihm hochschielte, begegneten sich ihre Blicke, und zu Neles Überraschung betrachtete er sie mit einem Anflug von Sympathie.

Aber nur einen Wimpernschlag später verdunkelte sich seine Miene wieder. Grimmiger als zuvor starrte er Nele an, als hätte sie verbotenerweise hinter einen Vorhang geblickt und dort zu viel Freundlichkeit gefunden. Sie hatte das Gefühl, er müsste ihr nun beweisen, dass er ein wirklich finsteres Wesen besaß.

»Anfassen darf man sie wohl nicht?«, fragte sie – nun auf Spanisch – und in sicherer Erwartung einer erneut barschen Antwort.

Doch Adrián erwiderte in einem überraschend sanften Tonfall. »Warte noch. Gewöhne dich erst einmal an sie und lass sie dich kennenlernen. Alpakas haben eine sensible Natur. Sie bekommen sofort mit, dass du den Umgang nicht gewohnt bist, und werden dann ihrerseits nervös.« Seine Stimme blieb weich, als er in die Box der Mutter mit dem Jungtier trat. »Na, meine Schöne«, schmeichelte er. »Darf ich mir dein hübsches Baby ansehen?« Mit ruhigen Bewegungen ging er auf das Fohlen mit der Beinverletzung zu.

Nele fiel eine geschorene Stelle auf, die bläulich schimmerte.

»Eine offene Wunde … musste genäht werden«, erklärte Adrián. Er behielt den sanften Singsang bei, mit dem er zu den Alpakas gesprochen hatte, auch wenn seine Worte jetzt an Nele gerichtet waren. »Das blaue Spray wirkt antibiotisch.« Er lächelte. »Die Verletzung heilt gut, bald dürfen sie wieder zu ihrer Herde.«

Die beiden Tiere beäugten ihn zwar aufmerksam, akzeptierten seine Anwesenheit jedoch ohne große Aufregung. Behutsam zog sich Adrián aus der Box zurück und ging zur nächsten. »Und was macht unser kleiner Prinz?«, fragte er. Regungslos blieb er stehen. Ein weißer Kopf erschien über dem Gatter. Die Ohren des Tieres zuckten. Adrián ließ es unbewegt geschehen, dass sich die Alpakanase näherte und sein Gesicht ausführlich beschnupperte.

Nele wagte kaum zu atmen. Wenn die Mutter nun ihr Junges verteidigen wollte? Alpakas konnten spucken, und das Zeug roch widerlich – das hatte sie gelesen. Sie stand ebenso still wie Adrián und beobachtete, wie die Bewegungen des Alpakas ruhiger wurden, sich das Tier von ihm ab- und Nele zuwandte.

»Komm langsam nach vorn«, sagte Adrián mit einer Stimme, die keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem frostigen Ton der zurückliegenden Stunde hatte.

Ein warmer Atemhauch traf Nele, die nun von der Stute beschnuppert wurde. Erstaunlicherweise hatte das Alpaka kaum Eigengeruch. Das hatte sie strenger erwartet. Ganz geheuer war es Nele nicht, die scharfen Schneidezähne so nah vor ihrem Gesicht zu haben. Sie roch für das Tier mit der empfindlichen Nase bestimmt bedrohlich nach Flugzeug und einer fremden Welt.

»Entspann dich«, sagte Adrián. »Sie erkennt deine Nervosität.«

Seine warme und tiefe Stimme gefiel nicht nur der Alpakastute, die deutlich gelöster auf die Menschen vor ihrer Box reagierte. Auch Nele fühlte sich sofort ruhiger.

»Ich glaube, wir können es wagen.« Adrián öffnete den Riegel der Box.

»Wir?«

»Geht zu zweit besser.« Adrián nahm eine Schüssel, deren Boden mit grünen Pellets bedeckt war, und eine Art Babyfläschchen aus einem Regal neben der Box. Die Futterschüssel reichte er Nele. »Ich muss das Jungtier versorgen, lenk du die Mutter mit den Kräuterpellets ab.«

Adrián betrat die Box. Nun erst bemerkte Nele das kleine wollige Bündel, das zusammengekauert in einer Ecke lag. Als Adrián sich näherte, wollte es aufstehen, aber seine Beinchen knickten immer wieder ein. Es gab einen jämmerlichen summenden Ton von sich. Sofort schob sich das Muttertier näher an Adrián heran.

»Jetzt wäre ein wirklich guter Zeitpunkt für deinen Auftritt«, sagte Adrián, und Nele hörte heraus, dass er sich zusammennahm, um nicht in hartem Tonfall zu sprechen.

Zögerlich folgte sie ihm in die Box, doch ihre Sorge war unbegründet. Die Alpakamutter hatte sich entweder davon überzeugt, dass dem winzigen Fohlen keine Gefahr drohte, oder sie fand den Inhalt der Schüssel wichtiger als den Schutz ihres Kindes, jedenfalls steckte sie sofort die Nase in das Gefäß und zermalmte genüsslich die Pellets.

»Was ist denn da drin?«, fragte Nele.

»Kräuter und Mineralien. Gut für die Stuten nach der Geburt. Irgendein Duft macht das Zeug unwiderstehlich.«

Nele lächelte. »Das merke ich.« Das Alpakaweibchen hatte ihr soeben bei dem Versuch, auch noch die letzten Reste zu erwischen, fast die Schüssel aus der Hand gerissen. »Und was fütterst du?«

»Ein Aufbaupräparat. Der kleine Kerl war zu schwach, als er auf die Welt kam. Er wiegt zu wenig. Wir müssen zufüttern, damit wenigstens die Chance besteht, dass er durchkommt.«

Neles Brust wurde eng. »Was heißt das? Könnte er sterben?« Sie wandte ihren Blick von der Mutter zu dem kleinen Alpaka. Es war schneeweiß, hatte dunkle Augen, die in dem Köpfchen riesig wirkten und ihm etwas anrührend Hilfloses gaben.

»Es ist sogar ziemlich wahrscheinlich, dass er stirbt«, erwiderte Adrián, und ein Anflug von Traurigkeit schlich sich in seine Stimme. »Aber so ist das eben«, fuhr er fort und klang wieder normal. »Nicht jeder kommt durch.«

»Aber er ist so hübsch.« Plötzlich war es egal, ob die Stute böse werden könnte. Behutsam ging sie in die Knie und streichelte dem kleinen Wesen über die Stirn.

»Besser am Hals«, sagte Adrián sofort. »Alpakas mögen Berührungen am Kopf nicht. Noch weniger übrigens an den Beinen.« Er nickte ihr zu, als sie vorsichtig über den Nacken des Jungtiers strich. »So ist es richtig.«

Behutsam streichelte sie das wollige Fell. Sie suchte Adriáns Blick, um sich zu vergewissern, dass sie nichts falsch machte. Zu ihrem Erstaunen bedachte Adrián sie mit einem leichten Lächeln. Wie gut er ohne verkniffene Miene aussah. Wie warm seine Augen leuchten konnten.

Verwirrt schaute Nele wieder auf das Fohlen. »Du darfst nicht sterben, hörst du?«, beschwor sie das flauschige Wesen mit sanfter Stimme und war so ergriffen von dem niedlichen Bild, dass ihre Augen feucht wurden.

»Du willst wirklich Alpakas halten? Professionell?« Adrián räusperte sich. »Überleg dir das besser noch mal. Tiere sterben. Sie werden verkauft. Vielleicht wandern sie sogar zum Schlachter.«

»Keines meiner Tiere wird zum Schlachter kommen.« Nele sah ihn fest an. »Ich werde nicht züchten, also werde ich sie nicht verkaufen. Ich will sie als Begleittiere einsetzen.«

»Du bist Anwältin. Wozu benötigt eine Anwältin ein Begleittier?«

»Nicht als Anwältin.« Sie überlegte, ob sie ihm von ihren Plänen erzählen sollte, auf ihre Karriere zu verzichten, um stattdessen Alpakawanderungen anzubieten. Vermutlich würde ein Mann wie er sie für komplett verrückt halten. Falls er ihre Beweggründe überhaupt nachvollziehen konnte. Jemandem von einem kleinen peruanischen Bauernhof mussten Dinge wie Burn-out und stressbedingter Hörsturz so fremd sein wie grüne Männchen vom Mars.

Adrián nahm ihr die Entscheidung ab, indem er sich erhob. »Komm, lass uns gehen.« Ohne sich weiter um sie zu kümmern, verließ er die Box.

Nele starrte ihm irritiert nach. Er hatte nicht wirklich unfreundlich mit ihr gesprochen, aber die harmonische Stimmung, die kurz zwischen ihnen geherrscht hatte, war merklich verflogen. Ziemlich seltsam der Mann. Sie schloss die Boxentür und folgte ihm nach draußen.

Adrián sah sich nicht einmal mehr um. Er stieg direkt in seinen Pick-up und jagte davon. Langsam zu fahren war für ihn offenbar keine Option. Höfliche Umgangsformen ebenso wenig. Nele zuckte mit den Achseln. Was ging es sie an, welche Laus ihm über die Leber gelaufen war? Sie jedenfalls war sich keiner Schuld bewusst.

Sie spazierte über den Hof, trottete in die verlassene Küche und ließ sich in die Sitzecke fallen. Vor Müdigkeit konnte sie sich kaum noch auf den Beinen halten. Unschlüssig sah sie sich um. Bei ihrer Ankunft war sie von Yolys Redefluss so vereinnahmt worden, dass sie wenig von der Umgebung aufgenommen hatte. Nun glitt ihr Blick durch den Raum. Er war groß genug für mindestens acht Personen. Einrichtung, Geschirr und Kochutensilien wirkten auf eine harmonische Art zusammengewürfelt. Die Möbel aus schwerem Holz wurden sichtlich häufig benutzt, waren aber gepflegt und sauber. Töpfe hingen an einem Wandgestell, mit Gewürzen gefüllte Gläser standen auf einem Bord daneben. Vor dem Kühlschrank lagen Krümel auf den terrakottafarbenen Bodenfliesen. Der behagliche Mittelpunkt des Familienlebens. Ein Gefühl von Geborgenheit überkam sie in diesem doch eigentlich fremden Raum. Entspannt lehnte sie ihren Kopf nach hinten gegen die Wand. Nahezu in derselben Sekunde fielen ihr die Augen zu.

»So müde?«, fragte Yoly in diesem Moment und kam in die Küche. »Willst du nicht auf dein Zimmer gehen und dich ausruhen?« Sie nahm den Kochlöffel und rührte den Inhalt des großen Kochtopfs um. Ein verheißungsvoller Duft strömte durch den Raum.

»Keine schlechte Idee.« Dem Jetlag entging man zwar am besten, indem man sich sofort an die neue Zeit anpasste, aber ohne kurz zu schlafen, würde sie nicht bis zum Abend durchhalten. »Wo ist denn mein Zimmer?«

»Hat Adrián es dir nicht gezeigt?« Eine steile Falte erschien auf Yolys Stirn.

»Nein, nachdem wir aus dem Stall kamen, ist er gleich weggefahren.«

»Hmm.« Yoly fand das Verhalten ihres Schwagers offenbar ebenfalls seltsam. Sie rührte stirnrunzelnd weiter im Topf, dann nickte sie auffordernd in Richtung Tür. »Dein Zimmer ist im ersten Stock neben Adriáns. Ihr teilt euch auch das Bad in der Etage. Wir vier wohnen unten, Eduardo im Anbau. Komm, ich zeige dir alles.«

Nele folgte ihr. Sie war todmüde. Nur noch am Rande bekam sie mit, wie hübsch das helle Zimmer mit den weißen Möbeln und den geblümten Vorhängen war.

Nachdem Yoly sie allein gelassen hatte, fiel sie sofort ins Bett. Ihren Koffer ließ sie inmitten des Raums stehen. Obwohl ihr Kopf von all den neuen Eindrücken schwirrte, glitt sie begleitet vom leisen Surren des Deckenventilators in einen tiefen Schlaf.

2.

Der Wecker am nächsten Morgen schickte sich an, das gesamte Haus aus den Betten zu klingeln, bevor Nele wach genug war, um ihn zum Schweigen zu bringen. Yoly hatte Nele angeboten, sie könne schlafen, solange sie wolle, doch Nele hatte energisch den Kopf geschüttelt. Schließlich war sie keine Urlauberin, sondern zum Arbeiten und Lernen hier. Als Praktikantin bekam sie kein Gehalt, aber freie Kost und Logis und zudem alles Wissenswerte über Alpakas vermittelt. So lautete der Deal, den sie mit Eduardo ausgehandelt hatte.

Sie stand auf, packte das Nötigste aus und freute sich erst mal auf eine Dusche. Nach den zwei schweißtreibenden Anfahrtstagen stellte sie ihr Deo inzwischen auf eine harte Probe. Aus Adriáns Zimmer war noch nichts zu hören. Gut. So konnte sie vor ihm im Bad sein. Mit dem Kulturbeutel in der einen und frischer Unterwäsche in der anderen Hand huschte sie über den Flur, riss die Tür auf – und blieb abrupt stehen. Ihr Mund klappte auf, und sie musste sich zwingen, ihn wieder zu schließen.

Vor ihr stand Adrián – fast nackt, bis auf ein um die Hüften gewickeltes Handtuch. Wasser tropfte aus seinen Haaren, landete auf den Schultern und perlte über seine Brust. Über seine ausgesprochen muskulöse Brust, wie Nele registrierte. Gleiches galt für den Bauch. Auch hier glitzerten Tropfen auf einem angedeuteten Sixpack. Ihr Blick folgte den seitlichen Muskelsträngen ein wenig tiefer.

Ein belustigter Laut machte ihr bewusst, was sie da tat, und Hitze schoss ihr ins Gesicht.

»Hab vergessen, dass ich nicht mehr allein bin«, erklärte Adrián knapp. »Muss mich erst daran gewöhnen abzuschließen.« Er drängte sich an ihr vorbei. So nah, dass sich ihre Körper beinahe berührten und ihr sein Geruch – männlich mit einer würzigen Duschgelnote – in die Nase stieg. Waren seine Bewegungen absichtlich langsam, geschmeidig und aufreizend, um sie schon wieder zu provozieren – diesmal auf eine andere Art?

Doch als sie den Kopf hob, war seine Miene unnahbar wie gestern auch. Das intensive Blau der Iriden war von der Temperatur eines kalten Bergsees. Trotzdem pochte ihr Herz, und ihr Gesicht wurde noch wärmer. Ein kurzes Zucken der Mundwinkel bewies, dass Adrián ihre Reaktion zu allem Überfluss bemerkt hatte. Hastig flüchtete sie ins Bad und schloss die Tür etwas fester als nötig.

Obwohl sie sich unter der Dusche beeilt hatte und die Treppe hinuntergerannt war, saß die Familie schon vollzählig am Frühstückstisch, als Nele die Küche betrat. In einer Ecke lief der Fernseher ohne Ton. Ein Morgenmagazin, das niemand beachtete.

Bei Yoly, Adrián und den Kindern saßen zwei weitere Männer am Tisch. Den Mittfünfziger erkannte Nele sofort als Adriáns Vater Eduardo. Mit den leicht ergrauten Schläfen sah er aus wie eine ältere – und gemessen an seinem Lächeln auch freundlichere – Ausgabe seines Sohnes.

Der Mann neben Yoly musste Adriáns Bruder Leis sein. Er war jünger als Adrián und einige Zentimeter kleiner. Bereits durch seine kurzen schwarzen Haare und die dunklen Augen unterschied er sich von seinem Bruder, außerdem fiel auch sein Lächeln deutlich netter aus.

»Unser Gast aus Deutschland!« Eduardo stand auf, begrüßte sie mit einem Wangenkuss und stellte sich und Leis vor. »Die anderen hast du ja gestern schon kennengelernt.« Er wies auf den freien Platz. »Ich hoffe, du hast gut geschlafen und nun Appetit auf ein reichhaltiges Frühstück.«

Nele nickte und rutschte auf ihren Stuhl. Sie hatte es nicht geschafft, zum Abendessen noch einmal aus dem Bett zu kriechen. Nach ihrer inneren Uhr war es mitten in der Nacht gewesen. So hatte sie den Eintopf verpasst, der den Tag über in dem großen Topf geköchelt und so lecker gerochen hatte.

In gespannter Erwartung warf sie einen Blick auf die Teller. Aus dem Internet wusste sie von regional unterschiedlichen Frühstücksgewohnheiten: Die Chancen auf ein ihr vertrautes Frühstück standen relativ gut. Genauso wahrscheinlich war es leider auch, Fisch oder Sandwiches mit Schweineschwarte auf dem Tisch vorzufinden. Schweineschwarte. Am frühen Morgen. Ihr drehte sich allein bei der Vorstellung der Magen um. Erleichtert entdeckte sie Weißbrot, Cornflakes, Milch und Obst. Außerdem schienen Peruaner Kaffee ebenso zu lieben wie Nele: stark und schwarz. Allerdings schaufelten ihre Gastgeber im Gegensatz zu ihr Unmengen von Zucker in die Tassen.

Die Männer nahmen das Gespräch wieder auf, das sie bei Neles Eintreten unterbrochen hatten. Nele war es ganz recht, dass niemand sie mit Fragen überfiel. Ihr Tagesrhythmus war komplett durcheinandergeraten, und sie brauchte Zeit, sich zu sortieren.

Anfangs bekam Nele von dem Stimmengewirr um sie herum wenig mit. Pilar und Edgar erzählten Yoly irgendetwas aus der Schule, bei den Männern schien sich das Gespräch um Viehdiebstähle zu drehen. Erst als Nele die zunehmend düsteren Mienen bemerkte und selbst Yoly etwas von ihrer Fröhlichkeit eingebüßt hatte, hörte Nele genauer hin. Zunächst fiel es ihr schwer, dem schnell gesprochenen Spanisch zu folgen, doch allmählich – und nach der ersten Tasse Kaffee – verstand sie, dass die Sorgen mit den Reifenspuren zusammenhingen, die Yoly gestern erwähnt hatte. Sie vermuteten, dass jemand die Gegebenheiten vor Ort ausgekundschaftet hatte. Immer wieder schlugen Viehdiebe auf den Farmen zu, und niemand wusste, wie man die Tiere auf diesen weiten Flächen schützen konnte.

Pilar und Edgar stopften sich die letzten Reste ihrer Gebäckstücke in den Mund und eilten mit einem kurzen Gruß los. Yoly sah ihnen kopfschüttelnd nach. »Wenn sie in eine weiterführende Schule wechseln, werden sie niemals pünktlich ankommen.«

Leis erhob sich. »Ich nehme sie mit. Ich treffe mich gleich am Hotel mit dem Bauleiter.« Er gab Yoly einen Kuss. »Bis später.«

»Dann wird es für mich auch Zeit.« Eduardo stellte seine Tasse auf den Teller und sah Adrián an. »Kann ich auf deine Hilfe zählen? Sonst verschiebe ich die Reise. Wohl ist mir nicht dabei, ausgerechnet jetzt zu fahren.«

»Fahr ruhig. Wir schaffen das hier schon.« Ein spöttischer Seitenblick traf Nele. »Wo wir doch so eine großartige Hilfe haben.«

Nele unterdrückte den Impuls, Adrián unter dem Tisch kräftig vors Schienbein zu treten. Wenn das einen Monat so weitergehen sollte, würde es irgendwann gewaltig krachen.

Eduardo schien die Spitze hinter der Bemerkung nicht wahrzunehmen. Er lachte leise. »Stimmt. Yoly und Nele werden euch schon sagen, wo es langgeht.« Er nickte Nele zu. »Gewöhne dich gut ein und lass dir von den Jungs nicht auf der Nase herumtanzen.«

Vielleicht hatte er die unterschwellige Spannung ja doch bemerkt.

»Ich reite gleich hoch und kontrolliere die Weiden«, versprach Adrián. »Wenn etwas ist, melde ich mich bei dir.«

»In Ordnung.« Eduardo nickte. »Nimm Nele mit, dann lernt sie mehr von der Farm kennen.«

Adrián sah ihn an, als hätte sein Vater ihm vorgeschlagen, sich eine giftige Schlange um den Hals zu hängen. »Seit wann bin ich hier der Reiseführer?«

Eduardo warf ihm einen strafenden Blick zu. »Also gut, ich muss los.« Er sah auf die Uhr. »Höchste Zeit. Wir sehen uns spätestens in einer Woche.«

Nachdem Eduardo die Küche verlassen hatte, drehte sich Yoly zu Adrián. »Was ist denn mit dir los? Nele ist schließlich hier, um etwas über unsere Farm zu lernen.«

Adrián verzog missmutig das Gesicht. »Kann sie überhaupt reiten?«

Als Mädchen hatte Nele Reitstunden gehabt. In dem typischen Ponyhof-Alter. Heute war sie einunddreißig und nicht einmal sicher, ob sie es schaffte, auch nur in den Sattel zu steigen. Dass sie schlank war, verdankte sie keiner bemerkenswerten Fitness, sondern schlicht guten Genen. Ihr Job ließ ihr keine Zeit für regelmäßigen Sport. Ihre Zweifel würde sie jedoch gegenüber Adrián keinesfalls einräumen. »Klar kann ich reiten!«, behauptete sie deshalb mit aller Überzeugung, die sie vortäuschen konnte.

»Da hörst du es!« Yoly blickte triumphierend in Adriáns Richtung. »Dann steht eurem Ausritt ja nichts mehr im Wege. Nun ab mit euch, ich habe zu tun.«

Adrián sprang auf und knallte seine Kaffeetasse so heftig in die Spüle, dass es schepperte.

»Lass gut sein.« Nele sah ihn kühl an. »Ich möchte niemandem zur Last fallen. Ich kann mich sicher auch hier nützlich machen.« Demonstrativ begann sie, den Tisch abzuräumen.

»Das könntest du bestimmt«, sagte Yoly. »Allerdings bist du nicht quer über den Atlantik geflogen, um den Abwasch zu erledigen.« Sie wandte sich mit finsterem Blick an Adrián. »Ich weiß nicht, welches Benehmen du in den Staaten gelernt hast, aber ich rate dir dringend, dich auf die peruanische Gastfreundschaft zu besinnen, sonst wird dein Speiseplan in den kommenden Wochen recht einseitig aus Yuca und Cuy bestehen.« Sie stellte sich neben Nele und räumte die Spülmaschine ein. »Er hasst Yuca und ekelt sich davor, Meerschweinchen zu essen«, raunte sie ihr mit einem Augenzwinkern zu.

Was den letztgenannten Punkt anging, war Nele durchaus mit Adrián einer Meinung. Schon aus diesem Grund würde sich der unfreundliche Peruaner hoffentlich zukünftig zusammenreißen.

Zumindest gab er für den Moment klein bei, und wenig später folgte Nele ihm über einen steinigen Pfad, der an der westlichen Hofseite begann. Den geplanten Abstecher zum Stall der Alpakafohlen verschob Nele nach einem Blick in Adriáns Miene. So gereizt, wie er wirkte, hätte er keine fünf Minuten auf sie gewartet. Er hatte ihr gerade eben noch zugestanden, sich umzuziehen, ihr Outfit – Jeans, T-Shirt und Sneakers – kommentarlos gemustert und war dann losgestapft, ohne sie weiter zu beachten.

Adrián selbst sah aus wie ein waschechter Cowboy, nur dass sein Hut aus Stroh bestand. Er trug Cowboystiefel, eine Jeans, die wie maßgeschneidert saß, und ein hellgraues Shirt, das die Muskeln in Szene setzte, die Nele heute Morgen schon bewundert hatte. Er wirkte so natürlich, als sei er sich seines Aussehens nicht bewusst. Dabei wurde Adrián mit Sicherheit von Frauen umschwärmt wie eine Glühbirne von Mücken in der Nacht. Es sei denn, alle Peruanerinnen waren blind oder hier herrschte ein gänzlich anderer Männergeschmack.

Adrián schritt zügig aus und kümmerte sich nicht darum, dass Nele fast joggen musste, um den Anschluss nicht zu verlieren. So früh am Morgen war die Luft frisch, dennoch lief Nele bald der Schweiß über den Rücken.

»Wie schmeckt Cuy eigentlich?«, fragte sie liebenswürdig und bemüht, nicht allzu atemlos zu klingen. Sie hatte damit gerechnet, dass er ihre Anspielung auf Yolys Drohung ignorierte. Vielleicht auch giftig parierte. Nicht aber damit, dass Adrián mit einem leisen Lachen seine Schritte verlangsamte. Das Geräusch endete abrupt, weil sich der Peruaner abwandte, als hätte man ihn bei etwas Verbotenem ertappt. Nele warf ihm einen überraschten Seitenblick zu. Was sie vernommen hatte, war ein echtes Lachen gewesen. Und es hatte sich verflixt nett angehört.

Vor dem Stall – einem länglichen ockergelben Gebäude – führte ein Mann zwei Pferde auf den Hof und band sie an.

»Ah, die Gringa aus Europa«, wandte er sich den Ankömmlingen zu. Ein freundliches Lächeln mit einer Zahnlücke zeigte sich. »Ich bin Ollin.«

In der farbenfrohen, traditionell gemusterten Kleidung und mit der wettergegerbten Haut war Ollin der Inbegriff eines Andenbewohners.

»Freut mich. Ich heiße Nele.« Sie wusste, dass Gringa in Peru nicht abwertend gemeint war. Außerdem wirkte Ollins offene Art nicht so, als würde er jemals jemanden kränken wollen. Er deutete auf eine Kiste voller Striegel, Bürsten und Kämme. »Du weißt, wie man ein Pferd putzt?«

»Ja«, antwortete Nele. Zumindest das beherrschte sie mit Sicherheit noch. Sie trat an die Stute heran. »Hallo, du Hübsche, wie heißt du denn?«

»Das ist Rosa«, sagte Ollin.

Aus den Augenwinkeln sah Nele sein anerkennendes Nicken, als sie behutsam mit dem Pferd Bekanntschaft schloss. »Dann darf ich dich jetzt putzen?«, fragte sie mit einer sanften Stimme, nachdem die Stute sie beschnuppert hatte und das unruhige Spiel ihrer Ohren nachließ. Während sie das glänzende Fell bürstete, verflog auch etwas ihrer eigenen Nervosität. Vielleicht war Reiten wie Fahrradfahren, und man verlernte es nie.

Ein Irrglaube, merkte Nele bereits, als es ans Satteln und Zäumen ging. Sie warf einen Blick auf das Durcheinander an Riemen und Schnallen und sah Ollin ratlos an. »Das ist in Deutschland anders.« Sie deutete auf die Metallstange, weil sie weder wusste, was Gebissstück noch Halfter auf Spanisch hieß.

Aus Adriáns Richtung, der neben ihr einen wunderschönen Fuchswallach putzte, erklang prompt ein abfälliges Schnauben. Ollin hingegen nickte verständnisvoll und begann mit routinierten Griffen, das Pferd zu satteln und zu zäumen.

Hinauf kam Nele leichter als gedacht. Einen Moment später saß sie mit klopfendem Herzen das erste Mal in ihrem Leben in einem breiten Westernsattel, hielt geteilte Zügel in der Hand, die ihr viel zu lang erschienen, und hatte Sorge, Rosa Schmerzen zuzufügen, weil das starre Gebiss so intensiv auf das empfindliche Pferdemaul einwirkte. Nicht nur der Stute zuliebe wäre es besser gewesen, jetzt Farbe zu bekennen und ihre Schummelei einzugestehen.

Aber noch ehe Vernunft und Stolz ihren Kampf miteinander ausgefochten hatten, schwang sich Adrián mit einer beneidenswert geschmeidigen Bewegung in den Sattel und trieb seinen Wallach an. Rosa folgte von selbst. Also gut, vielleicht würde es gar nicht so schlimm werden. Mit den teils störrischen Reitschulpferden war sie früher schließlich auch klargekommen.

Mit einer Hand in Rosas Mähne und der anderen am Sattelknauf übergab Nele ihr Schicksal der Gutwilligkeit der Stute. Die trottete hinter dem Wallach her. Nele fühlte sich wie ein Kind beim Ponyreiten – ausgeliefert und ohne Einflussmöglichkeiten auf das Pferd. Die in Peru genutzten Sättel waren anders geformt als die, die sie gewohnt war. Sofern man nach mehr als fünfzehn Jahren Reitabstinenz überhaupt noch von Gewohnheit sprechen konnte.

Konnte man nicht, sah sie bereits wenige Minuten später ein. Steif und unsicher ließ ihr Körper jede Erinnerung an vergangene Stunden auf dem Pferderücken vermissen. Reiten war definitiv nicht wie Fahrradfahren. Man konnte es nicht nur verlernen – sie hatte es auch verlernt. Wie ein kleines Boot auf hoher See schaukelte sie auf dem armen Tier hin und her und hatte das Gefühl, mal links, mal rechts herunterzurutschen. Rosa hatte schon mehrfach unwillig den Kopf geschüttelt und spielte nervös mit den Ohren. Kein Wunder – so verspannt, wie Nele auf dem Pferd saß, musste die bedauernswerte Stute denken, mit einem Sack Ziegeln beladen worden zu sein.

Nele versuchte, lockerer zu werden und sich den Bewegungen des Pferderückens anzupassen. Sie konzentrierte sich darauf, in der Hüfte nachzugeben, den Rhythmus des Pferdes aufzunehmen. Zu ihrer Überraschung funktionierte es. Plötzlich kehrte eine Andeutung dieses wunderschönen Gefühls der Harmonie von Mensch und Tier zurück. Ein Lächeln stahl sich in ihr Gesicht.

Einige Minuten später gestattete sie sich sogar, ihren Blick über die Umgebung gleiten zu lassen. Sie folgten einem staubigen und teils ausgewaschenen Pfad, der von ausgedörrtem Buschwerk auf der einen und einem weißen Zaun auf der anderen Seite begrenzt wurde. Wie gestern auf der Fahrt staunte sie über die Kargheit des Landstrichs, in dem Braun die alles beherrschende Farbe war.