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Vor vielen Jahren waren Xaver und Rosalia ein Paar, doch Xavers Vater verhinderte die Hochzeit des Bauernsohns mit dem mittellosen Mädchen, beide gingen einen getrennten Lebensweg. Die Kinder der beiden sind längst erwachsen, als sie sich begegnen. Xavers Sohn Michael und Rosalias Tochter Agnes finden zueinander. Aber das Glück der beiden hält nicht lang. Als Agnes stirbt, kommen sich Xaver und Rosalia nach langer Zeit wieder näher.
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LESEPROBE ZU
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2004
© 2017 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim
www.rosenheimer.com
Titelbild: Albert Gruber, © Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheim
Lektorat und Satz: Pro libris Verlagsdienstleistungen, Villingen-Schwenningen
eISBN 978-3-475-54746-1 (epub)
Hans Ernst
Sonne auf den Heimatbergen
Vor vielen Jahren waren Xaver und Rosalia ein Paar, doch Xavers Vater verhinderte die Hochzeit des Bauernsohns mit dem mittellosen Mädchen, beide gingen einen getrennten Lebensweg. Die Kinder der beiden sind längst erwachsen, als sie sich begegnen. Xavers Sohn Michael und Rosalias Tochter Agnes finden zueinander. Aber das Glück der beiden hält nicht lang. Als Agnes stirbt, kommen sich Xaver und Rosalia nach langer Zeit wieder näher.
Vom sprichwörtlichen goldenen Oktober war in den letzten beiden Wochen nichts zu spüren gewesen. Beinahe ununterbrochen hatte es in Strömen gegossen, und das ganze Tal troff vor Feuchtigkeit und Nässe. Obwohl der Regen inzwischen aufgehört hatte, war es immer noch neblig und ungemütlich. Das drückte aufs Gemüt, und die Leute in Achersdorf hofften, dass die Sonne sich nun endlich durchsetzen und die Regenwolken vertreiben würde.
Weiter oben, auf den Bergen, herrschte bereits strahlender Sonnenschein. Auch über dem Rossruck spannte sich ein leuchtend blauer Himmel. Die noch tief stehende Sonne ließ das gemauerte Untergeschoß des stattlichen Bergbauernhofes, der sich an den steilen Hang des Höhenzuges schmiegte, kalkweiß aufleuchten. Tausend kleine Wassertröpfchen schimmerten in allen Farben auf dem Gras der umgebenden Wiesen. Dahinter stieg wie eine schwarze Wand der Hochwald auf. Es war von hier aus nicht möglich, bis ins Tal hinunterzusehen, denn ein Meer aus Wolken versperrte die Sicht, das wie eine Decke aus weißer Watte in der Senke lag. Am liebsten wollte man sich hineinwerfen in der Hoffnung, weich und sicher aufgefangen zu werden.
»Man kommt sich vor wie im Himmel«, seufzte Xaver wohlig und lächelte den Knecht Thomas in seiner jungenhaften Art an.
»Ja, Bub«, antwortete der Knecht väterlich, »zumindest ist man hier auf dem Rossruck dem Himmel näher.« Und als wollte er diese beinahe feierliche Stimmung durchbrechen, knurrte er scherzend: »Auch wenn’s mir im Winter manchmal lieber wäre, wir wären näher am Tal.«
Dazu konnte Xaver nur zustimmend nicken. Im vergangenen Winter waren sie immer wieder tagelang auf dem abgelegenen Hof so gut wie eingeschlossen gewesen. Gerade dass sie sich durch den hohen Schnee einen Weg bis zum Scheunentor hatten bahnen können.
»Aber«, fuhr Thomas dann übermütig fort, »auf die Menschen da unten kann ich gern verzichten. Die liebsten sind mir schon die hier auf dem Hof.«
Auf dem Anwesen lebten im Vergleich zu früher, als die Landwirtschaft noch mehr abwarf, nicht mehr sehr viele Menschen: der Rossruckerbauer, der Knecht Thomas, eine alte, schon ziemlich gebrechliche und runzlige Magd namens Erna und schließlich Xaver, der einzige Sohn des Rossruckers.
Es war eine seltsame Gemeinschaft dort auf dem Berg, die durch ein Ereignis im letzten Jahr noch enger zusammengeschweißt worden war.
Damals war die Rossruckerin eines Morgens beim Aufstehen zusammengebrochen. Ihr Mann hatte nicht mehr tun können, als ihren kraftlosen Körper hochzuheben und sie wieder ins Bett zu legen, wo sie nur noch unverständliche Laute murmelte und ohne eine Bewegung liegen blieb. Der Thomas wurde ins Tal geschickt, um den Doktor zu holen, aber bis der Knecht mit dem Arzt zurück war, hatte das Herz der Bergbäuerin bereits aufgehört zu schlagen. Der Hirnschlag hatte sie getroffen. Sie, die immer das volle Leben auf dem Hof verkörpert hatte, sie, die immer Rat und Auswege gewusst hatte, war nun nicht mehr da.
Auf dem Rossruck begann damit eine harte Zeit. Nicht nur, dass alle noch mehr arbeiten mussten, um die Lücke, welche die Bäuerin hinterlassen hatte, zu schließen. Nein, es fehlten nun auch ihre Lebendigkeit, Freude und Wärme im Haus. Und niemand konnte diese ersetzen.
Der Bauer, ein stattlicher Mann, dem seine schwere Arbeit bisher immer gut von der Hand gegangen war, erfuhr nun, was es heißt, alle Dinge des täglichen Lebens alleine und ohne die hilfreichen Ideen seiner Frau meistern zu müssen. Er fühlte sich plötzlich verloren und einsam. Wut darüber, dass sie ihn allein gelassen hatte, und tiefste Trauer wechselten sich ab. Oft irrte er nachts ruhelos durchs Haus, als suchte er sie und als könnte er nicht glauben, dass sie nicht mehr wiederkommen würde. Tagsüber verrichtete er mechanisch seine Aufgaben, lustlos und ohne Energie. Zwar bemühte er sich, sich nichts anmerken zu lassen, aber seine mürrischen und gereizten Antworten, wenn Xaver oder andere ihn anredeten, sprachen Bände. Wenn er es auch nicht zugeben wollte, so war doch allen klar, dass der Tod seiner Frau ihn tief getroffen hatte. Er hatte keinen Halt mehr, niemand auf dem Hof verkörperte mehr die weiche Seite. Es gab nur noch die harte Arbeit. Sicherlich, es herrschte ein ausgesprochen guter Zusammenhalt auf dem Hof. Aber es war nicht mehr dasselbe.
Der Bauer setzte nun viel Vertrauen und Erwartungen in seinen Sohn Xaver: Der war ja bereits erwachsen und konnte tüchtig auf dem Hof mithelfen. Aber der Alte und der Junge hatten nie zu einer wirklichen Gemeinschaft gefunden. Der Mittelpunkt des Lebens war immer die Bäuerin gewesen, für alle hier auf dem Rossruck. So blieben sich Vater und Sohn auch jetzt im Innersten ihrer Seele ein wenig fremd.
Überall auf dem Hof begegnete der Bauer in Gedanken noch seiner Frau, jede Stelle erinnerte ihn an sie. Bald konnte er diesen Zustand nicht mehr ertragen, denn es wurde mit der Zeit nicht leichter. Die Arbeit lenkte ihn nicht davon ab, und auch Thomas, sein Knecht und jüngerer Vertrauter, konnte ihm nicht helfen. Und so floh er aus der vertrauten Umgebung und fing an, an den Abenden den weiten Weg ins Wirtshaus im Tal zu gehen. Hier konnte er, wenigstens für ein paar Stunden, seinen Kummer vergessen. Er fing an zu trinken und Karten zu spielen. Zuerst waren es nur kleine Beträge, die er verlor, und zwischendurch gewann er ja auch wieder. Doch bald konnte man seine neuen Gewohnheiten nicht mehr als harmlos bezeichnen. Er hielt sich nun fast täglich beim Wirt auf. Als er eines Tages um Mitternacht noch nicht wieder zurück war, machte man sich auf dem Rossruck große Sorgen. Xaver schickte Thomas mit einer Laterne den Berg hinunter, weil er glaubte, seinem Vater sei etwas zugestoßen. Der Knecht kam mit der Nachricht zurück, dass der Wirt den Rossrucker in einem seiner Fremdenzimmer untergebracht hatte und ihn dort seinen Rausch ausschlafen ließ.
Seitdem blieb der Bauer mindestens einmal in der Woche im Wirtshaus im Dorf über Nacht, und die Leute redeten bereits darüber, welch traurigen Ausgang dieses Leben noch nehmen würde.
Der Bauer hatte inzwischen schon sehr viel Geld verspielt und musste eine Hypothek auf den Berghof aufnehmen, um an mehr Bargeld heranzukommen und seine Spielschulden begleichen zu können. Denn so weit war der Verfall des Rossruckers noch nicht fortgeschritten, er kannte immer noch den Satz: Spielschulden sind Ehrenschulden. Und das wollte er sich bei allen Vorkommnissen nicht nachsagen lassen, denn ein echter Rossrucker bezahlt, was er schuldet.
Die Lage des Hofes wurde immer kritischer. Nicht nur finanziell standen sie am Abgrund, auch die Arbeit ging nicht so voran, wie sie sollte, denn wegen seiner ständigen nächtlichen Eskapaden konnte der Bauer nicht mehr richtig mitarbeiten auf dem Hof. Somit wurde auch noch der Verdienst weniger.
Die Verantwortung für das ganze Anwesen lag seitdem zum großen Teil in den Händen des Sohnes, der Mühe hatte, mit dieser Aufgabe zurechtzukommen. Denn woher hätte er Bescheid wissen sollen? Früher war er zur Schule gegangen und hatte nur an den Nachmittagen die Arbeiten verrichten müssen, die einem Halbwüchsigen angemessen waren: die Kühe in den Stall treiben oder die Tiere mit dem frisch gemähten Gras füttern. Nun aber erwartete man noch ganz andere Arbeiten von ihm. Er musste festlegen, welche Saatkörner sie im nächsten Jahr anbauen wollten, er musste die benötigten Mengen ausrechnen und das Saatgut dann beim Lieferanten im Dorf bestellen. Der Verkauf eines Kalbes musste organisiert und der Strom rechtzeitig bezahlt werden. Das waren alles Dinge, um die er sich bisher nie hatte kümmern müssen, denn das hatten seine Eltern getan. Seine Mutter war für die Buchführung, eigentlich überhaupt für alle Geldangelegenheiten zuständig gewesen; was auf den Feldern, im Wald und im Stall getan werden musste, das war in den Händen seines Vaters gelegen. Und keiner hatte etwas dagegen gehabt, wenn Xaver sich nach getaner Arbeit noch ein bisschen im Hochwald herumgetrieben hatte. Etwa droben auf der kleinen Lichtung, auf der eine ganze Zeit lang immer nach Einbruch der Dämmerung eine Rehgeiß mit ihren Kitzen aufgetaucht war, um dort zu äsen. Xaver war oft stundenlang im Gebüsch gekauert und hatte den Tieren zugesehen.
Nun aber hatte sich die Lage drastisch geändert. Er musste einen Hof führen, und das, ohne einen genauen Überblick über die Geldangelegenheiten zu haben – denn die Geschäftsbücher hütete der Bauer wie einen Schatz.
Thomas, der Knecht, unterstützte den Xaver, wo immer es ging, und brachte all seine Erfahrung und Kraft mit ein. Er half ihm bei den Arbeiten, bei den Planungen und baute ihn immer wieder auf, wenn der Xaver den Glauben daran verlor, dass sich noch alles zum Guten wenden und der Vater wieder zur Vernunft kommen würde.
In dieser schweren Zeit fehlte dem Xaver die liebevolle Art seiner Mutter besonders. Er vermisste die Freude, die sie verbreitet und mit der sie ihn die Härte des Bergbauerndaseins hatte vergessen lassen.
Mit seiner Mutter hatte der Xaver alles besprechen können, was ihn bedrückte. Nun musste er allein zurechtkommen, denn die alte Erna als nunmehr einzige Frau auf dem Hof konnte ihm in der Hinsicht nicht helfen. Sie war eine gute Haut, stopfte wunderbar seine Socken und nähte ihm neue Hosen, wenn seine zu kurz geworden waren oder sich an stark strapazierten Stellen durchgewetzt hatten. Aber sie hatte ein einfaches Wesen. Als er sie einmal gefragt hatte, was sie denn nur gegen die Trunksucht des Vaters unternehmen könnten, hatte sie geantwortet: »Ja, darf denn das sein?« Und da war dem jungen Rossrucker wieder einmal bewusst geworden, dass er mit all seinen Schwierigkeiten eben alleine zurechtkommen musste.
»Gehst heut zum Kirtahutschen ins Tal?«, fragte der Thomas den Xaver, als dieser so verträumt vor dem Haus stand und zusah, wie sich der Nebel über dem Tal langsam auflöste.
Aber der zeigte wenig Lust, sich in den Rummel zu stürzen, der alljährlich zum Kirchweihfest in Achersdorf stattfand. »Ich? Allein? Nein, was soll ich denn da? Da kenn ich ja niemanden.«
»Aber geh, du bist doch auch hier in die Schule gegangen, da wirst doch jemanden kennen.«
»Nein, ich mag nicht.«
»Hast du Angst, dass jemand etwas über deinen Vater sagen könnt?«
Xaver schwieg. Aber gerade das zeigte dem Thomas, dass er mit seiner Vermutung durchaus richtig lag.
»Und wenn ich mit hinuntergeh«, schlug der Knecht vor, »und wir schauen uns einfach nur um, was so los ist? Wir könnten ja sogar mit dem Wagen fahren und dann hinterher den Bauern wieder mit heimnehmen. Was meinst?«
»Ja, wahrscheinlich hast Recht. Nie vor die Tür gehen, davon wird es auch nicht besser.«
»So ist es, Bub, und vielleicht triffst ja jemand Nettes zum Ratschen«, sagte der Knecht mit einem Lächeln und fuhr mit einem vielsagenden Blick fort: »Ich mein’, ein nettes Mädel ...«
»Ich?«, unterbrach ihn Xaver. Es klang beinahe empört. »Nein, ganz bestimmt nicht! Aber etwas Abwechslung wird uns gut tun. Mach dich fertig, ich wart nicht lange auf dich!«
Das weiße Kreuz auf der roten Fahne am Kirchturm von Achersdorf verkündete bereits das Kirchweihfest, das immer am dritten Sonntag im Oktober gefeiert wird. Man nennt diese Fahne den Zachäus, weil das Evangelium am Kirchweihsonntag an den Oberzöllner Zachäus erinnert, der zu klein gewesen war, um den vorüberkommenden Jesus zu sehen, und deshalb auf einen Baum geklettert war. Damit er auch heutzutage alles gut im Blick haben konnte, wird der »Zachäus« an den Kirchturm gehängt.
Als die beiden, der Knecht Thomas und der Bauernsohn Xaver, im Dorf ankamen, herrschte dort bereits jede Menge Betriebsamkeit. Es gab einen kleinen Markt, der von den Bäuerinnen organisiert wurde, die seit Tagen gebacken, gebastelt und verpackt hatten, und es duftete verführerisch nach Schmalznudeln und Krapfen. Da wurden geflochtene Körbe und Schüsseln aus Weidenruten angeboten, die für die Aufbewahrung von Äpfeln gedacht waren. Man konnte selbst eingekochte Marmeladen und Gelees, eingemachte Gurken und Zwiebeln, frisch gebackenes Brot und vieles mehr kaufen. Eine Schar junger Mädchen stand hinter einem Tisch, der mit den verschiedensten Stricksachen belegt war. Sie boten Handschuhe, Pullover und Mützen an, außerdem Socken und Schals.
Es machte den Anschein, als ob die Mädchen sich untereinander gut kennen würden und sich öfter zu lustigen Stricknachmittagen trafen, denn sie lachten und schwatzten miteinander um die Wette.
Der Thomas rempelte den Xaver an und nickte zu den Mädchen hinüber, aber der Rossruckersohn fand das peinlich und ging schnell weiter in Richtung der Kirtaschaukel.
An einem anderen Stand wurden Lebkuchenherzen feilgeboten, auf die mit Zuckerguss verschiedene Botschaften geschrieben war, wie zum Beispiel »I hab di gern« oder »Für a Busserl«.
Der Thomas stupste den Bauernsohn erneut an und neckte ihn, ob er schon gesehen habe, was er heute noch alles kaufen müsse. Der Xaver verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. Er kannte manche der Mädchen von der Schule, hatte aber noch nie näher Bekanntschaft mit dem weiblichen Geschlecht gemacht und konnte sich nicht gut vorstellen, für so etwas Kindisches Geld auszugeben.
In einer Scheune am Rande des Marktes befand sich die große Kirtaschaukel, auf der zahlreiche Kinder aus lauter Freude quietschten und jubelten. Sie bestand aus einem breiten, langen Brett, das mit Ketten an dem Giebel befestigt war und auf dem man hintereinander rittlings sitzen und schaukeln konnte.
Der Knecht, der dazu auserkoren war, die Schaukel anzuschubsen – natürlich nur in Maßen, damit kein Unglück passierte –, war bereits in Schweiß gebadet und feuerte die Kinder und vor allem die älteren Mädchen an, sich mehr zu trauen und heftiger zu schaukeln, damit er eine kleine Verschnaufpause einlegen konnte.
Das »Kirtahutschen« war ein alter Brauch, der hauptsächlich eine Unterhaltung für die Kinder sein sollte, aber auch die Jugendlichen und die jung gebliebenen Erwachsenen wollten sich diesen Spaß einmal im Jahr nicht entgehen lassen.
Das schöne Wetter hatte viele Menschen ins Freie gelockt, und alle wollten nach den verdrießlichen Regentagen die Sonne und das Feiern unter dem weiß-blau lachenden Himmel genießen.
Im Biergarten des Wirtshauses wurden Enten- und Gänsebraten angeboten und Bier ausgeschenkt. Hier, in einem ruhigeren Bereich inmitten des Trubels, saßen die älteren Kirchweihgäste und schauten belustigt dem Treiben der Jungen zu.
»Ich geh dann einmal zum Wirt«, sagte der Thomas und klopfte Xaver aufmunternd auf die Schultern. »Wenn du heimfahren möchtest, dann holst mich ab. Ich schau auch gleich nach dem Bauern, in die Kirche wird der ja nicht gegangen sein, also sitzt er schon seit ein paar Maß am Stammtisch. Hoffen wir, dass er nicht schon wieder beim Spielen verloren hat.«
»Ja, sei so nett und kümmere dich um ihn, vielleicht hört er ja wenigstens auf dich. Ich möchte auf jeden Fall vor dem Abendessen wieder daheim sein. Die Erna fürchtet sich so allein aufm Berg, wenn es finster wird. Zum Tanzen hab ich sowieso keine Lust.«
»Ja, schaust halt einmal, ob du nicht jemand Nettes kennen lernst. Vielleicht möchtest dann ja gar nicht mehr heim ... Also, bis nachher, viel Spaß, und pass beim Hutschen auf, dass dich die Kinder nicht runterschubsen.« Der Thomas lächelte verschmitzt und ging davon.
Da stand nun Xaver, der Bauernsohn vom Rossruck, wie bestellt und nicht abgeholt neben einem Tisch, auf dem Herzen aus Lebkuchen angeboten wurden. Er sah einer Gruppe junger Männer zu, die pfeifend hinter ein paar Mädchen herguckten, sie ungeniert ansprachen und auf eine Kirtanudel einluden. Anschließend zogen die Burschen die Mädchen zu der Schaukel hinüber und hoben sie hinauf.
Da beobachtete Xaver, wie die jungen Leute ein etwas fülligeres Mädchen dazu drängten, den vordersten Sitz auf der Schaukel einzunehmen. Offenbar hatten sie Spaß daran, dass sie Angst hatte und zögerte. Sie lachten sie aus und verspotteten sie, bis sie schließlich einwilligte und ganz vorne auf dem Brett Platz nahm. Dann zogen die Männer das Gerät weit zurück, damit es tüchtig Schwung bekam und möglichst weit hinaus aus der Scheune unter den freien Himmel schaukelte. Das dicke Mädchen riss panisch die Augen auf und fing an zu schreien wie am Spieß. Alle, die herumstanden, und auch die anderen jungen Leute auf der Schaukel schienen das wahnsinnig komisch zu finden und grölten: »Hoch, die Barbara, hoch!« Ein kleiner Bub am Rande schrie besonders vorlaut: »Damit sie auch amal einen Höhenflug hat!«
Xaver hatte Mitleid mit dem Mädchen. Er begann sich gerade darüber zu ärgern, wie die umstehende, johlende Menge sich an der Angst der Dicken ergötzte, als diese plötzlich mit einem lauten, schrillen Schrei nach vorne von der Schaukel absprang. Sie hatte aber ausgerechnet den Moment erwischt, in dem das Gerät in seinem Schwung den höchsten Punkt außerhalb der Scheune erreicht hatte, und so fiel sie aus mehreren Metern Höhe auf den harten Boden und blieb regungslos liegen. Ein betroffenes Raunen ging durch die Menge. Die jungen Leute, die gerade noch gespottet hatten, verstummten, und auch das Kinderlachen war erloschen. Ein paar Burschen versuchten, die riesige Schaukel zum Stehen zu bringen.
Der Xaver, der einen Moment lang den Atem angehalten hatte, wusste in der ersten Schrecksekunde nicht, was er tun sollte. Aber dann setzte er sich in Richtung Unglücksort in Bewegung.
Als er sich durch die Menschentraube drängte, die sich um die Verletzte, die wohl Barbara hieß, herum gebildet hatte, sah er, wie ein junges Mädchen mit zwei langen dunklen Zöpfen neben der Regungslosen kniete und sie vorsichtig auf die Seite drehte. »Holt den Doktor!«, rief sie den Umstehenden zu.
Xaver zog sofort seine Jacke aus und legte sie der Verletzten unter den Kopf. Von der Schläfe lief Blut über ihr Gesicht, und der rechte Arm stand in einem eigenartigen Winkel vom Körper ab. Sie hatte die Augen geschlossen und bewegte sich nicht.
»Die Füße hoch lagern!«, riet jemand aus der Menge und reichte Xaver einen Stuhl, der von einem der umliegenden Marktstände stammen musste: »Hier, nehmt den!« Der Rossruckersohn nahm Barbaras Beine und legte sie auf den Stuhl.
Das Mädchen mit den dunklen Haaren versuchte derweil beharrlich, Barbara aus ihrer Bewusstlosigkeit zu wecken. Sie nahm sie an den Schultern und rüttelte sie sanft, sie redete auf sie ein, sie solle doch aufwachen, und schließlich ohrfeigte sie die Verletzte sogar. Das wirkte. Die Barbara bewegte sich leicht, stöhnte und öffnete dann ganz langsam die Augen. »Mein Kopf dröhnt und ... – aua!«, schrie sie auf, als sie sich den Oberkörper ein wenig aufzurichten versuchte und bemerkte, dass ihr Arm verletzt war.
»Der Arm ist bestimmt gebrochen«, meinte das dunkelhaarige Mädchen und musterte die Stellung des rechten Armes.
Der Xaver kniete neben den beiden Mädchen und versuchte, die Barbara, die ihn nun angstvoll anblickte, zu beruhigen.
»Der Doktor kommt gleich«, sagte er und hielt durch die Menge der Umstehenden hindurch nach dem Arzt Ausschau.
»Lasst den Doktor durch! Macht ihm Platz!«
Endlich eilte Doktor Weiß mit schnellen Schritten herbei und drängte sich durch die Schaulustigen.
»Was ist denn hier passiert?«, fragte er den Xaver, weil es ihm wohl so schien, als hätte dieser etwas mit der Sache zu tun.
»Sie ist von der Schaukel gesprungen«, sagte das dunkelhaarige Mädchen und kam so dem verdutzten Xaver zu Hilfe, der sich fragte, ob der Arzt ihn wohl für schuldig an dem Unfall hielt.
Aber das Mädchen redete auch schon weiter: »Wahrscheinlich hat sie sich gefürchtet und sah dann keinen anderen Ausweg mehr als die Flucht nach vorne. Gerade ist sie aufgewacht, sie war aber ein paar Minuten bewusstlos. Der Bub und ich, wir haben ihr die Beine auf den Stuhl gelagert, das hat hier jemand von den Leuten vorgeschlagen, und ich hab auch einmal gelesen, dass das gut sein soll nach so einem Unfall. Haben wir alles richtig gemacht, Herr Doktor?«
Dem Xaver blieb der Mund offen stehen. Wie hatte sie ihn genannt? Bub? Na ja, er sah vielleicht jünger aus, als er war, aber so jung nun auch wieder nicht. Was bildete die sich eigentlich ein, wer sie war? Er hatte sie eigentlich ganz nett gefunden und sich mehrmals dabei ertappt, dass er sie verstohlen beobachtet hatte, ihr besorgtes Gesicht, ihre gezielten Handgriffe, ihr Lächeln. Aber jetzt war er direkt ein wenig böse auf sie.
Da traf ihn ein Schlag auf seine Schulter, der seinen ganzen Körper erschütterte und ihn recht unsanft aus seinen Gedanken aufschreckte.
Es war der Doktor, der ihm auf diese Weise seine Anerkennung mitteilen wollte. »Gute Arbeit, ihr zwei. Um Leute, die einen Schock haben, muss man sich kümmern und nicht bloß blöd rumstehen, wie die anderen alle.« Er blickte vorwurfsvoll auf die Menschen, die sich um die Verletzte herum drängten, und wandte sich dann belustigt an Xaver. »Du, Bub«, und das »Bub« betonte er besonders, »kannst mir vielleicht noch helfen, die Barbara in meine Praxis zu bringen. Die Platzwunde muss genäht und der Bruch versorgt werden. ... Und du bist doch der starke Mann unter uns, Xaver, oder?«
Der Rossruckersohn sah den Doktor prüfend an. Was wollte er ihm jetzt damit sagen? Wollte er ihn auf den Arm nehmen, weil er seine Gedanken erraten hatte, als das Mädchen ihn so etwas herablassend »Bub« genannt hatte? Doch bevor er etwas erwidern konnte, fuhr der Arzt an die fremde Helferin gewandt fort: »Und du, Rosalia, kommst auch mit, weil meine Sprechstundenhilfe heute frei hat, und einer muss mir ja assistieren.«
Rosalia hieß sie also. Rosalia? Kein gewöhnlicher Name, wo hatte er ihn bloß schon mal gehört? Erzählte man sich nicht von einer Rosalia, die Bedienung im »Gasthof zur Post« war? Er runzelte die Stirn. Die einen sagten, sie sei stolz und hochmütig und hielte sich für etwas Besseres, von anderen hatte er aber auch schon gehört, dass sie sehr klug sei und jederzeit auf eine höhere Schule hätte gehen können, wenn die Eltern es hätten bezahlen können. ›Hochmütig stimmt wohl‹, dachte Xaver, ›denn sonst hätte sie mich nicht so geringschätzig Bub genannt.‹
Xaver beschloss, ihr zu zeigen, was der »Bub« so alles kann, und unverständlicherweise pochte sein Herz schneller bei diesem Gedanken. Sie sollte nur sehen, was für ein starker Mann er war. Also nahm er die nicht gerade leichtgewichtige Barbara hoch und trug sie ohne die Miene zu verziehen durch das Dorf, obwohl er schon bald das Gefühl hatte, dass seine Arme durch die Last immer länger wurden.
Er bemerkte dabei gar nicht, wie ihn die Barbara die ganze Zeit über anhimmelte. Sie hatte die Augen fest auf ihn gerichtet und strahlte ihn an – unter Tränen, da bei ihr langsam der Schock des Unfalls nachließ und sie die Schmerzen der Verletzungen, vor allem des Bruches, zu spüren begann.
Nie hätte sie zu träumen gewagt, einmal von einem so starken Mannsbild auf Händen getragen zu werden. Die meisten gaben sich nicht einmal mit ihr ab. Sie sei zu dumm, sagten manche, andere fanden, man sehe schon an ihrem Äußeren, wie einfältig sie sei. Das verstand Barbara nun überhaupt nicht, denn sie fühlte sich wohl in ihrer Haut, wenn – ja, wenn niemand Fremdes in ihrer Nähe war. Und war doch einmal Besuch auf dem Hof ihrer Eltern oder kamen Leute in deren Geschäft, die sie nicht kannte, dann hielt sie sich lieber im Hintergrund, weil sie fürchtete, sie müsste wieder das hören, was sie schon so oft hatte hören müssen: dass die etwas langsame und dicke Tochter nur schwerlich einen passenden Mann zum Heiraten finden würde.
Dabei stellte sie es sich großartig vor, Bäuerin auf einem eigenen Hof zu sein, wo sie selbst wirtschaften konnte, denn jetzt ließ man sie nur die Arbeiten machen, von denen die Eltern wohl dachten, dass sie nichts falsch machen könne.
Auf den Kirchweihmarkt heute war sie nur gegangen, weil ihr älterer Bruder ihr versprochen hatte, ihr einen Lebkuchen zu kaufen und sie dann wieder nach Hause zu bringen. Doch kaum waren sie beim Markt angekommen, da hatte der Manuel seine Braut gesehen und war auf sie zugestürmt. Die kleine, unselbstständige Schwester war vergessen und er mit Helga im Getümmel verschwunden. Barbara hatte dann ein paar Schulkameradinnen getroffen und gedacht, es könnte schön sein, mit ihnen etwas Zeit auf dem Markt zu verbringen und vielleicht auch zu schaukeln. Ja, sie war stolz, einmal allein mit Gleichaltrigen unterwegs zu sein.
Aber es kam alles anders, als sie es sich erhofft hatte. Ihre Schulkameradinnen hatten ein paar Burschen getroffen, und bald waren sie gar nicht mehr nett mit ihr gewesen. Genierten sie sich, wenn man sie mit der zurückgebliebenen Barbara sah? Sie fingen an, sie zu ignorieren, ließen sie einfach an einem Stand mit Gebäck stehen und begannen hinter ihrem Rücken über sie zu lästern. Als die anderen schließlich alle zum Schaukeln gingen, hatte Barbara gedacht, sie könnte doch wieder – ein bisschen wenigstens – dazugehören, wenn sie sich jetzt überwand und auf das Drängen einging, den vordersten Sitz der Schaukel einzunehmen. Das hatte sie jedoch bald bereut und in ihrer Not den Ausweg aus dieser Situation über den Absprung gesucht.
Als sie nach dem Sturz erwacht war, hatte sie zuerst wieder die hämischen Gesichter gesehen, die zu sagen schienen: ›Sogar dazu stellt sie sich zu blöd an.‹
Ja, so ähnlich war auch ihr innerstes Gefühl gewesen, sie schämte sich. Das halbe Dorf war um sie herumgestanden und war in seiner Meinung über die reiche, aber zurückgebliebene Eder-Tochter Barbara bestätigt worden.
Doch dann hatte sie den jungen Mann bemerkt, der neben ihr auf dem Boden kniete und ihr sagte, dass der Doktor bald da sein würde. Sie kannte ihn vom Sehen, er war bestimmt schon einmal bei ihnen am Hof vorbeigekommen und hatte irgendetwas gekauft oder abgeholt. ›Das ist aber ein schöner Mann‹, hatte sie gedacht und hatte überlegt, ob sie ihm das auch gleich sagen sollte. Aber sie hatte mit ihrer herzensguten Ehrlichkeit schon so viel Spott erleben müssen, dass sie inzwischen zurückhaltender geworden war und ihre Gefühlsregungen lieber für sich behielt. Aber sie freute sich sehr, als der Doktor zu dem Xaver sagte, er solle die Patientin in seine Praxis tragen.
»Xaver, das ist aber nett von dir, dass du mich trägst.« Ein »Mhm« war alles, was er herausbrachte, denn er schnaufte ganz schön vor Anstrengung. Deshalb fiel die folgende Unterhaltung mit Barbara auch weiterhin etwas einseitig aus.
»Du bist ganz schön stark, gell«, sagte sie nun anerkennend.
»Mhm.«
»Ein starkes Mannsbild ist schon was wert.«
»Aha.«
»Vielen Dank, dass du mir so hilfst. Du gehörst zum Rossrucker, gell?«
»Mhm.« Xaver nickte, und als er seinen Nachnamen hörte, fiel ihm plötzlich etwas ein, woran er gar nicht mehr gedacht, ja, das er im Trubel der Ereignisse völlig vergessen hatte. Dass sich nämlich sein Vater ja auch noch hier im Dorf aufhielt, genauer gesagt im Wirtshaus, und feuchtfröhlich Kirchweih feierte. Der viele Alkohol, den der Rossrucker zweifellos zu sich nehmen würde, würde wie immer dazu führen, dass er nicht mehr selbstständig nach Hause finden würde. Aber Thomas, der Knecht, kümmerte sich ja um ihn und hatte inzwischen bestimmt ein wachsames Auge auf ihn geworfen.
Er verschob diese Gedanken also auf später und horchte auf die leisen Schritte hinter ihm, die Schritte von Rosalia. »Eigentlich hat dir ja die Rosa viel mehr geholfen als ich«, meinte der Xaver da zur Barbara.
»Oh, lass das nicht die Rosalia hören, dass du sie einfach Rosa nennst, da wird sie ganz furchtbar böse. Sie hasst es, wenn man ihren Namen abkürzt. Das ist so, als würde man sie nicht für voll nehmen – das sagt sie jedenfalls immer, wenn jemand zu ihr Rosa sagt. Außerdem hört sie nicht auf Rosa, das hat sie nicht nötig, sagt sie.«
»Aha, das hat sie also nicht nötig«, wiederholte er halb ernst, halb ironisch.
Obwohl er seine leichte Wut wegen vorhin noch nicht vergessen hatte, musste er unwillkürlich lächeln und spürte ein leises Kribbeln im ganzen Körper bei der Vorstellung, statt der Barbara die schöne, grazile Rosalia durchs Dorf zu tragen.
So nett die Barbara auch war, aber dass sie jetzt auch noch ihren Kopf an seinen Hals lehnte, ging etwas zu weit! Allerdings konnte er sich jetzt vor der Rosalia keine Blöße geben und das Mädchen einfach aus Protest fallen lassen. So bemühte er sich, Barbaras Annäherungsversuchen zu entgehen, indem er den Doktor nach den Behandlungsmöglichkeiten bei solch einem Armbruch fragte. Dieser hielt ihm einen medizinischen Vortrag, den außer ihm selbst höchstens noch Rosalia verstanden hätte.
Aber die hörte gar nicht zu. Sie war in Gedanken ganz woanders. Ihr war es gar nicht unrecht, von den Feiernden und dem Markt wegzukommen. Denn genau das, was sie befürchtet hatte, war bereits eingetreten. Schon die ersten beiden Mädchen, die sie auf dem Kirtamarkt getroffen hatte, hatten sie ganz neugierig angeschaut und dann natürlich gefragt, wo sie denn ihren tollen Begleiter gelassen habe.
Rosalia hatte seit Tagen gegenüber ihren Bekannten behauptet, dass sie bereits mit einem jungen Mann zum Kirtatanz verabredet sei. So hatte sie einen guten Grund gehabt, die vielen ungehobelten Anträge abzulehnen, die sie von den Männern des Dorfes erhalten hatte. Beinahe wäre sie wegen dieser Notlüge gar nicht auf das Fest gegangen, weil sie sich die Kommentare schon vorstellen konnte, die kämen, wenn sie nun dort alleine auftauchte.
Und jetzt war es also gekommen, wie sie es befürchtet hatte: Es hatte sich ganz offensichtlich schon herumgesprochen, und alle waren gespannt darauf, wer dieser fremde Mann war, der sogar der etwas eigenwilligen und stolzen Rosalia Landhammer gut genug war.
»Der kommt erst später nach«, hatte sie geantwortet und gehofft, nicht rot zu werden. Und als die Zeit verging und Rosalia immer noch keinen Begleiter hatte, sah sie schon, wie Grüppchen beieinander standen und sich mit dem Kopf in ihre Richtung nickend wohl darüber unterhielten, dass die arrogante Rosalia Landhammer bestimmt von ihrem mysteriösen Fremden versetzt worden sei.
»So einzigartig ist sie also doch nicht, wie sie immer tut.« – »Ach, die hält sich doch immer für was Besseres.« – »Wahrscheinlich wartet sie auf einen Prinzen.« Solche Gesprächsfetzen waren an ihre Ohren gedrungen, als sie vor dem Stand mit den Kirtanudeln gestanden und gerade in eine hineinbeißen wollte. Doch dabei war ihr der Appetit vergangen, und sie wollte gerade wieder nach Hause gehen und dort in einem ihrer Bücher lesen, als die Barbara von der Schaukel sprang.
Sie waren inzwischen beim Haus des Doktors angelangt, und der Xaver setzte die Barbara vorsichtig auf der Behandlungsliege ab.
»Dank dir schön, Xaver.« Die Patientin strahlte ihn an.
»Bitte, Barbara, keine Ursache. Das habe ich gerne getan.« Und das meinte er auch so.
Auch wenn Xaver mit der Aktion vor allem Rosalia beeindrucken wollte, so war er doch frei von Vorurteilen gegenüber der »langsamen Barbara« und außerdem immer ehrlich zu seinen Mitmenschen. Man sah es an seinem Gesichtsausdruck und an der Art, wie er es sagte: Er nahm Barbara als Mensch ernst und machte sich nicht über sie lustig.
Das fiel auch der Rosalia auf, und sie fing an, sich für den »Buben« zu interessieren. ›Er scheint ziemlich aufgeschlossen und nicht kleinkariert zu sein‹, dachte sie. ›Wie er mit der etwas schwerfälligen Barbara umgeht, das imponiert mir. Anscheinend weiß er gar nicht, was Überheblichkeit ist, und ist ein ganz unvoreingenommener Mensch.‹
Und so stieg der Xaver, ohne sich großartig ins Zeug legen zu müssen, in der Achtung der schönen Frau, die wusste, wie gemein und hartherzig viele andere Männer in seinem Alter mit der Barbara umsprangen und sie mit Worten und auch mit Taten demütigten.
›Er scheint etwas Besonderes zu sein‹, dachte sie und krempelte sich die Ärmel hoch, um den Doktor bei seiner Arbeit zu unterstützen.
Der Xaver war ins Wartezimmer geschickt worden, um die Barbara, falls nötig, noch nach Hause begleiten zu können. Und da saß er nun und überlegte, wie er diese Rosalia näher kennen lernen konnte.
Es fiel ihm schon etwas ein, aber eigentlich wollte er ja am frühen Abend den Vater mit Thomas’ Hilfe in den Wagen laden und nach Hause fahren, damit sie bei der Erna waren, bevor sie sich alleine fürchtete.
Aber das wäre einfach die Chance. Sollte er sie fragen, ob sie mit ihm auf den Kirtatanz ginge? Nein, so eine wunderbare Frau hatte bestimmt schon eine Verabredung für den Abend. Was bildete er sich denn eigentlich ein? Dass sie auf so einen »Buben« wie ihn gewartet hatte? Nein, er verdrängte den Gedanken an das Mädchen und überlegte, wie sie den Vater am besten davon überzeugen konnten, mit ihnen nach Hause zu kommen.
Xaver konnte gut tanzen. Seine Mutter hatte es ihm beigebracht, ebenso wie viele andere Dinge des »gesellschaftlichen Lebens«, wie sie es genannt hatte. Aber bisher hatte er nur mit seiner Mutter oder seiner Firmpatin getanzt und noch nie mit einem Mädchen, das ihm so gut gefallen hatte.
›Wenn ich die Barbara zurückgebracht hab, könnte ich dem Thomas beim Wirt Bescheid sagen, ihm helfen, den Vater aufzuladen, und dann zum Tanzen gehen‹, überlegte er sich. Er selbst könnte später in der Nacht zu Fuß heimkehren.
Doch was sollte er sagen? Wie sollte er sich verhalten, wenn sie ihn ablehnte? Sein Herz begann zu klopfen und seine Hände wurden feucht bei dem Gedanken daran, dass sie vielleicht auch Ja sagte und tatsächlich mit ihm tanzen wollte.
Nein, eigentlich wollte er ja ursprünglich gar nicht lange bleiben. Er sollte nach Hause fahren.
Aber auf der anderen Seite zog es ihn wie magnetisch hin zu diesem Tanzfest bei dem Gedanken, dass sie ihn begleiten würde. Wäre das nicht wundervoll, ein ganzer Abend nur mit ihr? Er könnte ihr sagen, dass sie etwas Besonderes sei, oder einfach erkunden, welche Farbe ihre Augen hatten.
Nein, er konnte sich nicht trauen, sie zu fragen. Nicht, solange der Doktor oder die Barbara dabei waren. Aber wie sollte er es anstellen, sie alleine zu erwischen, und sich dann auch noch trauen, sie zu fragen?
Er wurde immer unruhiger, sprang auf und ging im Wartezimmer aufgeregt auf und ab.
»Sie wird schon wieder. Du brauchst dir keine Sorgen um sie machen.«
Er fuhr herum. Hinter ihm stand Rosalia, die seine Unruhe als Besorgnis um Barbara gedeutet hatte.
Das war die Gelegenheit für seine Frage! Der Doktor war mit seiner Patientin noch im Behandlungsraum und schrieb der Barbara ein Rezept aus. Und so waren Xaver und Rosalia für einen Augenblick allein im Wartezimmer. Doch irgendwie brachte er jetzt auf einmal kein Wort mehr heraus. Er starrte sie an und spürte, wie er rot wurde. Schließlich stammelte er: »Ich ... äh ... wollt dich was fragen«, so begann er und schaute auf seine Schuhspitzen.
»Ja, ich dich auch«, fiel ihm Rosalia ins Wort. »Hast du Lust, mich heute Abend auf den Tanz zu begleiten?«
Der Xaver bekam fast den Mund nicht mehr zu und musste schlucken, bevor er schließlich mit heiserer Stimme hervorbrachte: »Genau das wollt ich dich auch fragen.«
Sie lächelte und meinte dann, ob sie das als Zusage interpretieren dürfe.
»Ja, das darfst du. Sollst du sogar.«
»Ja, gut, ich geh dann mal nach Hause und zieh mir mein gutes Dirndlkleid an, und du holst mich so in einer Stunde ab, ja?«
»Ja, gern, ich freu mich.«
Die Rosalia drehte sich um, rief noch in das Behandlungszimmer, dass sie jetzt gehen müsse, weil sie heute Abend noch ein Rendezvous zum Tanz habe, und verschwand aus der Tür.
»Sie hat ein was?«, fragte die frisch genähte, geschiente und einbandagierte Barbara. Sie sah aus, als wäre sie in der nächsten Zeit stark auf fremde Hilfe angewiesen, denn ihr rechter Arm war vom Handgelenk bis zur Schulter mit Stäben und Verband so fixiert, dass sie ihn bestimmt nicht mehr bewegen konnte. Der Arzt gab ihr noch ein Schmerzmittel für die Nacht und trug dem Xaver auf, sie ruhig selbst nach Hause marschieren zu lassen, aber unbedingt bei ihr zu bleiben, damit er sie im Notfall stützen könnte.
Die Barbara war glücklich, von so einem starken und gut aussehenden Mann nach Hause geleitet zu werden – durch das ganze Dorf! Sie empfand das als wunderbare Entschädigung für alle Schmerzen, die sie ertrug.
Unterwegs trafen sie auf ihren Bruder Manuel, der zwar sehr bestürzt darüber war, was mit seiner kleinen Schwester passiert war. Aber er wollte gerade mit der Helga auf das Tanzfest und wurde deshalb mit dem Xaver schnell einig, als der sich erbot, seine Schwester noch bis nach Hause zu bringen.
Die Barbara verstand diese Geste als wunderbaren Wink des Schicksals.
Als sie nicht mehr weit vom Hof ihrer Eltern entfernt waren, fragte sie ihn: »Xaver, hast du eigentlich schon eine zum Heiraten?«
Verdutzt über diese sehr direkte Frage, verneinte er und verabschiedete sich schleunigst, als sie an der Haustür des Eder-Hofes angelangt waren, um einer Fortsetzung des Gesprächs zu entgehen.
Was war das heute nur für ein Tag! So dachte Xaver bei sich. Der Thomas hatte zwar Recht gehabt: Es war gut, einmal wieder unter Leute zu kommen und etwas zu erleben. Aber so viel auf einmal, das war ihm jetzt doch fast zu viel.
Er ging über den Markt zurück und erstand bei der Frau, welche die Lebkuchenherzen verkaufte, ein stattliches Exemplar mit der Zuckergussaufschrift »I mog Di«.
Es kostete ihn schon einige Überwindung, als die Frau ihn wissend anlächelte, aber auf irgendeine Weise, so fand er, musste er dieses wunderhübsche Mädchen beeindrucken. Und ein Meister der großen Worte war er nun nicht gerade.
So versteckte er also das Herz in seiner Jacke und machte sich auf den Weg zum Wirtshaus, wo er sowohl den Vater als auch den Thomas vermutete.
»Ja, dass du nur auch einmal wieder nach uns schaust.« In vorwurfsvollem Ton begrüßte ihn der Thomas, der gerade mit einem Knecht vom Wirt dabei war, den Rossruckerbauern in den Wagen zu bugsieren.
»Deinem Vater geht es nicht sehr gut, wir sollten ihn schleunigst nach Hause bringen.«
»Ja, weißt, Thomas, eigentlich wollte ich noch gar nicht fahren. Ich wollt dir nur Bescheid geben, dass ich später zu Fuß heimgehe. Aber ...« Xaver stammelte schuldbewusst herum.
»Brauchst dir nicht die Zunge abbrechen. Hab es schon gehört, dass du die Barbara auf Händen durchs Dorf getragen hast. Gefällt dir die, hm?«
»Was? Wie? Wer? Was meinst du denn jetzt?«
»Na ja, ist doch ganz klar, du hast die Barbara kennen gelernt und sie hat dir gefallen und dann hast du sie halt auch gleich gefragt, ob sie mit dir noch ein bisschen aufs Fest geht. Da brauchst doch kein schlechtes Gewissen haben deswegen, hast doch eine gute Tat getan. Und ausspannen tust sie ja sicher auch keinem.« Der Knecht lächelte. »Ich glaub, die ist gar nicht unrecht. Ein bisserl langsam schon, aber ein guter Kerl. Jetzt hilf mir noch, ich möcht den Bauern hinten auf die Rückbank des Wagens legen. Und dann fahr ich ihn halt allein heim.«
Der Xaver öffnete die Wagentür auf der gegenüberliegenden Seite, klappte den Vordersitz nach vorne und stieg hinten ein. Er fasste den Vater, der ihm von Thomas entgegengereicht wurde, unter den Achseln, um ihn vollends in das Auto zu ziehen und auf die Rückbank zu legen. Als sie ihn noch auf die Seite drehten, fiel ihm das Lebkuchenherz aus der Jacke. Der Thomas hob es auf und musterte es genau.
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