19,99 €
Aufrichtig und kompromisslos schreibt Kathrin Weßling über das Nicht-mehr-jung-Sein, zerbrochene Lebensträume und darüber, dass man manchmal an den ungewöhnlichsten Orten Freundschaft findet. Während ihre Freundinnen Kinder bekommen und Instagram eine einzige Happy-Wife-Happy-Life-Show zu sein scheint, sitzt Katharina in ihrer Wohnung und betäubt sich mit Arbeit und Trash-TV. Mit Ende dreißig hat sie sich arrangiert mit diesem recht ereignislosen Leben, in dem noch alles möglich ist. Das zumindest glaubt sie, bis sie erfährt, dass sie keine Kinder mehr bekommen kann. Plötzlich fühlen sich die Nächte in Kneipen und die Tage am Schreibtisch nur noch sinnlos an. Dann nimmt sie eine ehrenamtliche Stelle in der Seniorenresidenz Sonnenhang an. Die Wochenenden bestehen nun aus Eierlikörschmuggel, Kniffeln und skurrilen, liebenswürdigen Begegnungen. Als die nächste große Entscheidung ansteht, muss Katharina sich fragen, was sie eigentlich will. Und ob sie nicht ganz unbemerkt schon längst gefunden hat, wonach sie so verzweifelt sucht.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 248
Veröffentlichungsjahr: 2025
Kathrin Weßling
Roman
Während ihre Freundinnen Kinder bekommen und Instagram eine einzige Happy-Wife-Happy-Life-Show zu sein scheint, sitzt Katharina in ihrer Wohnung und betäubt sich mit Arbeit und Trash-TV. Mit Ende dreißig hat sie sich arrangiert mit diesem recht ereignislosen Leben, in dem noch alles möglich ist. Das zumindest glaubt sie, bis sie erfährt, dass sie keine Kinder mehr bekommen kann. Plötzlich fühlen sich die Nächte in Kneipen und die Tage am Schreibtisch nur noch sinnlos an. Dann nimmt sie eine ehrenamtliche Stelle in der Seniorenresidenz Sonnenhang an. Die Wochenenden bestehen nun aus Eierlikörschmuggel, Kniffeln und skurrilen, liebenswürdigen Begegnungen. Als die nächste große Entscheidung ansteht, muss Katharina sich fragen, was sie eigentlich will. Und ob sie nicht ganz unbemerkt schon längst gefunden hat, wonach sie so verzweifelt sucht.
Aufrichtig und kompromisslos schreibt Kathrin Weßling über das Nicht-mehr-jung-Sein, zerbrochene Lebensträume und darüber, dass man manchmal an den ungewöhnlichsten Orten Freundschaft findet.
Kathrin Weßling ist Autorin und Social-Media-Expertin. Ihre Postings und Beiträge verfolgen über 70000 Menschen. Ihr Buch Super, und dir? wurde von Presse und Leser:innen als «der Roman ihrer Generation» gefeiert. Sie schreibt außerdem regelmäßig für ZEIT ONLINE, SPIEGEL, ZEIT u.v.m. Kathrin Weßling lebt in Berlin.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung Lübbeke Naumann Thoben, Köln
ISBN 978-3-644-01850-1
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
www.rowohlt.de
Für meine Mama. Heute weiß ich, was du alles für uns getan hast.
«Ihr einziges Hobby ist, schwanger zu sein, die weiß gar nicht, was sie ist, wenn sie nicht schwanger ist», denkt sie und klickt sich durch die Story der Ehefrau von irgendwem. Es wird gebacken und aufgeräumt, dekoriert und gebastelt, alles wie in den 50ern, aber mit Insta-Filter, und an der Wand hängt eine dieser Boho-Webereien mit Fransen. Sie hasst diese Frau und sie hasst all diese Wifey-Accounts, in denen alle ständig schwanger sind und nie jemand irgendwas hasst, außer mit dem Kinderwagen über Kopfsteinpflaster fahren zu müssen oder all die anderen Dinge, aus denen man Info-Posts auf Instagram machen kann oder eine Kolumne schreiben. In Wahrheit ist sie natürlich schrecklich neidisch und fragt sich, wann, wann nur sie nun endlich dran ist, auch wenn sie sich das die meiste Zeit nicht einmal selbst eingesteht, weil das schon auch irgendwie peinlich ist, sich so abhängig zu machen von einem Mann.
Ihr Wecker klingelt um Viertel vor neun. Und um zehn vor neun und acht vor neun und fünf vor neun und neun Uhr und halb zehn und dann noch mal um zehn und sie weiß jetzt schon, dass sie so gegen halb elf im Bad stehen und sich fragen wird, wie das denn nun schon wieder passieren konnte. Seit dieser ärgerlichen weltweiten Sache arbeitet sie im Homeoffice und weil das nur halbtags und freiberuflich ist, teilt sie sich die Zeit selbst ein, was bedeutet, dass sie meistens zwischen halb elf und elf am Schreibtisch sitzt und dann bis abends ohne Pause durcharbeitet, dafür aber nur einen halben Tag berechnet, weil sie insgeheim froh ist, dass sie acht bis neun Stunden nicht den Teil ihres Gehirns benutzen muss, der noch imstande ist, etwas zu fühlen.
Zwischendurch streichelt sie Kasper und schickt Johanna Nachrichten bei Telegram, in denen sie über die Kollegen und Kolleginnen ablästert, wie immer, und Johanna beschwert sich dann über die ganze Welt, wie immer, und über das Muttersein im Allgemeinen und Katharina versucht, ihr nicht böse zu sein, obwohl sie oft neidisch ist auf Johanna und ihre kleine Familie, in der alles sehr chaotisch ist, aber kein bisschen besser, als es in Katharinas Familie der Fall wäre. Jedes Mal, wenn Katharina Johannas Sohn auf dem Arm hat, hofft sie, dass er sich nicht in die Hose macht, weil sie sich übergeben würde, wenn sie das riechen müsste. Aber ansonsten liebt sie Kinder und die Kinder lieben sie, das bisschen Scheiße wird sie wohl nicht daran hindern, eine gute Mutter zu sein. Sie raucht die zehnte Zigarette, morgen wird sie wieder einmal damit aufhören, es ist Juni und der Sommer ist grotesk heiß und sie kann schon seit Wochen nicht schlafen, weil die Hitze einfach nicht aus der Stadt verschwinden will. Sie fühlt sich überreizt, ständig schwitzt sie und ist am Tag launisch und in der Nacht schlaflos, hängt ihren hässlichen Träumen nach, die sie quälen, seit sie hierhergezogen ist, seit sie diesen Fehler gemacht hat, Fehler Nummer drei. Sie weiß nicht, wie viele wirklich große Fehler man sich im Leben erlauben darf, bis wirklich endgültig alles so unleugbar falsch gelaufen ist, dass man einsehen muss, dass man das Leben falsch gelebt hat, dass man versagt hat, verzagt ist am Am-Leben-Sein. Sie fragt sich aber auch, ob überhaupt jemand Normales jemals sagt: Ja, da habe ich mein Leben leider wirklich komplett an die Wand gefahren, schade. Natürlich sagen das manche, aber sagen das auch ganz gewöhnliche Leute wie Katharina? Welche, die keine riesigen Verluste, keine Morde, keine Biografie des Schreckens hinter sich oder sie ausgelöst haben?
Die meisten Menschen bereuen auf dem Sterbebett bekanntlich, dass sie zu viel gearbeitet haben, das kann Katharina nicht passieren. Solange sie arbeiten kann, geht es ihr gut. Sie hat diese unerfreuliche Sache damals mit dem Marketing-Studium hinter sich gebracht, hat sich gegen die Volontärin durchgesetzt und jahrelang in diesem Großkonzern gearbeitet, der alles für alle herstellt, hat sich trotz Stefan, diesem unangenehmen Beuteltier, der ständig zugekokst war und dann mit Sonnenbrille ins Meeting kam, hochgearbeitet, an ihm vorbei, sie wurde ein besserer Stefan, ein besserer Christian und als sie mit dreiunddreißig feststellte, dass sie keine Lust mehr hatte, auch noch ein besserer Torsten zu werden, hatte sie sich schließlich selbstständig gemacht als Beraterin. Seitdem arbeitet sie sehr wenig für sehr viel Geld. Ihr Job ist ihr im Grunde egal, aber die allermeisten Kolleginnen und Kollegen sind nett, sie hat das gute Gefühl am Ende eines jeden Tages, sehr viel dafür getan zu haben, dass das Unternehmen noch mehr Geld verdient als ohnehin schon, und sie selbst checkt jeden Abend ihren Kontostand, zufrieden und wohlig im Wissen darum, dass sie als achtunddreißigjährige Singlefrau in der großen Stadt wunderbar für sich selbst sorgen kann. Ihre ETF-Investitionen und ihre Aktien sichern sie ab, sie muss sich wirklich keine Sorgen machen, wie schön. Abgesehen von Dingen wie fehlende Selbstfürsorge selbstverständlich. Denn sie trinkt zu viel und schläft zu schlecht, sie raucht ständig und isst den halben Tag nichts, um am Abend dann einen Eimer Kartoffelpüree mit Erbsen und einem Päckchen Fertig-Bratensoße vor einer Datingshow ihrer Wahl auf einem Privatsender ihrer Wahl in sich hineinzuschlingen, bis nicht mehr nur das Herz, sondern auch der Körper endlich betäubt sind. Dass sie oft hustet oder ihre Periode übermäßig stark geworden war, beschäftigt sie in den Momenten, in denen sie die unangenehme Stille spüren muss, die nur Menschen kennen, die immer dafür sorgen, dass es laut ist um sie herum. An einem Sonntag im März war es zum letzten Mal sehr still in und um Katharina und sie machte unverzüglich Termine bei Ärztinnen und Ärzten aus, danach klickte sie sich durch YouTube-Videos und spielte nebenbei auf ihrem Telefon ein Kartenspiel, das sie beruhigte, weil sie immer gewann und wenn nicht, dann war es Kartenpech oder Unkonzentriertheit. In Wahrheit war sie nicht ruhiger, sondern gestresster, sie hatte lediglich verstanden, dass Manie und Lärm den Teil in ihr verdeckten, den sie unter einer Menge Geschäftigkeit zu verbergen gelernt hatte. Wenn die Gedanken rasten, überfuhren sie alle Gefühle, und das war wirklich sehr angenehm, fand Katharina.
Heute ist der Tag, an dem sie nun zu ihrer Gynäkologin muss, eine alte, gehässige Frau, die Katharina bei ihrem ersten Besuch vor drei Jahren mit den Worten begrüßte: «Hoffentlich nicht wieder eine, die noch schwanger werden will.» Katharina hatte sich verkniffen zu sagen: «Doch, hier bin ich, Überraschung!», und nur gelacht und gesagt, dass das in ihrem Alter ja eh vollkommen blöd wäre, also bitte. Die Ärztin hatte zufrieden genickt und Katharina hatte das keinen idealen Anfang für eine Beziehung gefunden, in der ein Part gleich mit einem sehr langen Ultraschallstab in sie eindringen würde, aber in dieser Stadt war man schon froh, wenn die Person am Telefon nicht sofort auflegte oder in schallendes Gelächter ausbrach, wenn man sagte, dass man noch keine Bestandspatientin war.
Bei Slack hat Katharina natürlich Bescheid gesagt, vor einer Woche und vor drei Tagen und heute gleich noch zweimal, dass sie zum Arzt müsse, sie hatte das sehr kryptisch gehalten, aber es hätte ohnehin niemand nachgefragt. Sie hatte seit Wochen ein schlechtes Gewissen wegen des Termins innerhalb ihrer fünfzig Stunden Erreichbarkeit. Deshalb fährt sie mit dem Uber zur Praxis am Ku’damm, damit sie unterwegs in Ruhe Mails beantworten und Befehle schicken kann. Kurz bevor die Trennung von Schnittlauch, ihrem Ex-Freund, endgültig war, hatte sie eine leichte Panik verspürt, dass sie von ihm schwanger sein könnte. Aber zwei Tests hatten sie beruhigt und dann hatte die Trennung ohnehin allen Raum eingenommen und sie hatte von Monat zu Monat stärkere Blutungen bekommen, die Schmerzen waren teilweise unerträglich gewesen und sie wusste, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte sich so in Arbeit gestürzt, dass sie es meistens verdrängt hatte, aber zu den monatlichen starken Krämpfen und Blutungen und einer daraus folgenden nicht unerheblichen Blutarmut waren mittlerweile auch andere Symptome hinzugekommen, sie konnte sich ein Leben ohne ständige Schmerzen und Blasenentzündungen kaum noch vorstellen.
Der Uber-Fahrer dreht die Musik lauter und fragt sie, ob es okay sei, natürlich sagt sie «Ja klar», sie hat so einen Riesenrespekt vor diesem Job, sie gibt immer fünf Sterne und lächerlich viel Trinkgeld, der Fahrer könnte auch laut singen oder andere Autofahrer erst rammen und dann anschreien, sie würde immer noch Verständnis haben und ihm fünf Euro mehr in die Hand drücken. Der Fahrer erzählt von seiner Familie, dem todkranken Vater, über dessen tatsächlichen Zustand aber nur er und eine Schwester Bescheid wüssten. «Und ich», denkt sie und sagt: «Das muss sehr schwer für Sie sein.» Sie weiß nicht, ob er ihr die Geschichte erzählt, um mehr Trinkgeld zu bekommen, aber er kommt ihr ehrlich vor und am Ende ist es ihr egal, auch eine gute Geschichte ist ehrliche Arbeit. Er lässt sie an der Ecke raus und sie gibt fünf Euro Trinkgeld, er wünscht ihr Gesundheit und sie ihm Frieden, keine Ahnung, warum ausgerechnet «Frieden», was für ein merkwürdiger Wunsch.
Dann betritt sie das Treppenhaus, von dem sie schon weiß, dass der Fahrstuhl wie immer kaputt ist, aber selbst, wenn er funktionierte, würde sie die zwei Stockwerke zu Fuß gehen, denn sie ist eine, die allen immer alles beweisen will, auch, dass sie nicht außer Atem ist, wenn sie zwei Stockwerke nach oben geht oder drei oder fünf. Niemals außer Atem und sich möglichst wenig selbst hinterfragen, dann schafft man es bis ganz nach oben, ohne dass jemand jemals merkt, wie müde man ist. Oben angekommen ist sie natürlich vollkommen fertig, die Zigaretten, jaja, und das letzte Mal beim Sport war sie vor einem Jahr, aber natürlich ist sie noch Mitglied im Fitnessclub, denn solange man nicht kündigt, hat man wenigstens noch vor, hinzugehen.
Im Wartezimmer sitzen drei schwangere Frauen, zwei in Begleitung von Männern, ein Echokardiogramm pocht aus dem Nebenraum. Lustig, denkt Katharina, man hört einen Menschen, der in einem anderen Menschen herumliegt und den niemand sehen kann, aber alle freuen sich auf ihn und er selbst weiß noch gar nichts von sich. Die Frauen streicheln die ganze Zeit ihre Bäuche und starren gedankenverloren vor sich hin, Katharina verspürt den Wunsch, auch über so einen Bauch zu streicheln, die harte, warme Haut zu spüren, unter der eine Alienmaschine einen neuen Menschen baut. Sie wird aufgerufen und betritt das Zimmer der Gynäkologin, die hinter ihrem Schreibtisch sitzt und etwas in ihren Laptop tippt. Als Katharina begonnen hatte, ihre Symptome zu googeln, hatte sie fast nur sehr beunruhigende Ergebnisse gefunden, die alle gar nicht gut klangen, und sich danach krank gefühlt, der Schlaf kam noch später als ohnehin schon, sie lag wach, die Uhr sprang auf zwei Uhr, auf drei Uhr, die Panik stieg in ihr hoch, was, wenn ich krank bin, ernsthaft krank, mein Herz rast doch in letzter Zeit so. Meistens schlief sie nicht mehr vor vier Uhr am Morgen ein, die Kiefer so fest aufeinandergepresst, dass ihr das ganze Gesicht am nächsten Tag wehtat und sie Migräne bekam. Sie hatte sich mit Arbeit abgelenkt, mit Problem-Dokus und welchen über Wale, beide endeten immer so traurig und handelten am Ende doch immer nur vom Sterben, wenigstens dachte sie kurz nicht an ihr eigenes, während es zwei Uhr wurde und drei Uhr und sie immer wieder auf ihr Handy sah, aber alles war besser als fühlen, sogar denken war besser und schlafen war am besten. Oft wachte sie auf und hatte schon Herzrasen, das Bett war nass geschwitzt, alles klamm, alles eklig, alles einfach falsch. Sie schaute sich regelmäßig YouTube-Tutorials an, in denen erklärt wurde, wie die Augenringe verschwinden, sie hatte vier verschiedene Concealer gekauft, aber die dunklen Schatten sah man trotzdem noch und dazu die kleinen Fältchen, die jetzt immer mehr wurden, sie fühlt sich alt und hässlich, wenn sie morgens in den Spiegel sieht, und zugenommen hat sie auch, es ist, als würde ihr Körper nicht mehr so richtig ihr gehören, ständig nervt der mit irgendwas und Katharina tut ihr Möglichstes, ihn zum Schweigen zu bringen, aber je wütender sie gegen ihn vorgeht, desto vehementer scheint der Körper sie für etwas bestrafen zu wollen, bloß für was, denkt sie, fürs Älterwerden? Für die Jahre voller Arbeit und Selbstvernachlässigung? Für den vielen Wein und die Zigaretten? Zwei Espresso aus dem teuren neuen Kaffeevollautomaten später vergisst sie dann jedes Mal alles wieder, sie verschwindet in der Arbeit, aber trinkt gewissenhaft zwei Liter Wasser nebenbei, weil das gegen die Augenringe helfen soll.
Sie würde der Ärztin gerne davon erzählen, aber sie traut sich kaum zu atmen und entschuldigt sich, als sie sich auf den ihr angebotenen Platz am Schreibtisch der Gynäkologin setzt, «Sorry», sagt sie, dabei hat sie gar nichts falsch gemacht, aber ihre bloße Existenz ist ihr schon unangenehm und sie ist ein bisschen wütend auf sich, denn sie hatte sich vorgenommen, sich dieses Jahr weniger zu entschuldigen, das machen nur Frauen, hatte sie gelesen, vermeintlich schwache Frauen, hatte der Autor geschrieben, die ihre Unsicherheit in vorauseilendem Gehorsam verstecken, erst mal direkt entschuldigen und die andere Person beschwichtigen, ich bin nicht der Feind, siehst du, ganz harmlos, Entschuldigung.
Die Ärztin bittet sie nach einem kurzen Gespräch, sich untenherum freizumachen, und sie fragt sich in der kleinen Umkleide mitten im Zimmer wieder einmal, warum es dort einen Vorhang gibt, schließlich ist am Ausziehen selbst wirklich absolut nichts schlimmer, als danach halb nackt und breitbeinig im Stuhl zu liegen. Die Ärztin macht zuerst einen Abstrich und dann einen Ultraschall, der schrecklich lange dauert. Immer wieder markiert sie Bereiche auf dem Bildschirm und sieht besorgt aus, «Schwanger bin ich sicher nicht», versucht Katharina einen Witz, aber die Ärztin reagiert gar nicht darauf. Nach einer gefühlten Ewigkeit ist sie fertig, aus dem Ultraschallgerät sind in der Zwischenzeit sehr viele kleine Ausdrucke gekommen, Screenshots ihres Uterus. Katharina zieht sich an und betet, dass sie nicht wieder HPV hat, obwohl die Ergebnisse für den Abstrich ja sowieso noch auf sich warten lassen werden, aber das war schon einmal so gewesen und alle waren so ernst damals, Pap IIIp hatte man ihr gesagt und es war ein großes Theater gewesen, alle zwölf Wochen hatte sie einen Abstrich machen lassen müssen und sich schon als kinderlose Dreißigjährige gesehen, ohne Uterus, leider kaputt, ein Mängelexemplar. Aber dann hatten sich die Zellen wieder eingekriegt, nach neun Monaten war der Spuk vorbei gewesen und Katharina doch noch gerade so eine funktionstüchtige Frau geblieben, so hatte sie es empfunden, die alte Maschine war wiederhergestellt und immer noch bereit zum Reproduzieren.
Die Ärztin sieht angestrengt aus, sie beugt sich immer wieder über die Bilder, Katharina kann schwer sagen, wie alt sie wirklich ist, irgendwas zwischen sechzig und siebzig, sie wünscht ihr Letzteres, weil alles an ihr sagt, dass sie keinen Bock mehr auf den Scheiß hat, auf den Schleim und das Blut und das nervige Erklären immer, als gäbe es kein Google, aber gleichzeitig ist sich Katharina sicher, dass sie hinausgeschmissen würde, wenn sie jemals einen Satz in ihrer Nähe mit den Worten «Ich habe das gegoogelt» beginnen würde. Die Ärztin räuspert sich schließlich und dann sieht sie noch ernster als vorhin aus und sagt den Satz, der alles verändern wird: «Ich habe leider nicht so gute Neuigkeiten für Sie.»
Zwanzig Minuten später steht Katharina vor dem Behandlungszimmer, das Herz, es rast, es mischt sich mit dem Pochen des Echokardiogramms, sie geht betäubt am Tresen der MFA vorbei, sie sagt nicht Tschüs, sie geht einfach weiter und erst als sie auf der Straße steht, kommen die Tränen und das Herz, es pocht nicht mehr, es steht einfach still.
Es gibt tausend gute Gründe, das eigene Leben zu ändern, aber keiner davon sollte sein, dass der eigene Körper versagt. Vor allem nicht, wenn man erst achtunddreißig ist, denkt sie und tippt zum fünften Mal die Nachricht an den Kollegen, der immer alles fragt, statt ein einziges Mal selbst nachzusehen. Sie will nicht aggressiv und ungehalten sein, aber am liebsten würde sie «Fick dich und deine Faulheit immer, kannst du eigentlich irgendwas auch mal selbst rausfinden, immer muss ich deine Scheiße machen und du kriegst mit Sicherheit mehr Geld als ich, ich bin nicht deine verfickte Assistentin» schreiben, aber natürlich sagt sie: «Na klar suche ich dir das raus, kleinen Moment», und dann schickt sie ihm den Link. Sie schreibt Johanna eine Nachricht, Johanna antwortet sofort, sie kann gerade nicht, zu Hause ist viel los, die Kinder schreien rum, Katharina schickt ihr eine Sprachnachricht und erzählt trotzdem, was passiert ist, Johanna hört die Nachricht nicht ab. Der Wind drückt gegen das Fenster ihrer winzigen Wohnung, in der es immer dunkel ist und ab Herbst ständig zu kalt. Wenn sie in den Flur geht, hört sie die Nachbarin ein Stockwerk tiefer einen Song im Radio mitsingen, sie hat immer die Tür offen, früher dachte Katharina, das sei wegen des Durchzugs, weil das Haus so gebaut ist, dass es fast unmöglich ist zu lüften, außer man reißt die Wohnungstür weit auf und alle Fenster, dann, mit etwas Glück, kriegt man im Sommer ein laues Lüftchen ab in den stickigen Einzimmerwohnungen; und im Winter ist sie dann unentwegt damit beschäftigt, die Kälte draußen zu halten, es scheint, als wäre überall noch eine Ritze, noch ein kleines bisschen zu viel Platz, man kriegt die Wohnung nicht warm, die Wärme flieht wie die Berliner an Weihnachten aus der Stadt, die Kälte ist dafür überall und trotzdem lässt die Nachbarin ihre Wohnungstür einen Spalt breit offen, und Katharina denkt, das liegt daran, dass sie sich dann nicht so alleine fühlt, denn manchmal, wenn sie etwas beim Lieferdienst bestellt, denkt der arme Bote, dass er schon da ist, und läuft in die Wohnung der Nachbarin, dann ruft sie nicht «Huch» oder «Nein», sondern voller Freude Katharinas Namen durchs Treppenhaus und lacht dabei und Katharina ruft «Hallo, Frau Nachbarin!» und dann geht sie dem Boten entgegen, damit er ihre guten Absichten erkennt, auch wenn es eine sinnlose Tat ist, nur ein Symbol, nichts, was beiden nutzt, denn das Trinkgeld hat sie natürlich vergessen und dann müssen sie beide trotzdem hinauf, aber wenigstens zusammen.
Sie will seit ihrem Einzug hier ausziehen, denn die Wohnung ist zu klein für jemanden, der von zu Hause aus arbeitet, und die Nachbarn sind laut, diese Studenten auf der Dachterrasse, die ihr im Sommer den letzten Nerv rauben. Aber immer hat sie es vor sich hergeschoben, immer hat sie gedacht: Wenn ich den richtigen Mann treffe, dann ziehen wir zusammen in eine größere Wohnung, mit Balkon und Badewanne, nach Mitte vielleicht, da ist es ruhiger als im Wedding und sauberer, da kann man gut Kinder großziehen, da kann man sich eine Zukunft aufbauen. Seit sie vor sechs Jahren nach Berlin gezogen ist, denkt sie, dass alles nur ein Provisorium ist und sie bald ohnehin aufs Land zieht oder in den Prenzlauer Berg, was im Grunde fast das Gleiche ist. Seit sie hier ist, empfindet sie die große, laute Stadt als eine sehr anstrengende Aufgabe, die sie bewältigen muss, aber irgendwie weiß sie auch nicht, wohin sie sonst gehen soll, und die Arbeit macht ihr Spaß und ihre Freunde sind hier und eines Tages lernt sie auch den Mann kennen, mit dem sie sich dann das Leben aufbaut, das sie endlich richtig glücklich machen wird, und dann gründen sie eine Familie und alles fühlt sich gut an, jedenfalls besser als jetzt.
Die Nachrichten bei Slack verschwimmen vor ihren Augen, sie will nicht schon wieder weinen, gleich ist ein wichtiger Call und da sollte sie nicht mit roten, verquollenen Augen und zerlaufener Wimperntusche in die Kamera leiden, sie hat sich extra noch mal geschminkt, nachdem sie im Uber alles unter Rotz und Wasser gesetzt hatte, der Fahrer schaute immer wieder nervös in den Rückspiegel und sie entschuldigte sich immer und immer wieder, es tue ihr leid, es sei gleich besser, wirklich, kein Grund zur Panik, dabei bestand sie regelrecht aus Panik und wusste, dass gleich gar nichts besser oder auch nur gut sein würde, aber solange sie das dem Fahrer versicherte, sagte sie es irgendwie auch zu sich selbst, es wird alles wieder gut, alles nicht so schlimm, nix passiert.
Als er sie abgesetzt hatte vor dem Haus, waren ihr die Schlüssel in eine Pfütze gefallen, so zittrig war sie gewesen und Bian, die gerade eine Zigarette vor ihrem Nagelstudio rauchte, hatte sie neugierig gemustert und gefragt, ob alles in Ordnung sei, und sie hatte mit ihrem verheulten Gesicht gelacht und gesagt, dass alles super sei, komme bald mal wieder vorbei, die Nägel sehen echt wild aus, nur viel Stress, haha, und dann hatte sie endlich den verdammten Schlüssel ins Schloss bekommen und war in den Hausflur geflüchtet. Auf den Briefkästen lagen wie immer Sachen der Nachbarin, eine niemals endende Dauerausstellung der Dinge, die sie nicht mehr brauchte.
Katharina hatte schon einige Kuriositäten hier gesehen, eine ganze Sammlung von Peter-André-Schallplatten, fünf Packungen Mehl, eine kleine Dinosaurier-Bücher-Sammlung und einzelne Schuhe, die Sachen lagen immer ein paar Tage auf den Kästen und dann verschwanden sie und Katharina fragte sich jedes Mal, ob die beiden Hausmeister sie entfernt hatten oder jemand sie tatsächlich mitgenommen hatte. Sie konnte auch nicht mit Sicherheit sagen, ob die Sachen wirklich von der Nachbarin waren, ebenso wie der weiße Plastik-Tannenbaum, den jedes Jahr jemand aufstellt und niemand so genau weiß, wer ihn mit rotem Absperrband und lila Lametta schmückt. Aber all das gehört zu den Dingen, die ihr an diesem Haus gefallen, und sie fragt nicht nach, damit sie so bleiben, denn wenn man Wunder hinterfragt, verschwinden sie zu oft und dass alle paar Wochen neue erstaunliche Dinge im Hausflur auftauchen, die Katharina zum Lachen bringen, ist genug Wunder für diese Stadt, in der man nicht überlebt, wenn man aufhört zu staunen, dann stirbt man eigentlich sofort.
Als sie endlich in ihrer Wohnung angekommen war, hatte sie sich theatralisch an der Wohnungstür hinuntergleiten lassen, bis Kasper sich an sie geschmiegt und ihr auf den Schoß gekrochen war. Ihr Kater war eigentlich eine Katze, bloß hatten sie das alle zu spät gemerkt und dann hatte sie schon seit Monaten auf ihren Namen gehört und die Tierärztin und Katharina hatten es falsch gefunden, sie noch einmal umzubenennen, schließlich war Kasper ja keine neue Katze und Geschlecht sowieso nur ein soziales Konstrukt. Kasper war eigentlich ein totales Arschloch, sie interessierte sich weder für Katharina noch für sonst etwas außer dem ekligen Dosenfutter. Wenn Katharina weinte, ging Kasper einfach weg oder setzte sich ein paar Meter vor ihr auf den Boden, immer mit dem Rücken zu ihr, und schaute sich manchmal genervt nach ihr um, so als wolle sie sagen, dass sie als gute Katze natürlich für sie da war, aber eigentlich wirklich keinen Bock auf das Theater hatte. Heute schien das anders gewesen zu sein. Kasper hatte sich an sie gedrückt und fast war Katharina gar nicht mehr traurig gewesen, weil sie so überrascht und glücklich gewesen war, dass Kasper ihr einmal im Leben Zuneigung zeigte. Zum Glück hatte Kasper dann einen ihrer ekelhaften Fürze losgelassen und Katharina hatte so gewürgt, dass Kasper genervt wieder in ihre Höhle verschwunden war, und so war alles wie immer und Katharina hatte sich einen Espresso gemacht und Slack geöffnet.
Beim Videocall mit den Kollegen lacht sie heute besonders laut über Sörens schlechte Witze, der gerade von Teneriffa erzählt und wie lustig diese Vogelsprache dort sei, und Katharina will sagen, dass die Pfeifsprache eigentlich nur auf La Gomera benutzt wird und dass das nicht «lustig», sondern ziemlich cool ist, aber heute fehlt ihr die Kraft dazu, heute will sie nicht einmal ihren liebsten Ort auf der ganzen Welt verteidigen, heute will sie einfach nur noch fertig werden und danach für immer schlafen können oder zumindest so lange, bis die Angst still ist.
Sie hört ohnehin nur halb zu, denn neben dem Browserfenster des Videocalls sind noch sieben andere geöffnet, zwischen denen sie hin und her klickt, Nachrichten beantwortet und Tabellen aktualisiert, und dann ist da noch das eine, das sie vorhin geöffnet hat und das sie nicht anklicken will, aber irgendwie doch sollte, später, wenn sie mit der Arbeit fertig ist, und das ist meistens so spät, dass sie einfach mit dem Laptop im Bett einschläft, immer online, immer erreichbar, immer für alle da, na klar. Der Call zieht sich, obwohl es mittlerweile schon halb sieben ist, es gibt Diskussionen um einen Kostenvoranschlag und die Quartalszahlen, Katharina weiß, sie müsste jetzt etwas sagen, sie ist gut darin, die Kunden einzufangen, selbst wenn alle angespannt sind, lockert sie das Ganze auf und moderiert das Gespräch so zu Ende, dass alle ein gutes Gefühl haben und die Geschäftsführung ihr später schreibt, wie wertvoll sie für das Unternehmen sei, und dann fühlt Katharina sich stolz und unbesiegbar. Aber heute schafft sie es nicht, das Herz pocht bis in den Kopf, sie massiert sich die Schläfen und greift nach ihrem Vape, gerade rechtzeitig erinnert sie sich daran, dass die Kamera eingeschaltet ist und sie nicht vor den Kunden rauchen kann, wie unprofessionell von ihr, sie bewegt den Vape jetzt in der Hand, als sei er ein Spielzeug, und Alina, ihre liebste Kollegin, schreibt ihr bei WhatsApp: «Na, haste gerade fast geraucht, haha?», und sie verkneift sich ein Grinsen und legt den Vape verlegen auf den Schreibtisch zurück. Alina schreibt ihr, dass sie später noch auf einen Wein vorbeikommen will, Katharina nickt geistesabwesend und Alina schreibt: «Girl, wie du einfach im Call nickst aus dem Nichts, was ist los heute, hahaha?», und sie schaltet die Kamera aus und schreibt in den Chat, dass ihre Verbindung schlecht sei, und dann klickt sie einfach auf den roten Knopf und es wird still, sie ist einfach rausgegangen und starrt auf den Bildschirm und dann klappt sie den Laptop zu und schreibt Alina, dass sie sich in einer Stunde in der Kneipe am Eck treffen.
Die Kneipe gehört Holgi, einem alten, zahnlosen Berliner Wirt mit Rheuma und Knieproblemen und seiner Hündin Fine, die halb blind ist und Männer hasst, kein Mann außer Holgi darf sie anfassen, sie knurrt und bellt, als hinge ihr Leben davon ab, es ist, als würde sie schimpfen und toben gegen alle Männer dieser Welt. Alle Stammgäste halten sich von ihr fern, aber wenn sich mal jemand in die hundert Jahre alte Kneipe verirrt und in Kindersprache gebückt auf Fine zuläuft, um sie zu streicheln, warten alle voller Spannung, wie nahe Fine den fremden Mann heranlässt, wie sie ihn mit großen lieben Augen und schwanzwedelnd ganz nah zu sich lockt, um dann, kurz bevor die Hand ihr Fell berührt, komplett auszurasten. Die Männer erschrecken sich jedes Mal zu Tode, die Stammgäste lachen und Holgi ruft Fine im strengen Ton zu sich und die Hündin trottet langsam um die Theke und legt sich in ihr Körbchen, das genau auf der Grenze zwischen Theke und Gastraum liegt, weil Holgi keine Lust auf Stress mit dem Gesundheitsamt hat. Und obwohl sich diese Szene seit Jahren immer wiederholt, wird sie niemals langweilig und Katharina denkt oft, dass Fine und Kasper gute Freunde sein könnten: Wäre Kasper überhaupt jemals zu irgendeinem Lebewesen freundlich, dann wohl zu Fine.