9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Es geht weiter mit Sörensen: Band 2 nach «Sörensen hat Angst» - auch als Film (ARD) von und mit Bjarne Mädel - der «Tatortreiniger» mit seinem Regiedebüt! Es ist kurz vor Weihnachten. Und ausgerechnet jetzt passiert etwas Schlimmes im sonst so beschaulichen Katenbüll. Dem jungen Ole Kellinghusen läuft mitten in der Nacht eine junge Frau vors Auto: blind, abgemagert, trotz der eisigen Kälte im viel zu dünnen Nachthemd. Jette sagt nicht, wo sie herkommt, sie nennt keinen Nachnamen. Als Kriminalhauptkommissar Sörensen endlich die Adresse herausfindet, eröffnet sich ihm ein Geflecht aus Mord, religiösem Wahn und gut gehüteten Geheimnissen. Und das, wo er doch gerade das Medikament gegen seine Angststörung absetzen will ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 568
Sven Stricker
Sörensen ermittelt
Kriminalroman
Wer ohne Sünde ist …
Es ist kurz vor Weihnachten. Und ausgerechnet jetzt passiert etwas Schlimmes im sonst so beschaulichen Katenbüll. Dem jungen Ole Kellinghusen läuft mitten in der Nacht eine junge Frau vors Auto: blind, abgemagert, trotz der eisigen Kälte im viel zu dünnen Nachthemd. Jette sagt nicht, wo sie herkommt, sie nennt keinen Nachnamen. Als Kriminalhauptkommissar Sörensen endlich die Adresse herausfindet, eröffnet sich ihm ein Geflecht aus Mord, religiösem Wahn und gut gehüteten Geheimnissen. Und das, wo er doch gerade das Medikament gegen seine Angststörung absetzen will …
Sven Stricker wurde 1970 in Tönning geboren und wuchs in Mülheim an der Ruhr auf. Er studierte Komparatistik, Anglistik und Neuere Geschichte. Seit 2001 arbeitet er als freier Wortregisseur, Bearbeiter und Autor und gewann in dieser Funktion mehrmals den Deutschen Hörbuchpreis. Mit «Sörensen hat Angst» war Sven Stricker für den Glauser-Preis 2017 nominiert, die gleichnamige Verfilmung gewann 2021 den Deutschen Fernsehkrimipreis sowie den österreichischen Fernsehpreis Romy. 2022 wurde Stricker für das Drehbuch mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Er lebt in Potsdam und hat eine Tochter.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2018
Copyright © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Redaktion Tobias Schumacher-Hernández
Covergestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt
Coverabbildung Michael Ihle
ISBN 978-3-644-40404-5
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
www.rowohlt.de
Für Juli
«Gott sei Dank, ich bin noch immer Atheist.»
Luis Buñuel
Es war wie eine Geburt. Sie sog die eiskalte, stechende Luft ein, als wäre es das erste Mal. Das Gefühl war so befreiend, so überwältigend, dass sie nicht einmal merkte, wie sehr sie in ihrem dünnen, flatternden Nachthemd fror.
Sie wusste, sie durfte nicht stehen bleiben, keine Zeit verlieren, musste so schnell wie möglich weiter, fort von hier. Doch fort wohin? Sie reckte die Nase in die Luft, ruckartig, wie ein verschrecktes Tier, das Witterung aufgenommen hatte. Alles war fremd für sie, neu. Es war Nacht, mittendrin, keinesfalls kurz vor dem anbrechenden Morgen, es war Winter, der Boden war nass und hart unter ihren nackten Füßen. Lag da vielleicht sogar Schnee? Sie tastete sich unentschlossen voran, einen Fuß vor den anderen, die Arme ausgestreckt. Einige der Zweige konnte sie beiseitebiegen, andere aber erwischten sie wie peitschende Ruten, schlugen sie, streiften sie, zogen feine, dünne Risse in ihre Haut, hinterließen blutrote Striemen. Das musste sie sein, die Strafe Gottes. Sie senkte den Kopf und nahm die Arme höher. Das Weiche, Nasse unter ihr war das kleine Stückchen Wiese, auf dem sie in manchen Nächten hatte laufen dürfen, immer im Kreis herum, um ihre Muskeln zu trainieren, wie Papa gesagt hatte.
Papa.
Papa hatte einen Fehler gemacht. Zum ersten Mal überhaupt. Er war zu ihr herunter gekommen, in ihr Zimmer, hatte das Essen gebracht, so wie jeden Abend. Sie hatte an seinen Schritten gehört, dass er nicht ganz bei sich war, nicht sicher auf den Beinen. Er hatte gar nicht wie er selbst gerochen. Im Türrahmen stehen geblieben war er, unendliche Sekunden, einfach so, er hatte gerochen wie manchmal, wenn er undeutlich sprach und noch schlechtere Laune hatte als sonst. Sie hatte ihn gefragt, was los war, aber er hatte nichts gesagt, sie nicht beschimpft oder getadelt, nein, geschwiegen hatte er, das Tablett auf den Tisch gestellt, fast vorsichtig, und dann das Zimmer wieder verlassen, polternd, schwankend, der Rhythmus seiner Schritte war ein anderer gewesen als üblich.
Sie hatte auf dem Bett gesessen, auf der Kopfseite, ganz hinten an der Wand, in ihrem Nachthemd, die Beine angewinkelt, und ihn gehen gehört, zwei Schritte bis zur Tür, Pause, das Umdrehen der Füße, dieses leichte Wischen auf dem Boden, dann das Schließen der Tür, das Einrasten des Schlosses. So war der Ablauf. Der immergleiche Ablauf. Aber heute war nichts eingerastet. Heute nicht. Er hatte es vergessen. Wie konnte er das bloß vergessen haben? Jette hatte sofort begriffen, was das bedeutete, Panik war in ihr hochgestiegen, Panik und Euphorie und Aufregung, das pochende Herz schien sich aus dem Brustkorb befreien zu wollen, es tat ihr weh. Sie war aufgesprungen, hatte an der Tür gelauscht, bis das unrhythmische, schwerfällige Tapp-Tapp-Tapp auf der Treppe verklungen war, ihren viel zu lauten Atem eingefangen, weitere zehn Sekunden gewartet – und dann die Klinke nach unten gedrückt. Ganz vorsichtig, so als stünde sie eventuell unter Strom, als könnte das leiseste Quietschen sie bereits verraten. Aber Papa war ja oben, vielleicht im Wohnzimmer, ein fremder Ort, den sie noch nie betreten hatte. Das Wohnzimmer war wie der am weitesten entfernte Planet im ganzen Universum für sie. Unerreichbar. Außerhalb ihrer Vorstellungskraft.
Die Tür hatte nachgegeben und war ihr sanft entgegengeschwungen, als wollte sie helfen, als wäre sie auf Jettes Seite. Ihr Gehirn hatte ausgesetzt. Alles, was nun gefolgt war, war mehr oder weniger automatisch abgelaufen. Sie hatte einen Fuß vor den anderen gesetzt, langsam, aber fest, stieß nicht gegen den Absatz, den Weg nach oben hatte sie sich gemerkt, sie wusste, sie musste die fünfte, knarrende Stufe auslassen, wollte sie keinen verräterischen Krach machen. Sie machte einen behänden Satz, drohte wegzuknicken, rücklings herunterzufallen, fing sich, hielt sich am Geländer fest und ging den 45-Grad-Bogen ans obere Treppenende. Auch hier war eine Tür. Aber sie war nicht abgeschlossen. Das war sie nie. Das hätte sie gehört.
Sie hatte gelauscht. Stille. Die Tür vorsichtig geöffnet. Es roch modrig, scharf und nach dem Zeug aus Papas Mund. Sie lauschte erneut. Im Wohnzimmer lief der Fernseher, er war sehr laut, da lachten Menschen, viele Menschen, Papa klapperte mit irgendetwas, aber das war Jette egal, Hauptsache, er war abgelenkt. Sie wandte sich nach links, da ging es durch einen schmalen Durchgang in die Küche. Und dort war die Tür zum Garten. Das war der Weg, den sie kannte. Der eine Weg. Der einzige.
Es waren vier Schritte, vorbei an dem links von ihr brummenden Kühlschrank, vorbei an der rechts über ihr immer ein wenig bedrohlich tickenden Wanduhr. Nicht gegen den Esstisch stoßen, dachte sie. Zwei Schritte nach rechts. Einer nach links. Dann stand sie da, direkt vor der Tür zum Garten. Zur Freiheit. Sie spürte den Luftzug, der durch die Ritzen drängte. Wie mochte die Tür bloß aufgehen? Sie hatte sie noch nie geöffnet, natürlich nicht, das hatte immer Papa gemacht. Sie tastete am Rahmen entlang, da war Glas, viel Glas, links ein Widerstand, war das die Klinke? Nein, ein Hebel. Sie betastete ihn und zog ihn nach unten. Ihre ganze Kraft musste sie dafür aufwenden. Die Tür hob sich in einer zügigen Gegenbewegung, es gab ein ächzendes, tiefes Geräusch, viel zu laut war es, aber Papa war ja abgelenkt, er roch komisch, er war nicht er selbst, im Fernsehen lachten Menschen. Sie fand einen Knauf, zog daran, die Tür öffnete sich, ließ eisige Winterluft hinein, Jette schlüpfte hinaus, dachte sogar daran, die Tür so weit wie möglich wieder zuzuziehen. Und nun?
Nun stand sie da, im Garten, sog die Luft ein, fror, wandte sich zu allen Seiten und war hilflos. Desorientiert. Hatte Entscheidungen zu treffen, das war sie nicht gewohnt. Ging wahllos einige Schritte, ließ sich Zweige gegen das Gesicht schlagen, tastete sich immer weiter vorwärts, bis große, raue Widerstände ihr den Weg versperrten. Bäume. Spitze Gegenstände schnitten ihr die Füße auf. Sie ignorierte es. Den Kopf gesenkt, die Hände ausgestreckt, ging sie immer weiter vorwärts. Ob sie zehn Meter weit gekommen war oder fünfzig, sie wusste es schon bald nicht mehr. Ob sie immer noch in Sichtweite war? Und was hieß das überhaupt? Wie weit musste man weg sein, um nicht mehr in Sichtweite zu sein? Sie arbeitete sich vorwärts. Meter für Meter, hoffentlich ging sie nicht immer nur im Kreis.
Plötzlich, nach unendlich mühsamen Minuten, Stunden, Jahren, änderte sich die Luft, änderte sich der Boden. Er war nun glatter, leiser. Kälter. Aber es war besser auf ihm zu laufen. Man kam leichter vorwärts. Jette spürte, dass sie eigentlich überhaupt keine Kraft für all das hatte, dass sie erschöpft war. Jetzt schon. Natürlich, dies war vielleicht die weiteste Strecke, die sie jemals gegangen war, und wirklich weit konnte sie noch nicht gekommen sein. Sie musste sich zusammenreißen. Alles aus ihrem fehlerhaften Körper herausholen. Irgendwann würde sie irgendwo ankommen. Und im Moment, ja, im Moment ging es nur darum, zu laufen. Sich zu trauen. Immer wenn es unter ihren Füßen feucht wurde, erdig, korrigierte sie ihre Schritte, blieb auf dem harten Untergrund. Sie keuchte, ihre Seiten stachen, ihr Herz schlug immer schneller, sie spürte ihre Zehen nicht. Außer einmal, als sie sich an einem spitzen Stein stieß und Angst hatte, der große Zeh wäre gebrochen. Warum hatten die Finger eigentlich Namen und die Zehen nicht?, dachte sie. Wenn der dicke Finger Daumen heißt, heißt der große Zeh jetzt Zaumen, dachte sie. Zaumen. Der Zaumen schmerzte.
Der Weg machte Kurven, nicht oft, aber doch. Ihr Oberkörper beugte sich weit nach vorne, sie ging fast gebückt, einmal fiel sie hin, rappelte sich wieder auf, die Natur reagierte nicht, blieb still und unbeeindruckt. Was, wenn sie längst wieder auf dem Weg zurück war, versehentlich, wenn gleich Papa vor ihr auftauchen würde, wütend, sehr, sehr wütend, unendlich wütend? Wenn er sie nicht nur beschimpfte, sondern auch bestrafte, mit dem Stock oder dem Gürtel? Wenn er sie für all die Sünden körperlich leiden ließ, die sie selbst und die anderen Menschen begangen hatten? Denn das war doch ihre Aufgabe, so hatte Papa es immer und immer wieder behauptet. Jette glaubte nicht, dass das stimmte. Sie glaubte nicht, dass das ihre Aufgabe war, dass sie überhaupt eine Aufgabe hatte. Jette bemerkte, dass sie einen eisernen Willen hatte. Sie wollte nur laufen. Je weiter sie lief, desto weiter blieb alles hinter ihr zurück.
Der Wind nahm zu, er peitschte ihr entgegen, trug salzige, nasse Luft, und irgendwann transportierte er ein Geräusch, das anders war, das nicht hineinpasste in die Umgebung und das sich Jette aus größerer Entfernung näherte. Ihr war in der ganzen Zeit keine Menschenseele begegnet. Zumindest nicht, dass sie es gehört hätte. Vielleicht gibt es hier gar keine Menschen, hatte sie zwischendurch gedacht. Keine Menschen außer Papa. Vielleicht war sie auf einer Insel. Auf einer Insel ohne Menschen. Wie Robinson Crusoe. Die Geschichte kannte sie, die hatte Papa ihr vorgelesen. Das Geräusch kam näher. Es war ein Brummen, ein tiefes, leicht stotterndes Brummen. Vielleicht ein Wolf? Papa hatte sie immer vor den Wölfen gewarnt. Dadraußen, hatte er gesagt, wären jede Menge Wölfe. Gierige, blutdurstige Wölfe, die sie reißen würden, sollte sie auch nur einen Fuß in die Welt setzen. Die Wölfe und der Teufel und der Tod. Jette blieb stehen, spürte ihre tauben Füße, krümmte sich, richtete sich wieder auf. Das Brummen war jetzt mit einem Mal sehr nah. Das war gewiss kein Wolf. Jette schlang schützend die Hände um den Körper. Dann änderte sich das Brummen abrupt, gab es ein quietschendes Geräusch, das Brummen bewegte sich nicht mehr, stotterte vor sich hin, ein helles Klacken ertönte, dann schwang etwas auf, und sie hörte Schritte. War das Papa? Holte er sie wieder zu sich? Sie duckte sich, ging in die Knie, versuchte sich unsichtbar zu machen, indem sie den Kopf zwischen den Beinen versteckte und schützend die Arme darüber verschränkte.
«Scheiße», sagte eine Stimme. Sie war tief, aber jung. Viel jünger als die ihres Vaters. «Was ist denn mit dir …?»
Die Schritte kamen auf sie zu. Eilig. Sehr, sehr eilig. Jette wimmerte.
«Keine Angst», sagte die Stimme, jetzt nah. «Keine Angst. Ich tue dir nichts. Ich helfe dir. Ja? Ich helfe dir.»
Jette schüttelte den Kopf. Die Stimme klang nett, aber wenn sie sich helfen ließ, würde sie am Ende wieder bei Papa landen, und dann wäre sie endgültig verloren. Jette hatte noch nie eine freundliche Stimme erlebt, die ihr geholfen hätte.
«Ich bin Ole», sagte die Stimme sanft. «Wie heißt du?»
Jette schüttelte erneut den Kopf.
«Du blutest ja», sagte der Mann namens Ole. «Komm. Im Auto ist es warm. Du musst dich aufwärmen.»
Jette stand auf, streckte die Nase in die Luft, drehte den Kopf hin und her und erwog die Fluchtmöglichkeiten. Was, wenn sie einfach zur Seite ausbrach?
Der Mann zögerte. «Du kannst mich nicht sehen, oder?», sagte er dann.
Jette schüttelte den Kopf.
«Aber sprechen kannst du?», fragte der Mann.
Jette nickte. Und schüttelte den Kopf.
«Musst du ja nicht», sagte der Mann. «Aber, Alter, du erfrierst! Wir haben minus vier Grad.»
Er berührte vorsichtig Jettes Schulter. Sie zuckte zurück.
«Nicht anfassen!», brüllte sie, es war eine Eruption, die Bäume am Straßenrand spendierten ein Echo, ihre Worte zerschnitten die Luft.
«Alles klar, alles klar», rief der Mann erschrocken. «Entschuldigung! Drei Schritte geradeaus, dann nach rechts drehen und stehen bleiben, okay?»
Jette zögerte, trat von einem Bein aufs andere, dann nickte sie, lief drei Schritte geradeaus und drehte sich nach rechts.
«Äh, vier», sagte Ole. «Das ist die Kühler … vier Schritte. Einen noch.»
Jette machte einen weiteren Schritt und drehte sich erneut zur Seite. Sie hörte in der Nähe eine Tür, dann kroch der Mann namens Ole irgendwo hinein und öffnete direkt vor ihr eine weitere Tür. Sie klang anders als die, die sie von sich zu Hause kannte. Dumpfer. Hohler. Niedriger.
«Steig ein», sagte er. «Vorsicht mit dem Kopf.»
Sie zögerte. «Bist du der Teufel?», fragte sie.
«Nein», sagte Ole sachlich. «Ganz bestimmt nicht.»
Jette tastete, fand einen Rahmen, kletterte leicht nach unten, das Brummen veränderte sich und schien nun aus dem Inneren des Kastens selbst zu kommen. Dann saß sie auf einem Sessel, der hart, aber dennoch bequem war.
«Zieh die Tür hinter dir zu», sagte der Mann. Jette rührte sich nicht.
«Mach mal, bitte. Sonst erfrieren wir hier beide.»
Sie fand einen Griff und zog daran. Die Tür knallte zu. Es war laut.
«Käfig», sagte sie und musste die Tränen zurückhalten.
War sie gefangen? Schon wieder? Sie schlug die Hände vors Gesicht. Das tat sie immer, wenn etwas zu schrecklich zu werden drohte.
Der Mann neben ihr zog ebenfalls eine Tür zu. «Nein», sagte er. «Das ist ein Auto. Das kennst du doch, du bist doch schon mal mit einem gefahren, oder?»
Jette schüttelte den Kopf.
«Was?», fragte der Mann. «Noch nie?»
Jette schüttelte den Kopf erneut.
«Gut», sagte der Mann. «Ist ja auch Umweltverschmutzung. Ich fahr eigentlich immer per Anhalter. Da macht die Verschmutzung der andere, und ich bin nur dabei und kann mir einreden, dass ich nicht schuld bin. Weil der ja sowieso gefahren wäre. Wo ist denn deine Familie?»
Jette schüttelte den Kopf.
«Kannst du mir sagen, wo du wohnst?»
Jette schüttelte den Kopf jetzt so heftig, dass ihr Nacken sich verspannte und zu schmerzen begann.
«Es ist fast Mitternacht», sagte Ole. «Was machst du denn bloß hier? Bist du abgehauen?»
Jette schwieg.
«Alles klar», sagte Ole. Das Auto brummte beruhigend, es wurde zusehends wärmer auf Jettes Seite. Leider tat es dem halb erfrorenen Körper gar nicht gut, er fing an zu stechen, zu brennen, zu pochen. Jette stöhnte auf.
«Schmerzen?», fragte der Mann.
Jette krümmte sich.
«Das ist die scheiß Kälte. Es wird bestimmt gleich besser. Also, noch mal von vorn, ja? Ich heiße Ole. Ich bin auf dem Weg zurück nach Katenbüll. Ich war in Tönning, bei einem Freund. Musik machen.»
Jette reagierte nicht. Sie verstand kein Wort.
«Wie heißt du denn?», fragte der Mann. «Verrätst du mir das wenigstens?»
Jette presste die Lippen aufeinander.
«Okay», sagte Ole und überlegte. «Ich fahre jetzt los. Du musst dich dafür anschnallen. Verstehst du? Wenn du mit der linken Hand über deine rechte Schulter fasst, ist da ein Gurt. Den musst du ziehen. Bis er auf meiner Seite ist.»
Jette schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor dem Oberkörper.
«Das ist keine Fessel», sagte der Mann namens Ole. «Das ist zu deiner Sicherheit. Damit dir nichts passiert, wenn ich gegen einen Baum fahre, okay? Jetzt guck nicht so, ich fahre nicht gegen einen Baum, aber es könnte ja sein. Wenn mal einer im Weg ist. Da ist natürlich keiner im Weg. Aber man weiß ja nie. Mann, ich rede aber auch ein Zeugs … auf jeden Fall muss man sich anschnallen. Das ist eine Regel, okay? Gesetz ist das.»
Jette drehte sich weg. Regeln kannte sie. Regeln waren nicht gut.
«Gut», sagte der Mann namens Ole. «Fahre ich eben nicht gegen einen Baum.» Es raschelte, der Mann ächzte kurz, während er sich auf seinem Sitz bewegte. Das Rascheln verstärkte sich.
«Hier. Meine Jacke», sagte er. «Als Decke. Wird schneller warm dann.»
Jette nickte und nahm die Jacke, die sich so groß wie ihre Bettdecke anfühlte. Sie roch komisch, irgendwie süßlich, war aber warm und dick. Sie legte sie über Oberkörper und Beine.
«Keine Wölfe», sagte sie.
«Was?»
«Keine Wölfe. Draußen. Da waren keine Wölfe.»
«Nee», sagte Ole. «Ich wohn schon mein ganzes Leben hier. Hab noch keinen Wolf gesehen.»
Jette schien sich ein wenig zu entspannen.
«Was mache ich denn bloß mit dir?», fragte Ole.
«Nichts machen», sagte Jette leise. «Bitte nichts machen.»
«Aber irgendwas muss ich ja tun.»
«Kannst du mich wegbringen? Von hier?»
«Ja, ich sag mal, das geht.»
Dann fuhr das Auto los, Jette wurde in den Sitz gedrückt, unter ihr wurde es warm, da war tatsächlich eine Heizung in den Polstern, sie atmete aus und drohte vor Erleichterung fast das Bewusstsein zu verlieren.
«He, nicht wegklappen jetzt», sagte der Mann. «Musst du ins Krankenhaus? Ich glaub, du musst ins Krankenhaus!»
«Kein Krankenhaus», sagte Jette plötzlich und war wieder in der gewohnten Anspannung. «Bitte.»
«Warum nicht?»
«Das geht nicht», sagte sie. «Die rufen Papa.»
Der Mann schwieg. «Wie heißt denn dein Papa?», fragte er dann.
Jette schüttelte den Kopf.
«Mann», sagte Ole. Das Auto wurde jetzt lauter und fühlte sich schneller an. Jette griff nun doch nach diesem Gurt. Besser war das. Eine Hand des Mannes nahm ihr den Riemen ab, als sie ihn über ihren Körper gezogen hatte, dann klickte es.
«Weißt du was, ich bringe dich zu Sörensen. Polizist ist der. Und trotzdem in Ordnung. Du weißt doch, was ein Polizist ist?»
Jette nickte. «Manchmal hat Papa vorgelesen.»
«Aber du willst nicht zu deinem Papa zurück?»
Jette schüttelte den Kopf.
«Scheiße», sagte der Mann namens Ole. «Ich werd bekloppt.»
«Bekloppter Ole», sagte Jette.
Der Mann lachte. Es war ein erstaunlich hohes, kieksendes Lachen. Und es brach das Eis. Jette wunderte sich zwei Sekunden, dann fing auch sie an zu lachen. Wenn auch mehr über den Klang von Oles Lachen als über den Witz, den sie eigentlich überhaupt nicht verstand. Aber egal, es fühlte sich gut an.
«Mann», sagte Ole keuchend.
«Du lachst lustig», sagte das Mädchen.
«Ich weiß», sagte Ole und war nicht beleidigt.
«Ich bin Jette», sagte das Mädchen.
«Schön», sagte Ole. «Sehr gut. Hab ich eigentlich schon gesagt, dass ich Ole bin?»
«Zweimal.»
«Dann ist ja gut.»
Während sie weiterfuhren, erzählte Ole Jette Geschichten. Er erzählte ihr, dass er bald Vater und dass es ein Mädchen würde, so wie sie, dass seine Freundin gerade mal siebzehn war, bald aber schon achtzehn, und die Tochter von der Kollegin von diesem Polizisten Sörensen. Davon, dass sich die Kollegin nicht darüber gefreut hatte, Großmutter zu werden, dass sie sich aber jetzt an den Gedanken gewöhnt habe und fleißig Babywäsche in der Gegend einsammelte. Davon, dass er in einer Tankstelle arbeitete, dreimal in der Woche, um Geld fürs Essen zu verdienen, dass er bei der Familie seiner Freundin wohnte, weil er sein Zuhause verloren hätte, und dass auch das mit Sörensen zusammenhing und er wirklich und ungelogen trotzdem in Ordnung sei. Jette verstand absolut gar nichts, hörte immer nur Sörensen und dachte sich, dass das ein sehr besonderer Mensch sein musste, wenn sich alles um ihn zu drehen schien.
«Wir sind gleich da», sagte Ole schließlich. «Das hier ist der Deichweg. Hier wohnt er. Der Deichweg heißt Deichweg, weil der am Deich liegt. Hinter dem Deich ist aber gar kein Meer, da ist nur der Koog … also, Land ist da. Ohne Ende Land. Und Wasser. Auf dem Land. Kannst du nicht viel mit anfangen, was? Du weißt überhaupt nicht, wovon ich rede.»
«Ich weiß, was ein Meer ist», sagte Jette.
«Na also», sagte Ole ironiefrei. «Das ist doch schon mal was. Wir sind da.»
Das Auto hielt an und machte Lärm dabei. Es klang nach vielen, vielen kleinen Steinchen. Ole löste Jettes Gurt, sie atmete auf.
«Alles dunkel», sagte Ole. «Schlafen alle. Alle bis auf uns beide. Du wartest hier, ich klingle mal. Ist das okay für dich, kurz zu warten? Ich mach dir das Fenster auf, dann kannst du mich hören.»
Jette nickte. Rechts von ihr surrte etwas, dann kam ihr die kalte, aufdringliche Nachtluft entgegen. Die Autotür auf Oles Seite öffnete sich, er schlüpfte hinaus und schloss sie vorsichtig wieder. Seine Schritte entfernten sich, waren aber für Jette deutlich zu vernehmen. Das Knirschen der Steinchen, das Wischen der Schuhe. Jette wartete. Sie hörte ein entferntes Surren, vielleicht die Klingel. Es dauerte einen längeren Moment, dann war Ole wieder zurück.
«Macht keiner auf», sagte er und wuchtete sich ins Auto zurück. «Und Cord scheint nicht da zu sein.»
«Cord?»
«Cord ist ein Hund. Sörensens Hund. Der hätte sonst gebellt. Versteh ich gar nicht. Der ist doch sonst immer zu Hause. Also, der Sörensen. Der Hund auch. Aber vor allem der Sörensen. Wo steckt der denn?»
«Get up, get up, get out of bed. Let the sunshine fill your head», sang Livingston Taylor mit derselben Engelsgeduld und Freundlichkeit wie jeden Morgen. Sörensen grunzte, tastete nach seinem Smartphone, stellte die Weckerfunktion aus, nahm die Schlafbrille ab, die Ohrenstöpsel heraus und öffnete mühsam die Augen.
Er war irritiert. Irgendwas war anders. Die Decke über ihm hatte keine Schräge und war nicht holzvertäfelt. Es roch nicht nach Meer und Deich, sondern nach Diesel, Müll und schlechter Laune. Richtig, das hier war nicht Katenbüll, das war Hamburg. Hamburg, seine Perle. Die Wohnung, in die er nach der Trennung von Nele gezogen war. Die Wohnung, die er sich nach wie vor als Rettungsanker leistete für den Fall, dass die persönliche Kogge an der Nordseeküste doch noch unterzugehen drohte. Es war, Moment mal, Montag, es war sechs Uhr, und er hatte das Wochenende hier verbracht, zum ersten Mal seit seinem Teilumzug vor drei Monaten. Die Heizung rauschte, der Straßenlärm drang durch das geschlossene Fenster, er unterschied abbremsende Lkw von beschleunigenden Motorrädern, Pkw hupten, das ganze verdammte Hamburg schien auf den Beinen zu sein und sich stadteinwärts zu wälzen. War das immer schon so gewesen? Der frühe Vogel, oder was?
Er griff sich an die Schläfe. Warum fühlte sich sein Kopf eigentlich an, als wäre darin etwas Wertvolles explodiert? Links von ihm gab etwas einen undefinierbaren Laut von sich – und es war nicht sein Hund. Genau, er hatte nämlich einen Hund, seit drei Monaten schon, so viel wusste er noch. Der saß rechts vom Bett und sabberte erwartungsvoll auf den Teppich, der sowieso schon lange weggeschmissen gehörte.
«Na, Cord, was läuft?», sagte Sörensen und lauschte sich selbst zeitversetzt beim Kampf mit den im Übermaß vorhandenen Konsonanten. Ein Grunzen antwortete ihm. Wiederum von der falschen Seite. Er schaltete die Nachttischlampe an, drehte den Kopf nach links und erschrak. Da war eine enorme Ansammlung durcheinandergeratener, roter Locken; in unmittelbarer Nähe waren die, zum Tasten nahe, der dazugehörige Körper hielt sich unter der Decke versteckt, abgesehen von einem nicht sonderlich schlanken Arm mit Herztätowierung auf dem Schulterblatt.
Sörensen versuchte seine Gedanken zu sortieren. Okay, er war Sörensen, und er war auf dem Kiez gewesen gestern Abend. So viel war noch klar. Er machte das nicht oft, er konnte das auch gar nicht, übertriebene Menschenansammlungen machten ihm Angst. Aber gestern war, ja genau, gestern war Konfrontationstherapie angesagt gewesen. Ausnahmsweise. Er hatte, einem lange vorbereiteten und gehegten Plan folgend, am Morgen das Citalopram herabgesetzt. Von 20 Milligramm auf 10 Milligramm. Ein lächerlich kleiner Schritt für eine Tablette, ein riesiger Schritt für ihn. Ab sofort befand er sich unterhalb der offiziellen Wirkdosis, war der Schutz höchstens noch hypothetisch, nahe am Placebo. Oder mittendrauf. Und daher hatte er gedacht, besser noch mal unter Menschen, solange es noch ging. Wer wusste schon, wie sich die nächsten Tage gestalten würden, das war bestimmt nicht angenehm, so ein Herabsetzen eines Antidepressivums. Hatte man ja von gehört, dass die Zustände dann erst mal wiederkamen, die Symptome, die Angst, die Panikattacken. Bevor sie wieder abklangen und man tatsächlich ganz ohne Tabletten auskam. Vielleicht. Hoffentlich. Er griff sich an den Schädel, fühlte sich irgendwie jetzt schon blank. Wie würde das erst sein, wenn die Konzentration des Wirkstoffs im Blut wirklich gesunken war?
Jedenfalls, er hatte gestern Abend vielleicht ein Bier getrunken gegen die Nervosität. Also, eines nach dem anderen. Was man natürlich nicht machen sollte. Dann hatte er zu fortgeschrittener Uhrzeit in irgendeiner Bar gesessen, ab hier verschwammen die Bilder, dafür wurden die Getränke klarer, die roten Locken hatten die Bühne betreten, dann waren da nur noch Fetzen, ein Taumeln im Regen, eine Umarmung, eine nackte Brust, schallendes Gelächter, Gestocher im Türschloss und dann … nichts weiter.
Er schob sich aus dem Bett, dem wohlbekannten, das seit Ewigkeiten seines war und doch schon irgendwie nicht mehr. Zwei aufmerksame Hundeaugen schauten ihn an. «Mensch, du», murmelte er, der er niemals mit einem Hund hatte reden wollen wie mit einem Menschen, und streichelte dem Mischling aus Schäferhund und Golden Retriever über den Kopf.
Dann stand er endgültig auf, während sein Kopf liegen blieb, humpelte um das Bett herum – der alte, schlecht verheilte Bänderriss – und ging auf der anderen Seite auf die Knie, um die Vorderseite seiner Bettnachbarin eingehend zu betrachten. Das in tiefem Schlaf befindliche, leicht zerknitterte Gesicht mit der verwischten Schminke war ihm vollkommen unbekannt. Gott sei Dank war es wenigstens eine Frau, dachte er. Konnte man ja nie so genau wissen. Im Nachhinein. Eigentlich war sie recht hübsch, wie eine fast verblühte Rose. Trotzdem graute Sörensen. Vor sich, der Situation und der Peinlichkeit, die darin verborgen war. Sollte er sie wecken? Sollte er sich so schnell wie möglich aus dem Staub machen in der Hoffnung, dass sie kommentarlos und zufrieden die Tür hinter sich zuziehen würde? Ohne was zu klauen? Vielleicht vorher noch ein wenig aufräumen? Er schaute sich um und betrachtete die Wohnung mit den Augen einer Fremden. Sie war weder groß noch sonderlich schön, eher funktionell, anonym, normiert, mit niedrigen Decken und weißer Raufasertapete; das dazugehörige Mehrfamilienhaus war aus rotem Hamburger Backstein. Die übliche Tarnfarbe. Viel aufzuräumen gab es hier gar nicht, das meiste Hab und Gut, an dem ihm etwas lag, war entweder bereits in Katenbüll oder zuletzt vor drei Monaten weggeräumt worden. So was hielt sich ja, wenn keiner da war. Staub putzen hingegen, ja, Staub putzen, das wäre eine Möglichkeit.
Sörensen schüttelte den Kopf, ganz vorsichtig. Vielleicht brauchte er das hier, hatte er den gestrigen Abend gebraucht, um sich in Katenbüll doch insgesamt besser aufgehoben zu fühlen als in Hamburg, der großen, fordernden Stadt voller Widersprüche und Überraschungen. Immerhin war in Katenbüll seit dem turbulenten Anfang im September nichts mehr passiert. Nix. Rein gar nix. Von den gewöhnlichen Delikten wie Falschparken, Nachbarschaftsstreit und Trunkenheit im Landwirtschaftsverkehr einmal abgesehen. Eine Grippe hatte er aushalten müssen. Sechs Tage lang. Das war der Höhepunkt außerplanmäßigen Geschehens gewesen. Aber sonst: nix.
Sörensen hatte seine Akten geordnet, die Stacheln des Kaktus auf dem Schreibtisch gezählt, war in seiner Freizeit mit dem Hund spazieren gegangen und hatte einmal in der Woche im Penny-Markt für die nächsten sieben Tage eingekauft. Ein Rhythmus des Mittelmaßes, der ihm wahnsinnig gutgetan hatte. Keine Ausschläge nach oben oder unten. Ein Idealzustand für einen wie ihn, der vor allem Tiefschläge unbedingt zu vermeiden hatte.
Cord seufzte und legte sich wieder hin. Unglaublich, wie entspannt dieser Hund war, seit Sörensen ihn vor seinen lieblosen Vorbesitzern gerettet hatte. Das schrieb er sich dann schon auf die Fahne. Apropos Fahne. Er hauchte sich in die hohle Hand, fiel fast in Ohnmacht und wankte ins Bad. Dort kontrollierte er die Haare vor dem Spiegel, strubbelte sie durch, bewertete sie als nicht zu fettig und verzichtete großzügig auf eine Dusche. In puncto Hygiene verloren, dafür zehn Minuten gewonnen. Er betrachtete sein gestresstes Gesicht, in das sich die jüngere Vergangenheit tief eingegraben hatte, befand es trotz der langen Nacht für vergleichsweise glatt, vor allem, wenn er bedachte, wie es vor drei Monaten ausgesehen hatte, als er das letzte Mal in diesen Spiegel geschaut hatte, benetzte seine Augen mit einem Hauch von Wasser, putzte sich die Zähne und griff tief in den Kulturbeutel, um seine Medikamentenpackung herauszuholen. Er betrachtete den Blister, wendete ihn hin und her, überlegte, dann drückte er die andere Hälfte der Citalopram-Tablette heraus, die er gestern zerteilt hatte. Tapfer sein. Durchhalten. Nicht gleich schon wieder einknicken. Warum auch? Es war ja noch gar nichts passiert. Er ließ etwas Wasser in die geöffnete Hand fließen, nahm die Tablette in den Mund, schluckte sie mit den paar Tropfen Wasser herunter, die nicht von seiner Handfläche gelaufen waren, und ignorierte den bitteren Nachgeschmack.
Geschafft. Tag zwei der Entwöhnung konnte beginnen.
Sörensen beschloss, das Frühstück an der Tankstelle einzunehmen. Er hatte ja eh nichts im Haus. Er trat in den Flur, hielt inne, ging noch einmal zurück ins Bad und löste vorsichtig ein Foto seiner Tochter vom Spiegel. Das Foto, auf dem Lotta in der Badewanne saß, mit hochgestecktem Haar und mit einem Förmchen spielend, das im Boden Löcher hatte. Da mochte sie vielleicht drei gewesen sein. Sie hielt das Förmchen triumphierend in die Höhe, während gleichzeitig lange Wasserfäden den gerade eingefangenen Inhalt in die Wanne zurückbeförderten. Die pure Freude im Angesicht des unaufhaltsamen Verlustes.
Wie lange hatte er sie jetzt schon nicht mehr gesprochen? Vier Wochen und zwei Tage. Und gesehen? Seit über drei Monaten. Zu lang war das. Das war auf jeden Fall die Baustelle seines Lebens, die unter den größten Fertigungsschwierigkeiten litt.
Sörensen schlich zurück ins Schlafzimmer, wo die Rothaarige mittlerweile angefangen hatte zu schnarchen. Er öffnete den Kleiderschrank, zog sich ein zu enges T-Shirt, das doch früher immer gepasst hatte, über den Kopf und begann seine Tasche zu packen. Als er fertig war, ließ es sich nicht länger hinauszögern. Er ging auf die andere Seite des Bettes und rüttelte die Frau an ihrem Herztattoo. Es passierte zunächst nicht viel, außer dem Krausziehen der leicht geröteten Nase und einem Seufzen von geradezu unschuldiger Anmutung.
«Moin», sagte Sörensen. Er sagte es nicht sanft, eher sachlich, so wie man einen Kollegen im Büro begrüßte, den man nicht zur eigenen Hochzeit einladen würde.
Sie hob ein Augenlid. «Wo bin ich?», murmelte sie. «Wer bist du?» Ihre Stimme war tief, sie hatte viel mit ihr erlebt.
«Ja, was soll ich sagen, bei mir bist du», sagte Sörensen und ließ sich auf den Plüschsessel neben dem Bett fallen, den er vor Jahren von seiner Großmutter geerbt hatte und der jetzt zum ersten Mal Sinn ergab. «Also, ich sag mal ‹du›.»
«Aha», sagte die Frau und setzte sich aufrecht hin. Die Decke blieb unten. Sie hatte sehr große Brüste, die nicht ganz echt aussahen. Sörensen sah schamvoll weg. Zumindest kurz.
«Hatten wir Sex?», fragte sie. «Ich meine, zusammen?»
«Keine Ahnung», antwortete er wahrheitsgemäß. «Das lässt sich von außen ganz schlecht beurteilen.»
Sie nickte und blickte sich nach ihren Klamotten um.
«Muss ich nicht irgendwas angehabt haben?», fragte sie.
«Unterm Bett», sagte Sörensen.
Sie erhob sich und wuchtete ihren kraftvoll-weiblichen Körper aus den Laken. Sie war bestimmt über einen Meter achtzig groß. Deutlich größer als Sörensen. Cord wich in eine hintere Ecke des Zimmers zurück, eingeschüchtert und diskret, Sörensen fand das Bücherregal über dem Bett plötzlich sehr faszinierend, obwohl da nichts von Interesse stand, was nicht bereits 1988 ausgelesen gewesen wäre.
«Noch nie ’ne nackte Frau gesehen?», fragte sie.
«Doch, schon. Aber noch nie so überraschend.»
«Machen wir keine große Sache draus.» Sie zog sich einen ziemlich engen Rollkragenpullover über die nackten Brüste. Die ließen sich davon nicht stören und standen weiterhin wie eine Eins. «Irgendwas werden wir uns schon dabei gedacht haben.»
«Stimmt», sagte Sörensen und grinste. «Ich muss leider gleich weg.»
«Das passt mir gut. Was sagt denn die Uhr?»
«Kurz nach sechs.»
«Super. Dann komme ich noch rechtzeitig in die Mission.»
«Was denn für ’ne Mission?»
«‹Künstlerische Maßnahmen gegen die Kälte›. So heißt die. Ist ein Verein. Ich mach da mit.»
«Was? Du?»
Jetzt sah sie ihm erstmals direkt in die Augen. Und zwar nicht besonders freundlich. «Traust du mir das nicht zu, oder was?»
«Ja, doch, klar!»
«Weil ich so aussehe, wie ich aussehe, oder was?»
«Nee, nee.»
«Wie sehe ich denn aus?»
«Gut.»
«Weil meine Titten gemacht sind, oder was?»
«Ach, die sind gemacht?»
«Dürfen Frauen mit gemachten Titten nicht für Obdachlose arbeiten?»
«Doch, gerade.»
«Na also.»
Sie zog sich ein paar schwarze Jeans hoch, schlüpfte in einen Cowboystiefel, gab ihm die Hand und grinste. «Ich bin Katja.»
Er schaute zu ihr auf. «Sörensen.»
«Mach’s gut, Sörensen.»
Der zweite Cowboystiefel, dann eilte sie mit einem Geruchsmischmasch aus altem Leder, kaltem Rauch und Restalkohol in den Flur. So hätte es enden können, und es wäre gut gewesen. Sörensen aber konnte sich nicht beherrschen, er hatte eine letzte Frage, eine sehr gewichtige letzte Frage, die er unmöglich bei sich behalten konnte, obwohl er wusste, wohin das führen würde, aber die Neugier war stärker als der Verstand, es musste einfach raus, ohne Rücksicht auf Verluste, die selbstverständlich ausschließlich auf der eigenen Seite stattfinden würden.
«Sach ma, Katja?», fragte er, während sie die Türklinke schon in der Hand hatte.
«Ja?»
«Wegen heute Nacht …»
«Ja?»
«Hab ich dich dafür bezahlt?»
Sie zuckte. Hinter dem rechten Augenlid. Für eine Zehntelsekunde. «Du Arsch», sagte sie dann freundlich und gab ihm mit Schwung, Anlauf und Würde eine Ohrfeige, die sich gewaschen hatte. Sörensen prallte gegen den Türrahmen, Cord winselte und verzog sich in die Küche, während die Wohnungstür hinter der sehr großen und nicht weniger starken Katja ins Schloss fiel. Drei Sekunden passierte nichts, außer dass Cord zurückkam und Sörensen fragend anblickte.
«Ja, wie?», fragte Sörensen. «Was guckst du denn so? Da bist du doch für zuständig! Du bist mir vielleicht ein Wachhund.»
Er tätschelte dem ja auch nicht gerade wenig traumatisierten Mischling beruhigend den Kopf und hob in stiller Akzeptanz die Schultern. Die Ohrfeige war berechtigt gewesen, da gab es kein Vertun.
Es dauerte keine fünf Minuten, da schnallte sich Sörensen seine Reisetasche auf den Rücken, um es der flammenden Katja gleichzutun und die Wohnung zu verlassen. Er griff nach seinem betagten Vox-Verstärker (Vollröhre!) und nahm mit der freien Hand die Gitarrentasche mit ihrem ebenfalls gar nicht mal so leichten Inhalt. Es war eine echte Rickenbacker, schwarzweiß, sein ganzer Stolz. Kein mexikanischer Nachbau, nein, eine originale, leibhaftige kalifornische Rickenbacker, Modell 330 JG, importiert bei seinem einzigen Amerika-Aufenthalt vor über zwanzig Jahren, als alles noch einfach und erreichbar schien und er voller Träume war von sich stetig mehrendem musikalischem Ruhm. Er brauchte die Gitarre künftig dringender denn je. Da er nicht rauchte, würden seine Finger in den Tagen des Entzugs einen anderen Ableiter benötigen.
Er öffnete die Wohnungstür, warf keinen Blick zurück, zog die Tür hinter sich zu, verzichtete aufs Abschließen und stieg die Stufen hinab, jeder Absatz ein Meilenstein der zunehmenden Entfremdung. Er dachte an die Angst. Das Citalopram.
Er hatte sich gestern Nachmittag eingelesen, leider, die Foren des Internets durchstöbert, was man ja sowieso nicht tun sollte, wenn man nicht auch noch den letzten Funken Lebensfreude verlieren wollte. Sörensen war kein Computermensch, aber eines wusste er schon: In solchen Foren schrieben eigentlich immer die Falschen. Es schrieben nur diejenigen, bei denen es nicht geklappt hatte. Alles. Die Gesundung. Das Leben an sich. Bei denen die Angst ein so langjähriger wie selbstverständlicher Begleiter geworden war. Die teils derart hohe Dosen ihres Antidepressivums zu sich nahmen, dass sie sich selbst kaum noch im Spiegel erkannten, und die es immer noch nicht vor die Tür schafften, geschweige denn in einen Supermarkt oder ins Kino. Die sich gegenseitig mit immer schlimmeren Horrorgeschichten malträtierten, logisch, denn das einzige Sedativum war, dass es irgendwo im Land immer noch jemandem schlechterging als einem selbst. In diesen Foren äußerte sich niemand, der es geschafft hatte – denn derjenige hatte es ja geschafft, er brauchte die Foren nicht mehr. Er konnte sich wieder auf das wirkliche Leben konzentrieren, musste sich nicht wie all die anderen Leidgeplagten auf eine Idee davon beschränken.
Es war jedenfalls so, wie Sörensen befürchtet hatte: Niemand im ganzen verdammten weltweiten Netz schien das endgültige Absetzen seines Antidepressivums geschafft zu haben. Alle hingen sie nach wie vor an der Tablette. Sörensen war für fünf Minuten verzweifelt gewesen, dann hatte sich sein Trotz durchgesetzt, von dem er eine Menge angespart und für Fälle wie diesen aufgehoben hatte. Er war nicht so. Er würde es seiner Angst zeigen. Den anderen Patienten. Der Menschheit. Er würde derjenige sein, der schon bald wieder wie ein ganz normaler Hypersensibler ohne Tabletten an seinem Leben scheitern würde. Ha, das wäre doch gelacht. War ja schließlich lange, lange Jahre auch ohne gegangen. Und da war auch schon alles scheiße gewesen. Na also.
Sörensen war gespannt, wie sein Körper reagieren würde, man hatte ja so einiges gehört von diesen sogenannten Absetzphänomenen, die nur deshalb Absetzphänomene hießen, weil der Begriff Entzug für Normalsterbliche einfach zu erschütternd klang. Dabei war es im Endeffekt nichts anderes. Schüttelfrost, Durchfall, Panikattacken, Fieber, zittrige Nervosität, ach, da gab es so einiges, was zumindest für die nächsten Tage erwartbar und im Bereich des Möglichen war. Musste man halt durch, musste man halt mal sehen. Wenn es ganz schlimm wurde, konnte er ja wieder aufdosieren. Hinderte ihn schließlich niemand dran.
Sörensens Gitarrenkoffer schlug mehrmals gegen die Wand, und er hoffte, betete, dass ein ganz spezieller Mensch nicht an seinem Platz sein würde, seinem Arbeitsplatz, dass er im Urlaub wäre, krank, es musste ja nichts Schlimmes sein, dass er verhindert, außer Form oder gerade in irgendeinem Großlager war, was auch immer er dort sollte. An einem Montag kurz vor Weihnachten. Aber der winzige Buttermann stand natürlich schon wieder wie festgetackert in seinem ebenso winzigen Kiosk.
«Ach, hör auf, der Sörensen», rief er, kaum hatte dieser seine Nase aus der Haustür gesteckt.
«Buttermann», sagte Sörensen erschöpft und hoffte, damit würde es sich bewenden. Tat es natürlich nicht.
«Das hättest du gerade mal sehen sollen, was da bei uns aus der Haustür kam. Alter!»
«Was kam denn bei uns aus der Haustür?»
«Eine Frau! Eine rothaarige Riesenfrau mit Riesentitten!»
«Das war meine Schwester», sagte Sörensen. Und tatsächlich, Buttermann strich sich mit der flachen Hand über seine Halbglatze und tat zerknirscht.
«Oh, scheiße, tut mir leid.»
«Schon okay.»
«Die Titten sind aber nicht echt, oder?»
«Nee.»
«Riesig waren die.»
Buttermann hob den Daumen zum Zeichen der Anerkennung.
Sörensen seufzte. «Das war natürlich nicht meine Schwester», sagte er. «Wenn das meine Schwester gewesen wäre, wäre das jetzt ganz schön scheiße gewesen von dir», sagte er, öffnete die Kofferraumklappe seines Passats, den er glücklicherweise direkt vor der Tür hatte parken können, und wuchtete den Gitarrenverstärker hinein. «So war das einfach nur sexistisch.»
«Ja, gut, ne? Aber die war bei dir? Bei dir war die? Respekt. Hab gar nix gehört», sagte Buttermann, der im zweiten Stock sein unmittelbarer Nachbar war. Er lehnte sich auf die Presseauslage. «Wie geht dir das denn in … Dings?»
«Katenbüll», sagte Sörensen müde.
«Und? Wie geht dir das denn? Ist schon anders, oder? Ist nicht Hamburg. Kann ja gar nicht Hamburg sein.»
«Super geht mir das.»
Cord kam aus der geöffneten Haustür und schnüffelte an Buttermanns Kiosktür.
«Du hast ’nen Hund?»
Sörensen bestätigte das Offensichtliche. «Seit drei Monaten.»
Buttermanns Oberlippe zitterte. «Nicht, dass der hierhin macht», sagte er. «Ich hab ja nichts gegen Hunde, aber ich will nicht, dass die hierhin machen. Wenn hier jeder hinmachen würde …»
«Der macht hier nicht hin.»
Cord war ein kluger Hund, er hatte verstanden, hob das Bein und machte wie auf Kommando und genussvoll genau dahin.
«Ach, Mensch», sagte Sörensen sanft lobend und gab dem Hund innerlich fünf Finger gegen die ausgestreckte Pfote.
Buttermann sah sehr traurig aus. «Der Hund heißt Cord?», fragte er.
«Genau.»
«Wie die Hose?»
«Wie die Hose.»
«Wenn du meinst.» Buttermann straffte sich. «Bist ja richtig berühmt geworden», sagte er gehässig. «Hier, Pressekonferenzen und so. Ich hab das alles verfolgt.»
«Schön.»
«Hat sogar die Bild drüber berichtet.»
«Schön.»
«Hast ’ne gute Figur gemacht.»
«Schön.»
«Aber ’n bisschen zugelegt.»
«Ich muss dann auch mal.» Sörensen lehnte die Gitarre im Kofferraum des Passats vorsichtig neben den Verstärker.
«Was ist denn jetzt mit der Wohnung?», fragte Buttermann unvermittelt.
Sörensen streckte den Kopf heraus. «Was? Wieso? Was ist denn mit der?»
«Wie lange willst du dir das denn noch leisten? Ist doch teuer, so ’ne Wohnung. Ich hab dir ja schon mal gesagt, ich kenn da einen …»
«Das ist drei Monate her», sagte Sörensen.
«Ja, aber guter Wohnraum ist schwer zu bekommen. Und jetzt, wo die ganzen Flüchtlinge auch noch …»
«Lass gut sein, Buttermann.»
«Nicht, dass du Nazi zu mir sagst!»
«Was? Hab ich doch gar nicht! Wieso soll ich denn …»
«Weil ich Flüchtling gesagt hab. Ja, dann sag ich halt Flüchtling! Ich hab die Schnauze voll. Wenn man einmal sagt, dass einem nicht alles passt und dass man vielleicht auch mal umziehen will, ohne bei der Wohnungsbesichtigung in hundert ausländische Fressen zu schauen, ist man gleich ein Nazi.»
«Na ja, wenn man das so sagt», wandte Sörensen ein, reichlich angewidert, und traf im selben Moment eine sowieso schon längst fällige Entscheidung. Das hier war Schicksal, das war sein Rausschmiss, geradezu inszeniert war das, Ende Gelände, übles Karma, er würde Hamburg endgültig verlassen, seine Wohnung aufgeben würde er und dafür sorgen, dass niemand dort einziehen würde, der nicht erwiesenermaßen ein Flüchtling war. Mehrere Flüchtlinge. Viele Flüchtlinge. Schwerhörige Flüchtlinge in Mannschaftsstärke mit angeschlossenem Blasorchester, Fanclub und einer Moschee zum Selberfalten.
«Ich bin kein Nazi», schimpfte Buttermann, der traditionell keinerlei Grund zum Schimpfen benötigte. «Ich kann das auch beweisen. Ich bin Wechselwähler. Ein Nazi ist doch kein Wechselwähler. Ein Nazi wählt immer dasselbe. Die Nazis nämlich. Aber man wird ja wohl mal sagen dürfen, dass man das nicht gut findet, was die anderen gerade alles gut finden oder was die Presse will, das wir gut finden. Wir finden das nämlich nicht alles gut. Wechselwähler können doch auch mal irgendwas nicht gut finden.»
«Ja, klar. Wechselwähler können das.»
Sörensen gab Cord ein Zeichen, der erstaunlich wohlerzogen in den Wagen sprang und es sich auf dem Boden zwischen Vordersitz und Rückbank bequem machte. Er öffnete die Fahrertür. «Weißt du noch?», fragte er. «Letztes Mal hast du behauptet, der Russe kommt.»
«Ja, gut, damals», winkte Buttermann ab.
«Der Russe ist aber nicht gekommen. Und jetzt?»
«Na ja», sagte Buttermann und winkte erneut ab. «Kommt schon noch.»
«Der kommt nicht. Aber weißt du was, Buttermann? Ich zieh aus», sagte Sörensen.
«Super.» Buttermann grinste, entblößte eine Reihe gelbbrauner Zahnreste und hob den präsidialen Daumen.
«Aber du kriegst sie nicht.»
Buttermanns Grinsen fiel in sich zusammen. «Was?»
«Die Wohnung. Der Djamal kriegt die.»
«Dja-was?»
«Der Djamal und der Ismail und der Jussuf und die Samira. Nette Leute. Singen viel.»
Sörensen schwang sich in den Passat, startete den Motor und gab Gas. Buttermann zeigte ihm den Mittelfinger, das war das Letzte, was er von ihm sah: ein kleiner, humorloser Gernegroß mit ausgestrecktem Mittelfinger vor einem hasserfüllten Gesicht in seinem Gefängnis eines winzigen Kiosks. Ein Wutbürger deluxe.
Sörensen vergaß seinen Kopfschmerz, vergaß die latent einsetzende Angst vor der Angst, fühlte sich erleichtert bis frei und tat das, was aktiven Verkehrsteilnehmern grundsätzlich untersagt war: Er konzentrierte sich für einen Moment nicht auf die rutschig-glatte Fahrbahn, sondern auf die PIN-Eingabe seines Handys. Der Passat schlingerte kurz, Regen setzte ein. Natürlich. Sörensen betätigte die abgewetzten Scheibenwischer, die ihre unwillkommene Aktivität mit rhythmischem Stöhnen kommentierten, und schaute irritiert auf den Beifahrersitz. Da waren verdächtige Lichtaktivitäten auf seinem Smartphone. Viele. Und es piepte. Oft. Er stellte fest, dass er eine Brille brauchte. Nahm das Unmögliche trotzdem wahr. Sechzehn Anrufe. Sechzehn! Seit heute Nacht! Dazu sechs Nachrichten auf der Mailbox. Was zum Teufel? Sörensen schüttelte den Kopf. Kein Mensch dachte oder sagte jemals «Was zum Teufel», außer in schlecht synchronisierten Filmen. Er sah definitiv zu viel fern, auch das musste anders werden.
Sörensen fuhr an der nächsten Bushaltestelle rechts ran, besser war das, ignorierte die toten Augen der vier wartenden und in den Passat hineinstierenden Arbeitnehmer und führte den Hörer ans Ohr. Es war Jennifer Holstenbeck. Sechs Mal. Kriminaloberkommissarin Jennifer Holstenbeck aus Katenbüll. Seine Kollegin Jenni. Er spielte die Nachrichten ab und verstand nur Ole, Jette, Nachthemd und Notfall.
In einer amerikanischen Serie aus den Siebzigern hätte er jetzt unter den Sitz gegriffen und im Bruchteil einer Sekunde ein Blaulicht hervorgeholt, er hätte die Seitenscheibe heruntergekurbelt und das Licht aufs Dach gesetzt, in einer fließenden Bewegung, eine Sirene wäre erklungen, er hätte mit quietschenden Reifen eine 180-Grad-Wende auf heißem Asphalt gewagt, dann wäre er losgebraust, den Lolli im Mundwinkel, der Gesichtsausdruck ein Monument der Unerschrockenheit. Es wäre ein Einsatz in Manhattan oder wenigstens Fuhlsbüttel gewesen, andere Wagen wären im Angesicht des dräuenden Passats erschrocken zur Seite gesprungen, und schon wenige Schnitte später wäre er in Katenbüll gewesen, im Zentrum des Geschehens, mit quietschenden Reifen und dem raumgreifenden Charisma des dauerhaft Emmy-Nominierten.
Aber Hamburg war nicht Manhattan. In Hamburg stand er schon nach kürzester Zeit im Stau, ausgebremst und eingekesselt.
Die A 7 war und blieb eine einzige Dauerbaustelle, die Bagger und Kräne drehten sich im Akkord sinnlos um sich selbst oder lungerten einfach nur unbemannt in der Gegend herum, Sörensen schleppte sich dahin, schaute in graue Gesichter an den Steuern dreckiger Mittelklassewagen, fragte sich, ob es auch hierfür eine Internet-Selbsthilfegruppe gab, und versuchte mehrfach, Jennifer Holstenbeck zu erreichen. Er sprach ihr auf die Mailbox, er wäre unterwegs, es könne aber dauern, und tatsächlich, es dauerte ewig, bis sich das Knäuel auflöste und er endlich auf die A 23 abbog. Da immerhin war die Bahn frei, er fuhr die erlaubten hundert Stundenkilometer und dachte an den Montagmorgen vor drei Monaten, als er bei Halstenbek-Krupunder gestanden hatte mit seiner Nervosität im Angesicht des neu anzutretenden Jobs, den kaum überwundenen Angstzuständen, wie er schließlich weitergefahren war, vorbei an einem ausgebrannten Pkw, wie er immer mehr Windräder hatte auftauchen sehen, wie er an der Abzweigung nach Tönning auf Ole getroffen war, den Anhalter Ole Kellinghusen, und wie sein weiterer Lebensweg sich verknüpft hatte mit dem jungen Mann mit der spitzen Nase und den Rastalocken.
Als Sörensen dieses Mal, nur eine knappe Stunde später, an Tönning vorbeikam, stand da niemand.
Der Regen klatschte jetzt mit großer Energie gegen die Windschutzscheibe, es war eine Salve von nassen Ohrfeigen, er machte das Radio an, lauschte für ein paar Minuten dem aufgeregten Getue künstlicher Radioanimateure, fand das in Nordfriesland genauso grauenvoll wie in jedem anderen Land dieser Erde, schaltete das Radio wieder aus, passierte Husum, bog ab in Richtung Mildharder Koog, nahm die Vereinsamung der Gegend in sich auf wie eine willkommene Schontherapie und genoss den Regen auf den vor Kälte verhärteten Feldern, die Minderung der Reize, die beruhigende Wirkung des großen Nichts. Der ein oder andere Bauernhof, hier und da eine Scheune, Traktoren, Lehm, hauchzart angedeutete Schneereste, ansonsten Kargheit, Reduktion aufs Wesentliche und träge Windräder am unscharfen Horizont.
Als er endlich das Ortsschild von Katenbüll erreichte, betrachtete er es mit einer Mischung aus Wut und Trauer. Etliche Male war es in den letzten Wochen beschmiert und nur oberflächlich wieder gereinigt worden, Reste von Begriffen wie Vergasen, Schande oder AH88 waren unverkennbar und vermengten sich zu einem schwarzen Fleck der Anklage auf gelbem Grund. Manches, so dachte Sörensen, manches kriegte man einfach nicht mehr ab. Katenbüll hatte sich den Ruf auf lange Zeit verdorben. Vielleicht für immer. Und es gab nicht wenige im Ort, die ihn dafür verantwortlich machten.
Er passierte die Tankstelle, in der heute und zu dieser Tageszeit nicht Ole Kellinghusen Dienst hatte, sondern eine korpulente Aushilfe im Niedriglohnsektor mit lila gefärbten Haaren, sah die ersten vertrauten Gesichter – den Friseur, der seinen Laden aufschloss, den chinesischen Restaurantbesitzer, der seine Einkäufe aus dem Penny-Markt zum Auto trug, den Bibliothekar Hamkens, der bei der Sache vor drei Monaten eine unrühmliche Rolle gespielt hatte und seitdem immer eingefallener aussah. So war es also, das Heimkommen, dachte er. Voller unguter Erinnerungen. Jetzt schon, nach so kurzer Zeit. Sörensen starrte aus dem Fenster heraus, so mancher starrte hinein. Bestenfalls unfreundlich, in der Regel kalt, grimmig, grundsätzlich ablehnend.
Er parkte auf dem Marktplatz, wie stets im absoluten Halteverbot, ließ Cord hinaus, der die ganze Fahrt über geschlafen hatte, und winkte fast schüchtern der alten Luise zu, deren Käse-Käthe-Verkaufswagen auf dem für eine Kleinstadt viel zu üppigen Kopfsteinpflasterplatz wirkte wie ein winziges Papierboot auf unnatürlich beruhigter See. Sie winkte nicht zurück. Vielleicht hatte sie ihn nicht gesehen. Vielleicht auch doch.
Sörensen zog die Kapuze über und biss sich auf die Lippen. Er wollte es einfach nicht wahrhaben, dass sie nun und für alle Zeiten ganz allein dort stand. Na ja, was hieß allein? Eine protzige Nordmanntanne rang seit Ende November mit der Marktfrau um allgemeine Aufmerksamkeit, eine Nordmanntanne, die die Stadtverwaltung mit quietschbunten Päckchen und vielen Lämpchen, Sternen und Engeln so eng hatte beschmücken lassen, dass das dürre Grün dahinter kaum noch zu erkennen war. Es war, bei aller Ambition, ein eher lächerliches Bild: der leere Marktplatz, von allen Seiten frei begehbar, und in der Mitte knubbelten sich Baum und der einzige Marktwagen. Luise, genannt Käse-Käthe, hätte natürlich die ganze restliche Fläche zur Verfügung gestanden, aber nein, sie war erwartungsgemäß trotzig geblieben, stellte ihren Wagen Morgen für Morgen direkt neben die Tanne, auf Tuchfühlung sozusagen, einfach weil sie immer schon hier gestanden hatte, seit vierzig Jahren, an exakt dieser Stelle, genau in der Mitte des Platzes, zwischen dem Hydranten und dem Schlagloch, und Weihnachten noch lange kein Grund war, liebgewonnene Gewohnheiten auch nur ansatzweise zu ändern oder vollständig über den Haufen zu werfen. Da ließ sie sich lieber vollnadeln. Allein wie sie war. Sörensen seufzte. Käse-Käthes Mann, der tapfer neben ihr ausharrend über Jahrzehnte schrumpelige Rostbratwürste an den Kunden zu bringen versucht hatte, war Anfang November gestorben. Ganz plötzlich, in der Ausübung seiner Pflicht, eine Bratwurst hochhaltend, die vor Schreck mit ihm auf den Boden gefallen und ungerührt von glücklichen Tauben verspeist worden war. So war sie eben, die Natur. Gnadenlos, unbeteiligt und immer auf der Suche nach dem eigenen Vorteil.
Als Sörensen das Polizeirevier betrat, war es, als hätte er den Kontinent gewechselt. Das kleine Großraumbüro war beheizt wie eine Sauna kurz nach dem Aufguss, Kriminaloberkommissarin Jennifer Holstenbeck stand breitbeinig mitten im Raum, die Hände in die Hüften gestemmt, und redete auf die Polizeiobermeister Dhonau und Faltermeyer ein, die mit ungewohnt konzentriertem Gesichtsausdruck den Ausführungen zu folgen versuchten. Sie war eine hübsche, aber nicht übertrieben hübsche Frau mit brünettem Pferdeschwanz, die deutlich älter wirkte als ihre gerade einmal fünfunddreißig Jahre. Sie hatte schon einiges an Leben hinter sich, war sehr, sehr jung Mutter geworden und dadurch nie aus Katenbüll herausgekommen – eine Tatsache, unter der sie mehr litt als an dem restlichen Elend der Welt.
An seinem Schreibtisch direkt am Fenster saß Kriminalkommissaranwärter Malte Schuster, dessen erstes Behördenpraktikum sich so langsam gen Ende neigte und der mit gewichtiger Miene wohlsortierte Buchstaben in die Innereien seines Computers komplimentierte. Sein blonder Seitenscheitel war verrutscht, seine Augen glänzten, er sah heute deutlich weniger brav aus als sonst, eher wie das Mitglied einer Boygroup kurz nach dem Auftritt. Ole Kellinghusen war auch da, er kauerte auf einem Stuhl in der Ecke, schien vor Müdigkeit die Augen kaum offen halten zu können und wirkte dabei ebenfalls leicht fiebrig. Die Stimmung war angespannt, zu angespannt, für Sörensen war das nichts, es dauerte nur Augenblicke, da hatte er das Adrenalin der Anwesenden in sich aufgenommen wie ein besonders schnell wirkendes Gift, schien alles zu hell, zu grell und grundsätzlich um einige Dezibel zu laut.
«So», sagte er betont leise und hoffte fast, dass niemand ihn hörte.
Jennifer fuhr herum. «Mensch, endlich», schimpfte sie. «Wo warst du denn?»
«Hamburg war ich.»
«Ausgerechnet.»
«Ich hatte frei.»
«Ja, super.»
«Kann man doch mal haben, frei.»
«Aber doch nicht, wenn man gebraucht wird!»
Sörensen wich ihrem vorwurfsvollen Blick aus und landete dabei auf dem Kaktus, der in den letzten drei Monaten nicht ein einziges Mal gegossen worden war. Cord schlich an ihm vorbei, spürte die Aufregung, natürlich, er witterte jeden Tropfen Schweiß, konnte damit allerdings nichts Konstruktives anfangen und legte sich träge in das Körbchen neben Sörensens Schreibtisch. Sörensen bewunderte ihn dafür. Kluger Hund. Er hatte für alles die richtige Antwort.
«Was ist denn überhaupt los?», fragte er. «Ich hab nix verstanden.»
Jennifer zeigte auf das Vernehmungszimmer, ihre Hand zitterte ein wenig. «Komm mit», sagte sie. «Aber leise. Nicht aufwecken.»
«Aufwecken? Wieso aufwecken? Wen denn aufwecken?»
Jennifer verweigerte die Antwort und drückte die Türklinke herunter. Wie aufs Stichwort begann die Kaffeemaschine zu röhren wie ein asthmatischer Hirsch. Sie hielt inne, genervt, ließ die Schultern sinken und reckte den Kiefer nach vorne.
«Ach, Mensch.» Polizeiobermeister Dhonau, in eindeutiger Schuld, nahm wie in Zeitlupe den Daumen vom Knopf und deutete beschwichtigend auf die leere Tasse. «Manchmal ist das aber auch ungünstig mit dem Timing, ne?»
Jennifer zog eine Grimasse, wartete ungeduldig bis zum letzten Tropfen und öffnete endlich die Tür des Vernehmungszimmers. Sörensen konzentrierte sich auf seine Atmung, ruhig und gleichmäßig, ruhig und gleichmäßig, und quetschte sich hinter ihr hinein. Der Raum war so winzig, dass er außer drei Stühlen und einem weißen Küchentisch nur noch kahle Wand beinhaltete, dazu, als kostenlose Dreingabe, ein schmales Fenster unterhalb der Decke, das mit ein paar Handtüchern notdürftig abgedunkelt war.
Sörensen sah erst auf den zweiten Blick, dass unter dem Tisch jemand lag. Ein blondes, zusammengerolltes Etwas auf einer Isomatte, halb verborgen unter einem Stapel Decken, tief schlafend, den Kopf seitlich auf die rechte, offene Hand gelegt. Das Etwas war weiblich, die Haare waren verfilzt, die Nasenspitze gerötet, viel mehr war für Sörensen nicht zu erkennen.
Jennifer drehte sich zu ihm. «Sie heißt Jette», flüsterte sie.
Sörensen nickte, ließ den Namen auf sich wirken, tastete nach Worten, einem schlauen Gedanken, begriff, dass hier drin vorläufig nichts weiter zu tun war und zeigte folgerichtig zur Tür. Jennifer nickte. Sie verließen den Raum so behutsam, wie sie gekommen waren, dann atmete Sörensen durch, während Jennifer mit sich und den Tränen kämpfte.
«Sie weiß nicht, wie alt sie ist», sagte sie. «Sie weiß nicht, dass wir in Katenbüll sind. Sie hat noch nie mit anderen Leuten gesprochen, nur mit ihrem Vater, sagt sie. Sie will uns nicht sagen, wo wir ihn finden. Sie ist blind. Sie ist unterernährt. Sie hat in einem Keller gelebt. Sie hat Angst. Es ist ein Wunder, dass sie schläft. Sie muss wahnsinnig erschöpft sein.»
«Wo habt ihr sie her?», fragte Sörensen.
«Von mir», sagte Ole Kellinghusen und erhob sich schwerfällig. «Ist mir quasi vors Auto gelaufen. Barfuß. Im Nachthemd. Bei dem Wetter.»
«Das wäre auch bei jedem anderen Wetter scheiße», sagte Sörensen und schalt sich ob der überflüssigen Besserwisserei. «Wann denn?»
«So gegen Mitternacht.»
«Wieso hast du denn überhaupt ein Auto?» Sörensen verlor kurzzeitig den Blick fürs Wesentliche. «Ich denk, du fährst per Anhalter?»
«Geliehen», sagte Ole und blickte Jennifer an.
«Ja, von mir», sagte sie. «Was soll er auch immer trampen, der wird bald Vater, und da braucht er was Solides. Weiß man ja nicht, wer einen da immer mitnimmt. Und dann ist man tot und ausgeraubt und hat auch nichts mehr von seinem Kind.»
«Sehr vernünftig», sagte Sörensen und zeigte auf die Tür hinter sich. «Wo denn?»
«Husumer Straße», sagte Ole. «Ungefähr zwei oder drei Kilometer vor Katenbüll. Ihre Füße haben geblutet. Keine Ahnung, wie weit die schon gelaufen ist.»
«Da sind nicht viele Häuser, oder?», sagte Sörensen. «Ein paar Resthöfe und so.»
«Wie gesagt, die kann ja schon stundenlang gelaufen sein.»
«Findest du die Stelle wieder?»
«Denke schon.»
«Was machen wir denn jetzt mit ihr?», fragte Jennifer Holstenbeck. «Das ist doch auch ein Fall für das Jugendamt, oder nicht? Die ist vielleicht siebzehn oder achtzehn.»
«Vielleicht ist die aber auch schon zwanzig», sagte Ole. «Das ist ganz schwer zu sagen.»
Sörensen schaute auf die Uhr. «Dann ist das trotzdem ein Fall fürs Jugendamt. Soweit ich weiß, ist achtzehn da keine natürliche Grenze. Und irgendwo muss die ja auch hin. Also entweder zu so einem Fluchtpunkt für Jugendliche oder ins Frauenhaus. Haben wir in Katenbüll überhaupt einen Fluchtpunkt?»
«Klar», sagte Jennifer. «Evangelischer Träger, glaube ich.»
Sörensen überlegte. «Ach komm, die sind doch noch gar nicht im Büro, die vom Jugendamt», sagte er. «Lass die … äh, Jette hier erst mal schön ausschlafen. Und dann gibt’s Frühstück.» Er zeigte mit dem Daumen nach draußen in Richtung Marktplatz.
«Da kümmere ich mich drum», sagte Praktikant Malte Schuster. Sein Eifer, das Richtige zu tun, war wie stets bemerkenswert. Streberhaft, spießig, anstrengend und unentspannt, aber bemerkenswert. Er griff nach einem Post-it, schrieb ein Wort darauf und klebte es an seinen Monitor.
«Hast du da jetzt echt Frühstück draufgeschrieben?», fragte Sörensen.
«Nee. Quatsch.»
«Dann ist ja gut.»
«Brötchen hab ich geschrieben. Brötchen.» Malte zeichnete zur Verdeutlichung die Form eines Brötchens in die Luft. «Als Gedächtnisstütze. Wenn jetzt noch was dazwischenkommt, weiß ich nicht, ein Ehestreit oder ein Raser oder so, denke ich da nachher trotzdem dran. Auf den Monitor starrt man ja immer.»
«Vielleicht malst du lieber noch ein Symbolbild dazu», sagte Sörensen und hätte beinahe den Kaktus nach Malte geworfen, als dieser das Post-it tatsächlich vom Monitor nahm und ein Brötchen malte. Ruhig bleiben, dachte er. Die Menschen akzeptieren, wie sie sind. Bei der Sache bleiben.
«Wir brauchen einen Arzt», sagte er also. «Am besten ’ne Ärztin. Die soll mal herkommen und nach dem Mädchen gucken. Bisher hat sie noch keiner als vermisst gemeldet, oder? Ich mein, ich weiß, dass die noch keiner als vermisst gemeldet hat, denn wenn die jemand als vermisst gemeldet hätte, dann hättet ihr schon beim Reinkommen gesagt, dass die jemand als vermisst gemeldet hat und herkommt, um sie abzuholen, das habt ihr aber nicht gesagt, also hat sie auch keiner als vermisst gemeldet.»
Jennifer grinste schief, während sie sich die letzte Feuchtigkeit aus den Augenwinkeln wischte. «Spitzenausbildung beim LKA, wirklich.»
«Ich bin auch begeistert», sagte Sörensen trocken. «Malte, du rufst in der Leitstelle an und fragst, ob im größeren Umkreis vielleicht heute Nacht oder gestern Vermisstenanzeigen eingegangen sind.»
«Vor oder nach den Brötchen?», fragte Malte. Sörensen wollte gerade die Empfehlung aussprechen, sich die Brötchenhälften der Einfachheit halber rektal zuzuführen, da hob Ole Kellinghusen den Finger.
«Ich würd auch so ein Brötchen nehmen», sagte er. «Vollkorn. Aber ohne Gluten. Also Buchweizen. Oder Reis. Auf jeden Fall ohne Hydroxypropylmethylcellulose und Fabrikzucker. Meint ihr, die hat überhaupt Vollkorn?»
Sörensen zählte innerlich bis zehn, sehr schnell allerdings, und wandte sich Dhonau und Faltermeyer zu, die spontan versuchten, sich hinter der Kaffeemaschine zu verstecken. «Sie beide fahren mit Ole hier zu der Stelle, wo ihm das Mädchen begegnet ist. Dann schön die Umgebung abklappern, an Türen klingeln und so. Vielleicht weiß jemand was. Oder kennt das Mädchen.»
Die Polizeiobermeister nickten. Zunächst. Dann wagte Kollege Faltermeyer einen Einwand. «Warum benutzen wir denn keinen Fährtenspürhund für die Rückwärtssuche? Das wäre doch viel präziser.»
«Machen wir ja», sagte Sörensen. «Aber der muss ja auch erst mal hier auflaufen, der Hund. Und bis dahin nutzen Sie die Zeit und Ihre eigene Spürnase. Zeigen Sie die Überlegenheit des Menschen gegenüber dem Tier.»
Die Polizeiobermeister nickten erneut. Wenig überzeugt. Knapp an der Rebellion vorbei.
«Und wir?», fragte Jennifer.