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Ein Buch über Generationenkonflikte: Väter und Söhne, Kinder, die Eltern werden und Eltern, die wieder zu Kindern werden. Moritz Liebig ist 38 und steht mit beiden Beinen fest im Leben. Eigenes Café, eigene Frau, eigener Sohn. Zwanzig Jahre lang hatte er keinen Kontakt zu seinen Eltern. Dann steht plötzlich sein Vater Karlheinz vor der Tür: Mama ist tot. Seit drei Monaten schon. Karlheinz hat den letzten Rest seines Lebenswillens verloren, ist müde, verbraucht und verbittert. Er will nicht mehr. Moritz soll ihm dabei helfen, aus dem Leben zu scheiden - ausgerechnet. Moritz ist überfordert. Von der Aufgabe, der Gegenwart, den Erinnerungen, seinem Erzeuger sowieso. Soll er Karlheinz den Gefallen tun? Oder zumindest versuchen, ihm zu neuem Lebensmut verhelfen? Seine scheinbar so geordnete Welt gerät gewaltig ins Wanken ...
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Seitenzahl: 686
Sven Stricker
Bin noch da
Roman
Am Ende ist das Gestern egal.
Moritz Liebig ist 38 und hat alles im Griff: Eigenes Café, Frau und Kind – der Laden läuft, es geht ihm gut. Auch, weil er seit zwanzig Jahren keinen Kontakt zu seinen Eltern hat. Dann heißt es plötzlich: Mama ist tot. Seit drei Monaten schon. Und sein Vater hat den letzten Rest Lebenswillen verloren, ist müde und verbittert. Ausgerechnet Moritz soll ihm dabei helfen, aus dem Leben zu scheiden. Er ist überfordert. Soll er Karlheinz den Gefallen tun? Oder zumindest versuchen, ihm zu spätem Glück zu verhelfen? Seine scheinbar so geordnete Welt gerät gewaltig ins Wanken ...
Sven Stricker wurde 1970 geboren und wuchs in Mülheim an der Ruhr auf. Er studierte Komparatistik, Anglistik und Neuere Geschichte. Seit 2001 arbeitet er als freier Wortregisseur, Bearbeiter und Autor und gewann in dieser Funktion mehrmals den Deutschen Hörbuchpreis, unter anderem 2009 für seine Hörspielbearbeitung und Regie des Romans «Herr Lehmann» von Sven Regener. Er lebt in Potsdam und hat eine Tochter. Mit «Sörensen hat Angst» war Sven Stricker für den Glauser-Preis 2017 nominiert.
Für Juli
Es war auf den Tag genau fünfzig Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, es war der Tag, an dem die Kaulitz-Zwillinge das Tokio Hotel betraten, und es waren noch ungefähr zwei Monate bis zum Fall der Berliner Mauer. Nichts Besonderes also. Es war aber auch der Tag, an dem Karlheinz Liebig beschloss, ein Baumhaus zu bauen. Ein Baumhaus für seine Kinder.
Karlheinz Liebig war schon immer ein typischer Nachkriegsdeutscher gewesen, Liebe hieß Leistung. Er war ein unzugänglicher, in sich verschlossener Mann, hatte sein Leben in permanenter Verachtung desselben verbracht. Moralpredigten halten, ja, das konnte er, hinter verschlossenen Türen, mit erhobenem Zeigefinger und hochrotem Kopf; auf die Politik schimpfte er, auf langhaarige Bombenleger, die Kunst, Fußballtrikots, die aus Hosen hingen, auf Ausländer sowieso, immer und immer wieder hatte er geflucht und gewettert. Alles war schlecht. Nichts wurde besser.
Am 1. September 1989 aber, als der Nachbargarten der Ronsdorfs plötzlich mit einem Baumhaus auf der kümmerlichen Eiche aufzuwarten wusste, war das Maß des Erträglichen voll gewesen. Es hatte sich keineswegs um ein großes Baumhaus gehandelt, vielmehr um eine Europalette mit draufgesetzter Hundehütte, ganz in Rosa oder Pink und damit eindeutig für Mädchen, aber für Karlheinz Liebig war dies zu viel gewesen, die größtmögliche Provokation, zunächst ein Schandfleck, dann eine Herausforderung. Er war der mit dem schönen Garten, man musste sich nur einmal die Pracht der Rosen ansehen, die Tomaten, er verfügte über das Material, den höheren Baum und den plötzlichen, aber unbedingten Ehrgeiz, einmal, ein einziges Mal, den Platz an der Sonne einzunehmen. Einen Platz, den ihm niemand streitig machen würde, denn außer den Ronsdorfs und ihnen hatte niemand in ihrer Reihenhaussiedlung eine Eiche.
Oder irgendeinen anderen Baum. Man würde gut finden, was er da tat. Was er für seinen Sohn tat, Moritz, ab dem morgigen Tag sieben Jahre alt. Für seine Tochter Nina, die zwar erst drei war, aber ja auch irgendwann in das passende Alter kommen würde. Schauen würden sie, die Nachbarn, hinter ihren Gardinen mit der Goldkante, neidisch würden sie sein. Das war das Ziel. Das unbedingte Ziel.
Also baute er das Baumhaus. Er baute es weit oben. Er brauchte sehr lange dafür, arbeitete mindestens drei Wochen jeden Abend daran, bis es dunkel wurde; die Leiter lehnte am Baum, war komplett ausgezogen, sein Sohn stand unten, schaute mit großen Augen hinauf, durfte nicht einmal einen Hammer halten und wurde verscheucht, sobald er auch nur das Wort an den Vater richtete. Schließlich aber war der Schweiß vergossen. Karlheinz Liebig war fertig. Er hatte ein wahrhaft großartiges Baumhaus gebaut, mit klappbaren Fenstern vorne wie hinten, einer Eingangstür mit goldener Klinke, abgeschliffenen Brettern, einem Giebeldach und einer Luke in der Mitte des Fußbodens, um von unten hineinzuklettern oder sich an einem Seil herablassen zu können. Es war wirklich beeindruckend. Ein sichtbarer Beweis von Liebe, Zuneigung und Hingabe.
Moritz war glücklich. Stand stolz unter der Eiche und blickte hinauf. Nina hing an seinem Hosenbein und interessierte sich für die Grashalme am Boden.
Karlheinz Liebig stieg hinab, rieb sich die schwieligen Hände, ging noch einmal sicher, dass das Baumhaus auch von wirklich jedem Nachbargrundstück zu erspähen war, und ließ es damit gut sein. Arbeit beendet, Ziel erreicht, Deckel drauf.
Der Haken ließ nicht lange auf sich warten.
Für Moritz war es unmöglich, hinaufzugelangen. Er war zu klein für die Kletterei, die Eiche war ausladend, außerdem war er ein wenig ängstlich (phantasievoll, sagte seine Lehrerin), es gab keine sichere Möglichkeit, sich von Ast zu Ast hinaufzuziehen, und außerdem, selbst wenn man es irgendwie geschafft haben sollte, was wäre dann gewesen? Was tat man dann da oben? Und wie sollte man wieder runterkommen? Am Seil? Mit aufgeriebenen Handflächen? Und welches Seil überhaupt? Da war kein Seil, seinen Vater interessierte kein Seil. Seinen Vater interessierte überhaupt nichts mehr, er war fertig. Er sah fern, rauchte Zigaretten und trank Bier. Er war fast neunundvierzig. Er hatte seine Arbeit getan.
Moritz stand unter diesem Baum, dem Baumhaus, jeden Tag aufs Neue, und schaute hinauf. Hilflos, machtlos. Das Haus bekam eine mystische Bedeutung für ihn. Da oben war etwas. Etwas für ihn. Er fühlte es, er wollte, dass dieses Baumhaus sein Baumhaus war. Da oben würde er groß sein. Groß und sicher. Beschützt. Vor der Welt. Der schlechten Laune.
Und eines Tages, es hatte kurz zuvor geregnet, seine Mutter war in der Küche beschäftigt, sein Vater bei der Arbeit, hatte er sich einfach an den Stamm geklammert und war an ihm hinaufgerobbt, bis zum ersten Ast, dem zweiten, er hatte sich mit den mittlerweile schon wieder zu kleinen Sandalen abgestützt. Die Zähne zusammengebissen hatte er, er begann zu bluten, an den Händen, der Wange, er weinte nicht, war in unendlicher Langsamkeit immer höher geklettert, hatte nicht ein einziges Mal nach unten gesehen, er wusste genau, wenn er dies täte, würde er Angst bekommen und abstürzen, er wollte nicht abstürzen, er wollte keine Angst haben, er wollte hoch zu dem Baumhaus, das sicherlich drei oder sieben Meter über der Erde auf ihn wartete und nur auf ihn. Endlich war er oben, tatsächlich, ihm wurde schwindlig, er hielt sich am Griff der Falltür fest, zog sie auf, kletterte hinein, genoss den Geruch des nassen Holzes, atmete tief durch, musste husten, es bekam etwas Asthmatisches, dann traute er sich erstmals, aus einem der beiden Fenster zu sehen. Der Ausblick war atemberaubend, wunderschön. Die Reihenhäuser waren wie Soldaten in einer Reihe aufgestellt, sie salutierten, extra für ihn, er sah zwei Tauben auf einem Ast, sie berührten sich nicht, ganz nah waren sie, zum Greifen nah. Er sah Industrie, Türme, höhere Häuser, schmutzige Häuser, ganz in der Ferne seine Grundschule oder zumindest einen Teil des Daches davon. Da, eine Bewegung im Nachbarhaus. Frau Ronsdorf, eine alte Frau von mindestens dreißig Jahren, im ersten Stock. Offenes Fenster, zurückgezogene Gardinen. Sie war gerade dabei, sich in ihrem Schlafzimmer umzuziehen. Nein, auszuziehen. Er beugte sich vor, sah erstmals Brüste, große, voluminöse Brüste, war vor der Geschlechtsreife, ahnte die Attraktion, aber es berührte ihn unangenehm. Wegschauen konnte er allerdings auch nicht. Es dauerte keine zwei Minuten, dann war sie fort, Frau Ronsdorf. Vielleicht im Bad. Er sah sich um. Ihm fiel auf, dass in dem Baumhaus eigentlich gar nichts war, dass es von außen schön und vollkommen und von innen hohl und leer war, und das mochte er nicht. Es enttäuschte ihn. Das Baumhaus war viel weniger, als er erwartet hatte, es war nicht für ihn eingerichtet worden, das begriff er nun, das machte ihn wütend, er mochte das Baumhaus eigentlich gar nicht mehr, es roch nach seines Vaters Schweiß, er fühlte sich hier oben nicht sicher, er hatte Angst, jeden Augenblick abzustürzen, mitsamt dem Haus, es wirkte nicht stabil. Also kämpfte er gegen die Angst an, versuchte sich zu beruhigen, atmete tief durch, dann glitt er durch die Luke nach draußen, sah nun gezwungenermaßen nach unten, es war wirklich sehr, sehr hoch, er unterdrückte den wiedereinsetzenden Schwindel, schaffte es gerade einmal über drei dicke, federnde Äste, dann rutschte sein rechter Fuß ab, der Rest folgte, er stürzte abwärts, blieb hier an einem Ast hängen, dort an einem Zweig, das bremste ihn, aber nicht genug. Er schlug auf dem Rasen auf, hart, humorlos, mit dem Rücken, dem Hinterkopf, hatte sich Schnittwunden, Prellungen, Blutergüsse und einen Beinbruch zugezogen, das wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht, alle Lebensgeister waren aus ihm gewichen, er lag da wie ein Toter, verkrümmt, zerschmettert, in tiefem, dunklem Schlaf.
Aufgewacht war er im Krankenhaus, es war ein Einzelzimmer, niemand war bei ihm, das lag an der Zusatzversicherung, auf die sein Vater so stolz war, sein Vater, der ihn in den folgenden zwei Wochen nicht ein einziges Mal besuchen sollte. Seine Mutter kam jeden Tag, natürlich, mit der quengelnden Nina, sie hatte dieses Pflichtgefühl, für exakt abgemessene dreißig Minuten, sie richtete ihm herzliche Grüße aus, sein Vater würde das Baumhaus wieder abbauen, es sei einfach zu gefährlich. Moritz wusste schon damals nicht, was er schlimmer fand. Dass sein Vater nicht kam oder dass ihm Grüße ausgerichtet wurden, die nie in Auftrag gegeben worden waren.
«So!», sagte Kunde Nummer eins und machte es sich im Stehen gemütlich. «Jetzt muss ich erst mal überlegen.»
Es war wie auf der Post an einem Samstag um Viertel vor zwölf, kurz vor Geschäftsschluss. Wenn man endlich, endlich dran war, lehnte man sich über den Tresen, stützte die Ellbogen auf, streckte den verbreiterten Hintern raus, stellte hier noch eine Frage zum Porto, dort noch eine zum Versicherungsschutz und zur Sinnhaftigkeit von Einschreiben mit Briefkasteneinwurf, füllte mit dem Kugelschreiber ein Standardformular aus, langsam, tastend, als sähe man es zum ersten Mal, so ein Formular, für dessen Erfassen und Erledigen man im Vorfeld eine gute Viertelstunde Zeit gehabt hätte, und ignorierte die immer größer werdende Schlange hinter sich nicht nur geradezu genießerisch, nein, man drehte sich zu ihr um, langsam, mit einem feinen Lächeln im Gesicht, schau, dachte man sich, jetzt stehen die Leute sogar schon bis auf die Treppe – die Treppe! –, dann beschwerte man sich über die personelle Unterbesetzung, die Verteuerung des Portos, den organisatorischen Kollaps des Postsystems, nein, des gesamten Systems, während man selbst natürlich fein raus war, denn man hatte ja alles erreicht, man hatte den Monsun überwunden, den Gipfel erklommen, den Marathon absolviert, man war am Ziel, man war der Sieger, ganz, ganz weit vorne, man war der wichtigste Mensch im Raum. Der, der die Macht hatte, der die Dinge be- oder entschleunigen konnte. Gut, man hätte natürlich auch Solidarität beweisen können, Empathie, Verständnis, man hätte mit kurzen, zielgerichteten Angaben die Schlange hinter sich so zügig wie möglich abbauen und damit im Sinne des Gemeinwohls Effizienz beweisen können, aber hier, in der Mechanik des Augenblicks, da hielt man es doch lieber mit der Selbstgefälligkeit des Stärkeren, da war man ausnahmsweise selbst der Idiot, den man ansonsten aus vollem Herzen verachtete. Schön war das nicht, aber so war das Leben, so war der Mensch, als soziales Wesen grundsätzlich ausbaufähig.
«Und, schon erste Erkenntnisse gewonnen?», fragte Moritz und lächelte, während die Brüheinheit vor ihm selbstreinigend zischte.
Moritz Liebig war ein großer, dünner Schlaks von siebenunddreißig Jahren, in knapp einer Woche würde er Geburtstag haben, ein rötlich grauer Vollbart machte ihn jetzt schon älter, als er war, er trug ein Eraserhead-Shirt, eine Schiebermütze saß verkehrt herum auf seinem Kopf und verlieh ihm größtmögliche Lässigkeit bei kleinstmöglichem Aufwand. Und das hier, das war natürlich keine Postfiliale, sondern ein Café, sein Café, das Schöne Leben, aber das Prinzip des Menschseins war immer und überall dasselbe. Hinter Kunde Nummer eins warteten die Kunden zwei bis sechs, dicht gedrängt, den hitzegeprägten Körpergeruch des Vordermanns in sich aufnehmend wie ein die Sinne lähmendes Gift.
«Ja, weiß ich doch auch nicht, was gibt’s denn so?», fragte Kunde Nummer eins, er hätte selbstverständlich längst die ausladende Getränkekarte an der Wand studiert haben können.
«Nun», sagte Moritz freundlich, «wir haben Americano, Espresso, Double Espresso, Espresso macchiato, Double Espresso macchiato, Cappuccino, Flat White, sehr zu empfehlen, Caffè Latte, Gibraltar, das ist wie ein Cappuccino, aber mit weniger Milch. Zum Beispiel. Sie können natürlich auch Iced Latte, Iced Cappu, Iced Chai, Espresso Tonic oder Cold Brew haben, sehr mild, trotzdem viel Koffein, der hat vierundzwanzig Stunden in kaltem Wasser gezogen, den gibt es mit Eiswürfeln und Milch, Kuh oder Hafer, es ist ja schließlich Sommer. Und wenn Sie vielleicht noch einen Extra-Shot wollen, den kriegen Sie für fünfzig Cent oben drauf.»
«Was heißt denn Extra-Shot?», fragte der Mann schlecht gelaunt. «Wer erschießt einen denn hier?»
«Niemand. Nicht für fünfzig Cent», sagte Moritz. «Espresso. Es geht um einen Schuss Espresso. Wonach ist Ihnen denn?»
«Kaffee», sagte Kunde Nummer eins. «Stark. Braun. Bitter.»
«Mit Milch?»
«Nur wenn’s nichts zusätzlich kostet.»
«Dann mach ich Ihnen einen Cappuccino.»
Moritz nahm die Maschine in Betrieb und betrachtete Kunde Nummer eins genauer. Es war ein kleiner, kahlköpfiger Verdrossener um die fünfzig, breit gebaut, mit schwarzem T-Shirt und deutlich zu langen kurzen Hosen über bleichen Streichholz-Waden. Die Plattfüße steckten in Sandalen aus dem letzten Jahrhundert, die Zehennägel waren gelblich, der rechte große Zeh blau. Vielleicht ein erstes Zeichen der Verwesung. Moritz beschloss, den Mann Helmut zu nennen. Er mochte den Namen nicht. Er hatte ein Problem mit Verdrossenen, so ganz grundsätzlich, Verdrossene erinnerten ihn an früher. An eine lange, erste Phase seines Lebens, die abgetragen und kompostiert worden war. Helmut stemmte die Hände in die Hüften und blickte sich um, die Nase in die Luft gereckt, den angriffslustigen Blick durch zusammengewachsene Augenbrauen verstärkt. Er räusperte sich lautstark. Eindeutig, jetzt würde Phase zwei folgen, jetzt kam der Teil, in dem so ein Helmut einem die Welt erklärte.
«Da!» Helmut deutete auf das eingerahmte Schild an der Rückwand, auf dem Be Nice Or Go Away stand. «Nett», übersetzte er in einem Ton, als handele es sich um ein Schimpfwort. «Nett sein soll ich. Nett! Also, nichts gegen Nettigkeit, finde ich natürlich gut, so grundsätzlich, so, hier, Nettigkeit.»
«Aha», sagte Moritz lächelnd und versiegelte sein Gehirn.
«Ja, sicher. Aber das ist ja keine Einbahnstraße, sag ich mal. Wenn du, nur mal angenommen, wenn du als Ausländer in unser Land kommst, ja, nichts gegen Ausländer, das sind ja auch arme Schweine, aber wenn du schon Ausländer bist, dann hast du gefälligst nett zu sein, ja, absolut nett hast du zu sein, sonst kannst du nämlich gleich wieder abhauen! Die sollen alle weggehen, die nicht nett sind! Und ich sag das auch laut! Laut sag ich das! Wir wären ein viel besseres Land, wenn hier nur die Netten wären.»
Moritz dachte, dass, dieser Logik folgend, Helmut wohl schon am Flughafen wäre, drehte sich nach hinten und betrachtete das Schild, das er auf dem Sperrmüll gefunden hatte und das er an und für sich für unmissverständlich hielt. Es bezog sich ganz eindeutig auf die vor ihm wartenden Kunden. Auf niemanden sonst. Er überlegte – weil er durchaus zu verqueren Gedankengängen in der Lage war –, ob es da nicht vielleicht doch eine verborgene politische Botschaft geben mochte, so was passierte ja manchmal, da stand auf einem T-Shirt zum Beispiel irgendwas von Zusammenhalt, und wenn man sich das kaufte, war man plötzlich und aus Versehen ein Nazi. Auf Helmuts T-Shirt stand natürlich nichts von Zusammenhalt, da stand riffraff.
«Nice ist ja auch die Übersetzung von Nizza», sagte Moritz, weil es ihm gerade so einfiel und er Helmut in einen kurzen Moment der Verwirrung zu stürzen gedachte. Er kippte den Espresso in eine mintgrüne Tasse und widmete sich mit unverbrauchter Gelassenheit dem zu gestaltenden Milchschaum.
«Ah so, ja, na klar», sagte Helmut leiser werdend, schließlich komplett verstummend. Moritz hob den Kopf. Kunde Nummer vier, der erst in einigen Minuten die ihm zustehende Beachtung erfahren würde, hatte Kunde Nummer drei auf den Rücken geniest, was Kunde Nummer drei nicht einmal bemerkt hatte, weil er kleine, weiße Knöpfe im Ohr trug und mit ausdrucksloser Mimik im Takt des durch sie schallenden Klangerzeugnisses auf den Fußballen wippte. Dafür machten die Kunden fünf und sechs ein angewidertes Gesicht.
«Ich soll eine Stadt sein oder weggehen?», fragte der verdrossene Helmut am Ende seiner Überlegungen.
«Eine Stadt in Südfrankreich», sagte Moritz lächelnd.
«Das ist doch Quatsch jetzt, oder? Das wissen Sie doch. Das hat doch damit überhaupt nichts zu tun, das ist doch Quatsch, nett soll ich sein, nett!»
«Ja, das wäre schön», sagte Moritz und freute sich. Noch subtiler konnte man einem Helmut nun wirklich nicht mitteilen, dass er ein Arschloch war. Kundin Nummer zwei, eine blondgelockte Schönheit mit ebensolchem Säugling im Manduca, lachte auf. Es war ein offenes Lachen, es war ein schönes Lachen. Moritz würde die Frau Dorothea nennen und bekam einen Gute-Laune-Schub. Das war es doch. Das war es, was er immer gewollt hatte: ein Café, das sein Café war und in das jede Menge spannende, vielschichtige Menschen kamen. Gemischt mit ein paar Deppen natürlich, aber das ließ sich nun mal nicht vermeiden, er war ja nicht weltfremd.
Er hatte gut zu tun für einen Donnerstag, fast schon zu gut. Stella, seine studentische Aushilfe, hatte wegen Migräne abgesagt, das kam recht häufig vor und war bedauerlich, aber selbstverständlich kein Kündigungsgrund, außerdem war Stella die beste Barista, die rund um den Hartwigplatz zu haben war, äußerst erprobt im diplomatischen Dienst. Stella hätte dem Kunden Nummer eins, der ganz gewiss nicht Helmut hieß, jetzt innerhalb eines Satzes klargemacht, warum er sich seine Thesen besser für die Reichsbürgerversammlung aufsparen sollte oder den nächsten Parteitag der Bekloppten, dabei wäre sie charmant geblieben und hätte ihm ein formschönes Herz auf den Cappuccino gezaubert. Moritz hingegen gestaltete eine Blume der Liebe und hoffte, der Verdrossene würde es damit gut sein lassen. Tat er aber nicht.
«Weiß gar nicht, was es da zu lachen gibt», giftete der Mann nach hinten. Die Frau gefror ihr Lachen ein und umfasste schützend den Kopf des Babys.
«Ich bin nett! Scheißnett bin ich! War ich immer schon! Immer! Und wohin hat mich das gebracht? Arbeitslos bin ich. Weil ich nett war. Weil ich mich nicht gewehrt habe. Siebenundfünfzig bin ich, keine Sau will mich mehr. Und wenn man sich dann einen Kaffee bestellt, wird man auch noch ausgelacht. Armes Deutschland! Armes, armes Deutschland!»
«Ich glaube nicht, dass jemand Sie auslacht, weil Sie einen Kaffee bestellt haben», sagte Moritz und legte einen Versöhnungs-Keks neben die Tasse. Hatte ja schließlich jeder sein Schicksal, selbst so ein mittelnetter Helmut. Das musste man einrechnen, in Betracht ziehen. Die blonde Frau mit dem Kind im Manduca schwieg und blickte weiterhin zu Boden.
«Dann ist ja gut», murrte Helmut und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nase. In die Schlange hinter ihm kam Bewegung, es war eher ein Zucken, erste Unmutsgesten mischten sich mit eingeschlafenen Füßen und verkürzter Toleranzschwelle.
«Zwei sechzig, bitte», sagte Moritz, verkniff sich ein «trotzdem» und tippte den Betrag in sein iPad. Helmut nahm umständlich den Rucksack ab, so als käme es völlig überraschend, jetzt und an dieser Stelle bezahlen zu müssen, dann öffnete er ungefähr dreiundzwanzig Verschlüsse, tauchte mit der linken Hand in die Tasche ein und murmelte etwas Unverständliches.
«Keine Hektik», sagte Moritz, dachte das Gegenteil, wusste, der nächste Kunde würde ein neuer sein, eine Dorothea, ein schöner Name, Dorothea, und das hier, das war die Dosis Verschlossenheit, Sturheit und Weltabgewandtheit, die er gerade noch ertragen konnte, für ein paar Minuten zumindest, und mit Helmut würde gleich noch die ein oder andere Kindheitserinnerung aus dem Café hinausspazieren, auf Nimmerwiedersehen hoffentlich, und im Großen und Ganzen war ja auch alles in Ordnung, konnte man zufrieden sein, hier, am Hartwigplatz, wo die Anzahl der Cafés nur noch von der der Spielzeugläden übertroffen wurde. Als er, Moritz, ewiger Student, Gelegenheitsjobber und grundsätzlich bar jeglicher Zukunftsvorstellung, plötzlich mit der Eingebung um die Ecke gekommen war, das alte Café Schwarz zu übernehmen, um daraus ein farbenfrohes, modernes Café mit eigener Rösterei zu machen, mit fair gehandeltem Bio-Kaffee und der besten Kaffeemaschine weit und breit, einer Synesso MVP Hydra, die er sich extra in Seattle würde anfertigen lassen, drei Brüheinheiten, da hatten sie alle nur den Kopf geschüttelt, die Freunde, die Nachbarn und natürlich vor allem Jessy, die Mutter seines Sohnes, des zu diesem Zeitpunkt gerade mal einjährigen Elias. «Da kannst du auch gleich ein Sandkorn in die Wüste tragen», hatte Jessy gesagt, «das ist doch Quatsch, hier gibt es doch schon so viele Cafés, warum musst du denn da noch eins danebenstellen?»
«Weil es keines gibt wie meins», hatte er gesagt, vom feinsten Arabica-Kaffee der Welt erzählt, von Qualität und Anspruch und trotzdem fairen Preisen, von Liebe zum Detail und Franzbrötchen, Croissants und Pastel de Nata, von wunderschönem, mitgrünem Geschirr, passend zur ebenfalls mintgrünen Maschine, von Bildern aus The Big Lebowski an der Wand, einem kleinen Shop mit selbstgeröstetem Kaffee und Kannen und Tassen und Bechern, alles geschmackvoll und schlicht, dazu natürlich freies WLAN und einen an der Wand befestigten Zähler, der die hochgereckten Daumen auf Facebook und Instagram anzeigen würde. Kaum hatte er fertig geschwärmt und Jessy den Mund geschlossen, hatte er es auch schon gepachtet gehabt, das dunkle Café Schwarz, hatte sich für ein halbes Jahr auf eine Dauerbaustelle begeben, die dank seiner nicht komplett zu Ende gedachten Finanzierung hauptsächlich von ihm, seinen Freunden Lucky und Philipp und dem Ordnungsamt besucht wurde. Kein Kredit. Kaum Handwerker. Alles Eigenbau. Nur die Kaffeemaschine hatte Lucky bezahlt, zum Glück, denn Lucky war dank gewiefter Börsengeschäfte wohlhabend und konnte sich die zweiundzwanzigtausend Dollar aus der Portokasse leisten. Als Gegenleistung erwartete er freien Espresso auf Lebenszeit. Sonst nichts. Ein guter Freund, der Lucky. Und ein gutes Geschäft für Moritz. Der hatte über dem Ausbau Gewicht, Rücklagen und Nerven verloren, aber nie die Zuversicht. Und irgendwann war es dann eben fertig gewesen, das Schöne Leben, hell, bunt, lebendig, es richtete sich sowohl an Studenten, Mütter und Kreative wie auch an kreative Mütter, die noch studierten.
Helmut legte das Geld auf den Tresen, etwas zu fest, es waren viele Fünf-Cent-Stücke dabei, und machte ein angewidertes Gesicht, weil die Tasse bis zum Rand gefüllt war. Sie würde überschwappen und dafür hatte er nicht bezahlt. Er drehte sich um. «Es ist ja überhaupt nichts zu sitzen frei», schimpfte er. Die Menge vor ihm stöhnte auf, jetzt erfreulich unverstellt. Tatsächlich waren beide Tische, der Stehtresen am Fenster und der Achter-Tisch in der Mitte des Raums besetzt. Schon lange. Schon länger, als Helmut in der Schlange gestanden hatte. Er hätte es also bemerken können. Vorher.
«Ja, was denn?», fauchte Helmut. «Habt ihr ein Problem, oder was?»
Für einen kurzen Moment lag eine Massenschlägerei in der Luft.
«Sie können nach draußen gehen», sagte Moritz mit buddhistischer Gelassenheit. «Da ist eine dreistöckige Sitzbank unterm Fenster. Mit Sonne oder Schatten. Da finden Sie bestimmt was.»
«Sitzbank», ätzte Helmut und verließ das Schöne Leben, vergoss dabei die Hälfte seines Cappuccinos und büßte beim Abgang mit dem Kaffee und dem restlichen Respekt der Kundschaft auch seinen Namen ein.
«Hi», sagte Dorothea, hob den Kopf, trat einen Schritt nach vorne und orderte so schnell wie präzise einen koffeinfreien Flat White, stellte mit ihrem strahlenden Lächeln in umarmenswerter Weise die Balance wieder her. Moritz schenkte ihr einen Brownie.
So ging es noch drei, vier Stunden, es waren niemals weniger als drei Kunden gleichzeitig im Café, Moritz verteilte wie immer heimlich Namen, es waren Lilys, Lottes und Leas dabei sowie der ein oder andere Kevin und auch einmal ein Siegfried. Er arbeitete im Akkord, ohne dass es ihm etwas ausmachte. Im Gegenteil, er war der festen Überzeugung, etwas Gutes zu tun, Kultur in die Stadt zu bringen, Lebensqualität.
Um kurz nach neunzehn Uhr kam Jessy mit ihrem gemeinsamen Sohn Elias, um ihm beim Aufräumen zu helfen und ihn daran zu erinnern, dass er eine Familie hatte. Moritz fand sie jeden Tag schöner, diese hochgewachsene, schlanke Frau mit dem Tuch im schwarzen, lockigen Haar, den Sommersprossen im Gesicht und der zum Reinbeißen niedlichen Stupsnase über einem geschwungenen Mund, den man ununterbrochen küssen wollte. Dazu hatte sie Witz, Kraft und Energie, war schlau, meinungsstark und an allem interessiert, was nicht Fußball war. Eine Frau fürs Leben. Von der Moritz immer mal wieder dachte, sie sei zu gut für ihn. Beziehungsweise er zu wenig gut für sie.
«Brauchbarer Tag?», fragte sie, während Elias ihm die Arme entgegenstreckte.
«Brauchbarer Tag bis auf Helmut», sagte er, gab ihr einen verschwitzten Kuss auf die Wange, nahm seinen Sohn auf den rechten Arm und tütete mit der linken Hand einen letzten Caffè-Soja-Latte für eine vegane Stammkundin namens Valentina ein, die immer ein wenig zu spät kam, deren Name dafür ausnahmsweise echt war und die ihren Becher selbstverständlich mitgebracht hatte. «Danke», sagte Valentina mit rauchiger Stimme, sie war irgendwas zwischen fünfunddreißig und fünfzig, unmöglich zu sagen, winkte zum Abschied und entschwand geisterhaft schwebend und rothaarig in eine geradezu umwerfend vegane Abendstimmung.
«Ein neuer Helmut oder ein alter?», fragte Jessy und wischte ein paar Zuckerkrümel vom Tisch.
«Ein neuer. Kommt bestimmt nicht wieder.»
Moritz wuschelte Elias durchs Haar und pustete ihm spielerisch gegen die Nase. Elias lachte, pustete zurück, und Moritz war geduscht. In diesem Moment meldete sich sein Telefon. Das war an und für sich nichts Besonderes, das konnte schon mal vorkommen, heute aber hatte es den ganzen Tag auf der Ladentheke gelegen, still, bescheiden, teilnahmslos, nur ab und zu über akustische Signale den Eingang von Mails, Tweets und Kurznachrichten vermeldend. Nun aber spielte es You’ve Got A Friend In Me von Randy Newman. Und das tat es nur, wenn jemand anrief.
In der Regel waren es Lucky oder Philipp, die sich auf diese altmodische Weise meldeten, aber im Display stand weder Lucky noch Philipp, da stand eine Nummer, die nicht eingespeichert war und die Moritz dennoch sofort erkannte, so wie man selbst nach langen Jahren der Abstinenz den Geschmack von Karottensaft wiedererkannte. Er hätte vor Schreck beinahe seinen Sohn fallen gelassen.
«Oh Scheiße», sagte er.
Jessy streckte die Arme aus, Elias wanderte auf die andere Seite der Macht. «Wer denn?», fragte sie.
Moritz antwortete nicht, fuhr die rechte Hand in Richtung Telefon aus, zögerte, zuckte zurück, aberwitzige Gedanken schossen ihm durch den Kopf, sie führten durch seine gesamte Kindheit, ganz gewiss war es nun passiert, war das eingetreten, was schon seit vielen, vielen Jahren absehbar gewesen war und wovon er immer gehofft hatte, es niemals zu erfahren. Sollte er jetzt rangehen oder nicht? Noch einmal der Anfang des Refrains, dann würde seine Mailbox anspringen und ihm die Entscheidung abnehmen. Seine Augen lösten sich vom Display, seine Hand griff zum Gerät, aber es war zu spät. Verpasster Anruf stand da, dann hieß es warten, sekundenlang, ewig, aber niemand hatte auf die Mailbox gesprochen oder, das war natürlich auch denkbar, sprach noch immer, so lange, bis sie voll war, die Mailbox, aber das passte so gar nicht zu der Anruferin, die er hinter der Nummer vermutete.
«Was ist denn los?», fragte Jessy, die Moritz noch nie so geschockt erlebt hatte.
Moritz fühlte einen Eisklotz auf seiner Brust. «Mein Vater ist tot», sagte er.
Sie gingen als Dreierkette, Hand in Hand, Elias in der Mitte. Weit hatten sie es nicht, ihre Altbauwohnung mit dem albern goldenen Stuck an der Decke und den charmant-beängstigenden Rissen in den Wänden war nur zwei Straßen vom Schönen Leben entfernt. An Elias war die schlimme Botschaft vorbeigegangen, er plapperte unaufhörlich, vom Kindergarten, von bemalten Kreidetafeln, von kleinen Blumen, die aus den Ritzen der Pflastersteine wuchsen, von einem Mädchen namens Karina, das sich in der Mittagsruhe immer noch in die Hosen machte, von Vanilleeis, das jetzt und zwar genau jetzt unbedingt auf den Speiseplan gehörte. Normalerweise ging Moritz auf ihn ein, fragte nach, half seinem Sohn, seine Gedanken zu ordnen, heute aber ließ er ihn einfach erzählen und hing seinem eigenen Gemisch aus Erinnerungen, Gefühlen und Ahnungen nach. Zurückgerufen hatte er nicht. Bisher jedenfalls. Wie lange hatten sie eigentlich keinen Kontakt gehabt, seine Mutter und er? Moritz betrog sich selbst, tat so, als koste es ihn Mühe, den Zeitraum zu bestimmen, dabei wusste er es ganz genau: Es waren zwanzig Jahre. Fast genau zwanzig Jahre. Moritz war mit achtzehn ausgezogen, an seinem Geburtstag, als kleine Überraschung für die nähere Verwandtschaft, es hatte Aufruhr gegeben, Tränen, Vorwürfe, Verweigerung finanzieller Unterstützung, ja sogar die Drohung einer Enterbung, dann war Funkstille gewesen, und Moritz hatte bemerkt, dass es ihm damit besser ging, dass er hauptsächlich Wut verspürte und dass diese nicht abnahm, wenn er die Stimme seiner Mutter oder, was sowieso höchst unwahrscheinlich gewesen war, die seines Vaters hörte. Zum ersten Weihnachtsfest war noch ein kleines Paket angekommen, in seiner neuen Bleibe bei seinem Freund Lucky, zum zweiten ein Brief, zum dritten eine Postkarte, dann nichts mehr. Endlich. Frieden. Erleichterung. Ruhe.
Nicht einmal zu seiner Schwester Nina hatte er noch Kontakt, die sich zum Zeitpunkt seines Auszugs in einer sehr ausgeprägten Phase der Pubertät befunden hatte, er erinnerte sich an Essstörungen, Drogen, Wutanfälle und ausschließlich schwarze Kleidung, Moritz war mit sich selbst beschäftigt gewesen, in seiner eigenen Rebellion gefangen, hatte sich von allem losgesagt und es irgendwie versäumt, die Verbindung wieder herzustellen. Nina lebte jetzt irgendwo in Amerika, soviel er wusste. Aber ganz sicher war er sich nicht.
Seitdem war zwar kein Tag vergangen, an dem Moritz nicht an seine Familie gedacht hätte, aber es waren auch weiterhin ausschließlich negative Gedanken gewesen, nichts hatte sich verändert, außer dass die Zeit die Wunden wenigstens einigermaßen überdeckt, wenn auch keinesfalls geheilt hatte. Moritz sah an seiner Seite herunter und drückte Elias’ Hand. Er war erleichtert über die Liebe, die er ihm schenken konnte.
Sie schlenderten durch die Mommsenstraße, deren Lebendigkeit durch allerlei Baugerüste gestört war, und Moritz erinnerte sich unvermittelt an eine Begebenheit, die sich zugetragen hatte, als er sieben Jahre alt gewesen war. Damals hatte sein Vater ein Baumhaus für ihn gebaut. Wie Moritz zunächst gedacht hatte. Eine von vielen bitteren Erinnerungen, aber vielleicht in der Chronologie die erste, die er so detailliert vor sich sah, als hätte er sie abgefilmt (alles davor waren nichts als Fotos, schwarzweiß, unscharf und kaum belichtet). Andere Kinder, von anderen Eltern, dachten beim Stichwort Kindheit vielleicht an etwas Schönes, an Baden im See, das Aufbauen von Zelten, Ballspiele im Garten, das gemeinsame Erforschen der Welt, aber Moritz hatte keine solchen Erinnerungen. Da war nichts. Das, was er hatte, war das Baumhaus.
«Jetzt ist auch mal gut», sagte Jessy. Moritz zuckte zusammen, als hätte sie ihm vors blanke Schienbein getreten. Mit einer Stahlkappe.
«Was? Womit?»
«Mit der Grübelei. Du stolperst ja fast über die eigenen Beine.»
«Ich dachte, ihr haltet mich fest.»
«Bringt doch nichts, sich verrückt zu machen.» Jessy entfernte im Gehen einen verzweifelten Käfer aus den Haaren ihres Sohnes. «Du weißt nix.»
«Na ja, wenn’s danach geht, dürfte ich mich ja nie verrückt machen.»
«Siehst du, jetzt weißt du was.»
«Da», sagte Elias und zeigte auf einen besonders hohen Kran, der sich im Sonnenschein mit elegantem Schwung um die eigene Achse drehte. «Bis zum Himmel.»
«Und darüber hinaus», sagte Moritz und lächelte seinen Sohn mit einer Wärme und Zuneigung an, die ausnahmsweise auch ihm selbst galt.
Moritz rief nicht zurück. Nicht vor dem Abendessen und nicht danach. Er blieb angespannt, hielt sich in der Nähe des Mobiltelefons auf, das er so ungern am Körper trug – er war gegen Strahlung und permanente Verfügbarkeit –, drehte es hin und her, starrte es an, als wäre es ein zwar ekliges, doch irgendwie auch faszinierendes Tellergericht aus Teufels Küche.
Jessy hatte Elias zu Bett gebracht und ihn zwischendurch gewiss sechzehn Mal gefragt, ob er, Moritz, es jetzt nicht endlich tun wolle, sich Erleichterung verschaffen, eine kleine Taste drücken, die nicht mal eine richtige Taste war, sondern nur eine optische Entsprechung davon, mein Gott, das sei doch nun wirklich nicht so schwer. Es könne ja auch etwas ganz Harmloses sein, zum Beispiel der mutige Sprung über den eigenen Schatten, der Versuch einer freundlichen Kontaktaufnahme, eine Erbschaftsangelegenheit, eine dringende Buchempfehlung, was auch immer. Moritz hatte nur den Kopf geschüttelt, bis ein Schleudertrauma drohte, dann hatte er sich um zwanzig Uhr der Diskussion entzogen und sich in der Tagesschau von den üblichen Katastrophen dieser Welt berieseln lassen, bis er beim noch mehr Hitze versprechenden Wetterbericht ausgeschaltet hatte. Alles, was er soeben gehört und gesehen hatte, war an ihm vorbeigezogen wie ein Gewitter in dreißig Kilometer Entfernung. Er fragte sich, warum er eigentlich nie die Telefonnummer gewechselt hatte, warum dies immer noch seine erste war, warum es so einfach war, ihn aufzuspüren, dann versuchte er, sich seine Mutter bildlich vorzustellen, zwanzig Jahre später, es musste seine Mutter gewesen sein, die angerufen hatte, sein Vater hatte nie telefoniert, auch damals nicht – keine Freunde, keine Kontakte, kein Interesse. Weltekel, Bier und Schnaps, das war sein Vater gewesen, Schulterzucken und der Versuch, ohne Mittel zu retten, was nicht zu retten war, seine Mutter.
Er betrachtete das Display. Es sah fremd aus. Das ganze Telefon sah fremd aus. Es war, wie in eine Wohnung zurückzukehren, in die eingebrochen worden war. Man verlor mehr als nur seinen Besitz. Man verlor das Urvertrauen in die Umgebung. Er fühlte sich entblößt, morgen würde er die Nummer wechseln, endgültig, es wurde aber auch Zeit, flexibel zu sein, Neues zu wagen. Seine über zwanzig Jahre so mühsam erarbeitete Leichtigkeit war von einem auf den anderen Moment dahin, warum ging das bloß so schnell, ein bisschen mehr Stabilität hätte es dann doch sein dürfen, enttäuschend war das.
«Jetzt mach nicht so ein Gesicht», sagte Jessy und hüpfte ganz und gar unelegant auf ihrem Gymnastikball durch das Wohnzimmer. Sie wusste, dass ihn das normalerweise amüsierte. Moritz sah ihr zu, wie sie absichtlich gegen die Heizung krachte und seitlich zu Boden stürzte. Er verzog keine Miene.
«Nur Schönheitschirurgen können Gesichter machen», sagte er. «Ich kann das nicht.»
«Du kannst mehr, als du denkst», sagte sie ächzend und rappelte sich auf. Das sah dann doch erheiternd aus. «Zum Beispiel deine Laune verbessern. Ruf jetzt zurück. Bring es hinter dich. Sonst kannst du heute Nacht nicht schlafen.»
«Kann ich sowieso nicht.»
«Selbstmitleid ist so 2015.» Jessy rollte mit den Augen, selbst in einem Stummfilm hätte man es übertrieben gefunden. «Kann ich nix mit anfangen. Los, steh auf und eröffne noch ein Café oder so. Auf jeden Fall tu was.»
Moritz stand auf, ging zum Fenster, betrachtete das abendliche Treiben auf der Straße, die fröhlichen Menschen, Sommerhüte und Flip-Flops, einen pinkelnden Hund, Passanten in geschmacklosen T-Shirts. Plötzlich fühlte er sich selbst beobachtet, so als starre jemand zu ihm herauf, aber nein, das war natürlich Unsinn. Da war niemand. Niemand, der sich für ihn interessierte. Er trat zurück, nahm eine Handvoll Salzstangen aus dem Glas vor sich und steckte sie alle gleichzeitig in den Mund. «Achmensch», nuschelte er. «Sokannichnichtelefoniern.»
Jessy lachte, Moritz verließ das Wohnzimmer, ging ins Bad, das kalte Neonlicht zeigte ihn, wie er sich fühlte, und schluckte die Pampe herunter. Er hob den Kopf. Da im Spiegel, da waren müde Augen, die älter wirkten als er. Es waren die Augen seines Vaters.
Als Jessy das Schlafzimmer betrat, tat Moritz so, als würde er schlafen. Es war inzwischen dunkel geworden, die wechselnden Lichter der Straße projizierten Schatten an die Wand, kleine Figuren, geometrische Formen. Das Windspiel aus Pappmaché, das Elias im Kindergarten gebastelt hatte, schlug rhythmisch gegen die Scheibe. Sie mussten es dringend abnehmen, dachte Moritz hinter geschlossenen Lidern, Psychoterror war das, eine Foltermethode, die Rache des noch sehr kleinen Mannes an seinen Erzeugern, das durfte man sich nicht gefallen lassen, das nicht auch noch, die paar Tränen würden sie schon aushalten, ha, es musste ja auch gar nicht nach dem Willen des Kindes gehen, nicht immer, das war sowieso ein Wahnsinn heutzutage, früher hätte es das nicht gegeben, da hatten die Kinder gefälligst zu gehorchen, Disziplin war das Zauberwort gewesen, Disziplin und Respekt, aber heute? Heute rollte man für all die Hypersensiblen den roten Teppich aus, die Hochbegabten, um ja keinen seelischen Schaden anzurichten. Und davon, ja, da biss sich die Katze nämlich in den Schwanz, davon allein musste man natürlich einen Schaden bekommen, so als Kind, drei Jahre alt, drei Gehirnzellen, aber alle Freiheiten dieser Welt, die einem im Verlauf des Lebens Stück für Stück wieder weggenommen wurden. Wer sollte das denn verkraften? Oder auch nur verstehen? Moritz presste die Augen fest zusammen, folgte dem reaktionären, ja misanthropischen Weg seiner Gedanken, denen er in einer etwaigen Diskussion keinesfalls zugestimmt hätte, ärgerte sich über sich selbst und wusste genau, wo das herkam, wo diese Art von Gedanken ihren Ursprung genommen hatte.
Er atmete tief, er atmete fest, hatte auf gar keinen Fall Lust, noch zu reden. Nicht einmal mit Jessy. Er wusste, dass sie ihn die letzten Stunden geschont hatte. Sie hatte im Wohnzimmer telefoniert, mit ihrer besten Freundin Deike (was er daran erkannte, dass sie kaum zu Wort gekommen war), anschließend Musik gehört und ihn diskret in Ruhe gelassen. Gut so. Ein weiterer Grund, sie zu lieben.
«Schläfst du?», flüsterte sie nun.
Er sog geräuschvoll die Luft ein.
Jessy lachte. «Schlecht», sagte sie. «Amateur.»
«Was?» Es war nur ein Krächzen, leicht übertrieben, aber es schien von sehr weit weg zu kommen.
«Schon besser», sagte sie. «Aber null Chancen auf einen Oscar. Vielleicht ein Emmy. Wenn die Drehbuchautoren wieder streiken und sonst keiner nominiert wird.»
Sie zog ihr schwarzes, ärmelloses T-Shirt aus, Moritz öffnete vorsichtig und nur ein ganz klein wenig die Augen. Ihre Brüste sahen im Halbdunkel bemerkenswert aus, so vom Grundsatz her. Normalerweise hätte er sich jetzt angemessen dafür interessiert, aber was war heute schon normal? Oder angemessen? Jessy entledigte sich auch der Jeans und des Slips, schmiss die Klamotten achtlos auf den Stuhl aus dem Ankleidezimmer ihrer Großtante und legte sich neben ihn. Sie schlief nackt, immer schon, ob im Sommer oder im tiefsten Winter. Sie liebte das, fühlte sich dadurch frei und unangepasst, wenigstens des Nachts. Seltsamerweise führte es nicht dazu, dass Moritz sie im Laufe der Zeit weniger attraktiv gefunden hätte (das nämlich war seine heimliche Befürchtung gewesen), eher im Gegenteil. Sie hatten nach wie vor ein erkleckliches Maß an Sex, vielleicht sogar weil der Akt der Verführung durch Jessys Freizügigkeit eine stressvermeidende Abkürzung nahm.
«So kenn ich dich gar nicht», stellte sie fest, rollte sich auf den Bauch und legte ihr rechtes Bein über das seine.
«Hast du mit der Dings telefoniert?», fragte er, seine Stimme klang rau. So viel zum Thema Schweigen und Ruhe.
«Die Dings heißt Deike», sagte Jessy. «Und du weißt das.»
«Ach so?»
«Ja, sicher. Du sagst Dings, um sie abzuwerten, so ganz mies von oben herab, nach dem Motto, da kann ich mir nicht mal den Namen merken, so unbedeutend ist die, die Dings.»
«Nee, die ist doch nicht unbedeutend», sagte Moritz. «Deine beste Freundin ist das. Das ist doch sehr bedeutsam. Und wie geht’s der so, der Dings … Deike?»
«Die Deike hat ’ne Krise», sagte Jessy.
«Die Deike hat immer ’ne Krise. Weiß gar nicht, ob man da noch Krise sagen kann, wenn jemand das immer hat. Eine Krise muss doch auch mal irgendwann anfangen und wieder aufhören, sonst ist es keine Krise, sondern ein Zustand. Ein Dauerzustand.»
«Moritz, ich weiß, dass du die Deike nicht leiden kannst.»
«Das hab ich nicht gesagt», behauptete Moritz.
«Deike hat selbst zugegeben, dass sie zu viel redet. Und dass sie das aber nur deshalb tut, weil sie keinen Partner hat und einsam ist und die Stille nicht ertragen kann.»
Moritz grunzte. «Genau andersherum ist das. Die Deike hat keinen Partner, weil sie die ganze Zeit durchsabbelt. Wer soll denn das aushalten? Vor allem ist da null Inhalt dabei, da bleibt nichts hängen, ein einziger Hagelsturm aus Buchstaben ist das, und dann schmilzt das alles weg und hat überhaupt keinen Nährwert.»
«Das ist gemein.»
«Nee, das ist wahr. Ihr habt doch bestimmt eine Stunde telefoniert, also, du hast eine Stunde geschwiegen, was hat sie dir denn erzählt, die Deike? Na? Na?»
Jessys Miene verfinsterte sich. Zumindest dachte sich Moritz das, sehen konnte er solche Feinheiten im Zwielicht ja nicht. «Weiß ich jetzt auch nicht», sagte sie schließlich. Es klang trotzig. «Dass sie zu viel redet halt.»
«Also viele Worte, die von vielen Wörtern handeln.»
«Kann ja nicht jeder so tolle Freunde haben wie du, Moritz», fauchte Jessy. «Ich wette, wenn du dich mit Lucky oder Philipp triffst, dann redet ihr überhaupt nicht. Dann seid ihr so Vorzeigemänner, kein Gesichtsausdruck, kein Wortschatz, null Bewegung, jeder eine Pulle Bier in der Hand und immer schön nach vorne gucken.»
«Nee, so ist das ja auch nicht», verteidigte sich Moritz.
«Wie denn sonst?»
«Wir gucken auch mal zur Seite.»
«Sehr witzig. Was ist denn jetzt mit deinem Vater?»
«Was soll denn mit dem sein?»
«Blöde Frage. Du schindest Zeit.»
Moritz begann zu schwitzen. Er musste unbedingt daran denken, den Ventilator anzustellen. Er fummelte umständlich die Decke aus dem Laken, viel zu warm war das hier, und schmiss sie nach einigem Gezappel auf den Boden. Ihre Wohnung befand sich sowieso in einem dauerhaft improvisierten Zustand, Arbeit und Kind entschuldigten alles, da konnte man schon mal eine Decke auf den Boden werfen und erst später wieder aufheben.
«Weißt du, wovor ich am meisten Angst habe?», fragte er, nachdem er das völlig verdrehte Laken wie ein Leichentuch über sich ausgebreitet hatte, «ich hab eine Wahnsinnsangst davor, dass sich das so fortsetzt. Dass das so ’ne Art Familientradition wird. Dass Elias mich mal genauso sieht wie ich meinen Vater.»
«Kann ich mir nicht vorstellen.»
«Konnte mein Vater sich bestimmt auch nicht. Vorher. Der hat doch kein Kind in die Welt gesetzt und gesagt, so, jetzt geht’s los, ab heute bin ich mal ein Scheißvater, das war ich noch nicht, das probiere ich mal aus, dem Jungen werde ich’s zeigen, der wird noch bereuen, dass er überhaupt geboren wurde. Mein Vater wird sich doch gefreut haben am Anfang, der wollte bestimmt auch alles richtig machen. Hat er aber nicht. Und wer weiß schon, was ich jetzt mache?»
«Du machst vieles richtig. Nicht alles. Aber vieles.»
«War das jetzt ein Kompliment?»
«Irgendwie.»
«Danke.»
«Du liebst Elias.»
«Das stimmt.»
«Also, was willst du mehr? Ist doch schon mal ein guter Anfang. Glaubst du denn, dein Vater hat dich geliebt?»
«Schwer vorstellbar.»
«Bestimmt hat er das.»
«Egal. Er ist tot.»
Sie drehte sich auf den Rücken. «Okay», sagte sie. «Mal angenommen, dein Vater ist tot. Bist du traurig? Wenigstens ein bisschen?»
«Nein», sagte Moritz. «Das ist es ja. Da ist nichts. Gar nichts. Leere ist da. Das ist doch scheiße. Ich wäre echt gern traurig. Ich meine, was ist man denn für ein Mensch, wenn der eigene Vater stirbt und man fühlt nichts?» Er schlang den Arm um sie, obwohl er eigentlich gerne selbst in den Arm genommen worden wäre, und roch an ihrem Haar. Es duftete würzig, blumig und nach Kinderbadewanne.
«Ich will nicht, dass du jetzt die ganze Zeit so selbstmitleidig bist», sagte sie entschieden und entwand sich seinem Arm. «So passiv. Das bist nicht du. Ich will, dass du Verantwortung übernimmst. Ich will, dass du morgen früh zurückrufst und heute Nacht gut schläfst, weil nichts, was bei diesem Anruf herauskommt, das kaputt machen kann, was wir hier haben. Nicht Elias, nicht mich, nicht uns, nicht das Café. All das bleibt. Du rufst da an, setzt dich für ein paar Tage mit dem Kram auseinander wie ein erwachsener Mensch, und danach hast du es überwunden, deinen Frieden gemacht, und es geht dir besser denn je. Ist das klar?»
Moritz schwieg. Draußen fuhren schwankende Menschen auf schwankenden Fahrrädern vorbei, es waren mindestens zwei, vielleicht drei. Nach einigen Metern, sie waren bereits erheblich leiser geworden, es musste kurz vor der Kreuzung zum Hartwigplatz sein, gab es einen Zusammenstoß, ein Poltern, dann Aufpralle auf Asphalt, kurze Stille, schallendes Gelächter, noch einmal Geklapper, einen unterdrückten Schmerzenslaut, dann nichts mehr.
«Das sind alles solche Idioten», sagte Moritz leise.
«Könnte von deinem Vater sein, der Satz», sagte Jessy. «Zumindest nach dem, was du erzählt hast.»
«Genau», sagte Moritz. «Das ist original mein Vater. Du kannst das dein Leben lang bescheuert finden, wenn jemand so ist, aber wenn du das mit der Muttermilch aufsaugst, also der Vatermilch, dann ist das halt in dir drin. Da geht das ganz leicht, solche Sätze zu sagen. Ich könnte jetzt die ganze Nacht schlimme Sachen sagen. Da müsste ich nicht mal überlegen. Ich könnte so lange alles scheiße finden, bis du die Koffer packst, weil die Zimmerdecke anfängt, dich zu erdrücken. Ich sag’s dir, der Typ ist wie Asbest. War wie Asbest.»
«Okay.» Jessy griff auf Hüfthöhe unter seine Decke und ertastete das, was da war. «Schluss jetzt. Hier habe ich ein Gegenmittel. Ich opfere mich. Für dich. Du schläfst jetzt mit mir. Muss nicht lange sein, siebeneinhalb Minuten reichen, damit wir knapp über dem Durchschnitt liegen. Dann sind alle zufrieden, du kriegst einen Kuss auf die Stirn, einigermaßen liebevoll, sofortige Bettruhe, tiefer Schlaf, morgen frühstückst du, aber keine Cornflakes, sondern was mit Obst, du fühlst dich gut und entspannt und gehst in dein Café. Auf dem Weg dorthin rufst du deine Eltern an. Und du wirst sehen, es ist alles ganz anders, als du denkst. Verstanden?»
«Verstanden», sagte Moritz und zögerte.
«Was?»
«Keine Cornflakes?»
Der nächste Morgen war äußerlich sonnig und innen bewölkt. Vor dem Haus lärmte die Müllabfuhr und riss Moritz noch vor der Zeit aus dem leichten Schlaf, in den er erst wenige Stunden zuvor gefunden hatte. Er stöhnte, schniefte. Die Augen waren verquollen, die Nase verstopft. Der Scheißventilator. Wusste doch jeder: nachts nicht den Scheißventilator anmachen! Man kam aus solchen Nächten einfach nicht als derselbe heraus, als der man hineingegangen war. Moritz versuchte, die verklebten Augen zu öffnen, es fühlte sich an, als hätte Elias auf den Lidern mit Knetgummi experimentiert und wie immer vergessen, hinterher aufzuräumen. Jessy neben ihm seufzte unwillig, sie spürte, dass er wach war, und war selbst noch nicht bereit dafür. Er holte Schwung und setzte sich auf die Bettkante, die Ellbogen auf die Oberschenkel, den Kopf auf die Handflächen gestützt. Die linke Hüfte schmerzte. Er dachte an ihre gestrige Unterhaltung, an sein Zugeständnis. Sollte er es wirklich tun? Zurückrufen? Oder sprach nicht doch einiges dagegen? Seine Feigheit zum Beispiel? Manchmal schien es ihm, als hätte er seine Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, bei der Einrichtung des Cafés aufgebraucht. Damals hatte er jeden Tag Dutzende Entscheidungen gefällt, einige waren sogar wichtig gewesen, es war ihm leicht und leichter gefallen, hatte Spaß gemacht, hier noch eine Vintage-Lampe, da die besonders seltenen Küchenkacheln vom Flohmarkt, aber als das Schöne Leben ausgestattet gewesen war, da war es mit Moritz’ Entschlussfreudigkeit vorbei gewesen. Ab sofort wurde abgewägt. Abwägen, was für ein furchtbares Wort. Fast so schlimm wie Erwachsensein. Und dafür gab es nicht einmal ein anständiges Wort. Erwachsensein, das war doch kein Wort, ein Konstrukt war das, ein aus zwei Wörtern hilflos zusammengesetzter Zustand. Und noch nicht einmal ein guter. Moritz war, ja, das musste man zugeben, ein Zauderer geworden, manchmal war das gut, manchmal war es schlecht, er wollte sich da nicht festlegen.
Er ließ sich wieder zurücksinken, wälzte sich herum, lauschte dem Crescendo der Stadt und blieb so lange liegen, bis der Wecker klingelte. Jessy federte hoch, ausgeruht und frisch, so als hätte sie die Nacht im Sauerstoffzelt verbracht und zehn Stunden durchgeschlafen. «Morgen!», frohlockte sie, gab ihm einen Klaps auf die schmerzende Hüfte und sprang wie ein gedoptes Reh von der Matratze, auf das Parkett, in den Flur. Er hingegen quälte sich in die Sitzhaltung, gerädert, muffelig. Heute war er nicht achtunddreißig, heute war er dreiundachtzig. Kleiner Zahlendreher, konnte ja mal vorkommen, jeder Tag war anders, jeder Tag war neu. Er erhob sich, schleppte sich in Richtung Bad, Tonnen lasteten auf seinen schmalen Schultern, Elias kam ihm schon entgegen, den Stoffhasen Beppo im Arm, und beförderte ihn mit der Botschaft, dass Beppo ja heute Geburtstag habe, zumindest vorübergehend aus seiner Tristesse. Beppo hatte zwar auch schon gestern und vorgestern Geburtstag gehabt, bekam aber dennoch eine brennende Kerze und ein nur geringfügig angelutschtes Bonbon zum Frühstück, Jessy sang ein wunderschönes Happy Birthday und ermunterte Elias, für Beppo ein Geburtstagsbild zu malen. Schließlich sei Beppo ja jetzt drei, und was wäre das für ein Geburtstag ohne Geschenk. Elias war zufrieden, Moritz schüttete seine Cornflakes, die keinesfalls Obst waren, in sich hinein, als wären sie pures Vitamin V. V wie Vergessen. Er blieb in sich versunken, begann zunehmend erfolgreich, sich den gestrigen Anruf schönzudenken, als einen Irrtum, eine Laune der Telefongesellschaft, eine Fehlschaltung, eine Halluzination, das versehentliche Antippen einer genauso versehentlich eingespeicherten Nummer. Dabei gab es sogar kurze Momente, in denen er nicht an seine Eltern dachte, zum Beispiel als Elias ihm den Inhalt seiner Müslischüssel vor Lachen mitten ins Gesicht spuckte, nur weil er sich eine ausgesprochen dreckige Kindersocke über die Nase gestülpt hatte. Jessy wischte ihm mit einem alten Metallica-T-Shirt über die befleckten Wangen, gab ihm einen Kuss auf die Kappe, flüsterte ein sanftes «Anrufen!» und klemmte sich Elias unter den Arm. Sie würde ihn in die Kita Sorgenfrei bringen, um direkt danach mit dem Fahrrad zum Roten Stern zu fahren, einer linksalternativen Buchhandlung, in der sie nach wie vor drei bis vier Mal die Woche arbeitete.
Jessy liebte diese Buchhandlung, und Moritz liebte sie auch. Hier hatten sie sich kennengelernt, Jessy und er, damals, als er das Buch eines isländischen Autors gesucht hatte, dessen Namen er sich weder gemerkt noch aufgeschrieben hatte und der daraufhin die nächsten eineinhalb Stunden für sich in Anspruch genommen hatte. Die Voraussetzungen für Weiteres waren dabei nicht sonderlich gut gewesen, Moritz war mit einer frisch erstandenen Großpackung Toilettenpapier unter dem Arm in den Laden gekommen und hatte den dazugehörigen Duft gleich mitgebracht, da direkt vor dem Roten Stern ein jüngst verklungenes Gewitter allerlei olfaktorischen Unrat aus der Kanalisation in die Luft und damit in seine Klamotten befördert hatte. Jessys Sinne waren also aufs Übelste herausgefordert worden. Dennoch, da war dieses Lächeln, diese Neugier, in der sie sich auf Anhieb gegenseitig erkannten. Unter Aufbringung detektivischer Fähigkeiten und einer gehörigen Portion Abenteuerlust hatten sie vor dem Computer die Köpfe zusammengesteckt (dabei waren sie sich wirklich sehr nahe gekommen) und intensiv geforscht – Island, Autor, irgendwas mit Zeit –, verschiedene andere Kunden waren gekommen und dank ausgeprägter Missachtung enttäuscht bis verärgert wieder gegangen, Moritz hatte irgendwann begonnen, aus Gründen des Wohlbehagens die Ergebnisfindung zu verzögern, dann aber ließ es sich nicht länger vermeiden, hatten sie ihn aufgespürt, den Autor, der eine Autorin war, eine gewisse Steinunn Sigurðardóttir, die so ganz ohne schriftstellerisches Zutun zum Schlüssel ihrer gemeinsamen Zukunft wurde. Moritz hatte es natürlich bestellt, das Buch, und Jessy im Hinausgehen nach mehrmaligem Zögern, Stammeln, Öffnen der Tür, Vergessen des Toilettenpapiers und Zurückkehren mit konzentriertem Mut zum Kaffee eingeladen. Jessy hatte gelacht, mit diesem wunderbaren, schallenden Jessy-Lachen, das zukünftig sein liebster Begleiter werden würde, dann hatte sie zugestimmt, zu seiner großen Verblüffung, und ihm dabei verschwiegen, dass sie einen festen Freund namens Viktor hatte, der sich am Ende des Abends würde umbenennen müssen. Sie war nach Ladenschluss mit Moritz in ein Café gegangen, das gar nicht mal so guten Kaffee gekocht, sie aber beide ohne Umschweife in eine flirrende Verliebtheit geführt hatte. Das Buch, es hieß Der Zeitdieb, war von Moritz bis zum heutigen Tag nicht gelesen worden. Selbstverständlich nicht. Das Risiko des Nichtgefallens war einfach zu groß. Aber es hatte einen Ehrenplatz im Regal. Direkt neben dem Fänger im Roggen. Es war sehr gut, das Buch zu besitzen.
Moritz zog die Wohnungstür hinter sich zu, schloss nicht ab und stieg die Stufen hinunter, sie wohnten im vierten Stock; das Telefon in der rechten, vorderen Hosentasche trug er wie eine Waffe, deren Gebrauch man als Pazifist unbedingt zu vermeiden suchte. Er passierte die Briefkästen, ignorierte die im Dutzend ausgeschütteten Werbezettel eines indischen Lieferdiensts und verließ das Haus, die grobe Holztür schloss sich träge hinter ihm, er blinzelte in die Sonne, sie schien greller, heißer und einschüchternder als am Vortag, und begann augenblicklich mit der Prokrastination. So nannte man das nämlich jetzt, wenn man das Notwendige durch konsequente Ablenkung zu vermeiden trachtete. Ein Modewort, dieses Prokrastinieren, ein Modewort für eine der ältesten Tätigkeiten der Welt. Moritz trat in die Backstube nebenan, der Betreiber war ein Marokkaner namens Mehdi, bei ihm war alles glutenfrei, Bio, regional.
«Du hast bald Geburtstag», frohlockte Mehdi und klatschte in die Hände. «Ein Fest? Ein großes Fest mit extra Kuchen und hochprozentigen Getränken?»
«Ich feiere meinen Geburtstag nicht», sagte Moritz und kaufte zehn Croissants, die er im Schönen Leben weiterzuverkaufen gedachte und die extra für ihn gebacken worden waren. Der enttäuschte Mehdi gab ihm die Papiertüte mit den Croissants, Geld wechselte den Besitzer, sie verbeugten sich leicht voreinander, dann trat Moritz wieder auf die Straße, war fahrig, nervös, dachte an das Telefon, sein Versprechen und machte sich auf den heute irgendwie beschwerlichen Weg in Richtung Café, die Straße entlang. Er hatte plötzlich sehr, sehr wichtige Dinge zu überlegen, die zwar nicht recht greifbar, aber unaufschiebbar waren, zwei Männer vom Ordnungsamt verteilten auf der gegenüberliegenden Straßenseite Strafzettel, das wollte beobachtet werden, er grüßte mal hierhin, mal dorthin, der ein oder andere Kinderwagen kam an seiner Seite zum Stehen, Moritz hatte für jede Mutter und jeden Vater ein nettes Wort, Kundenbindung war das, gelebte Nachbarschaft, es wurden ganz schön viele Worte bis zur Abzweigung Hartwigplatz, wo er ein abgebrochenes Rücklicht, zertrümmerte Schutzbleche, eine Speiche und den Rest einer Fahrradklingel am Straßenrand vorfand. Als er schließlich und doch erstaunlich schnell vor seinem Café stand, hatte sich die Sonne hinter den Dächern versteckt und er seine Mutter nicht zurückgerufen. Er war einfach nicht dazu gekommen. So war das Leben, Pech gehabt, später war auch noch ein Tag, und jetzt wurde erst mal gearbeitet, es lief ihm ja nicht weg, tot war tot, Jessy würde es schon überleben, und er hatte nun wirklich gute Gründe für das Nichterledigen seiner einzigen, außerplanmäßigen Morgenaufgabe gehabt.
Er stieg die drei Steinstufen hinauf und genoss den durch die geöffnete Tür herausströmenden, aromatischen Duft. Stella war also bereits da, Stella, die keine Migräne mehr hatte, dafür einen Schlüssel.
«Morgen», sagte Moritz und bemühte sich um einen gelösten, beiläufigen Ton. Im Hintergrund lief die CD mit der kubanischen Tanzmusik, die Stella aus dem Urlaub mitgebracht hatte. Sie stand hinter dem Tresen, wischte mit einem Lappen über die Arbeitsfläche und sah wie immer spektakulär aus. Sie war gerade mal zwanzig, studierte des Nachts irgendwas mit sozialer Arbeit und kümmerte sich ansonsten um ihre zweijährige Tochter Trisha, die sie ungewollt noch vor dem Abitur bekommen hatte, aber abgöttisch liebte. Stella war von der linken Schulter bis zum rechten kleinen Zeh tätowiert, flächendeckend, eventuell lückenlos, so zumindest stellte Moritz sich das vor, der in gewisse Regionen selbstverständlich keinen Einblick hatte. Jedenfalls war das, was da sichtbar war, Teil eines wirklich beeindruckenden Gesamtkunstwerks, ein Gemälde der vielfältigsten Botschaften und Aussagen, eine Landkarte des menschlichen Daseins, es ging um Toleranz, Sinnlichkeit und Kraft, soweit Moritz das durch diverse Drachen und Fabelwesen hindurch identifizieren konnte, es sah ein wenig einschüchternd aus, was auch an den kleinen silbernen Ringen, Knöpfen und Steckern liegen mochte, die durch Augenbrauen, Nasenlöcher und Mundwinkel gezogen waren und Stella zusammen mit ihrem orangefarbenen Haar wie von einem anderen Planeten erscheinen ließen. Stella Stardust. Dabei war sie ein von Herzen guter Mensch, gleichzeitig fried- und schlagfertig, bisweilen neurotisch, aber voller Wärme. Stella war, so konnte man sagen, in alle Richtungen leuchtend. Sie hob den Kopf, ihre Augen waren katzengrün.
«Was ist los?», fragte sie, obwohl Moritz eigentlich die ganze Zeit nur gegrinst hatte. Vielleicht deswegen.
«Nichts.»
«Hast du gekifft?»
«Quatsch.»
«Also?»
Moritz begann, die Stühle von den Tischen zu heben, und stellte sie davor auf den Boden.
«Mein Vater ist tot.»
Stella legte den Putzlappen ab. «Oh, Moritz, das tut mir leid.»
«Schon okay», sagte er und wollte auf gar keinen Fall emotional berührt werden. «Passiert halt manchmal. Wenn man alt ist.»
Stella hob die Augenbrauen. «Ernsthaft?»
Moritz grinste, als wäre die Muskulatur erstarrt. Es kam ihm selbst unpassend vor. «Ja, sicher», sagte er. «Mein Vater ist zwanzig Jahre älter als meine Mutter. Und die ist auch schon nicht mehr jung. Und der war schon krank, als ich ihn das letzte Mal gesehen hab. Herzkrank. Alkohol und Stress und so.»
Stellas Gesichtsausdruck verriet Skepsis. «Wann war denn das? Dass du ihn das letzte Mal gesehen hast?»
«Vor zwanzig Jahren. Ziemlich genau.»
«Oh. Schlechtes Verhältnis?»
«Gar keins eben.»
«Tut mir trotzdem leid.»
«Danke.»
Stella sagte nichts weiter, auch Moritz schwieg. Sie waren befreundet, trotz des Altersunterschieds und des Chef-Angestellten-Verhältnisses, aber noch nie so weit voneinander entfernt gewesen wie in diesem Moment. Die erste Kundin des Tages kam, eine offene Tür verführte einfach zum Eintreten, es war eine Charlotte, mit Sommersprossen im Gesicht und einer Manschette über dem linken Arm, sie bestellte ihren Iced Latte zum Mitnehmen. Moritz und Stella funktionierten geschmeidig, arbeiteten Hand in Hand, sprachen dabei nur das Nötigste und taten auch im Folgenden geschäftiger, als sie waren. Zwei Stunden vergingen, das Schöne Leben war auch heute wieder bestens besucht, von Anfang an, es gab immer eine Ausrede, um nicht zum Telefon greifen oder sich irgendwie aufeinander beziehen zu müssen. Einmal dachte Moritz (während er für einen unscheinbaren Cordhosenträger namens Rüdiger einen Kamillentee bereitete), durch das Fenster den gestrigen Helmut vorbeilaufen zu sehen, in einem anderen T-Shirt, lautlos vor sich hin schimpfend. Herein kam er nicht. Gegen elf arbeiteten sie eine weitere Schlange ab, sechs Leute, kurze Hosen, jetzt schon von den Außentemperaturen erhitzte Körper, eine wunderschöne Eva war dabei, ein bemützter Ben und eine Gertrude, die wegen enormer Körpermaße beinahe den kompletten Raum einnahm, sowie ein kleiner Mann dahinter, der in ihrem Windschatten ganz und gar zu verschwinden drohte und es schon aus diesem Grund noch nicht zu einem eigenen Namen gebracht hatte.
Als Gertrude schließlich an der Reihe war, hatte sie Mitteilungsbedarf. «Double Espresso», sagte sie mit einer Stimme, die aus irgendwelchen Katakomben zu dröhnen schien. «Und es ist ja so: Die Wutbürger nennen die normalen Menschen Gutmenschen, während die Gutmenschen die Wutbürger besorgt nennen. Ich weiß gar nicht, warum man da immer so schwarz-weiß denken muss, und ich weiß auch gar nicht, was am Gutsein und am Menschsein schlecht sein soll, während ja auch Besorgnis erst mal was Positives ist, etwas Gefühlvolles, und Bürger sind wir sowieso alle, da kannst du ja gar nichts gegen machen.»
«Hm», sagte Moritz vage, wunderte sich über Gertrudes Unmittelbarkeit und strich sich über die schwitzige Stirn. Stella war ganz mit dem Kaffee beschäftigt.
«Und deshalb lösen wir jetzt die Grenzen auf, ja, nein, nein, nein, nicht diese Grenzen, die im Kopf meine ich, nur die im Kopf, das andere kann ich ja gar nicht, also, glaube ich, jedenfalls publiziere ich das, ich mache das, ich gründe eine Bewegung, ja, ja, genau, eine politische Bewegung, wir sind, pass auf, besorgte Gutmenschen sind wir, BGM, genau, wütend dabei, meinetwegen auch wütend, ein bisschen wütend, also BGMW, das ist echt eine Lücke, besorgte Gutmenschen, die manchmal wütend sind, BGMMW, das vereint, statt zu spalten, das ist ein guter Ansatz, da bekommen wir Geld, da werden wir gefördert.»
«Hm», wiederholte Moritz, sah jetzt doch auf und begriff. Gertrude sprach gar nicht mit ihm, sie hatte einen Stecker im Ohr, der aussah wie die zu heiß gewaschene Enterprise von 1969, und telefonierte. Mit einem anderen gutbesorgten Bürgermenschen.
«Ach so», sagte er.
«Genau», sagte Gertrude und nickte ihm freundlich zu.
«Zwei achtzig», sagte er.
«Für Europa!», sagte Gertrude, legte das Geld passend auf den Tresen, machte eine Siegerfaust und entschwand mit Double Espresso und Donnerhall. Moritz schüttelte den Kopf – die Leute –, wischte über den Tresen und widmete sich dem nächsten Kunden, der bis zum Schluss hinter Gertrude versteckt gewesen war. Ein ungewöhnlicher Anblick war er. Ungewöhnlich für hier, ungewöhnlich für die Tageszeit, ungewöhnlich für ein geduldiges Warten in der Schlange. Klein, alt, gebeugt, schwarz-weiß gestreiftes Oberhemd, ausgebeulte, blaue Jeans über schwarzen, ausgetretenen Straßenschuhen, der Rest eines ausgedünnten Seitenscheitels, rotes Gesicht, blutunterlaufene, von Tränensäcken bestimmte Augen. Es war nicht schwer, für diesen hier einen Namen zu finden. Es handelte sich eindeutig um einen Karlheinz.
Moritz zuckte zusammen. «Papa», sagte er.
Sein Vater blickte auf, sah ihm kurz ins Gesicht, aber nicht in die Augen.
«Moritz», sagte er. Es klang sachlich, seine Stimme war brüchig, heiser, schwach. Anders, als Moritz sie in Erinnerung hatte. «Ganz schön klein hier. Deins?»