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Sie kann keine Toten sehen, aber ... Sie spürt, wenn jemand in ihrer Nähe sterben wird. Und dann zwingt eine unbesiegbare Macht sie zu schreien, so laut sie kann. Kaylee kann ihr Glück kaum fassen. Der schärfste Typ der Schule hat sie angesprochen! Nash hat die schönsten braunen Augen, die sie je gesehen hat. Als er sie auf die Tanzfläche zieht, glaubt Kaylee zu träumen. Aber das perfekte Date hat sie sich anders vorgestellt. Erst entdeckt sie ein Mädchen, das scheinbar von einem schwarzen Nebel umgeben ist. Dann wird Kaylee übel, und plötzlich lastet eine schreckliche Schwere auf ihr. Um nicht zu schreien, dass die Fensterscheiben zerspringen, rennt sie schweißgebadet raus. Wie peinlich! Nash muss sie jetzt für völlig verrückt halten. Doch seltsamerweise bleibt er ganz ruhig ... Am nächsten Tag erfahren sie, dass das Mädchen tatsächlich tot ist. Bald sterben weitere. Und Kaylee ist die Einzige, die weiß, wen es als Nächsten trifft...
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Seitenzahl: 406
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books2read ist ein Imprint der HarperCollins Germany GmbH, Valentinskamp 24, 20354 Hamburg, [email protected]
Copyright © 2009 by Rachel Vincent Originaltitel: „My Soul To Take“ Erschienen bei: Harlequin Teen, Toronto Published in Arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.ár.l
Deutsche Erstausgabe Copyright © 2011 by MIRA Taschenbuch Übersetzung: Alessa Krempel
Copyright © Layout- und Covergestaltung 2015 by books2read in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Umschlagmotiv: Inara Prusakova / Shutterstock Umschlaggestaltung: Deborah Kuschel
Veröffentlicht im ePub Format im 04/2015
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783733781453
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. books2read Publikationen dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Für Nummer 1, die weiß, dass eine Portion Fajitas
Zuallererst danke ich Rayna und Alex dafür, dass ich in ihren Teenagergehirnen stöbern durfte, und ganz besonders Alex, weil er sich als erster Leser meiner Zielgruppe zur Verfügung gestellt hat.
Danke an Rinda Elliott, die mir gezeigt hat, was ich nicht sehen konnte.
Danke an meine Agentin Miriam Kriss, die daran geglaubt hat, dass ich es schaffe, als es noch nichts gegeben hat, was die Behauptung hätte untermauern können.
Danke an Elizabeth Mazer und alle Mitarbeiter von Mira, die dieses Buch möglich gemacht haben.
Danke an meine Lektorin Mary-Theresa Hussey für all die Fragen – dafür, dass sie meine beantwortet und in der Randbemerkung immer die richtigen gestellt hat.
Und zu guter Letzt: Danke Melissa, dass du da bist.
„Nun mach schon!“, flüsterte Emma neben mir. In der kalten Nachtluft kondensierte ihr Atem und bildete weiße Schwaden vor ihrem Gesicht. Wir standen vor einer zerbeulten Stahltür, und Emma starrte mit einer solchen Inbrunst darauf, als könnte sie die Tür allein durch ihre Ungeduld zum Öffnen bewegen. „Sie hat uns vergessen, Kaylee. Ich hätte es mir denken können!“ Mehr Schwaden stiegen aus ihrem perfekt geschwungenen Mund auf, als sie auf und ab hüpfte, um sich so gut es ging zu wärmen. In der tief ausgeschnittenen, glänzend roten Bluse aus dem Kleiderschrank ihrer Schwester kamen Emmas Kurven perfekt zur Geltung.
Ja, ich war ein bisschen neidisch auf Emma. Ich hatte weniger Kurven und keine Schwester, von der ich mir heiße Outfits leihen konnte. Aber zumindest hatte ich ein funktionierendes Handy, und die Uhr auf dem Display zeigte vier Minuten vor neun. „Sie kommt bestimmt gleich“, sagte ich zuversichtlich und schob das Handy zurück in die Tasche. Prüfend strich ich über mein T-Shirt, während Emma zum wiederholten Mal an die Tür klopfte. „Wir sind früh dran. Gib ihr noch eine Minute.“
Kaum hatte ich den Satz ausgesprochen, schwang die Tür quietschend auf. Zuckende Lichter und das Dröhnen stampfender Bässe drang in die dunkle Seitenstraße. Traci Marshall, die jüngste von Emmas älteren Schwestern, hielt die Tür mit der flachen Hand auf. Traci trug ein enges schwarzes T-Shirt, dessen tiefer Ausschnitt betonte, dass sie genauso gut gebaut war wie ihre Schwester. Als wäre das lange blonde Haar nicht schon Hinweis genug auf die Familienzugehörigkeit.
„Wird aber auch Zeit!“, murmelte Emma, trat einen Schritt vor und wollte an ihrer Schwester vorbeihuschen.
Doch Traci stellte sich in den Türrahmen und blockierte den Eingang. Sie schenkte mir ein kurzes Begrüßungslächeln, bevor sie ihre Schwester streng ansah. „Ich freue mich auch, dich zu sehen, Emma. Wie lauten die Regeln?“
Emma verdrehte die braunen Augen und rieb sich die nackten Arme, auf denen sich schon eine Gänsehaut gebildet hatte – unsere Jacken lagen im Auto. „Kein Alkohol, keine chemischen Substanzen. Nichts, was Spaß macht.“ Den letzten Satz sagte Emma ganz leise, und ich musste mir das Lachen verkneifen.
„Was noch?“, fragte Traci fest. Sie strengte sich offensichtlich an, um ihren finsteren Gesichtsausdruck beizubehalten.
„Wir bleiben die ganze Zeit zusammen und gehen auch gemeinsam nach Hause“, antwortete ich schnell. Traci hatte uns schon zweimal in den Club geschleust, und jedes Mal mussten wir diese Sätze herunterbeten. Die Regeln waren der Witz, aber ich wusste genau, dass Traci uns nur unter der Bedingung hineinließ.
„Und …?“
Emma trat von einem Fuß auf den anderen, um sich warm zu halten, die Absätze klapperten auf dem Beton. „Wenn wir geschnappt werden, kennen wir dich nicht.“
Als ob uns das irgendjemand abkaufen würde! Dafür sahen sich die Marshall-Mädchen viel zu ähnlich: groß und sehr weiblich, also das genaue Gegenteil von mir.
Traci nickte zufrieden und ließ uns hinein. Als Emma an ihr vorbeiging, stutzte Traci und griff nach dem Arm ihrer Schwester. „Ist das Caras neue Bluse?“
Emma funkelte Traci ärgerlich an und riss sich los. „Sie wird nicht einmal merken, dass sie weg war!“
Traci lachte trocken, streckte den Arm aus und bahnte sich den Weg in Richtung Tanzfläche. „Dann genieß den Rest deines kurzen Lebens“, rief sie über das Wummern der Bässe hinweg, „denn dafür wird Cara dich mit Sicherheit umbringen!“
Emma ließ sich von der Drohung nicht beeindrucken. Stattdessen warf sie die Hände in die Luft und tanzte mit schwingenden Hüften den Gang entlang zur Tanzfläche. Ich folgte ihr, und als ich die Menschenmenge sah, die sich ausgelassen zur Musik bewegte, verspürte ich ein freudiges Kribbeln im Bauch.
Wir mischten uns ins Gedränge, schoben uns zur Mitte der Tanzfläche und ließen uns von der Hitze, den Menschen und dem Beat mitreißen. Mal tanzten wir alleine, mal zu zweit, bis ich nach unzähligen Songs völlig verschwitzt und außer Atem war. Ich gab Emma das Zeichen dafür, dass ich etwas trinken wollte. Sie nickte, und ich bewegte mich auf den Rand der Tanzfläche zu.
Traci stand hinter der Bar neben einem Barkeeper, einem großen dunklen Typ in einem engen schwarzen T-Shirt. Die blauen Neonröhren an der Decke tauchten die beiden in ein seltsames Licht. Ich setzte mich auf den ersten freien Barhocker, woraufhin Tracis Kollege zu mir herüberkam und sich fragend zu mir beugte.
„Ich übernehme das“, sagte Traci schnell und legte die Hand auf seinen Arm. Sofort kümmerte er sich um einen anderen Gast. „Was darf es sein?“ Sie strich sich eine Strähne ihres hellen, im Neonlicht blau schimmernden Haars aus dem Gesicht.
Ich stützte die Ellenbogen auf den Tresen und grinste sie frech an. „Eine Whisky-Cola, bitte!“
Traci lachte. „Die Cola kannst du haben!“ Sie füllte ein Glas mit Cola, gab Eiswürfel dazu und stellte es vor mir auf den Tresen. Ich schob ihr einen Fünfer zu, schnappte mir das Getränk und schwang den Hocker herum, sodass ich die Tanzfläche im Blick hatte. Emma tanzte mit zwei älteren Jungs, die ihren T-Shirts nach zu urteilen einer Studentenverbindung der Universität von Dallas, Texas, angehörten. Beide trugen leuchtende Armbänder, die sie als volljährig auswiesen und somit zum Trinken von Alkohol berechtigten.
Typisch Emma – sie stand immer im Mittelpunkt.
Immer noch lächelnd, setzte ich das Glas an und stürzte die Cola in einem Zug hinunter, bevor ich es zurück auf den Tresen stellte.
„Kaylee Cavanaugh.“
Als ich meinen Namen hörte, zuckte ich zusammen und drehte mich schnell zum Barhocker zu meiner Linken um. Im nächsten Moment blickte ich in die schönsten braunen Augen, die ich je gesehen hatte. Wie gebannt betrachtete ich die dunkel-braunen und hellgrünen Strudel, die sich im Rhythmus meines Herzschlags zu drehen schienen – es musste an den Lichtern der Scheinwerfer liegen, die sich darin spiegelten. Erst als ich blinzeln musste, kam ich wieder zu mir.
Und begriff, wen ich da anstarrte.
Nash Hudson! Ach du Scheiße. Ich hätte fast nachgesehen, ob meine Füße festgefroren waren und in Eisblöcken steckten. Denn anscheinend war die Hölle zugefroren. Oder war ich auf dem Weg von der Tanzfläche zur Bar etwa in eine Zeitverschiebung geraten? Nash Hudson lächelte mich an. Mich!
Mein Hals fühlte sich plötzlich staubtrocken an, und ich hob das Glas an die Lippen. Einen flüchtigen Augenblick lang fragte ich mich, ob Traci mir doch etwas in die Cola gemischt hatte. Doch es war kein Tropfen mehr im Glas.
„Willst du noch eine?“, fragte Nash und deutete auf das leere Glas.
Ich nahm allen Mut zusammen und antwortete ihm. Selbst wenn ich träumte – oder im falschen Film gelandet war –, ich hatte schließlich nichts zu verlieren.
„Nein, ist schon gut, vielen Dank.“ Ich lächelte zaghaft. Als sich Nashs perfekt geschwungene Lippen ebenfalls zu einem Lächeln verzogen, machte mein Herz einen gewaltigen Satz.
„Wie bist du hier reingekommen?“ Er zog amüsiert eine Augenbraue hoch. „Etwa durchs Fenster?“
„Durch die Hintertür“, flüsterte ich und merkte, dass ich knallrot wurde. Nash wusste genau, dass ich noch in die Unterstufe ging und damit viel zu jung war für einen Club wie das Taboo, in den man erst ab achtzehn durfte.
„Wie bitte?“ Die Musik war so laut, dass Nash sich ganz nah zu mir beugen musste, um mich zu verstehen. Sein Atem strich über meinen Hals, und mein Herz klopfte so wild, dass mir fast schwindlig wurde. Er roch unglaublich gut.
„Durch die Hintertür“, wiederholte ich dicht an seinem Ohr. „Emmas Schwester arbeitet hier.“
„Emma ist hier?“
Ich deutete auf die Tanzfläche – Emma tanzte inzwischen mit drei Jungs gleichzeitig – und erwartete im Stillen, dass Nash Hudson mich nun sang- und klanglos stehen ließ. Doch zu meiner Überraschung schenkte er Emma keine weitere Beachtung, sondern blinzelte mich aus seinen Wahnsinnsaugen mutwillig an.
„Tanzt du gar nicht?“
Mir brach der kalte Schweiß aus. Wollte er etwa mit mir tanzen? Oder fragte er nur, weil er den Barhocker für seine Freundin brauchte?
Nein, Moment. Das war nicht möglich. Nash hatte erst vor einer Woche mit seiner Freundin Schluss gemacht. Und auch wenn die neuen Anwärterinnen schon Schlange standen, war im Moment keine von ihnen zu sehen. Genauso wenig wie Leute aus Nashs Clique, weder an der Bar noch auf der Tanzfläche.
„Doch, klar tanze ich“, entgegnete ich und starrte wie gebannt in die braunen und grünen Strudel seiner Augen, die ab und zu blau aufzublitzen schienen. Ich hätte stundenlang in die Augen schauen können. Aber das hätte er wahrscheinlich für gestört gehalten.
„Dann los!“ Nash griff nach meiner Hand und zog mich auf die Tanzfläche. Ich musste unwillkürlich lächeln, und mein Herz zersprang schier vor Aufregung. Ich kannte Nash zwar schon eine ganze Weile – Emma war mit einigen seiner Freunde ausgegangen –, aber seine ungeteilte Aufmerksamkeit hatte noch nie mir gegolten. Davon hatte ich bisher nicht einmal zu träumen gewagt.
Wenn die Eastlake Highschool das Universum war, dann war ich einer von vielen Monden auf Emmas Umlaufbahn, vollkommen zufrieden damit, in ihrem Schatten meine Kreise zu ziehen. Nash Hudson dagegen war ein Stern: ein Stern, der so hell strahlte, dass man ihn kaum ansehen konnte, und der definitiv zu heiß war, um ihn anzufassen – eben der Mittelpunkt eines eigenen Sonnensystems.
Aber auf der Tanzfläche vergaß ich all das. Ich badete einfach in Nashs hellem Licht, und es tat verdammt gut.
Beim Tanzen näherten wir uns Emma bis auf ein paar Meter. Doch ich beachtete sie kaum. Denn ich war wie elektrisiert von Nashs Nähe, seinen Händen auf meiner Haut und dem warmen Körper, der sich an mich schmiegte, Lied für Lied.
Als ich nach einer schieren Ewigkeit den Blick von Nash löste, sah ich Emma mit einem ihrer Tanzpartner an der Bar stehen. Traci stellte gerade zwei Gläser vor ihnen auf die Theke. Kaum hatte sie den beiden den Rücken zugewandt, schnappte sich Emma das Glas ihres Begleiters – irgendeine dunkle Flüssigkeit, in der eine Zitronenscheibe schwamm – und trank es in einem Zug leer. Emmas Begleiter grinste nur und schob sie zurück auf die Tanzfläche.
Ich schwor mir im Stillen, Emma nicht mein Auto fahren zu lassen – am besten nie mehr. Als ich den Blick wieder auf Nash richten wollte, stach mir rotblondes Haar ins Auge. Es gehörte dem einzigen Mädchen hier im Club, das es an Schönheit mit Emma aufnehmen konnte. Genau wie sie wurde auch die Rothaarige von einer ganzen Horde Jungs umschwärmt. Und obwohl sie kaum älter als achtzehn sein konnte, hatte sie ganz offensichtlich mehr getrunken als Emma.
Trotz ihrer Schönheit und ihrer Ausstrahlung hatte ich beim Anblick des Mädchens ein flaues Gefühl im Magen. Meine Brust zog sich zusammen, und ich bekam keine Luft mehr. Irgendetwas war nicht in Ordnung. Ich hatte keine Ahnung, woher ich das wusste, aber ich war absolut sicher, dass mit dem Mädchen etwas nicht stimmte.
„Alles klar?“, fragte Nash und legte mir eine Hand auf die Schulter. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich bewegungslos dastand, während um mich herum alle anderen zum Beat tanzten.
„Ja!“ Ein Blick in Nashs Augen genügte, um mein Unbehagen zu vertreiben und mich mit einer so tiefen Ruhe zu erfüllen, dass es mir schon beinah unheimlich war. Wir begannen wieder zu tanzen, wobei wir von Lied zu Lied vertrauter miteinander wurden. Erst als wir beide völlig durchgeschwitzt waren, beschlossen wir, eine Pause einzulegen und etwas zu trinken.
Ich hob mein Haar im Nacken an, um mir etwas Abkühlung zu verschaffen, und winkte Emma zu, während ich mich hinter Nash zum Rand der Tanzfläche schob. Auf halbem Weg stieß ich beinah mit der Rothaarigen zusammen. Sie bemerkte mich nicht einmal. Doch bei ihrem Anblick kehrte das komische Gefühl sofort und mit voller Wucht zurück. Ich fühlte es am ganzen Körper. Und dieses Mal wurde es von einer merkwürdigen Traurigkeit begleitet, einer Art Melancholie, die ganz speziell mit der einen Person verknüpft war, die ich nicht einmal kannte.
„Kaylee?“, rief Nash. Er stand an der Bar und hielt zwei Gläser Cola hoch, die von der Feuchtigkeit im Raum schon beschlagen waren. Ich schloss hastig zu ihm auf und griff nach meinem Glas, doch diesmal schafften es nicht einmal Nashs Augen, mir die Angst zu nehmen. Obwohl ich schrecklichen Durst hatte, bekam ich die Cola kaum herunter. Meine Kehle war wie zugeschnürt.
„Was ist los?“ Inmitten der dicht gedrängten Menge standen wir nur Zentimeter voneinander entfernt. Trotzdem musste Nash sich vorbeugen, um mich zu verstehen.
„Ich weiß es nicht. Es hat etwas mit dem Mädchen zu tun, der Rothaarigen da drüben.“ Ich nickte in Richtung des tanzenden Mädchens. „Irgendetwas an ihr stört mich.“ Im selben Atemzug bereute ich, überhaupt etwas gesagt zu haben. Verflucht, es klang alles so albern.
Nash warf flüchtig einen Blick auf das Mädchen. „Scheint alles in Ordnung zu sein mit ihr. Vorausgesetzt, jemand fährt sie nach Hause.“
„Ja, du hast sicher recht“, sagte ich. In dem Moment legte der DJ einen neuen Song auf, und das Mädchen wankte – nicht ohne eine gewisse Eleganz – von der Tanzfläche. Und steuerte direkt auf uns zu.
Mit jedem Schritt, den sie näher kam, klopfte mein Herz schneller. Ich umklammerte mein Glas so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Die Melancholie wurde zu einer überwältigenden Trauer, einer dunklen Vorahnung.
Ich schnappte nach Luft, als mir bewusst wurde, was passierte.
Nicht schon wieder! Nicht vor Nash Hudson! Er durfte auf keinen Fall dabei sein, wenn ich ausflippte. Mein Zusammenbruch würde am Montag das Gesprächsthema Nummer eins in der Schule sein, und ich müsste mich von dem bisschen sozialem Status verabschieden, das ich mir erarbeitet hatte.
Nash stellte sein Glas ab und musterte mich prüfend. „Kaylee? Geht es dir gut?“ Ich schüttelte stumm den Kopf, unfähig, ihm zu antworten. Mir ging es gar nicht gut, aber ich konnte das Problem nicht in Worte fassen, geschweige denn in einen sinnvollen Satz. Verglichen mit der Panik, die mich packte, schienen die Gerüchte in der Schule plötzlich nur noch halb so schlimm zu sein.
Mein Atem ging flach und stoßweise, und in meiner Kehle stieg ein Schrei auf. Um ihn in Schach zu halten, presste ich die Lippen so fest aufeinander, dass es wehtat. Nur ein einziger Gast und dessen Barhocker waren jetzt noch zwischen mir und dem rothaarigen Mädchen. Sie rief dem Barkeeper ihre Bestellung zu. Während sie wartete, lehnte sie sich an die Bar und sah mir direkt in die Augen. Sie lächelte flüchtig und ließ den Blick über die Tanzfläche schweifen.
Die Vorahnung überrollte mich mit einer Woge des Entsetzens. Ich würgte, als der stumme Schrei mir die Kehle zuschnürte. Das Glas fiel mir aus der Hand und zersprang auf dem Boden, wobei eiskalte Cola auf die Umstehenden spritzte. Das rothaarige Mädchen schrie auf und machte einen Satz nach hinten, doch ich achtete weder auf die klebrige Flüssigkeit noch auf die Blicke der anderen Gäste.
Ich hatte nur Augen für das Mädchen und den dunklen, wabernden Schatten, der sie umgab.
„Kaylee?“ Nash legte die Finger unter mein Kinn und zwang mich, ihn anzusehen. Im Schein der zuckenden Lichter wirbelten die Farben in seinen Augen so wild durcheinander, dass mir schwindlig wurde.
Ich wollte es ihm sagen … zumindest irgendetwas. Doch ich wusste, dass sich der Schrei lösen würde, sobald ich den Mund öffnete. Und spätestens dann würden mich alle anstarren und für völlig durchgeknallt halten.
Vielleicht hatten sie damit sogar recht.
„Was ist los?“, fragte Nash eindringlich und trat ganz dicht an mich heran, ohne sich um die Glassplitter auf dem nassen Boden zu kümmern. „Ist dir schlecht?“ Ich konnte nur den Kopf schütteln und den Schrei unterdrücken, der sich mit aller Macht einen Weg aus meiner Brust bahnen wollte. Die Erinnerung an das schmale Bett in einem sterilen weißen Zimmer, war mehr, als ich ertragen konnte.
Auf einmal war Emma da, Emma mit ihrem perfekten Körper, dem bildschönen Gesicht und dem riesengroßen Herzen. „Es geht ihr gut“, sagte sie und zog mich beiseite, als der Barkeeper Wischlappen und Eimer brachte. „Sie braucht nur ein bisschen frische Luft.“ Sie nickte Traci hinter der Bar beruhigend zu und zog mich am Arm in Richtung Ausgang.
Ich presste die Hand auf den Mund und schüttelte panisch den Kopf, als Nash nach meiner Hand griff. In dem Moment war mir egal, was er von mir hielt und ob er nach der peinlichen Szene je wieder etwas mit mir zu tun haben wollte. Alles, woran ich denken konnte, war das Mädchen an der Bar. Das Mädchen, das uns durch den dunklen Schleier beobachtete, den außer mir niemand sehen konnte.
Emma führte mich an den Toiletten vorbei in den hinteren Bereich des Clubs, Nash blieb direkt hinter mir. „Was ist los mit ihr?“, fragte er besorgt.
„Nichts.“ Emma blieb stehen und lächelte Nash beruhigend an, wofür ich ihr sogar in meinem Zustand noch unendlich dankbar war. „Sie hat eine Panikattacke und braucht frische Luft. Gib ihr ein bisschen Zeit, sie fängt sich schon wieder.“
Das stimmte nicht ganz. Was ich brauchte, war nicht Zeit, sondern Abstand zwischen mir und dem Auslöser der Panik. Mehr Abstand, als der Club mir bieten konnte. Selbst an der Hintertür war die Panik ungebrochen stark. Der unterdrückte Schrei brannte wie Feuer in meinem Hals. Und wenn ich den Mund öffnete, würde ich über den dröhnenden Bass hinweg im ganzen Club zu hören sein. Nicht nur das. Mein Schrei würde die Lautsprecher bersten lassen und die Scheiben zum Zerspringen bringen.
Und all das wegen eines rothaarigen Mädchens, das ich nicht einmal kannte.
Allein der Gedanken an sie fachte die Panik erneut an, und die Knie gaben unter mir nach. Emma war so überrascht, dass ich sie beinah mit zu Boden riss, doch Nash fing mich im letzten Moment auf.
Er hob mich hoch und hielt mich schützend in den Armen, während Emma ihn durch die Hintertür nach draußen zog. Im Vergleich zu der schummrigen Beleuchtung im Club war es in der Seitenstraße stockdunkel. Emma klemmte ihre Kreditkarte zwischen Tür und Rahmen, damit das Schloss nicht einrastete. Während die Musik hier leiser war, erreichte der Lärm in meinem Kopf den absoluten Höhepunkt. Der Schrei, gegen den ich mich noch immer wehrte, zerriss mir fast den Schädel und bohrte sich wie ein Pfeil in mein schweres Herz.
Nash ließ mich behutsam herunter. Ich war unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, und bekam nur am Rande mit, dass Emma einen zusammenfalteten Pappkarton auf den Boden gelegt hatte, sodass Nash mich darauf setzten konnte.
„Kaylee?“ Emma kniete auf dem Boden und sprach mit mir. Aber ich war so gefangen in meinen Gedanken, dass ich ihren Worten nicht folgen konnte. Genau genommen war es nur ein einziger Gedanke – nach Aussage meines früheren Therapeuten handelte es sich dabei um eine Wahnvorstellung, die sich mir wie eine unausweichliche Tatsache präsentierte.
Emmas Gesicht verschwand aus meinem Blickfeld, dann sah ich ihre Knie. Ich hörte Nashs Stimme und das Wort „Wasser“.
Eine Sekunde lang wurde die Musik wieder lauter, dann war Emma verschwunden. Und ich blieb mit dem heißesten Jungen, den ich kannte, zurück. Ausgerechnet er würde meinen Zusammenbruch live miterleben.
Nash kniete sich neben mich und sah mir in die Augen. Seine Iris schien sich immer noch zu drehen, obwohl es hier draußen keine blinkenden Lichter gab.
Das musste Einbildung sein. In meiner Verwirrung machte ich Nashs Augen zu einem Teil der Wahnvorstellung, quasi als Ersatz für das rotblonde Mädchen. Das war wohl die Erklärung.
Ich kam nicht dazu, weiter darüber nachzudenken. Ich verlor die Kontrolle, und das Gefühl unbändiger Trauer drohte mich zu erdrücken, Nash hin oder her. Ich konnte kaum atmen. Und obwohl ich meine Lippen wie wild zusammenpresste, entrang sich meiner Kehle ein hoher Klagelaut. Die Welt um mich herum verdunkelte sich, so als hätte jemand einen grauen Schleier über sie gebreitet.
Nash warf mir einen besorgten Blick zu und setzte sich schließlich direkt neben mich, den Rücken an die Wand gelehnt. Aus den Augenwinkeln sah ich etwas durch die Dunkelheit huschen. Im ersten Moment hielt ich es für eine Ratte oder ein anderes Ungetier, das sich vom Müll des Clubs ernährte. Doch was auch immer ich gesehen hatte, es war größer als ein Nagetier. Und zu verschwommen, um es genau erkennen zu können.
In dem Augenblick griff Nash nach meiner freien Hand und ließ mich alles vergessen, was ich gesehen hatte. Behutsam strich er mir das Haar hinters Ohr und redete sanft auf mich ein. Ich verstand zwar kaum etwas von dem, was er sagte, aber die Worte waren auch nicht wichtig. Was zählte, war allein seine Nähe. Nashs Atem kitzelte an meinem Hals, ich spürte seine Körperwärme und roch seinen Duft. Irgendwie schaffte er es, mit seiner Stimme zu mir vorzudringen und mich vor dem Schrei zu schützen, der in mir widerhallte.
Er beruhigte mich allein durch seine Anwesenheit und das sanfte Flüstern eines Kinderreims.
Und es funktionierte. Die Panik klang langsam ab, und ich begann, meine Umwelt wieder wahrzunehmen. Erleichtert lockerte ich den Klammergriff um Nashs Hand und atmete die kühle Nachtluft tief ein. Das durchgeschwitzte T-Shirt klebte eiskalt auf meiner Haut, und ich fröstelte.
Ich wusste, dass die Panik noch irgendwo in einer Ecke in mir lauerte, ganz am Rande meiner Wahrnehmung. Doch jetzt hatte ich sie unter Kontrolle, dank Nashs Hilfe.
Ich bewegte den Kopf und sah ihn an. Die Hauswand an meinem Rücken war rau und kalt. „Alles in Ordnung?“, fragte Nash.
Ich nickte, überwältigt von einem neuen, nicht weniger schrecklichen Gefühl als zuvor: Ich schämte mich in Grund und Boden! Die Panikattacke war vielleicht vorüber, aber die Demütigung würde noch lange anhalten.
Mein Leben war zu Ende! Vor Nash Hudsons Augen war ich völlig ausgetickt; nicht einmal meine Freundschaft zu Emma konnte das wettmachen.
Nash streckte die Beine aus und sah mich an. „Willst du darüber reden?“
Nein! Ich wollte einfach nur im Erdboden versinken oder meinen Namen ändern und nach Peru auswandern.
Und plötzlich wollte ich doch darüber reden. Es musste an dem zärtlichen Klang seiner Stimme liegen, dass ich das Bedürfnis mit einem Mal verspürte. Denn anders war es nicht zu erklären. Emma und ich waren mittlerweile seit acht Jahren befreundet, und sie hatte mir schon öfter in solchen Situationen beigestanden. Nicht einmal sie kannte den genauen Grund für meine Panikattacken. Die Wahrheit würde ihr nur Angst machen oder – schlimmer noch – sie davon überzeugen, dass ich tatsächlich verrückt war.
Warum wollte ich es Nash dann erzählen? Ich verstand es selbst nicht, aber der Wunsch war unbestreitbar da.
„Das rothaarige Mädchen …“ Jetzt gab es kein Zurück mehr, ich musste es ihm sagen.
Nash runzelte die Stirn. „Kennst du sie?“
„Nein.“ Gott sei Dank nicht. Allein ihr Anblick hatte mich fast um den Verstand gebracht. „Irgendetwas stimmt nicht mit ihr, Nash. Sie hat irgendetwas … Dunkles an sich.“
Kaylee, sei still! Spätestens jetzt hielt er mich sicher für unzurechnungsfähig.
„Wie bitte?“ Die Falte auf seiner Stirn vertiefte sich, doch er wirkte eher überrascht als irritiert. Dann weiteten sich seine Augen, und ich erkannte einen neuen Ausdruck darin: Furcht. Ich war mir nicht sicher, ob er wusste, wovon ich sprach. Allerdings schien er zumindest eine vage Vorstellung davon zu haben. „Was meinst du mit dunkel?“, fragte er vorsichtig.
Im letzten Moment bekam ich Muffensausen und schloss die Augen. Was, wenn ich mich getäuscht hatte und er mich doch für verrückt hielt?
Oder noch schlimmer: Was, wenn er damit richtig lag?
Das Risiko musste ich eingehen. Ich senkte den Blick, bevor ich Nash fest ansah. Er wartete auf eine Antwort, und viel schlechter konnte sein Eindruck von mir sowieso nicht mehr werden.
„Also, das klingt bestimmt seltsam“, sagte ich zögernd, „aber irgendetwas stimmt nicht mit dem Mädchen an der Bar. Als ich sie gesehen habe, war da ein … Schatten um sie herum.“ Ich nahm all meinen Mut zusammen und fuhr fort: „Sie wird sterben, Nash. Dieses Mädchen wird sehr, sehr bald sterben!“
„Wie bitte?“ Nash zog zwar überrascht die Augenbrauen hoch, aber er verdrehte weder die Augen noch lachte er oder strich mir mitleidig über den Kopf. Er machte auch keine Anstalten, die Männer in den weißen Kitteln zu rufen. Genau genommen sah er fast so aus, als glaube er mir. „Woher weißt du, dass sie sterben wird?“
Ich rieb mir die Schläfen und versuchte, keine Enttäuschung aufkommen zu lassen. Selbst wenn Nash nach außen hin ernst wirkte, kugelte er sich innerlich wahrscheinlich vor Lachen. Und ich konnte es ihm nicht verdenken. Was zur Hölle hatte ich mir nur dabei gedacht, es ihm zu erzählen?
„Ich habe keine Ahnung, woher ich das weiß. Ich weiß ja nicht einmal, ob ich recht habe! Aber wenn ich sie ansehe, dann … ist sie irgendwie dunkler als alle anderen um sie herum. Als ob sie im Schatten von etwas steht, das ich nicht sehen kann. Und ich weiß, dass sie sterben wird!“
Nash runzelte besorgt die Stirn, und mir wurde eiskalt. Ich kannte den Gesichtsausdruck nur zu gut. Es war derselbe, mit dem Mütter ihre Kinder ansahen, wenn die Fantasie mit den Kleinen durchging und sie von rosa Elefanten erzählten. Nur am Rande nahm ich wahr, dass die Musik aus dem Club für einen Moment wieder anschwoll.
„Ich weiß, es klingt …“ Verrückt wäre das richtige Wort. „… seltsam, aber …“
Nash nahm meine Hände in seine und setzte sich so hin, dass wir uns direkt in die Augen sehen konnten. Die Farben seiner Iris pulsierten im Rhythmus mit meinem Herzschlag. Er öffnete den Mund, und ich hielt gespannt den Atem an. Hatte ich ihn mit meinem Gerede von den unheimlichen schwarzen Schatten verprellt? Oder war die verschüttete Cola schon der erste Fehler gewesen?
„Für mich klingt das alles reichlich seltsam!“
Überrascht blickte ich auf und sah Emma, eine Flasche Wasser in der Hand, über uns stehen. Von der Flasche tropfte Kondenswasser auf den Asphalt. Ich stöhnte innerlich. Was auch immer Nash hatte sagen wollen, war jetzt weg. Das wurde mir klar, als ich sein verhaltenes Lächeln auffing. Dann konzentrierte er sich auf Emma.
Emma schraubte den Deckel von der Wasserflasche und reichte sie mir. „Aber du wärst auch nicht Kaylee, wenn du nicht ab und zu mal das Spinnen anfangen würdest“, sagte sie achselzuckend und zog mich auf die Füße. Nash stand ebenfalls auf. „Du hast also Panik bekommen, weil du glaubst, dass eines der Mädchen im Club sterben wird?“
Ich nickte zögerlich, rechnete aber im Stillen damit, dass sie lachen oder die Augen verdrehen würde. Emma hielt das alles sicher für einen schlechten Scherz. Doch zu meiner Überraschung blieb sie ernst, legte den Kopf schief und musterte mich eingehend. „Meinst du nicht, du solltest es ihr sagen? Oder irgendetwas tun?“
„Ich …“ Verblüfft starrte ich auf die Eisentür. Die Möglichkeit hatte ich aus unerfindlichen Gründen noch nie in Betracht gezogen. „Ich weiß nicht.“ Hilfe suchend sah ich Nash an, doch seine Augen waren plötzlich wieder normal und zeigten keinerlei Regung. „Sie würde mich sicher für verrückt halten oder sich fürchterlich aufregen.“ Und wer könnte ihr das verübeln? „Eigentlich ist es doch egal, denn es stimmt nicht, oder? Es kann nicht wahr sein!“
Nash schien etwas sagen zu wollen, beließ es jedoch bei einem Achselzucken. Dafür ergriff Emma erneut das Wort – sie hielt mit ihrer Meinung nie hinter dem Berg. „Natürlich nicht! Du hattest eine Panikattacke, und dein Verstand hat sich auf die erstbeste Person gestürzt, die du gesehen hast. Es hätte genauso gut mich treffen können. Oder Nash. Oder Traci. Das hat nichts zu bedeuten.“
Ich nickte brav. Aber so gern ich ihr auch Glauben schenken wollte, ich konnte es nicht. Trotzdem brachte ich es nicht über mich, das rothaarige Mädchen zu warnen. Egal, was ich zu wissen glaubte: Die Vorstellung, einer völlig Fremden zu eröffnen, dass sie bald sterben würde, war purer Irrsinn! Und im Moment hatte ich genug von den Verrücktheiten.
Eigentlich reichte es mir für den Rest meines Lebens.
„Geht es dir besser?“, fragte Emma, als sie meinen entschlossenen Gesichtsausdruck sah. „Sollen wir wieder reingehen?“
Ich fühlte mich tatsächlich besser, aber die Panik lauerte noch in einer Ecke meines Bewusstseins und würde sicher zurückkehren, wenn ich das Mädchen wieder sah. Daran bestand nicht der geringste Zweifel. Außerdem wollte ich Nash auf keinen Fall eine weitere Kostprobe meines Könnens liefern.
„Ich fahre lieber nach Hause.“ Mein Onkel war mit meiner Tante essen gegangen, um ihren vierzigsten Geburtstag zu feiern. Und Sophie war mit der Tanzgruppe verreist. Ich hatte das Haus also ganz für mich. Entschuldigend lächelte ich Emma an. „Wenn du noch bleiben möchtest, kannst du bestimmt mit Traci heimfahren.“
„Nein, ich gehe mit dir.“ Emma schnappte sich die Wasserflasche und genehmigte sich einen großen Schluck. „Traci hat schließlich gesagt, dass wir gemeinsam nach Hause gehen sollen, oder hast du das etwa vergessen?“
„Sie hat auch gesagt, dass wir nichts trinken dürfen.“
Emma verdrehte ihre großen braunen Augen. „Wenn sie das ernst meint, hätte sie uns niemals in eine Bar schmuggeln sollen.“
Das war mal wieder typische Emma-Logik. Je länger man darüber nachdachte, desto unsinniger wurde das Ganze.
Emma blickte zwischen mir und Nash hin und her. Dann lief sie breit grinsend los und steuerte auf der anderen Straßenseite auf den Parkplatz zu, um uns einen Moment Privatsphäre zu gönnen. Ich kramte in meiner Tasche nach den Autoschlüsseln und überlegte fieberhaft, was ich sagen sollte.
Nash hatte einen meiner schlimmsten Momente miterlebt. Aber statt auszuflippen oder sich über mich lustig zu machen, hatte er mir geholfen, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Zwischen uns gab es eine besondere Verbindung, die ich noch vor einer Stunde nicht für möglich gehalten hätte. Besonders nicht mit jemandem wie Nash, der dafür bekannt war, dass er nur an das Eine dachte. Trotzdem befürchtete ich, der traumhafte Zustand würde sich am nächsten Tag in einen Albtraum verwandelt haben. Dass Nash bei Tageslicht zur Vernunft kommen und sich fragen würde, warum er sich überhaupt mit mir abgab. Dieses Gefühl konnte ich nicht vertreiben.
Ich öffnete den Mund, brachte jedoch keinen Ton heraus.
Nash betrachtete skeptisch den Schlüsselbund, der klimpernd an meinem Zeigefinger baumelte. „Kannst du fahren?“, fragte er viel sagend, woraufhin mein Puls wieder in die Höhe schoss. „Ich könnte dich heimfahren und dann zu Fuß nach Hause laufen. Du wohnst doch in der Park view-Gegend, oder? Das ist nur ein paar Minuten zu Fuß von hier entfernt.“
Woher zum Teufel wusste er, wo ich wohnte? Das Misstrauen stand mir anscheinend deutlich ins Gesicht geschrieben, denn Nash beeilte sich hinzuzufügen: „Ich habe deine Schwester mal heimgefahren, letzten Monat.“
Mir fiel die Kinnlade herunter. „Sie ist meine Cousine.“ Nash hatte Sophie nach Hause gefahren? Ich konnte nur hoffen, dass da nicht noch mehr passiert war.
Nash schien die unausgesprochene Frage zu erraten und runzelte die Stirn. „Scott Carter hat mich gebeten, sie mitzunehmen.“
Mir fiel ein Stein vom Herzen. Auf mein kurzes Nicken hin, zuckte Nash die Schultern. „Also, soll ich euch jetzt heimfahren?“, fragte er und streckte die Hand nach den Schlüsseln aus.
„Ist schon gut, ich kann fahren“, entgegnete ich. Ich ließ ungern fremde Leute mit meinem Auto fahren – schon gar nicht einen scharfen Typen, der Gerüchten zufolge zweimal im Firebird seiner Ex-Freundin geblitzt worden war.
Nash zuckte erneut die Schultern und zeigte beim Lächeln seine Grübchen. „Kannst du mich dann vielleicht mitnehmen? Ich bin mit Carter hergekommen, und er bleibt bestimmt noch für ein paar Stunden.“
Mir schlug das Herz bis zum Hals. Wollte er früher gehen, damit wir zusammen fahren konnten? Oder hatte ich ihm mit meinem hysterischen Anfall den Abend verdorben?
„Ja … klar.“ Einen Moment dachte ich an das Chaos in meinem Wagen, aber dafür war es jetzt zu spät. „Aber du musst mit Emma klären, wer vorne sitzen darf.“
Die Sorge war Gott sei Dank unbegründet. Em setzte sich von sich aus nach hinten, jedoch nicht ohne mir einen bedeutungsvollen Blick zuzuwerfen. Wenig später setzte ich Emma volle eineinhalb Stunden vor Ablauf ihrer Ausgehfrist zu Hause ab. Das war wirklich noch nie vorgekommen.
Als ich aus Emmas Einfahrt fuhr, drehte Nash den Kopf und sah mich von der Seite an. Unter seinem ernsten Blick begann mein Herz so wild zu klopfen, dass es beinah wehtat. Es war Zeit, mir meine Abfuhr abzuholen. Nash war cool genug, es nicht vor Emma zu tun, und auch jetzt würde er garantiert wahnsinnig nett sein. Aber die Quintessenz blieb dieselbe: Er interessierte sich nicht für mich. Zumindest nicht nach meinem öffentlichen Zusammenbruch.
„Hattest du schon früher solche Panikattacken?“
Wie bitte?Vor Überraschung umfasste ich das Lenkrad fester, während ich in die Nachbarschaftsgegend einbog.
„Ein paar Mal.“ Sechs Mal, mindestens. Ich konnte nichts dagegen tun, mir war das Misstrauen anzuhören. Aber meine „Probleme“ hätten jeden anderen schon längst vertrieben. Nash dagegen wollte Details wissen. Warum?
„Wissen deine Eltern Bescheid?“
Unruhig rutschte ich auf dem Sitz hin und her, als würde mir eine bequemere Position helfen, die Frage zu beantworten. Doch so war es nicht. „Meine Mutter ist gestorben, als ich noch klein gewesen bin. Und mein Vater konnte sich damals nicht allein um mich kümmern. Er ist nach Irland gezogen. Seitdem lebe ich bei meiner Tante und meinem Onkel.“
Nash blinzelte lediglich und bedeutete mir mit einem Nicken weiterzuerzählen. Den meisten Leuten war es unangenehm, wenn sie erfuhren, dass ich Halbwaise war und von meinem Vater im Stich gelassen wurde. Deshalb erntete ich in der Regel entweder Mitleid oder peinlich-berührtes Schweigen. Bei Nash war das anderes, und darüber war ich froh. Auch wenn mir nicht gefiel, worauf er mit seinen Fragen abzielte.
„Wissen es dann wenigstens deine Tante und dein Onkel?“
Ja. Und sie glauben, ich habe nicht alle Tassen im Schrank. Die Wahrheit war zu schmerzhaft, um sie auszusprechen.
Als ich merkte, dass Nash mich wieder eindringlich musterte, flammte das Misstrauen wieder auf. Was interessierte es ihn, ob meine Familie über meine Misere Bescheid wusste? Wollte er sich später mit seinen Freunden darüber totlachen?
Allerdings wirkte sein Interesse echt und kein biss chen hinterlistig. Besonders wenn man bedachte, wie sehr er sich im Taboo um mich bemüht hatte. Heuchelte er das Interesse nur, um etwas ganz anderes von mir zu bekommen? Etwas, das ihm den Gerüchten zufolge nur die wenigsten Mädchen verweigerten?
Würde er meine dunkelsten und schmerzvollsten Geheimnisse in der ganzen Schule herumerzählen, wenn ich ihm nicht das gab, was er wollte?
Nein! Allein bei der Vorstellung verspürte ich einen schmerzhaften Stich in der Magengrube. Ich trat viel zu hart auf die Bremse.
Ich hielt mitten auf der Straße an und warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel. Kein anderes Auto weit und breit. Kurz entschlossen schaltete ich in den Leerlauf, nahm all meinen Mut zusammen und sah Nash fest in die Augen. „Was willst du von mir?“, fragte ich schroff, bevor ich es mir anders überlegen konnte.
Nash riss überrascht die Augen auf und rutschte ein Stück von mir ab. „Ich wollte nur … Nichts!“
„Du willst nichts?“ Ich suchte nach dem tiefen Grün und Braun in seinen Augen, doch es war zu dunkel im Auto. Im schwachen Licht der Armaturenbeleuchtung konnte ich sein Gesicht nicht genau erkennen. „Bis zu dem heutigen Abend haben wir kaum ein Wort miteinander gewechselt. Und jetzt tauchst du wie aus dem Nichts auf und spielst den edlen Ritter. Und ich soll glauben, dass du dafür keine Gegenleistung erwartest? Nichts, was du deinen Freunden am Montag erzählen kannst?“
Nashs Lachen klang gekünstelt, und er wand sich unruhig auf dem Sitz. „Ich würde nie …“
„Spar es dir einfach! Wenn man den Gerüchten glaubt, bist du ein noch viel größerer Eroberer als Dschingis Khan.“
Er sah mich herausfordernd an. „Glaubst du alles, was du hörst?“
„Stimmt es etwa nicht?“
Anstatt zu antworten, lachte Nash aus vollem Hals und stützte den Ellbogen auf den Türgriff. „Bist du immer so gemein zu den Jungs, die dir in dunklen Straßen etwas vorsingen?“
Das hatte gesessen. Ich schluckte den Einwand, der mir auf den Lippen lag, hinunter. Er hatte mir tatsächlich etwas vorgesungen und mich auf wundersame Weise allein mit Worten aus der Panikattacke geholt. Damit hatte er mich vor einer öffentlichen Demütigung bewahrt. Und trotzdem musste es dafür einen Grund geben, schließlich gab ich keine besonders tolle Eroberung ab.
„Ich traue dir nicht“, sagte ich schließlich. Meine Hände lagen schlaff und nutzlos auf meinem Schoß.
„Im Moment traue ich dir auch nicht.“ Im Halbdunkeln sah ich seine Zähne blitzen, und die dunkle Andeutung eines Grübchens. Er lächelte und breitete in einer umfassenden Geste die Arme aus. „Schmeißt du mich jetzt raus, oder bringst du mich noch bis zur Haustür?“
Bis dahin und keinen Schritt weiter, dachte ich im Stillen, und legte den ersten Gang ein. Ich bog nach rechts ab. Und wir fuhren in seine Wohnsiedlung, die eindeutig mehr als nur ein paar Minuten zu Fuß von meiner Wohnung entfernt lag. Wäre er wirklich gelaufen, wenn ich ihn hätte fahren lassen?
Und hätte er mich ohne Umwege nach Hause gefahren?
„Fahr am besten hier links und die nächste rechts. Ich wohne in dem Haus an der Ecke.“
Wir näherten uns einem kleinen Holzhaus im älteren Teil der Siedlung. Ich parkte in der Auffahrt hinter einer staubigen, zerbeulten Limousine. Die Fahrertür stand sperrangelweit offen, und aus dem Wageninneren fiel Licht auf einen Flecken trockenen Grases neben der Auffahrt.
„Du hast deine Autotür offen gelassen“, sagte ich, als ich den Motor abstellte. Es war eine Erleichterung, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als auf Nash, obwohl ich ihn nur allzu gern ansah.
Nash seufzte. „Das ist das Auto meiner Mutter. Sie hat im letzten halben Jahr drei Batterien ruiniert!“
Wie aufs Stichwort begann die Innenbeleuchtung des Wagens zu flackern, und ich konnte das Lachen nur mit Mühe unterdrücken. „Jetzt sind es gleich vier.“
Nash stöhnte zwar gequält auf, aber er schien mehr an mir interessiert zu sein als an dem Auto. Wieder musterte er mich eindringlich von der Seite. „Sag mal … Gibst du mir die Chance, dein Vertrauen zu verdienen?“
Mein Herz schlug schneller. Meinte er das ernst?
Vielleicht hätte ich Nein sagen, ihm für die Hilfe im Taboo danken und schnell wegfahren sollen. Doch ich konnte den Grübchen einfach nicht widerstehen. Dabei war mir sehr wohl bewusst, dass zahlreiche andere Mädchen ihm genauso wenig widerstanden hätten.
Zumindest konnte ich meine erst vor Kurzem überstandene Panikattacke als Entschuldigung anführen.
„Und wie willst du das anstellen?“, fragte ich nach einer langen Pause.
Als hätte er mit der Antwort gerechnet, lächelte Nash breit, und ich spürte, wie ich rot wurde. „Hast du Lust, morgen Abend vorbeizukommen?“
Hierher, zu ihm nach Hause? Keine Chance! Ich war zwar willensschwach, aber nicht dumm. Mal ganz davon abgesehen, dass ich sowieso keine Zeit hatte. „Ich arbeite sonntags immer bis um neun Uhr.“
„Im Ciné-Kino?“
Er weiß, wo ich arbeite, dachte ich überrascht. Ein angenehm warmes Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus, und ich sah ihn fragend an.
„Ich habe dich dort schon ein paar Mal gesehen.“
„Oh.“ Natürlich hatte er mich dort schon gesehen. Höchstwahrscheinlich, als er mit einem Mädchen dort gewesen war. „Ja, ich sitze ab 14 Uhr im Kassenhäuschen.“
„Wie wäre es dann mit Mittagessen?“
Mittagessen. An einem öffentlichen Ort würde ich zumindest nicht so schnell schwach werden. „In Ordnung. Aber das bedeutet nicht, dass ich dir vertraue!“
Nash öffnete lachend die Tür. Als die Innenbeleuchtung ansprang, zogen sich seine Pupillen auf Stecknadel-Größe zusammen. Er lehnte sich vor, so als wollte er mich küssen, und mein Herz klopfte wie wild. Doch statt seiner Lippen spürte ich seine Bartstoppeln an meiner Wange, sein warmer Atem strich über mein Ohr. „Das macht es ja so spannend“, flüsterte er.
Mir blieb die Luft weg. Bevor ich auch nur das Geringste erwidern konnte, war Nash aus dem Auto gesprungen und hatte die Tür hinter sich zugeworfen. Im Eiltempo rannte er die Einfahrt hinauf und warf die Tür des anderen Wagens zu.
Wie in Trance legte ich den Rückwärtsgang ein und fuhr auf die Straße. Zu Hause angekommen, hatte ich keinerlei Erinnerung mehr an die Rückfahrt.
„Guten Morgen, Kaylee!“, zwitscherte Tante Val mir aus der Küche zu. Sie trug ihren blauen Satin-Bademantel und hielt einen riesigen Becher Kaffee in der Hand. In der hellen Morgensonne, die durch das Fenster schien, leuchtete der Morgenmantel mit Vals Augen um die Wette. Ihr welliges braunes Haar war vom Schlaf noch zerzaust. Doch bei Valerie sah es immer so aus wie in den Hollywood-Filmen, wenn die Hauptdarsteller komplett geschminkt in völlig faltenfreien Nachthemden aufwachten.
Meine Haare dagegen waren morgens so verfilzt, dass ich nicht einmal mit den Fingern durchkam.
Der Morgenmantel und die Größe des Kaffeebechers waren die einzigen Hinweise darauf, dass Val und mein Onkel gestern eine lange Nacht gehabt hatten. Oder vielmehr eine sehr kurze. Erst gegen zwei Uhr morgens hatte ich die beiden albern kichernd durch den Hausflur stolpern gehört.
Ich hatte mir gleich vorsorglich die Kopfhörer aufgesetzt. Schließlich hatte ich keine Lust, Zeugin zu werden, wenn mein Onkel seiner Frau bewies, dass er sie auch nach 17 Jahren Ehe noch attraktiv fand. Onkel Brendon war jünger, und meine Tante hasste jedes einzelne Jahr, das sie älter war.
Vals Aussehen war nicht das Problem. Dank Botox und eines strengen Sportprogramms sah sie keinen Tag älter aus als 35. Die Crux war, dass Onkel Brendon extrem jung wirkte. Val machte sich einen Spaß daraus, ihn Peter Pan zu nennen, wie den Jungen aus dem Märchenbuch, der nie erwachsen wurde. Doch als ihr vierzigster Geburtstag vor der Tür gestanden hatte, schien sie ihren Witz plötzlich gar nicht mehr lustig zu finden.
„Müsli oder Waffeln?“ Val stellte den Kaffeebecher auf der Arbeitsfläche ab, kramte eine Packung tief gefrorene Waffeln aus dem Tiefkühlfach und hielt sie hoch. Tante Val war kein Fan von üppigem Frühstück, weil sie mit einer einzigen Mahlzeit nicht zu viele Kalorien zu sich nehmen wollte. Und sie verspürte keine große Lust darauf, etwas zu kochen, was sie selbst nicht aß. Der Rest der Familie durfte sich am Morgen aber so viel Fett und Cholesterin gönnen, wie er wollte.
Normalerweise tischte Onkel Brendon am Samstagmorgen reichlich von beidem auf, doch heute schlief er noch. Sein Schnarchen war durchs halbe Haus zu hören. Der Abend mit Val hatte ihn anscheinend ziemlich erschöpft.
Auf Strümpfen ging ich vom Esszimmer in die Küche zu Val und betrat die kühlen Fliesen. „Toast reicht. Ich bin heute Mittag zum Essen verabredet.“
Tante Val räumte die Packung zurück ins Gefrierfach und reichte mir stattdessen den kalorienreduzierten Vollkorn-Toast, den sie immer kaufte. „Mit Emma?“, fragte sie.
Nachdem ich zwei Scheiben Brot in den Toaster gesteckt hatte, schüttelte ich den Kopf und band die rutschende Schlafanzughose fest.
Tante Val warf mir über den Rand ihres Bechers hinweg einen fragenden Blick zu. „Hast du ein Date? Kenne ich ihn?“ Was sie damit meinte, war, ob es sich um einen von Sophies Ex-Freunden handelte.
„Ich glaube nicht“, antwortete ich knapp. Zu Tante Vals großer Enttäuschung war ich, im Gegensatz zu ihrer leiblichen Tochter, weder Schulsprecherin noch Mitglied des Tanzteams oder im Komitee, das das Kostümfest im Winter plante. Das lag zum Teil daran, dass Sophie mir mit Sicherheit das Leben schwer gemacht hätte, hätte ich in ihrem Territorium gewildert. Letztendlich war jedoch ausschlaggebend, dass ich für den Unterhalt meines Autos arbeiten musste. Die wenige Freizeit, die mir blieb, verbrachte ich lieber mit Emma als damit, den Mädchen des Tanzteams dabei zu helfen, das Glitzergel farblich mit den paillettenbesetzten Kostümen abzustimmen.
Auch wenn ich ziemlich sicher war, dass Val meine Wahl gutgeheißen hätte: Ich konnte darauf verzichten, dass sie wegen meinen sozialen Aufstiegs einen Freudentanz aufführte. Dinge wie sozialer Status waren mir nicht so wichtig wie ihr. Mir genügte vollauf, mit Emma und ihren Freunden abzuhängen.
„Sein Name ist Nash.“
Tante Val öffnete die Schublade mit dem Silberbesteck und nahm ein Buttermesser heraus. „In welche Klasse geht er?“
Ich stöhnte innerlich. „Zwölfte Klasse.“ Jetzt war es so weit.
Tante Val strahlte wie ein Honigkuchenpferd. „Das ist ja wunderbar!“
Damit meinte sie in Wirklichkeit so etwas wie: „Entsteige endlich deinem gesellschaftlichen Schattendasein und strebe nach dem Licht der Anerkennung.“ Oder irgend so einen Mist. Denn meine Tante und meine überprivilegierte Cousine kannten nur zwei Seinszustände: Entweder man war ganz oben, oder man gehörte in die Gosse. Und wenn man nicht ganz oben war, blieb nur eine andere Option …
Vorsichtig nahm ich das Brot aus dem Toaster, bestrich es dick mit Erdbeermarmelade und setzte mich auf einen der Hocker am Tisch. Tante Val machte es sich mit einem zweiten Becher Kaffee neben mir gemütlich und beendete unser morgendliches Gespräch, indem sie mit der Fernbedienung den riesigen Flachbild-Fernseher im Esszimmer anschaltete.
„… wir berichten live aus dem Taboo im Westend, dem Club, in dem letzte Nacht die Leiche der 19-jährigen Heidi Anderson auf der Toilette gefunden wurde.“
Oh nein!
Mein Magen krampfte sich zusammen, und ich drehte mich wie in Zeitlupe auf dem Hocker um. Auf dem Fernsehbildschirm war eine Reporterin zu sehen, die etwas zu selbstsicher vor der Backsteinwand des Clubs stand, in den ich vor gerade einmal zwölf Stunden geschlichen war. Während ich noch ungläubig starrte, blendete der Sender ein Bild von Heidi Anderson ein. Sie saß auf einem Liegestuhl und lächelte strahlend in die Kamera, das rotblonde Haar vom Wind zerzaust.
Sie war es!
Ich konnte kaum atmen.
„Kaylee? Was ist los?“
Ich rang nach Luft und sah, dass Tante Val wie gebannt auf meinen Teller starrte. Der angebissene Toast lag darauf, mit der Marmeladenseite nach unten. Es war ein Wunder, dass ich die andere Hälfte noch im Magen hatte.
„Nichts. Kannst du das mal lauter stellen?“, antwortete ich und schob den Teller beiseite. Tante Val tat wie ihr geheißen, jedoch nicht ohne mir einen irritierten Blick zuzuwerfen.
„Die Todesursache ist noch unklar“, erklärte die Reporterin. „Nach Angaben der Mitarbeiterin, die Ms Andersons Leiche gefunden hat, waren keine Spuren von Gewalteinwirkung zu erkennen.“
Auf dem Bildschirm erschien Tracis Gesicht. Sie sah blass und mitgenommen aus, und ihre Stimme klang heiser, so als hätte sie geweint. „Sie lag ganz ruhig da, als würde sie schlafen. Ich dachte erst, sie wäre ohnmächtig … Aber dann habe ich gemerkt, dass sie nicht atmet“, stammelte sie.
Der Sender schaltete zurück zur Reporterin. „Ist das nicht Emmas Schwester?“, fragte Tante Val erstaunt. „Ja. Sie arbeitet im Taboo hinter der Bar.“
Tante Val starrte mit düsterem Gesicht auf den Fernseher. „Das ist wirklich tragisch …“
Wenn du wüsstest, schoss es mir durch den Kopf.
Ich hatte am ganzen Körper eine Gänsehaut. Es war wirklichpassiert!
Während meiner bisherigen Anfälle hatten Valerie und Brendon nie Veranlassung dazu gehabt, mein hysterisches Geplapper über wabernde Schatten und den nahenden Tod ernst zu nehmen. Da ich mich nicht mehr zum Schweigen bringen ließ, wenn ich erst einmal angefangen hatte zu schreien, hatten sie mich immer schleunigst nach Hause gebracht. Dort hatte ich mich dann meistens beruhigt, weil der Auslöser der Panik weit genug weg gewesen war. Nur beim letzten Mal war alles anders abgelaufen. Statt nach Hause hatten Valerie und Brendon mich direkt ins Krankenhaus gefahren und in die Psychiatrie eingewiesen. Ich erinnere mich noch an ihre mitleidigen und besorgten Blicke, gepaart mit einer leisen Erleichterung darüber, dass ich diejenige war, die den Verstand verlor, und nicht ihre leibliche, glücklicherweise völlig normale Tochter.