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Er ist Freude und Schmerz, Frieden und Krieg, mein Leben und meine Liebe.
Bear hatte einst geschworen, Thia gegen alle Gefahren zu beschützen. Dass sie einmal ihr Herz an den geächteten Biker mit Engelsgesicht verlieren könnte - und er sich auf der Suche nach einem Ausweg für sie opfern würde -, hätte sie niemals für möglich gehalten. Erneut auf sich allein gestellt und ohne Hoffnung, ihn jemals wiederzusehen, ist jeder Tag für Thia unerträglich. Doch die Gefahr ist längst nicht gebannt: Bears Vergangenheit droht sie beide einzuholen, und Thia muss sich fragen, ob ein Leben an Bears Seite vielleicht die größte Gefahr für sie bedeutet ...
"Wild, sexy und rasant erzählt! Dieses Buch macht absolut süchtig!" Good in the Stacks Book Review
Band vier der King-Reihe von USA-Today-Bestseller-Autorin T. M. Frazier
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Seitenzahl: 382
T. M. FRAZIER
Soulless
Roman
Ins Deutsche übertragen von Anja Mehrmann
Bear hatte einst geschworen, Thia gegen alle Gefahren zu beschützen. Dass sie einmal ihr Herz an den geächteten Biker mit Engelsgesicht verlieren könnte – und er sich auf der Suche nach einem Ausweg für sie opfern würde –, hätte sie niemals für möglich gehalten. Erneut auf sich allein gestellt und ohne Hoffnung, ihn jemals wiederzusehen, ist jeder Tag für Thia unerträglich. Doch die Gefahr ist längst nicht gebannt: Bears Vergangenheit droht sie beide einzuholen, und Thia muss sich fragen, ob ein Leben an Bears Seite vielleicht die größte Gefahr für sie bedeutet …
Für Frazierland, meine Sippe
How well I have learned that there is no fence to sit on between heaven and hell.
Johnny Cash
Ich war wütend auf die ganze Welt. Ich war wütend auf den Whisky, weil er nicht stark genug war, auf die Drogen, weil sie nicht lange genug wirkten, und auf die verdammten Nutten, die ich verprügelte, weil sie es nicht schafften, mich kommen zu lassen. Dabei war ich selbst schuld, wenn mein Schwanz nach einem ganzen Eimer voll Koks zu nichts mehr zu gebrauchen war. Das ging so weit, dass ich sogar auf Leute sauer war, die mir zufällig lachend oder auch nur lächelnd auf der Straße entgegenkamen, während ich das Gefühl hatte, dass ich selbst nie wieder fähig sein würde, zu lächeln oder gar zu lachen.
Wie konnten sie es nur wagen?
Wie konnten sie es verdammt noch mal wagen, einfach so weiterzuleben, obwohl mein Freund gerade gestorben war?
Ich war kurz davor, das bisschen Verstand zu verlieren, das mir noch geblieben war, als ich aus Logan’s Beach hinausfuhr und mich auf die Suche nach einem Ort oder auch mehreren Orten machte, an denen ich mich betäuben konnte, um vor den Gefühlen zu fliehen, die mir von einer Stadt zur anderen folgten, von einem billigen Motel zum nächsten, von einem Mädchen und einem verdammten High zum anderen.
Dann tauchte dieses Mädchen mit den rosa Haaren aus der Vergangenheit auf und stürmte in mein Leben, und es war, als hätte ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Aufgabe. Eine richtige, echte Aufgabe, nicht irgendeinen beschissenen Befehl, den Chop mir vor die Füße rotzte und den ich und alle anderen Mitglieder der Beach Bastards für das Gesetz hielten, sondern einen echten Grund, wieder zu leben.
Wieder leben zu WOLLEN.
Jemand, für den es sich zu leben lohnte.
Ti war meine Chance auf irgendeine Art von echtem Glück, während ich vor ihr weiß Gott keine verdammte Ahnung gehabt hatte, was das eigentlich ist. Die flüchtigen Blicke auf echtes Glück, die ich erhaschen konnte, hatte ich Preppy, King und natürlich Grace zu verdanken. Zum Beispiel, als King uns zum ersten Mal tätowierte und wir die Tattoos liebten, obwohl sie krumm und schief und total hässlich waren. Als Grace mir den ersten Geburtstagskuchen meines Lebens gebacken hatte. Als King, Prep und ich oben auf dem Wasserturm saßen und glaubten, dass die Welt uns zu Füßen lag.
Denn damals tat sie das.
Und dann kam Ti und mit ihr mein neues Glück, als ich sie lächeln sah. Als ich sie zum ersten Mal küsste. Zum ersten Mal ihre Pussy am Lagerfeuer draußen schmeckte. Als sie mich zum ersten Mal in ihr Innerstes ließ und ich ihr schamlos ihre Jungfräulichkeit nahm, in dem verzweifelten Verlangen, sie mir zu eigen zu machen.
Denn sie gehörte mir.
So würde es für immer bleiben.
Und ich bringe jeden Scheißkerl um, der den Versuch unternimmt, sie mir wegzunehmen.
Sie gehört mir.
Ich ging in das Büro meines alten Herrn, um ihm zu sagen, dass die Lieferung, nach der er schon seit Wochen ständig fragte, endlich am Tor angekommen war. In der Sekunde, in der sich die Tür öffnete, bedauerte ich bereits, dass ich vergessen hatte zu klopfen. Chop saß zurückgelehnt in dem ausgeblichenen grünen Sessel in einer Ecke des Raums, die Jeans um die Fußknöchel herum, ein Bier in der Hand. Eine rothaarige Beach Bastards Bitch, eine Bikernutte namens Millie oder Mallie oder Jennie, kniete zwischen seinen Beinen, und ihr Kopf bewegte sich auf seinem Schwanz auf und ab. »Scheiße«, murmelte ich, und mir fiel wieder ein, wie er mich beim letzten Mal zusammengeschissen hatte, als ich ihn mit irgendeiner Tusse gestört hatte. Erst nach zwei Monaten war das blaue Auge wieder weg gewesen, und danach hatte er mich einen ganzen verdammten Monat lang Dienst am Tor schieben lassen.
Ich griff nach der Klinke, zog mich langsam zurück und hoffte, dass er mich gar nicht bemerkt hatte.
Aber so viel Glück hatte ich nicht.
»Was zum Teufel habe ich dir gesagt, Junge?«, schnauzte er mich an. Ich erstarrte. »Bist du bescheuert, oder was? Hast du schon vergessen, was beim letzten Mal passiert ist, als du mir keinen Respekt erwiesen hast? Ich hab dir gesagt, du sollst anklopfen, verdammt, und du spazierst hier einfach rein wie in dein eigenes verficktes Zimmer!« Mit einem hörbaren Plop! löste das Mädchen ihren Mund von seinem Schwanz, und ich zuckte zusammen. »Scheiße, hör nicht einfach auf, du Schlampe. Hab ich etwa gesagt, dass du aufhören sollst, verdammt?« Chop packte sie an den Haaren am Hinterkopf, drückte ihr Gesicht wieder in seinen Schoß und hielt sie dort fest.
»Sorry, Pop«, sagte ich. Nur ein Versprecher, aber noch etwas, das ihn mit Sicherheit aufregen würde.
»Pop? Pop!« Diesmal riss er den Kopf des Mädchens hoch und stieß sie brutal weg. Sie landete auf der Seite und krümmte sich vor Schmerz. Er stand auf, stopfte alles in seine Jeans zurück und zog den Reißverschluss hoch, während Jodi an uns vorbei durch die Tür und aus dem Zimmer rannte. »Wie sollst du mich nennen, Sohn?«, zischte Chop und kam mir so nah, dass ich seinen Bieratem riechen konnte.
»Präsident«, antwortete ich und blickte auf den Boden, wie er es mir befohlen hatte.
»Ganz genau. Präsident. Dieser Daddy- und Pop-Kram gehört in die Zeit, als du ein Kind warst, und jetzt bist du kein verdammtes Kind mehr«, sagte er. »Und warum sollst du mich Präsident nennen?«, fragte er und stieß mir den Zeigefinger in die Brust.
»Weil du der Präsident bist«, sagte ich und wiederholte die Worte, die er mich ständig aufsagen ließ, seit ich offiziell zum Prospect, zum Neuling, in seinem Bikerclub, ernannt worden war und er beschlossen hatte, dass Pop irgendwie respektlos klang.
»So sieht’s aus, Prospect. Ich. Ich bin dein verdammter Präsident. Ich bin nicht dein Dad oder dein Pop oder dein verdammter alter Herr.« Chop packte mich an meiner Kutte, für die ich noch keine Patches hatte, und zerrte mich über den Flur und die Treppe hinunter in den Gemeinschaftsraum. Ein paar Brüder saßen auf Hockern an der Bar. Die meisten spielten Billard. Ihre Einsätze lagen in Stapeln auf den Rändern des Spieltisches und zeigten, wie hoch die Summe war, um die gespielt wurde.
Obwohl die Höhe der Einsätze eigentlich keine Rolle spielte, denn in der Sekunde, in der Chop den Raum betrat, legten alle ihre Queues beiseite und richteten ihre Aufmerksamkeit auf uns. Er ging hinter mir und stieß mich vorwärts. Ich stützte mich an einem der Tische ab, um nicht hinzufallen, und dabei fiel ein Stapel Scheine vom Rand und verteilte sich flatternd auf dem Boden.
»Sag’s ihnen. Sag deinen zukünftigen Brüdern, wer ich bin, Prospect«, befahl Chop höhnisch, als wartete er nur darauf, dass ich durchdrehte. Ich war sauer, aber ich war verdammt noch mal nicht blöd. Mir blieb nichts anderes übrig, als meine Zeit als Neuling durchzustehen, denn sobald ich ein vollwertiges Mitglied war, würde er mir mehr Respekt entgegenbringen müssen.
Hoffte ich.
»Er ist …«, setzte ich an, doch die Blicke der Brüder ließen mich zögern.
»Ich bin was, JUNGE?« Chop hatte sich über mich gebeugt und brüllte mir ins Ohr. »Und stell dich verdammt noch mal gerade hin. Ich kenne Nutten, die den ganzen Tag auf den Knien und auf dem Rücken verbringen, und trotzdem stehen sie aufrechter da als du.« Er packte mir mit der Faust ins Haar und zog mich hoch.
»Der Präsident«, stieß ich hervor, ein bisschen lauter diesmal, und zuckte vor Schmerz zusammen, weil er immer noch an meinen Haaren zog, als wäre ich eine verdammte Marionette, die er an den Fäden hielt.
»Wer?«, schnauzte er mich an wie ein Unteroffizier.
»Du bist der Präsident«, schrie ich und hoffte, dass es ihm endlich reichte, dass er mich loslassen und die ganze Sache beenden würde. Denn nichts anderes wünschte ich mir, wenn Chop durchdrehte, was immer öfter passierte.
»Und wer bist du?«
»Ich bin niemand. Ich bin ein Prospect.«
»Und was bist du noch?«, drängte Chop. Meine Hände zitterten, und meine Angst verwandelte sich allmählich in Wut. Um sie zu unterdrücken, atmete ich ein paar Mal tief ein und aus. Wenn ich jetzt ausrastete, würde die Sache ein böses Ende nehmen.
Denk an das letzte Mal. Bleib ruhig. Nur noch ein paar Minuten.
»Sag ihnen, was du mir gesagt hast, du kleines Arschloch. Sag ihnen, was du schon lange wissen müsstest, aber immer wieder vergisst, verdammt, weil du mir den Respekt verweigerst.«
Vorsichtig blickte ich zu den Männern hoch, die sich allesamt zu amüsieren schienen. Sie grinsten und stießen sich mit den Ellbogen an, als sähen sie irgendeine Comedyshow. Alle, bis auf einen. Ein Mann mit silbernen Haaren stand hinten in der Gruppe und verzog keine Miene. Den Ausdruck in seinem Gesicht hätte ich leicht als Mitleid missverstehen können, wenn ich geglaubt hätte, dass ein Bruder so etwas für einen Prospect empfinden kann.
Ich räusperte mich. »Ich bin ein Prospect im großartigsten Bikerclub im ganzen Staat Florida«, stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Den Beach Bastards. Ich bin kein Sohn. Ich habe keinen Vater. Ich bin ein Soldat in der Armee der Gesetzlosen, sonst nichts.«
Chop grunzte zufrieden. »Hoffentlich kapierst du jetzt, was du bisher offenbar nicht begreifen konntest. Ich will und brauche keinen Sohn. Was ich brauche, ist ein verdammter guter Soldat.« Er ließ meine Kutte los und drückte mich an den Schultern nieder, sodass ich in die Knie ging. Mit dem Stiefel trat er mir gegen das Steißbein, und ich fiel auf den Boden, mein Jochbein knallte auf das schwarz-weiß gemusterte Linoleum. »Steh endlich deinen Mann und erweise mir Respekt, verdammt noch mal, bevor ich dich an denselben Ort befördere, an den ich die Fotze geschickt habe, die deine Mutter war.«
Wütend stürmte Chop aus dem Raum und hielt nur inne, um einen kurzen verärgerten Blick mit dem Mann mit den silbernen Haaren zu wechseln. Die anderen Brüder wandten sich wieder ihren Drinks und dem Spiel zu, als wären wir nie da gewesen.
Der Mann mit den silbernen Haaren kniete nieder und streckte eine Hand aus. Mein Blick musste ihm verraten haben, was ich dachte: Soll das ein Trick sein? Denn er lachte, nahm mich bei der Hand und zog mich hoch. Ich berührte meine pochende Wange, die außerdem zu bluten schien, wenn ich dem frischen roten Fleck auf dem weißen Quadrat glauben durfte, auf dem ich gelandet war. »Es wird bald besser«, sagte er und verpasste mir einen kräftigen Schlag auf den Rücken.
»Tatsächlich?«, fragte ich, und ich wollte es wirklich wissen. Musste es wissen. Ich sah, was die Brüder hatten, und genau das wollte ich auch. Die Partys. Die Mädchen. Die knallharten Bikes.
Ein bisschen verdammten Respekt.
Und in diesem Augenblick musste ich einfach wissen, ob sich das, was Chop mir antat, eines Tages tatsächlich auszahlen würde.
»Aber klar, Kid. Ich bin Joker«, sagte er und führte mich zum Tresen.
»Joker? Bist du ein Comedian oder so was in der Art?«
»Nee, ich stehe nur total auf Batman-Filme. Aber Batman ist als Name für die Straße wohl nicht besonders clever, also nennen mich alle Joker.« Er lachte und trank einen großen Schluck Bier. »Die Bösen mochte ich sowieso schon immer am liebsten.« Er gab der BBB, der Bitch hinter der Theke, ein Zeichen, und sie reichte ihm zwei Bierflaschen. Eine davon schob er zu mir herüber.
»Ich hab dich hier noch nie gesehen«, sagte ich und trank ebenfalls einen ordentlichen Schluck. Es war durchaus nicht mein erstes Bier. »Eigentlich kenne ich so ziemlich jeden, der hier rumhängt.«
Er zuckte mit den Schultern. »Dachte nur, wo unsere Clubs im Augenblick befreundet sind und Geschäfte miteinander machen, könnte ich mal vorbeikommen und sehen, was geht«, sagte er und drehte sich um, sodass ich die Aufschrift auf seiner Kutte sehen konnte. Anstelle von Beach Bastards stand Wolf Warriors darauf.
»Werden die Prospects in deinem Club auch wie Dreck behandelt?«, fragte ich und setzte mich auf den Hocker, der schon bis zum Anschlag hochgedreht war, sodass ich mich nicht selbst dadurch in Verlegenheit brachte, dass ich den Sitz einstellen musste. Zwar war ich meinem Alten mitsamt blondem Haar und lächerlichen Sommersprossen wie aus dem Gesicht geschnitten, aber mit dreizehn war ich gerade mal halb so groß wie er.
»Fuck, ja, das werden sie«, sagte Joker lachend und trank wieder einen großen Schluck Bier.
Er beugte sich zu mir und sagte leise: »Aber unsere Söhne behandeln wir nicht wie Dreck. Die Familie ist das Wichtigste, Junge. Vergiss das nicht. Familie ist das, worum es bei diesem ganzen verdammten Bullshit überhaupt geht«, sagte Joker und machte mit seiner Bierflasche eine ausladende Geste in den Raum um uns herum.
Ich trank mein Bier aus, stand auf und stellte die Flasche auf den Tresen. »Okay, Joker, du hast den Präsident ja selbst gehört. Ich bin nicht sein Sohn.« Ich machte Anstalten zu gehen, denn meine Schicht am Tor würde gleich beginnen. Doch da sagte Joker etwas, das mich zögern ließ und dazu brachte, mich wieder umzudrehen.
»Wenn du die Führung übernimmst, Junge, wirst du all das ändern. Es liegt dir im Blut. Du bringst alles wieder in Ordnung. Das weiß ich. Ich glaube an dich.«
Ich rümpfte die Nase. »Wer bist du gleich noch mal?«, fragte ich den Fremden, der offenbar nicht nur wusste, wer ich war, sondern auch noch meine Bestimmung kannte.
»Ich bin nur ein Biker, der aufpasst, Junge.« Beschwichtigend legte er mir eine Hand auf die Schulter und drückte sie. Er betrachtete mich nachdenklich und nickte, als hätte er die Bestätigung für irgendetwas gefunden, dann schlenderte er zur Tür hinaus.
Ich habe ihn nie wiedergesehen.
Das Echo der Schreie von Insassen hallte nachts durch den Zellentrakt. Die meisten dieser Typen waren harte Gangster bei Tag und Häufchen sinnlosen Elends bei Nacht. Anscheinend war die Nachtruhe die einzig akzeptable Zeit, sich wegen der miesen Karten, die das Schicksal ihnen zugeteilt hatte, im Selbstmitleid zu suhlen.
Aber für mich galt das nicht.
In meinem Spiel war ich sowohl Spieler als auch Geber, und ich wusste eher als jeder andere, welche Karten ich auf der Hand hatte.
Vor allem eher als Ti.
Mich quälte die Erinnerung an ihren Gesichtsausdruck, als sie sah, wie sie mir die Handschellen anlegten, die eigentlich für sie bestimmt waren. Zuerst hatte sie verwirrt das Gesicht verzogen und dann überrascht die Augen aufgerissen. Als sie nach mir rief, hätte ich mich am liebsten nicht umgedreht, denn ich dachte, dass sie mir vielleicht niemals vergeben würde, was ich getan hatte. Aber ich musste es tun. Ein letztes Mal für wer weiß wie lange. Und als ich es tat, rechnete ich nicht damit, dass sie sich in meine gefesselten Arme werfen und ihren perfekten rosa Schmollmund auf meine Lippen drücken würde.
Dieser verdammte Mund.
Ich dachte, wenn ich Ti eine Zeit lang nicht sehen würde, könnte ich vergessen. Nicht sie, nur die kleinen Details. Die Dinge, die einen Mann verrückt machen, wenn er nicht mit derjenigen zusammen sein kann, die er am meisten begehrt. Ich dachte, ihr schönes Gesicht würde im Lauf der Zeit vor meinem inneren Auge verschwimmen, sodass ich sie mir kaum noch würde vorstellen können. Mich vielleicht nicht mehr an die unglaubliche Art erinnern würde, wie sie duftete.
Ihr leises Stöhnen.
Die Art, wie ihre Wangen sich röteten, wenn sie kurz davor war, zu kommen.
Nein, das passierte nicht.
Stattdessen erinnerte ich mich an alles, an jede Kleinigkeit, und zwar in hell leuchtenden Farben. Je länger ich an sie dachte, desto mehr fiel mir wieder ein.
Ich hatte so viel freie Zeit zur Verfügung, dass ich sie womöglich genauer vor mir sah, als wenn sie tatsächlich vor mir gestanden hätte. Zum Beispiel die Art, wie sie das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte, wenn ihr unbehaglich zumute war. Die Art, wie sie an der Seite ihres Daumens knabberte, wenn sie nervös wurde.
In meinem ganzen Leben hatte ich es nicht nötig gehabt, mich auf irgendeine Schlampe festzulegen. Aber dann kostete ich sie dort am Feuer, und ich wusste, es gab kein Zurück. Nicht für mich. Nie mehr. Ich schwöre, beim ersten Mal mit ihr in dem Pick-up sang eine Stimme in meinem Kopf unaufhörlich: »Meine, meine, meine«, als ich in ihre unglaubliche Pussy stieß und mich wieder zurückzog.
Wenn ich lange und angestrengt genug an sie dachte, konnte ich noch ihren Duft auf meiner Haut riechen.
Ich musste meinen Schwanz oft daran erinnern, wo wir waren, und an die Gefahr, in der wir bereits schwebten, denn es wäre leicht gewesen, sich in Erinnerungen zu verlieren. Nackt. Sich windend. Keuchend.
Fuck.
So leicht es war, mich in Gedanken an sie zu verlieren, so schwer fiel es mir, die Gefahr zu vergessen, die hinter jeder Ecke lauern konnte. Keine Zelle war sicher. Kein Flur. Kein Badezimmer. Nicht einmal der Gefängnishof.
Nachdem Bethany mir gesagt hatte, dass sie genug Beweise hätten, um Ti festzunehmen, hätte ich niemals zugelassen, dass sie sie holen, und ich habe keine Sekunde daran gezweifelt, dass ich an ihrer Stelle in den Knast gehen würde. Was mir noch mehr Grund gab, auf der Hut zu sein, damit jeder Bastard, der mich im Bezirksgefängnis angriff, übel zugerichtet oder tot endete. Was im Grunde egal war, denn auf keinen Fall würde es Ti sein.
Weil ich nicht schlafen konnte, stand ich an der Zellentür, den Rücken an die Stäbe gelehnt. Durch das Fenster hoch oben auf der anderen Seite des Zellentrakts, das einzige Fenster, war der Mond zu sehen, der immer wieder von vorbeiziehenden Wolken verdunkelt wurde und mir den einzigen Blick in die Freiheit gewährte, den ich mit Sicherheit für lange Zeit haben würde.
Wenn überhaupt.
Der Bezirksstaatsanwalt verkündete kurz nach meiner Verhaftung, dass sie auf Todesstrafe plädieren würden.
Die Wolken rissen auseinander, und das Mondlicht leuchtete in meine Zelle wie ein Scheinwerfer. Seltsamerweise fiel es genau auf das Graffito an der Wand des Zellentrakts oberhalb der Toilette.
BEACH BASTARDS, LOGAN’S BEACH hatte jemand mit dickem Filzstift hingeschrieben.
Ich seufzte. Nicht mal in meiner beschissenen Zelle konnte ich mich ihrem Zugriff entziehen, auch wenn es nur in Form von Tinte war.
Vorläufig.
Die Beach Bastards waren immer mehr als nur ein Motorradclub für mich gewesen, sogar mehr als nur ein Zuhause. Sie waren eine Bruderschaft, die einzelnen Mitglieder durch Treue miteinander verbunden. Zu jener Zeit ließ sich nichts mit dem Gefühl vergleichen, zu etwas Größerem zu gehören, das wichtiger war als ich selbst.
Etwas, woran ich glaubte, mit allem, was ich hatte und war.
Als ich den MC verließ, glaubte ich, so etwas nie wieder zu erleben, aber ich hatte mich geirrt. Obwohl die Verpackung ein bisschen anders war. Statt Leder und Tattoos waren es eine große Klappe und ein Körper, von dem ich mir wünschte, dass er jede verdammte Sekunde des Tages auf meinem Gesicht reiten würde.
Als ich noch ein Bastard war, lebte und atmete ich nach den Gesetzen, auf denen der MC beruhte.
Das Gesetz schrieb vor, dass die Bastards einem zwar als Vergeltung die Augäpfel aus den Höhlen reißen durften, aber niemals würden sie deine Frau und deine Kinder umbringen.
Unschuldige wurden nicht angerührt.
Bis Chop mein Mädchen in die Finger bekam.
MEINE Thia.
Die Bastards ähnelten inzwischen eher einer Terrororganisation, nicht durch Treue, sondern durch die Befehle miteinander verbunden, die der Mund eines machthungrigen, seelenlosen Tyrannen ihnen vor die Füße kotzte. Meine Brüder waren früher einmal Soldaten gewesen, aber irgendwann im Lauf der Zeit haben sie sich in gehorsame Hunde verwandelt, die Chop an sehr kurzen Leinen führte. Schlägertypen, die die Drecksarbeit erledigen, Zellen beschmieren, solange sie sitzen, die ansonsten aber nur wenig zum allgemeinen Wohl des Clubs beitragen.
Das »Wohl des Clubs« gab es nicht mehr.
Der Teil mit der Bruderschaft war schon lange vorbei, und an seine Stelle war eine Diktatur getreten, die vor Motoröl, Leder und Lügen nur so strotzte.
Als ich die Kutte ablegte, wusste ich nicht mehr, wer ich war. Der Mann in mir war verloren, weil ich jahrelang geglaubt hatte, dass mein Alter irgendwie mehr als ein gewöhnlicher Sterblicher war, weil er den Club führte und die Befehle gab.
Bis Ti kam.
Sie hat mir klargemacht, dass ich den Club nicht brauchte, um ein Biker zu sein.
Ich kann leben, und ich kann Motorrad fahren.
Ich kann lieben, und ich kann töten.
Der Mann und der Biker in mir, beide würden Chop eine Kugel in den Kopf jagen und diesem ganzen Mist ein Ende setzen, denn ich wusste, er würde mich jagen, bis ich unter der Erde lag.
»Du zuerst, alter Mann«, sagte ich leise zu mir selbst.
Das Gesetz schrieb vor, dass ein Bruder keinen anderen Bruder töten durfte.
Es war eine verdammt gute Sache, dass ich kein Bastard mehr war, denn wenn ich endlich diesen Gitterstäben entkommen würde, würde ich meinem Alten Schmerzen zufügen, die das, was Eli und seine Truppe von Weicheiern mir angetan hatten, im Vergleich verdammt harmlos aussehen lassen würden.
Dann war da noch diese Sache mit meiner Mutter, die plötzlich von den Toten auferstanden war.
Sadie.
Meine Mutter hieß Sadie Treme. Aus irgendeinem Grund hatte ich das vergessen, bis ich ihr im Besucherraum gegenübersaß und mich fragte, warum zum Teufel sie eigentlich am Leben war.
Die Schlampe hätte mir wenigstens den Gefallen tun und tot bleiben können.
Ich traute der Sache nicht.
Ich traute ihr nicht.
In meinem Leben lief schon genug Scheiße ab, auch ohne dass ich über die Frau nachdenken musste, die mich zur Welt gebracht hatte und vom verdammten Sensenmann geholt worden war, nur um dann wieder zurück ins Land der Lebenden zu kriechen.
Jahrelang hatte ich mir verboten, an die Frau zu denken, die mich geboren hat. Chop sagte, sie sei eine Verräterin, also glaubte ich, dass sie eine Verräterin war. »An Maulwürfe verschwenden wir keinen weiteren Gedanken, nachdem wir sie erledigt haben. Maulwürfe sind Schädlinge, und nur ein toter Maulwurf ist ein guter Maulwurf.« Das hatte er an dem Abend gesagt, als er Sadie erwischt hatte, die mit mir auf dem Beifahrersitz aus Logan’s Beach zu entkommen versucht hatte. Stunden später schleppte er sie in den Wald und legte sie um wie einen verdammten tollwütigen Köter.
Das Komische ist, ich kann mich nicht erinnern, dass ich damals geweint hätte. Ein Sohn sollte um seine Mutter weinen, wenn sie stirbt, oder nicht? Ich zerbrach mir den Kopf und versuchte, mich an irgendwelche Tränen zu erinnern, aber die Erinnerung daran kam nie.
Was zurückkam, waren andere Erinnerungen, zum Beispiel, dass ihr langes braunes Haar damals fast bis zur Taille reichte. Die Art, wie ihre haselnussbraunen Augen zu leuchten begannen, wenn mein Alter ihr die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Dass sie sich nie die Augen schminkte, ihre Lippen aber immer knallrot angemalt waren. Dass sie mich nie in den Schlaf sang, aber ständig Melodien von Tanya Tucker und Waylon Jennings summte, egal wo sie war.
Doch diese Erinnerungen konnten nichts mit der Sadie zu tun haben, die im Besucherzentrum vor mir saß. Nein, diese Frau, die ihre Finger knetete und den Blick auf ihren Schoß gesenkt hielt, war nur die Hülle des freien Geistes, der in meiner Erinnerung zu dem Song von Willie Nelson tanzte, den die Jukebox im Club ständig wiederholte.
Sie war lebendig, und sie atmete, aber irgendetwas an ihr war seltsam. Vielleicht die eingefallenen Wangen oder ihr fahles Gesicht. Oder es lag an ihrer niedergeschlagenen Ausstrahlung, dass ich mich fragte, ob es meinem Alten am Ende vielleicht doch gelungen war, sie umzubringen.
Sadie und Chop waren ein Paar geworden, als Sadie erst sechzehn war. Aus der Ausreißerin war eine Bikernutte geworden. Nur fünf Jahre nach meiner Geburt war sie tot, und das war’s.
Und dann tauchte sie plötzlich wieder auf. Fast fünfundzwanzig Jahre später sitzt sie mir gegenüber und mustert mich mit offenem Mund von oben bis unten, als wäre ich der verdammte Geist an diesem Tisch.
»Was willst du hier?«, fragte ich sie, weil ich nicht wusste, wie ich das Gespräch sonst beginnen sollte oder ob ich überhaupt mit ihr reden wollte.
»Ehrlich gesagt, ich dachte, ich wüsste es, aber jetzt, wo ich hier bin, weiß ich nicht mehr genau, warum ich gekommen bin«, sagte sie kleinlaut, biss sich auf die Lippe und sah alles Mögliche an, aber nicht mich.
»Ich dachte, du wärst tot«, erwiderte ich und sagte damit nur, was wir ohnehin beide wussten.
Sie nickte. »Das dachte ich auch. Wie es aussieht, habe ich mich getäuscht.«
»Was soll das heißen?« Inzwischen hatte ich die Nase voll von ihren ausweichenden Antworten, vor allem, weil sie nur zu immer mehr verdammten Fragen führten.
»Das heißt, dass ich geglaubt habe, tot zu sein, als dein Vater abgedrückt hat. Aber dann bin ich aufgewacht und stellte überrascht fest, dass ich genauso lebendig war wie du jetzt. Aber ich war nicht frei. Ich war irgendwo eingesperrt.« Sie schloss die Augen und kniff sich in die Nasenwurzel. »Die Einzelheiten sind verschwommen. Ich bin entkommen, aber ehrlich gesagt weiß ich nicht mehr, wie. Sobald ich wieder klar denken konnte, habe ich nach dir gesucht.«
»Du glaubst, dass Chop dich die ganze Zeit irgendwo festgehalten hat?«
Sadie nickte. »Ja, aber ich weiß nicht, wo.«
»Wie zum Teufel ist es möglich, dass du zwanzig Jahre lang nicht gewusst hast, wo du bist? Findest du nicht, dass das verdammt durchgeknallt klingt?«
Sadie legte einen Arm auf den Tisch, die Handfläche nach oben, und schob ihren langen Ärmel zurück. Ihr Unterarm war mit Pockennarben in unterschiedlichen Stadien der Vernarbung von rosa bis weiß übersät. »Ich weiß, dass das verrückt klingt«, sagte sie und sah mir endlich in die Augen. »Aber es ist die Wahrheit.«
»Nehmen wir mal an, es stimmt. Dann ist da immer noch die klitzekleine Frage, warum zur Hölle er das tun sollte«, sagte ich. »Chop hat einen Grund für alles, was er tut, sogar der abgefuckteste Scheiß hatte irgendeinen abgefuckten Grund. Aber das?«, sagte ich und deutete auf ihren Arm. Sie zog den Ärmel wieder herunter. »Für das da fällt mir absolut kein Grund ein.«
Sadie zupfte weiterhin an dem Ärmel, der ihre Hand bedeckte. »Der Grund spielt keine Rolle, Abel. Das ist nicht mehr wichtig. Das Warum bringt mich keinen Schritt weiter.«
»Aber warum bist du nicht einfach schon weitergegangen? Warum kommst du her? Glaubst du, Chop erfährt nicht, dass du hier warst? Er hat seine Augen überall, oder hast du das in all den Jahren vergessen, die er dich mit Drogen vollgepumpt und eingesperrt hat?«, fragte ich sarkastisch, um ihr ihre lächerliche Geschichte noch einmal vor Augen zu halten. Die Schlampe konnte genauso gut ein Junkie sein, gerade erst clean, und nun erfand sie Ausreden, warum zum Teufel sie in den letzten zwanzig Jahren meines Lebens nicht vorgekommen war.
Ätschbätsch, kleines Arschloch. Chop hat auf sie geschossen. Kam wieder raus aus dem Wald. Hat jedem erzählt, dass sie tot war. Die Schlampe kommt mir ziemlich lebendig vor, also steckt der Alte bis zu den Eiern in Schwierigkeiten, was auch immer passiert ist, selbst wenn ihre Story nicht stimmt, mischte Geisterpreppy sich ein. Seit ich Ti begegnet war, hörte ich ihn wesentlich seltener, und ich war froh, dass das kleine Arschloch überhaupt noch da war. Ich stützte die Ellbogen auf den Tisch und hielt die Hände vor den Mund, um mein Lächeln zu verstecken.
Preppy hatte recht, doch ich würde niemals erfahren, ob sie die Wahrheit sagte. Ich traute Chop so eine Quälerei über lange Zeit durchaus zu, aber warum sollte er deswegen lügen? Hinter dieser Geschichte musste noch etwas anderes stecken, und ich wusste nicht, ob Sadie log oder ob sie sich wirklich nicht mehr erinnern konnte.
Sie räusperte sich, und mein Blick fiel auf ihr langes Haar, das sie zwischen den Fingern zwirbelte. Es war sehr viel länger, als ich es in Erinnerung hatte, es reichte ihr fast bis zum Hintern, und in den schwarzen Strähnen waren silberne Fäden zu sehen. Die Falten um ihre Augen waren tiefer geworden, der unverkennbare rote Lippenstift war weg, ihre Lippen so nackt wie der Rest ihres Gesichts.
»Ich habe mich unter einem anderen Namen angemeldet. Außerdem werde ich verschwinden, sobald ich heute hier weg bin. Endgültig. Ich … ich musste einfach kommen, schätze ich. Ich wollte dich noch einmal sehen, bevor ich diesmal endgültig fortgehe.« Sie zupfte an ihrer Nagelhaut herum.
Ich musste mein Lächeln nicht länger verbergen, denn es war so schnell wieder verschwunden, wie es gekommen war. »Was erwartest du von mir? Eine dicke Umarmung und dass ich sage: ›Du hast mir gefehlt, Mommy?‹« Ich lehnte mich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
Sie fuhr sich mit den Fingern über eine lange, verblasste Narbe auf ihrer Stirn, die bis in den Haaransatz reicht. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, deswegen bin ich nicht hergekommen, das habe ich nicht erwartet. Es war selbstsüchtig von mir, hier aufzutauchen, aber ich musste einfach. Ich musste dir sagen, was er mir angetan hat. Du solltest hören, was für ein Mensch dein Vater ist.«
»Ich weiß nur zu gut, was für ein Mensch er ist«, sagte ich und beugte mich wieder vor.
Sadie verlagerte auf ihrem Stuhl das Gewicht. »Ich glaube, er hat es getan. Mich am Leben gehalten, meine ich, weil er dachte, dass ich den Club verraten habe, aber das stimmt nicht. Vielleicht hat er geglaubt, dass der Tod als Strafe nicht ausreicht. Es war ihm nicht genug, meinem Leben ein Ende zu setzen, er wollte es an sich reißen und mich noch mehr leiden lassen, anstatt meine Misere zu beenden.« Sadie schniefte, und da bemerkte ich ihre glasigen Augen. »Weißt du was? Ich hoffe bei Gott, dass ich mich niemals an das erinnern werde, was wirklich passiert ist. Ich bete, dass es für immer ein Geheimnis bleibt.« Sie schob ihren Stuhl vom Tisch zurück, ließ ihn über das Linoleum schrammen, blieb aber sitzen. »Denn irgendetwas sagt mir, dass er nichts mit mir gemacht hat, woran ich mich gern erinnern würde.« Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Wange, und plötzlich war der leere Blick von vorher wieder da. Das Schniefen hörte auf.
»Warum dieser Aufzug?«, fragte ich und deutete auf den hellblauen Krankenhauskittel, den sie trug.
Sie blickte an sich herab und knetete den Saum des Oberteils. »Wenn dich jemand fragt, wer dich besucht hat, oder wenn Chop Wind davon bekommt, dann suchen sie hoffentlich nach einer Krankenschwester.«
»Warum hast du es überhaupt riskiert?«
Sadie überhörte meine Frage. Sie seufzte, hob den Blick und musterte aufmerksam mein Gesicht. »Du hast seine Augen«, sagte sie und starrte mich unverwandt an. Unbehaglich rutschte ich auf dem harten Plastikstuhl herum. »Du siehst ihm so ähnlich. Als du hereinkamst, habe ich einen Moment lang geglaubt, dass er es ist.«
»Ich bin absolut nicht wie er«, blaffte ich sie an.
»Du bist hier drin«, erwiderte sie.
»Ich bin hier, weil ich es so wollte. Bring das in deinem drogenverseuchten Gehirn bloß nicht durcheinander. Du kennst mich überhaupt nicht. Du weißt nicht, was für Scheiß ich schon verzapft habe, und der war schlimmer, als du dir vorstellen kannst. Du weißt auch nicht, was für guten Scheiß ich gemacht habe, und der war besser, als du dir vorstellen kannst.«
»Es hat mit einem Mädchen zu tun«, sagte sie, und es war keine Frage. Ihr Mundwinkel verzog sich zu einem halben Lächeln.
»Na und?«
»Das heißt, dass du am Ende vielleicht doch ein Mensch bist«, erklärte sie. Sie schien sich zu entspannen, offenbar zufrieden mit ihrer jüngsten Entdeckung. »Das hast du zweifellos von meiner Seite der Familie.«
»Familie?«, fragte ich spöttisch, weil sie so beiläufig etwas aussprach, wovon sie nichts verstand.
»Ich bin deine Familie«, sagte sie energisch. »Ich wollte nur …«
»Ich habe eine Familie«, sagte ich und schnitt ihr das Wort ab. »Du musst überhaupt nichts für mich sein.«
»Andrea? Meinst du sie, wenn du von deiner Familie sprichst?«, fragte sie. Ich hasste die Art, wie sie den Namen meiner Halbschwester aussprach, als widerte er sie an. Andrea gehörte zur Familie, obwohl ich sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Sie war das Ergebnis einer kurzen Affäre, die Chop mit einer Kellnerin in Georgia hatte. Andrea sollte ihrem verdammten Glücksstern danken, dass sie nicht als Junge geboren wurde, denn ich hatte das Gefühl, dass sie genau wie ich in einer Kutte stecken würde, wenn sie mit einem Schwanz zur Welt gekommen wäre. »Ja, aber von ihr habe ich nicht gesprochen.«
Wieder blickte sie in ihren Schoß. »Mein Abel. Mein Junge. Ich glaube, du und ich, wir sollten …«
»McAdams!«, brüllte eine tiefe Stimme. »Die Zeit ist um. Aufstehen«, befahl der Wachmann. Er zog an der Lehne meines Stuhls und zwang mich auf diese Weise, ihm zu gehorchen.
»Du solltest wissen, dass ich kein Bastard mehr bin«, sagte ich zum Geist meiner Mutter. »Ich habe die Kutte abgelegt und sie dem Arschloch vor die Füße geknallt. Ich bin vielleicht kein Monster, aber ich bin ein toter Mann, also schätze ich, es war gut, dass du mich besucht hast, solange es noch möglich war, auch wenn du nicht weißt, warum.« Ich stand auf und schob den Plastikstuhl über den Betonboden zurück. Erschrocken blickte Sadie mit großen haselnussbraunen Augen voller Traurigkeit und Naivität zu mir auf, als wäre sie immer noch der Teenager, der mich mehr als ein Vierteljahrhundert zuvor zur Welt gebracht hatte. »Sieh mich genau an, solange du noch kannst, Mom.« Ich betonte das »Mom« und öffnete meine Arme so weit, wie die Handschellen an meinen Handgelenken es zuließen. »Denn es könnte das letzte Mal sein, dass du Gelegenheit dazu bekommst.« Der Officer riss an der Kette, die meine Handschellen miteinander verband, und zog mich von Sadie fort.
Von meiner Mutter. Nicht einmal die Vorstellung, dass sie meine Mutter war, fühlte sich richtig an.
Und das lag daran, dass ich schon eine Mutter hatte. Zwar nannte ich sie nicht so, aber sie hatte diesen Titel verdient.
»Übrigens«, rief ich Sadie über die Schulter hinterher. »Du kannst gehen, wohin du willst, und meinetwegen auch verschwinden, denn ich habe schon eine Mom. Sie heißt Grace.«
»Grace?«, fragte Sadie und klang so verwirrt, wie ich mich gefühlt hatte, als sie aufgetaucht war. Der Wachmann schubste mich aus dem Raum und führte mich zu meiner Zelle zurück. Ich weiß nicht, warum ich das Bedürfnis hatte, mich ihr gegenüber so widerlich zu benehmen. Vielleicht lag es daran, dass sie erst aus dem Nirgendwo aufgetaucht und ihr dann nichts anderes eingefallen war, als gleich wieder wegzulaufen. Vielleicht lag es auch daran, dass sie sich von Chop hatte brechen lassen, was auch immer mit ihr passiert war.
Eins war jedenfalls verdammt noch mal sicher: Was dieses Arschloch mit mir vorhatte, war mir egal.
Ich würde mich niemals brechen lassen.
Eine halbe Stunde, nachdem Sadies sich verabschiedet hatte, war ich draußen auf dem Gefängnishof. Ich dachte an unser Gespräch über die Familie, und plötzlich wurde mir etwas klar.
Tote Männer haben keine Familien.
Der Gedanke, niemals mit Ti eine Familie zu gründen, sie niemals immer runder werden zu sehen, weil sie ein Kind im Bauch hatte, traf mich so schmerzhaft, als hätte ich mir eine verdammte Kugel eingefangen. Ein Gefühl, mit dem ich ein oder zwei Mal in meinem Leben Bekanntschaft gemacht hatte.
Benommen von diesen unerwünschten Gedanken, beging ich einen Fehler. Ich scannte den Hof nicht nach möglichen Bedrohungen ab, wie ich es hätte tun sollen. Der einzige Bastard, den ich gesehen hatte, seit ich eingebuchtet worden war, war Corp, und angesichts des Zustands, in dem ich ihn hinterlassen hatte, wusste ich, dass von ihm in nächster Zukunft keine Gefahr mehr ausgehen würde.
Und dass er einen Strohhalm brauchte, um essen zu können.
Aber sie kamen. Ich wusste es so gut, wie ich meinen eigenen Namen buchstabieren konnte. Ich konnte es förmlich riechen.
»Du siehst aus, als könntest du eine gebrauchen«, sagte eine Stimme. Ich schreckte aus meinen Gedanken an Ti hoch und erblickte einen schwarzen Typen, ungefähr so groß wie ich, aber doppelt so schwer. Sein Overall war am Kragen und an den Armen aufgetrennt, um seinen ausladenden Muskeln Platz zu machen.
»Danke«, sagte ich zögerlich und griff nach der Kippe, die er mir in dem offenen Päckchen hinhielt. Wenn sie den Typen geschickt hätten, um mich umzubringen, dachte ich, dann hätte er das bereits getan, wahrscheinlich, indem er meinen Kopf zwischen Unterarm und Bizeps zerquetscht hätte. Der Fremde riss ein Streichholz an und schützte die Flamme mit einer Hand, zündete erst meine und dann seine Zigarette an, bevor er das Streichholz ausschüttelte und ins Gras warf. Er legte das Päckchen auf den Tisch. »Kannste behalten«, sagte er.
»Danke.« Obwohl ich ziemlich sicher war, dass er mich nicht umbringen wollte, misstraute ich doch jedem, der bereit war, einem anderen im Gefängnis einen Gefallen zu tun. Jede Gefälligkeit hatte ihren Preis.
»Ich bin Miller«, sagte der Fremde. »Ein gemeinsamer Freund hat mich gebeten, auf dich aufzupassen.«
»Ein Freund? Okay, das grenzt die Sache schon mal ziemlich ein, denn neuerdings scheine ich nicht mehr besonders viele Freunde zu haben«, gab ich zu.
Miller setzte sich rittlings auf die Bank vor dem Plastiktisch, die sich unter seinem Gewicht durchbog.
»An einem Ort wie diesem ist es wichtig, Freunde zu haben. Angeblich ist eine Horde Biker wegen irgendeiner beschissenen Körperverletzungssache hierher unterwegs. Unser Freund glaubt, dass du der Grund dafür bist.« Seine Stimme war so tief, dass sie fast hallte, wenn er sprach. Er nahm einen langen Zug von der Zigarette. »Unser gemeinsamer Freund hat mir geholfen, aus dem Georgia-State-Gefängnis herauszukommen, dafür bin ich ihm noch was schuldig. Scheiße, ich schulde ihm mindestens noch zwanzig Gefallen. Dachte mir, ein paar weiße Beach Bunny Boys, oder wie zum Teufel die sich nennen, daran zu hindern, dich aufzuschlitzen, wär vielleicht ganz okay, im Vergleich zu dem, was er für mich getan hat.«
»Ich glaube, jetzt weiß ich, wer unser Freund ist«, sagte ich, zog noch einmal und drückte die Zigarette auf der Tischplatte aus. King hatte seine drei Jahre im Georgia State abgesessen. Miller stand auf, und die Delle in der Bank bildete sich nicht zurück.
Er drückte seine Zigarette ebenfalls auf dem Tisch aus. »Er hat mir eine Nachricht für dich gegeben.«
»Was für eine Nachricht?«
Miller schirmte seine Augen gegen das Sonnenlicht ab. »Ich soll dir sagen, dass du dich nicht killen lassen sollst und dass das Mädchen in Sicherheit ist.«
Na, besten Dank auch. Das bedeutete, dass King sie zur Plantage hatte bringen lassen und dass der Wächter, den ich für sie organisiert hatte, bei ihr war. Auf keinen Fall konnte Ti in Kings Haus bleiben. Obwohl ich im Knast das leichtere Opfer war, schwebte sie möglicherweise immer noch in Gefahr, und wenn ich nicht da war, um sie alle zu beschützen, war Kings Familie gefährdeter denn je. Ich hatte ihm gesagt, dass er Ti nach Hause bringen sollte, denn es warf kein gutes Licht auf mein Geständnis, wenn der Bezirksstaatsanwalt uns irgendwie miteinander in Verbindung bringen konnte. Aber King hätte das auch anders sehen und darauf bestehen können, dass sie bei seiner Familie blieb, und das wollte ich ihm nicht antun, nachdem er so viel für mich getan hatte.
»Schätze, ich komme gerade zur rechten Zeit«, sagte Miller und deutete mit dem Kinn auf den Zaun auf der anderen Seite des Hofes. Ich stand auf und drehte mich gerade noch rechtzeitig um, um zu sehen, wie das Tor aufglitt und drei Männer den Hof betraten.
Drei meiner ehemaligen Brüder.
Volle zwei Stunden hatte ich gebraucht, um Bucky dazu zu bringen, mit mir auf dem Fahrrad die zwanzig Kilometer zu dem Pfandleihhaus zu fahren. Nachdem er fünf Minuten lang mit den Schuhspitzen Steinchen herumgekickt hatte, versprach ich ihm meine beste Angel, und da willigte er endlich ein.
»Wie viel geben Sie mir dafür?«, fragte ich den großen, zottelig aussehenden Mann mit den leicht abstehenden Ohren. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, sodass ich in den zerkratzten Schaukasten aus Glas sehen konnte, der auch als Tresen diente, und setzte das geschäftsmäßigste Gesicht auf, dessen ich fähig war. Der Mann hinter dem Gitter vor der Theke trug ein Namensschild mit der Aufschrift TROY. Mit gehobenen Brauen blickte Troy auf mich herab, als hätte er noch nie zuvor eine Zehnjährige ein Leihhaus betreten sehen, um über einen Preis zu verhandeln.
»Was zum Teufel machst du da, Thia?«, fragte Bucky, löste sich von dem Schaukasten mit Modellautos, die er betrachtet hatte, und gesellte sich zu mir an den Tresen. Als ich ihn überredet hatte, mit mir auf dem Fahrrad nach Logan’s Beach zu fahren, hatte ich vergessen, ihm den wahren Grund zu nennen, warum ich unbedingt dort hinwollte. Buckys Pupillen weiteten sich vor Entsetzen, als sie den Gegenstand erfassten, den ich auf den Tresen geknallt hatte. »Das ist deine Donnie-Mcraw-Schnalle, Thia! Die kannst du nicht verkaufen!«
»Sie gehört mir, also kann ich damit machen, was ich will«, argumentierte ich. Ich hatte die Gürtelschnalle gewonnen, als ich mit Bucky und seinem Dad im Jahr davor zu dem Rodeo in LaBelle gefahren war. Na ja, eigentlich nicht gewonnen, wenn man bedenkt, dass ich die einzige Achtjährige war, die versuchen wollte, auf dem Schaf zu reiten, aber sie haben mir den Preis trotzdem gegeben.
»Also?« Ich drehte mich wieder zu Troy, der die Gürtelschnalle in Händen hielt. Er drehte sie um und schlug sie auf den Tresen.
»Sie ist hohl«, sagte er. Er griff nach einem kleinen Glasrohr, schloss ein Auge, hielt die Schnalle hoch und betrachtete sie durch das Rohr.
»Ich brauche kein Bargeld. Nur etwas zum Tauschen«, sagte ich. »Dafür.« Ich zeigte auf eine Kette in dem Schaukasten. Troy blickte nicht mal zu der Stelle, auf die ich zeigte.
»Das Ding hier ist versilbert. Ist nicht viel wert. Tut mir leid, ich kann nichts für dich tun«, sagte Troy, nahm den Zahnstocher aus dem Mund und deutete beim Reden damit auf mich.
»Wofür zum Teufel brauchst du diese Kette?«, fragte Bucky.
Ich seufzte; allmählich ging mir seine Fragerei auf die Nerven. »Ich habe etwas, was ich dranhängen möchte, das ist alles.« Ich ließ mich wieder auf die flachen Füße nieder, und Troy schob mir meine Schnalle wieder zu, wobei er der Glasabdeckung einen weiteren Kratzer verpasste.
»Was willst du denn dranhängen?«, fragte Bucky.
»Ach, nichts«, sagte ich und ließ resigniert die Schultern sinken. Ein letztes Mal starrte ich die Silberkette durch das Glas an, dann drehte ich mich zu Bucky um.
»Sag es mir!«, befahl er.
Ich griff in meine Gesäßtasche, holte den Totenkopfring heraus und hielt ihn hoch, sodass er ihn sehen konnte, aber nur kurz, denn ich wollte ihn nicht verlieren. Ich steckte ihn wieder in die Tasche und betastete sie, um sicher zu sein, dass der Ring auch wirklich drin war.
»Woher hast du den?«, fragte Troy plötzlich und schob seine hochaufgeschossene Gestalt so weit wie möglich durch die Lücke in dem Gitter, wobei er sich aus der Taille über den Tresen lehnte.
»Das kann ich Ihnen nicht sagen.« Am liebsten hätte ich ihm die Zunge herausgestreckt. »Komm, Bucky.« Ich fasste ihn am Arm, und wir machten Anstalten zu gehen.
»Wartet!«, rief Troy. »Ich war wohl ein bisschen voreilig. Ihr beiden scheint nette Kinder zu sein. Die Schnalle gegen die Kette ist ein faires Geschäft.«
»Sie haben ja nicht mal gesehen, auf welche ich gezeigt habe«, sagte ich und verschränkte die Arme.
Troy schüttelte den Kopf. »Ach, ist auch egal, behalte die Schnalle einfach. Und Ketten haben wir sowieso zu viele, also zeig mir noch mal, welche du meinst.« Troy schob die Abdeckung des Kastens auf und griff nach der Kette, auf die ich deutete. Er warf sie mir zu, als befürchtete er, dass ich ihm die Hand abbeißen wollte. Die Kette fiel auf den Boden vor meinen Füßen. Ich bückte mich, um sie aufzuheben und den Staub abzuwischen. »Sind Sie sicher?«
»Absolut«, sagte Troy und winkte uns zum Abschied. »Also, jetzt lauft, und wenn euch jemand fragt, dann sagt ihm, dass Troy von Premier Pawn nett zu euch war, okay? Das werdet ihr ihnen doch sagen, nicht wahr?«
»Klar«, antwortete ich, obwohl ich eigentlich nicht glaubte, dass mich in nächster Zeit irgendjemand bitten würde, meinen letzten Besuch im Pfandleihhaus zu bewerten.
Troy nickte so heftig, dass ich dachte, sein Kopf würde gleich abfallen. »Gut. Und jetzt ab durch die Mitte mit euch.« Er winkte uns fort, zwängte sich zurück durch die Lücke wieder hinter das Gitter und zog es hinter sich zu.
Wir gingen los, und Bucky blieb mir dicht auf den Fersen, als wir um das Gebäude herumliefen, bis wir wieder bei unseren Rädern angekommen waren, die an der hinteren Hauswand lehnten.
Ich holte den Totenkopfring aus der Tasche und ließ ihn auf meine neue Kette aus rostfreiem Stahl gleiten, die ich mir dann um den Hals legte. Ich schob den Ring unter mein T-Shirt von den Future Farmers of America.
»Sagst du mir jetzt endlich mal, was das ist?«, fragte Bucky, als wir unsere Räder nahmen.