»Spazieren muß ich unbedingt« - Robert Walser - E-Book

»Spazieren muß ich unbedingt« E-Book

Robert Walser

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Beschreibung

Eine »Nächtliche Wanderung«, ein »Abendspaziergang« oder ein »Ausflug aufs Land« an einem »Herbstnachmittag« – mit »Tannenzweig, Taschentuch und Käppchen« am »Sonntag« auf den Berg – entlang der »Friedrichstraße«, vom »Tiergarten« die »Großstadtstraße« hinunter zum »Bahnhof«, dann eine Begrüßung: »Guten Tag, Riesin!« – doch in Gedanken beim »Liebespaar«, voller »Schwärmerei« für den »Liebesbrief«. Bis er seinen Gang »Beiseit« macht.

Die Anthologie »Spazieren muß ich unbedingt« versammelt die schönsten und unterhaltsamsten Texte vom »König der Spaziergänger« und »Bummelgenie« Robert Walser zum Gehen, Wandern und Spazieren über Land, auf den Berg, in der Stadt – und in Gedanken.

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Seitenzahl: 184

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Cover

Titel

Robert Walser

»Spazieren muß ich unbedingt«

Vom Gehen über Stadt und Land

Mit einem Nachwort von David Wagner

Herausgegeben von Reto Sorg Unter Mitarbeit von Gelgia Caviezel

Insel Verlag

Impressum

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eBook Insel Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 5056.

© Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin 2024

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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlagfoto: Robert Walser auf einer Wanderung zum Säntis, fotografiert von Carl Seelig am 1. Juni 1942, © Keystone SDA/ Robert Walser-Stiftung Bern

eISBN 978-3-458-77987-2

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

I »Warum sollte er nicht eine ganze Nacht lang wandern können«

Der Greifensee

So lief er denn vorwärts

Der Wald über dem Kopf des Träumers

Fußwanderung

Nächtliche Wanderung

Der Ausflug

Der Morgen

Herbstnachmittag

Spaziergang

Spazieren

Abendspaziergang

Der Wanderbursche

Die Tante

Kleines Landstraßenerlebnis

Sonntagsspaziergang

Ausflug aufs Land

Wanderschaft

Sonntagsausflug

II »Er ging den Berg hinauf«

Sebastian

Einsam in der Nacht umherzuspazieren

Der Berg

Kleine Wanderung

Tannenzweig, Taschentuch und Käppchen

Sonntag

III »Flüchtige Blicke für alles«

Es gab einen herrlichen Abend

So leichtfertig spazieren zu dürfen

Spaziergängerbildnis

Guten Tag, Riesin!

Friedrichstraße

Die Großstadtstraße

Tiergarten

Spazieren muß ich unbedingt

Die Straße (I)

Walter

Die Straße (II)

Der Bahnhof (II)

IV »Feinsinnige Spaziergangsgedanken«

Aber Ferien, was ist das!

Es ist so süß, zu bleiben

Das Liebespaar

Der Liebesbrief

Die Göttin

Schwärmerei

Tomzack

Der Student

Spaziergang (II)

Der Wald

V »Ich mache meinen Gang«

Beiseit

Nachwort

Textnachweise

Informationen zum Buch

I »Warum sollte er nicht eine ganze Nacht lang wandern können«

Der Greifensee

Es ist ein frischer Morgen und ich fange an, von der großen Stadt und dem großen bekannten See aus nach dem kleinen, fast unbekannten See zu marschieren. Auf dem Weg begegnet mir nichts, als alles das, was einem gewöhnlichen Menschen auf gewöhnlichem Wege begegnen kann. Ich sage ein paar fleißigen Schnittern »guten Tag«, das ist alles; ich betrachte mit Aufmerksamkeit die lieben Blumen, das ist wieder alles; ich fange gemütlich an, mit mir zu plaudern, das ist noch einmal alles. Ich achte auf keine landschaftliche Besonderheit, denn ich gehe und denke, daß es hier nichts Besonderes mehr für mich gibt. Und ich gehe so, und wie ich so gehe, habe ich schon das erste Dorf hinter mir, mit den breiten großen Häusern, mit den Gärten, welche zum Ruhen und Vergessen einladen, mit den Brunnen, welche platschen, mit den schönen Bäumen, Höfen, Wirtschaften und anderem, dessen ich mich in diesem vergeßlichen Augenblick nicht mehr erinnere. Ich gehe immer weiter und werde zuerst wieder aufmerksam, wie der See über grünem Laub und über stillen Tannenspitzen hervorschimmert; ich denke, das ist mein See, zu dem ich gehen muß, zu dem es mich hinzieht. Auf welche Weise es mich zieht, und warum es mich zieht, wird der geneigte Leser selber wissen, wenn er das Interesse hat, meiner Beschreibung weiter zu folgen, welche sich erlaubt, über Wege, Wiesen, Wald, Waldbach und Feld zu springen bis an den kleinen See selbst, wo sie stehen bleibt mit mir, und sich nicht genug über die unerwartete, nur heimlich geahnte Schönheit desselben verwundern kann. Lassen wir sie doch in ihrer althergebrachten Überschwenglichkeit selber sprechen: Es ist eine weiße, weite Stille, die wieder von grüner luftiger Stille umgrenzt wird; es ist See und umschließender Wald; es ist Himmel, und zwar so lichtblauer, halbbetrübter Himmel; es ist Wasser, und zwar so dem Himmel ähnliches Wasser, daß es nur der Himmel und jener nur blaues Wasser sein kann; es ist süße blaue warme Stille und Morgen; ein schöner, schöner Morgen. Ich komme zu keinen Worten, obgleich mir ist, als mache ich schon zu viel Worte. Ich weiß nicht, wovon ich reden soll; denn es ist alles so schön, so alles der bloßen Schönheit wegen da. Die Sonne brennt herab vom Himmel in den See, der ganz wie Sonne wird, in welcher die schläfrigen Schatten des umrahmenden Lebens leise sich wiegen. Es ist keine Störung da, alles lieblich in der schärfsten Nähe, in der unbestimmtesten Ferne; alle Farben dieser Welt spielen zusammen und sind eine entzückte, entzückende Morgenwelt. Ganz bescheiden ragen die hohen Appenzellerberge in der Weite, sind kein kalter Mißton, nein, scheinen nur ein hohes fernes verschwommenes Grün zu sein, welches zu dem Grün gehört, das in aller Umgebung so herrlich, so sanft ist. O wie sanft, wie still, wie unberührt ist diese Umgebung, wird durch sie dieser kleine, fast ungenannte See, ist selber also so still, so sanft, so unberührt. – Auf eine solche Weise spricht die Beschreibung, wahrlich: eine begeisterte, hingerissene Beschreibung. Und was soll ich noch sagen? Ich müßte sprechen wie sie, wenn ich noch einmal anfangen müßte, denn es ist ganz und gar die Beschreibung meines Herzens. Auf dem ganzen See sehe ich nur eine Ente, welche hin und her schwimmt. Schnell ziehe ich meine Kleider aus und tu wie die Ente; ich schwimme mit größter Fröhlichkeit weit hinaus, bis meine Brust arbeiten muß, die Arme müde und die Beine steif werden. Welch eine Lust ist es, sich aus lauter Fröhlichkeit abzuarbeiten! Der eben beschriebene, mit viel zu wenig Herzlichkeit beschriebene Himmel ist über mir, und unter mir ist eine süße, stille Tiefe; und ich arbeite mich mit ängstlicher, beklemmter Brust über der Tiefe wieder ans Land, wo ich zittere und lache und nicht atmen, fast nicht atmen kann. Das alte Schloß Greifensee grüßt herüber, aber es ist mir jetzt gar nicht um die historische Erinnerung zu tun; ich freue mich vielmehr auf einen Abend, auf eine Nacht, die ich hier am gleichen Ort zubringen werde, und sinne hin und her, wie es an dem kleinen See sein wird, wenn das letzte Taglicht über seiner Fläche schwebt, oder wie es sein wird hier, wenn unzählige Sterne oben schweben – und ich schwimme wieder hinaus. –

(1899)

So lief er denn vorwärts*

Warum sollte er nicht eine ganze Nacht lang wandern können. Er hatte eine Landkarte zur Hand genommen und darauf mit dem Zirkel die Zahl der Stunden, die er brauchte, um nach dem Städtchen zu gelangen, scharf abgemessen und hatte wahrgenommen, daß er gerade in einer Nacht, wenn er die Zeit ausnutzte, hingelangen konnte. Der Weg führte ihn zuerst durch die Vorstadt, wo Rosa, seine alte Freundin, wohnte, und er verschmähte nicht, ihr im Vorbeilaufen einen kurzen Besuch abzustatten. Sie war sehr erfreut, ihn nach so langer Zeit wieder einmal zu sehen, nannte ihn einen bösen, treulosen Menschen, daß er sie so habe im Stich lassen können, sagte das aber mehr in einem schmollenden als in einem gereizten Ton und ließ es sich nicht nehmen, Simon ein Glas Rotwein zu trinken zu geben, das, wie sie sagte, ihn für seine Nachtwanderung stärken solle. Auch briet sie ihm auf ihrem Gasherde schnell eine Wurst, stichelte den Dastehenden, während sie kochte, mit nicht unartigen, aber wohlgesetzten Worten, sagte, er müsse ja sehr gut mit Frauen versehen sein, und machte ihn lachend darauf aufmerksam, daß er eigentlich die Wurst nicht verdiene, sie nun aber doch haben solle, wenn er künftig fleißiger zu ihr käme. Das versprach, während er sich das Essen schmecken ließ, Simon und trat bald darauf seine Wanderung mit einigem Bangen vor der Anstrengung, die ihm bevorstand, an. Aber jetzt noch feige zurückkehren und die Eisenbahn benutzen, das mochte er doch nicht. So lief er denn vorwärts und fragte immer wieder nach dem richtigen Weg, um ja sicher zu gehen. Bei den Wegweisern zündete er ein Streichhölzchen an, hielt es in die nötige Höhe, um zu sehen, wo der Weg weiter hinliefe. Er ging mit einer ganz rasenden Schnelligkeit, als fürchtete er, der Weg möchte ihm unter seinen Füßen entgehen und davonlaufen. Der Rotwein Rosas hatte ihn befeuert und er wünschte nur, daß bald die Berge kämen, die zu überwinden ihm eine Lust und Leichtigkeit gewesen wäre. So kam er in das erste Dorf und hatte Mühe, sich auf den verschiedenen Dorfwegen, die alle kreuz und quer liefen, zurechtzufinden. Er rief deshalb einen Schmied an, der noch hämmerte, und von diesem erfuhr er, daß er richtig ging. Nun kam eine Landschaft, die ganz verschwommen war, weil sie aus lauter Gebüschen bestand; es ging bergaufwärts; dann kam eine Art Hochebene, die etwas Schauerliches an sich hatte. Es war tiefdunkel, kein Stern am ganzen Himmel, hin und wieder kam der Mond hervor, aber die Wolken verdeckten sein Licht wieder. Nun lief Simon durch einen finsteren Tannenwald, er fing an zu keuchen und paßte besser auf seine Schritte auf; denn er stieß immer wieder an Steine, die im Wege lagen, und das langweilte ihn doch ein wenig. Der Tannenwald hörte auf, Simon atmete freier; denn in dunklen Wäldern zu gehen, so allein, ist nicht immer ungefährlich. Ein großes Bauernhaus stand plötzlich vor ihm wie aus der Erde emporgewachsen und engte seinen Blick ein, ein großer Hund schoß hervor, sprang auf den Wanderer los aber biß nicht. Simon blieb ganz still und ruhig stehen, starrte den Hund nur an, und so wagte der Hund nicht zu beißen. Weiter ging es! Brücken kamen, die donnerten in der Stille unter den raschen Schritten, denn sie waren von Holz, es waren alte Holzbrücken mit Dächern und Heiligenbildern am Ein- und Ausgange. Simon fing an, gezierte Schritte zu machen, um sich Unterhaltung zu verschaffen. Plötzlich, auf ganz offenem, aber düsterem Feld stand ein starker Mann vor ihm, der ihn anschrie und ihn dabei fürchterlich anstarrte. »Was wollen Sie?« schrie Simon seinerseits, aber er machte eine Schwenkung rund um den Mann herum und lief fort, ohne hören zu wollen, was der Mann wollte. Sein Herz klopfte, es war die Plötzlichkeit der Erscheinung, nicht der Mann selber, die ihn erschreckt hatte. Dann marschierte er durch ein schlafendes, endlos langes Dorf. Ein weißes langes Kloster sah ihm entgegen und verschwand wieder. Es ging wieder bergauf. Simon dachte an gar nichts mehr, die zunehmende Anstrengung lähmte seine Gedanken; stille Brunnen wechselten mit einsamen Baumgruppen, Wälder mit Wolken, Steine mit Quellen, es schien alles mit ihm zu gehen und hinter ihm zu versinken. Die Nacht war feucht, finster und kalt, seine Wangen aber brannten und seine Haare wurden naß vom Schweiß. Auf einmal erblickte er zu seinen Füßen etwas gestreckt Liegendes, Weites, Schimmerndes und Glänzendes: es war ein See; Simon blieb stehen. Von da an ging es abwärts auf einem fürchterlich schlechten Weg. Zum ersten Mal taten ihm seine Füße weh, aber er achtete nicht darauf, sondern ging weiter. Äpfel hörte er dumpf auf die Wiesen fallen. Wie geheimnisvoll schön die Wiesen waren: undurchsichtbar und dunkel. Das Dorf, das nun folgte, erweckte sein Interesse durch die vornehmen Häuser, die es zur Schau trug. Aber hier wußte Simon nicht mehr weiter. So sehr er suchte, den rechten Weg fand er nicht. Da es ihn erbitterte, wählte er, ohne sich lange zu besinnen, die Hauptstraße. Eine Stunde mochte er gegangen sein, als ihm ein deutliches Gefühl sagte, daß er eine falsche Richtung eingeschlagen hatte, er kehrte wieder um, weinte beinahe vor Zorn und schlug seine Füße gegen die Straße, als hätten sie die Schuld getragen. Er kam wieder ins Dorf zurück: zwei Stunden versäumt: welche Schmach! Er fand auch sogleich den rechten Weg, nun, da er die Augen besser auftat, lief fort, unter Bäumen, die ihr Laub fallen ließen, auf einem schmalen Seitenwege, der ganz mit raschelnden Blättern bedeckt war. Er gelangte in einen Wald, es war ein Bergwald, der schroff in die Höhe strebte, und da Simon keinen Weg mehr vor sich sah, ging er einfach gerade aus, suchte sich, immer höher steigend, durch das dichteste Tannengeäst seine Bahn, zerkratzte sich sein Gesicht, zerrieb seine Hände, aber es ging wenigstens hinauf, bis endlich der Wald aufhörte, durch den er sich stöhnend und fluchend hindurchgerungen, und eine freie Weide vor seinen Augen lag. Er ruhte einen Moment: »Herrgott, wenn ich zu spät komme: welche Blamage!« Weiter! Er ging nicht mehr, er sprang, indem er rücksichtslos seine Beine in die weiche Ackererde stampfte. Ein bleiches, schüchternes Morgenlicht streifte von irgendwoher seine Augen. Er sprang über Hecken, die ihn zu höhnen schienen. Auf einen Weg achtete er schon längst nicht mehr. Eine anständige breite Straße, das blieb in seiner Phantasie als etwas Köstliches hängen, nach dem er sich von Herzen sehnte. Es ging wieder bergabwärts, in schmale, kleine Schluchten, wo die Häuser an den Halden wie Spielzeuge klebten. Er roch die Nußbäume, unter denen er lief; unten im Tal schien so etwas wie eine Stadt zu sein, aber das war nur eine gierige Ahnung. Endlich fand er die Straße. Seine Beine selbst schienen mitzujubeln über den Fund und er ging ruhiger, bis er einen Brunnen fand, zu dessen Röhre er sich wie ein Wahnsinniger hinstürzte. Unten gelangte er in eine kleine Stadt, kam bei einem weißglänzenden, zierlichen, anscheinend geistlichen Palais vorbei, dessen Verfallenheit ihn tief rührte, und wieder ging es ins offene Land hinaus. Hier fing der Tag an zu grauen. Die Nacht schien zu erbleichen; die lange, stille Nacht machte ein Zeichen der Bewegung. Simon stürmte jetzt den Weg nur so beiseite. Wie bequem erschien ihm das Gehen auf einer solchen glatten Straße, die in großen Windungen zuerst aufwärts, dann prachtvoll gedehnt bergab führte. Nebel sanken auf die Wiesen nieder und gewisse Tagesgeräusche meldeten sich dem Ohr. Wie lang doch eine Nacht war. Durch diese Nacht, die er auf der Erde durchgelaufen, saß vielleicht ein Gelehrter, vielleicht gar sein Bruder Klaus, bei der Lampe am Schreibtisch, und wachte ebenso sauer und mühsam. Ebenso wundervoll mußte einem solchen Stillesitzenden der erwachende Tag vorkommen, wie jetzt ihm, dem Landstraßenläufer. Schon zündete man in kleinen Häusern die Frühmorgenlichter an. Eine zweite, größere Stadt erschien, zuerst mit Vorhäusern, dann mit Gassen, dann mit Toren und einer breiten Hauptstraße, in der Simon ein herrliches Gebäude mit Statuen von Sandstein auffiel. Es war eine alte Stadtburg, die jetzt als Postgebäude diente. Schon gingen Menschen auf der Straße, die er fragen konnte nach dem Weg, wie am Abend zuvor. Es ging wieder ins flache, freie Land hinaus. Der Nebel zerstob, Farben zeigten sich, entzückte Farben, entzückende Farben, Morgenfarben! Es schien ein herrlicher, blauer Herbstsonntag werden zu wollen. Nun begegnete Simon Leuten, namentlich Frauen, sonntäglich geputzten, die vielleicht schon von weit herkamen, um in die Stadt zur Kirche zu gehen. Immer bunter wurde der Tag. Jetzt sah man die roten, glühenden Früchte neben der Straße in der Wiese liegen, auch fielen beständig reife Früchte von den Bäumen. Es war das reine Obstland, durch das Simon nun weiterschritt. Handwerksburschen begegneten ihm, ganz bequemlich; die nahmen das Gehen nicht so ernst, wie er. Eine ganze Gesellschaft dieser Burschen lag ausgestreckt an einem Wiesenrand in den ersten Strahlen der Sonne: welches Bild der Behaglichkeit! Eine Kuh wurde vorbeigeführt, und die Frauen sagten so schön ›guten Tag‹. Simon aß Äpfel auf dem Weg, auch er wanderte jetzt ruhig durch das fremde, schöne, reiche Land. Die Häuser an der Straße waren so einladend, aber noch schöner und zierlicher waren die Häuser, die mitten unter den Bäumen, tiefer im Land, mitten im Grün steckten. Die Hügel gingen anmutig und sanft in die Höhe, die Höhen lockten, alles war blau, von einem herrlichen, feurigen Blau durchzogen, auf Wagen fuhren ganze Gesellschaften von Leuten daher und endlich sah Simon ein kleines Häuschen am Weg, dahinter eine Stadt, und sein Bruder steckte den Kopf durch das Fenster des Hauses. Er war zur rechten Zeit angekommen, kaum eine Viertelstunde nach der vereinbarten Zeit. Und er ging mit Frohlocken in das Haus hinein.

(1907)

Der Wald über dem Kopf des Träumers*

Joseph ging in den Wald hinauf. Der Weg dahin war sehr hübsch und sehr still. Natürlich war er, während er so ging, von Gedanken an die kleine, verhutzelte und verschuggte Silvi in Anspruch genommen. Pauline kam ihm wie ein gefräßiger Raubvogel vor und Silvi wie die Maus, die sich unter den Krallen des grausamen Tieres befand. Wie konnte Frau Tobler ihr zartes Töchterchen diesem Drachen von Dienstmagd ausliefern? Aber war denn Silvi so zart und die Magd so sehr ein Drache? Vielleicht war alles das gar nicht so schlimm. Man würde da leicht zu Übertreibungen neigen, wollte man von der einen Seite sofort das Teuflischste, was es in der Welt gab, annehmen, und vom andern Teil das Lieblichste und Beste. Der »Unflat« Silvi war ja schon ein wenig ein solcher, aber Pauline war Pauline. Joseph erschien es undenkbar, im stillen etwas Günstiges von Pauline aussagen zu dürfen, als höchstens etwa, daß ihr Vater ein ehrlicher Bahnwärter und Landmann sei. Aber was hatte das Bahnwärterhaus mit dem brutalen Vergnügen an der Kindermißhandlung zu tun? Möglich war es ja, daß der Vater der Pauline ein halber, wütender Stier sein konnte, was wußte man denn Genaues! Aber diese feine, beinahe aristokratische Toblerdame, diese Mutter, diese aus echt bürgerlichen Kreisen herstammende Frau, die das zarte Empfinden mit der Muttermilch einsog, diese Kluge, in mancher Hinsicht sogar Schöne, was war es mit der? Was hatte die für Ursache, das Kind zu verstoßen und zu verschuggen? Joseph freute sich an diesem kuriosen Wort: »verschuggen«, er fand es für die Eigentümlichkeit, die es benannte, so kennzeichnend. »Verstoßen«, das erinnerte ein wenig an die Märchenbücher, aber »verschuggen« konnte man heute noch so gut arme, kleine, wehrlose Kinder wie vor aberhunderten von Jahren. Solches gelang ja sogar in einer Villa Tobler, dem Ort, wo zwei Feen sich so gern aufhielten, nach Toblers eigener Redensart, der Anstand (es muß anständig zugehen bei mir) und die Säuberlichkeit (potz tausend, mehr Ordnung, haben Sie gehört). Konnten zwei so reizende Feen etwas so Unsauberes und in der Tat Unanständiges, wie es die fortwährende Demütigung eines kindlichen Gemütes war, in ihrem Beisein dulden, war das möglich? Wie es schien, ja! Es war eben allerlei möglich, in dieser Welt, wenn man sich die Mühe und Liebe nahm, auf einem Wiesenspaziergang ein bißchen darüber nachzudenken.

Joseph begegnete fast gar keinen Leuten. Ein paar Bauern standen am Weg. Zu beiden Seiten desselben streckten sich üppige Wiesen aus, von hunderten von Fruchtbäumen besetzt. Es war alles so eng und zugleich so weit und so grün. Bald langte er im Wald an, er entdeckte nach kurzer Zeit des Umherlaufens eine kleine, enge, von einem Wasser durchzogene Waldschlucht und machte es sich im Moos bequem, indem er sich einfach auf den weichen Boden hinfallen ließ. Der Bach murmelte so artig, durch die Blätter der hohen Buchen blitzte die Sonne, so bekannt, so wohlig, und das saftige Grün umwob die Schlucht wie mit feinen, süßen Schleiern. Hier wäre für eine romantische Geschichte ein schöner, passender Schauplatz gewesen. Von irgend woher aus den umliegenden Hochebenen ertönten Schüsse, da war wohl in ziemlicher Nähe ein Schießstand. Wie still sonst! Kein Lüftchen konnte in diese grüne, verborgene Welt hineindringen. Die Bäume hätten vorher umfallen müssen, aber es waren hohe und alte, die hielten einem Unwetter, ja zehn Unwettern stand, und heute sah es da oberhalb der Schlucht nicht nach Winden und Wettern aus. Irgend ein Ritterfräulein in Samtrock und ledernen Handschuhen, das weiße Roß an der Leine führend, das reiche, goldene Haar ungebunden tragend, hätte jetzt daherkommen können, Joseph würde sich nicht allzusehr über den Auftritt gewundert haben. So sah es hier aus, ganz nach ritterlichen und frauenhaften Begebenheiten. Aber was konnte viel Schönes und Ritterliches in der Nähe der Villa Tobler vorkommen? Etwa gar die Pauline, oder Tobler selber als abenteuerlustiger und ebenso gekleideter Unternehmer? Unternehmungen, ja, die gab es in Hülle und Fülle, kein Zweifel, aber was für welche? Was hatten technische Unternehmungen mit grünen Waldschluchten, weißen Rössern, edlen, lieben Frauengestalten und mit mutigen Taten zu tun? Ritten in früheren Jahrhunderten die Ritter und Unternehmer auch auf der »Reklame-Uhr« und auf dem »Schützenautomaten«, oder auf ähnlichen Gäulen herum? Gab es damals auch schon »verschuggte« Kinder, Ecepecen Silvi? O ja, aber eben, man nannte sie »Verstoßene«, und heute nannte sie da so einer, der zwischen dem herrlichsten Grün im Moose lag, »Verschuggte«.

Er lachte. O es war so schön hier. Im Wald ist die Stille eine doppelte. Ein weiter Ring von Bäumen und Gesträuchen bildet die erste Stille, und die zweite, noch schönere, ist der eigene erwählte Platz. So wie der Bach murmelte, glaubte man sich schon in lange, kühle Träumereien verstrickt, und so wie man ins Grün hinaufschaute, befand man sich mitten in silbernen und goldenen und guten Weltanschauungen. Die selber erdachten, einem fernen und nahen Bekanntenkreis entnommenen Personen flüsterten leise, sie sagten etwas, oder sie machten bloß Mienen, während die Augen eine tief innerliche Sprache für sich redeten. Die Gefühle traten nackt und mutig auf, und das Feinstempfundene traf ein verborgenes, sehnsuchtsvolles Verständnis an. Die Lippen und Gedanken, ohne der Zeiträume und Lebensstraßen zu bedürfen, küßten sich, wenn sie sich erkannt hatten; auf den Lippen sah man die