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Es schien, als seien die umkränzten Lichtkreuze über Nacht in die Welt gesetzt worden. Nachdem ich diese merkwürdigen Objekte an Häuserwänden und Straßen (siehe S. 30) zum ersten Mal entdeckt hatte, sah ich sie von diesem Tag an überall. Freilich müssen die seltsamen Figuren schon vorher immer wieder auf meine Netzhaut gelangt sein, doch ich hatte sie bis dahin nicht bewusst wahrgenommen. Das ist typisch für viele Phänomene im Alltag und in der Natur. Man muss regelrecht lernen, sie zu sehen – und das gelingt am besten, indem man durch möglichst viele Beispiele dazu angeregt wird. Daher stehen die in diesem Heft zusammengetragenen Beobachtungen und ihre Erklärungen nicht nur für sich. Vielmehr erleichtern sie es darüber hinaus, Erscheinungen wahrzunehmen, zu hinterfragen und zu verstehen, die man nie zuvor bemerkt hat und die vielleicht sogar bislang von niemandem sonst näher beschrieben wurden. Wenn ein einfacher Sinneseindruck für uns plötzlich zum interessanten Phänomen wird, denken wir dabei zuerst oft noch gar nicht an die fundamentalen Regeln der Physik. Vielmehr fallen uns vordergründige Ungereimtheiten oder ästhetische Aspekte auf – scheinbare Kleinigkeiten, die etwas Alltägliches auf einmal einzigartig machen und uns nicht so schnell wieder loslassen. Dann helfen die Gesetze der Physik, uns selbst davon zu überzeugen, dass alles seine Ordnung hat, woraufhin wir mit geschärftem Blick durch die Welt gehen. Ich wünsche Ihnen viele solcher Erfahrungen und schließe mit einem Wort Kurt Tucholskys: "Die größte Sehenswürdigkeit, die es gibt, ist die Welt – sieh sie dir an." H. Joachim Schlichting.
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Seitenzahl: 168
Von H. Joachim Schlichting, Autor dieses Hefts
H. Joachim Schlichting war über viele Jahre Direktor des Instituts für Didaktik der Physik an der Universität Münster. Seit 2009 schreibt er seine Rubrik »Schlichting!« inSpektrum der Wissenschaft. 2008 erhielt er den Robert-Wichard-Pohl-Preis der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, 2013 folgte der Archimedes-Preis für Physik.
Es schien, als seien die umkränzten Lichtkreuze über Nacht in die Welt gesetzt worden. Nachdem ich diese merkwürdigen Objekte an Häuserwänden und Straßen (siehe S. 30) zum ersten Mal entdeckt hatte, sah ich sie von diesem Tag an überall. Freilich müssen die seltsamen Figuren schon vorher immer wieder auf meine Netzhaut gelangt sein, doch ich hatte sie bis dahin nicht bewusst wahrgenommen. Das ist typisch für viele Phänomene im Alltag und in der Natur. Man muss regelrecht lernen, sie zu sehen – und das gelingt am besten, indem man durch möglichst viele Beispiele dazu angeregt wird.
Daher stehen die in diesem Heft zusammengetragenen Beobachtungen und ihre Erklärungen nicht nur für sich. Vielmehr erleichtern sie es darüber hinaus, Erscheinungen wahrzunehmen, zu hinterfragen und zu verstehen, die man nie zuvor bemerkt hat und die vielleicht sogar bislang von niemandem sonst näher beschrieben wurden. Wenn ein einfacher Sinneseindruck für uns plötzlich zum interessanten Phänomen wird, denken wir dabei zuerst oft noch gar nicht an die fundamentalen Regeln der Physik. Vielmehr fallen uns vordergründige Ungereimtheiten oder ästhetische Aspekte auf – scheinbare Kleinigkeiten, die etwas Alltägliches auf einmal einzigartig machen und uns nicht so schnell wieder loslassen. Dann helfen die Gesetze der Physik, uns selbst davon zu überzeugen, dass alles seine Ordnung hat, woraufhin wir mit geschärftem Blick durch die Welt gehen. Ich wünsche Ihnen viele solcher Erfahrungen und schließe mit einem Wort Kurt Tucholskys: »Die größte Sehenswürdigkeit, die es gibt, ist die Welt – sieh sie dir an.«
Ihr
EDITORIAL
BLUBBERN UND BLASEN
DER KLANG DES TROPFENDEN WASSERS
Mitgerissene Luft erzeugt das typische Pling.
WINZIGE TRÖPFCHEN GANZ GROSS
Feines Zerstäuben ist eine lohnenswerte Mühe.
SURFENDE FLÜSSIGKEIT
Manchmal driftet Nass über Nass.
WASSER AUF DER RENNBAHN
Dampfkissen sind verblüffend haltbar.
DIE MELODIE DES KOCHENS
Geräusche künden von wechselhaften Vorgängen.
HIMMLISCHE SPHÄREN
Seifenblasen entstehen und vergehen glanzvoll.
LICHT UND SCHATTEN
BIZARRE UNTERWASSERSCHATTEN
Unscheinbare Dellen werfen trügerische Umrisse.
ZUGLEICH DIFFUS UND SPIEGELND
Reflexionen kommen selten allein.
LICHTBAHNEN ÜBER DEN WELLEN
Unruhige Gewässer legen das Ufer in Streifen.
SPIEGELWELT MIT FEHLERN
Intuitive Annahmen gehören auf den Prüfstand.
UMKRÄNZTES LICHTKREUZ IM QUADRAT
Fensterglas wird zum Hohl- und Wölbspiegel.
RUNDUM VERBORGEN
Erst Nanostrukturen machen wirklich transparent.
VERNEBELTE DURCHSICHTEN
Streuende Partikel trüben den Blick in die Ferne.
LICHT IM SCHATTEN
Scheinbar durchdringt ein Strahlenkranz Barrieren.
SPEIS UND TRANK
JETZT BIN ICH GAR
Lufteinschlüsse verschaffen Teigwaren Auftrieb.
AUF BIEGEN UND BRECHEN
Spagetti zersplittern meist in mehr als zwei Teile.
WIRBEL IN DER TEETASSE
Strömungen befördern Blattrückstände ins Zentrum.
LASST DIE KORKEN KNALLEN!
Druckänderungen sorgen für Prickeln und Schäumen.
RUHE UND BEWEGUNG
DIE SCHMALE INSEL DER BEHAGLICHKEIT
Wohlbefinden braucht mehr als die rechte Temperatur.
HOCH HINAUS
Nicht jede Freileitung ist ein geeigneter Vogelrastplatz.
WENN SCHNÜRSENKEL VERSAGEN
Keine Schleife hält ewig – aber manche besser.
KONKURRENZLOS SPARSAM
Das Fahrrad ist die effizienteste Art der Fortbewegung.
WIE LAUB SICH ABWÄRTSWIEGT
Im Chaos der fallenden Blätter steckt Ordnung.
UNVERHOFFTE RUTSCHPARTIEN
Feuchtes Pflanzenmaterial verringert die Reibung.
VORSICHT, EXPLODIERENDE SAMENKAPSELN!
Springkraut schleudert kleinste Körnchen meterweit.
EIS UND SCHNEE
GRENZERFAHRUNGEN IM WINTER
Durch Tauen und Gefrieren wachsen reiche Strukturen.
WENN WEISSER SCHNEE IN FARBEN FUNKELT
Einzelne Eisplättchen lassen den Boden bunt glitzern.
KNIRSCHENDE KRISTALLE
Das Flockengefüge in Neuschnee ist fein und fest.
ANHÄNGLICHER SCHNEE
Dünne Flüssigkeitsschichten sorgen für gute Haftung.
STEINCHEN UND FELSEN
MINIVULKANE AM STRAND
Ebbe und Flut schieben Luft durch den Untergrund.
SINGENDE DÜNEN
Kollektiv schwingende Körner tönen überraschend laut.
ELEKTRISIERENDER SAND
Partikel eines Wüstensturms laden sich gegenseitig auf.
SÄULEN DER ERDE
Erstarrende Lava zerreißt zu imposanten Basaltblöcken.
IMPRESSUM
VORSCHAU
Das typische Pling entsteht nicht direkt beim Aufprall auf die Wasseroberfläche, sondern erst unter ihr – wenn mitgerissene Luft ins Schwingen gerät.
spektrum.de/artikel/1614274
Und müssen Tropfen fallen, wenn wir entzückt werden sollen?
Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832)
Das zuweilen nervtötende Geräusch eines tropfenden Wasserhahns ist nur zu gut bekannt. Dagegen hat sich noch kaum herumgesprochen, wie der charakteristische Ton beim Aufprall auf die Wasseroberfläche eigentlich entsteht. Denn es ist gar nicht der Kontakt selbst, der den Klang hervorbringt. Vielmehr braucht es dafür schwingende Luftblasen, die durch Wechselwirkungen beim anschließenden Eintauchen entstehen.
Der auftreffende Tropfen durchdringt die Wasseroberfläche nicht unmittelbar. Vielmehr dellt er sie wegen der relativ großen Grenzflächenspannung zwischen Wasser und Luft zunächst wie eine elastische Membran ein. Erst nachdem sie ringsherum wieder zurückschnellt, durchbricht der Tropfen die Oberfläche. Dabei treibt er einen kleinen Hohlraum in diese hinein, dessen Öffnung sich schließt, bevor die Luft wieder hinausgelangen kann (siehe Illustration rechts oben).
Da eine Kugel die kleinste Oberfläche eines gegebenen Volumens besitzt, entsteht aus der unter Wasser eingesperrten Luftportion schnell eine Blase. Um getreu der Tendenz der Natur so viel Energie wie möglich an die Umgebung abzugeben (zweiter Hauptsatz der Thermodynamik), strebt sie Kugelgestalt an, in der die Grenzflächenenergie minimal ist. Dabei schießt das Wasser durch seine Trägheit gewissermaßen über sein Ziel hinaus und drückt die Blase kurzzeitig stärker zusammen, als es dem Gleichgewichtszustand entsprechen würde. Die komprimierte Luft dehnt sich daher anschließend wieder ähnlich kraftvoll aus, woraufhin in der Blase ein kleiner Unterdruck entsteht. So geht es einige Male hin und her – die Folge ist eine gedämpfte Schwingung.
Diese so genannte Volumenpulsation hat Marcel Minnaert erstmals 1933 beschrieben. Der belgische Astronom hat sich mit vielen Phänomenen der Alltagsphysik beschäftigt. Sein Grundgedanke: In Form der Blase schwingt die gut zusammendrückbare Luft im nahezu inkompressiblen Wasser. Letzteres wirkt wie eine effektive Masse, analog zu einem klassischen Feder-Masse-System. Mit den dafür üblichen Formeln konnte Minnaert die Schwingungsfrequenz f bestimmen. Unter normalem Luftdruck ermittelte er für eine Luftblase vom Radius r im Wasser den einfachen Zusammenhang f ≈ 3/r (r wird in der Einheit Meter eingesetzt und das Ergebnis mit Meter pro Sekunde multipliziert, um auf die richtige Einheit zu kommen). Rechnerisch ergeben sich Tonhöhen im hörbaren Bereich zwischen 20 000 und 20 Hertz für Blasenradien von 0,15 Millimeter bis zu 15 Zentimeter. Manchmal schnüren sich von der Hauptblase Tochterblasen ab und geraten ebenfalls in Schwingungen. Weil sie meist kleiner sind, erzeugen sie Töne höherer Frequenz, die das ganze Ereignis unter Umständen akustisch bereichern.
Im Alltag beobachtet man außerdem meist einen oder mehrere neue Tropfen, die von der Wasseroberfläche emporspringen und wieder zurückfallen. Aus einem vollen Trinkglas als Zielgefäß können sie sogar heraushüpfen. Dennoch reicht die Energie der Sekundärtropfen nicht aus, um ihrerseits den typischen Klang zu erzeugen. Für hörbare Töne ist also nicht nur eine bestimmte Größe nötig, sondern außerdem eine Mindestfallhöhe. Das lässt sich leicht experimentell nachvollziehen, etwa mit einer Einwegspritze: Bei zu geringem Abstand zum Wasser verschwindet aus ihr heraus getropfte Flüssigkeit relativ geräuscharm.
Obwohl kein Fall dem anderen gleicht und jede Blase etwas anders aussieht, ist das Klangbild als solches unverkennbar. Dazu gehört eine zum Ende ansteigende Tonhöhe. Das kommt daher, dass die Blase nicht in Ruhe schwingt, sondern währenddessen je nach ihrer Größe mehr oder weniger schnell nach oben und zurück ins luftige Element strebt. Mit kleinerem Abstand zur Wasseroberfläche nimmt im Feder-Masse-Modell die effektive Masse um die Blase ab, und darum erhöht sich die Frequenz des ausgesendeten Tons. Während eine Blase, die bis zum etwa Zehnfachen ihres Radius komplett eingetaucht ist, bis dicht unter die Oberfläche gelangt, steigt die Tonhöhe rechnerisch um den Faktor Wurzel zwei. Auch das kann man in einem einfachen Versuch hörbar machen: Pustet man mit einem Strohhalm Luft in ein Gefäß mit Wasser, bringt das Blubbern dicht unter der Oberfläche deutlich höhere Töne hervor als bei tieferem Eintauchen.
Lange Zeit haben die Physiker stillschweigend unterstellt, dass der im Wasser entstehende Schall an unser Ohr gelangt, indem er einfach durch das Wasser hindurch und danach über die Luft weitertransportiert wird. Wie Forscher der University of Cambridge jedoch 2018 gezeigt haben, ist der Vorgang etwas komplizierter. Zunächst koppelt die Unterwasserblase direkt an die in der Nähe befindliche Wasseroberfläche. Letztere wirkt daraufhin gewissermaßen als schwingende Membran, welche den Schall effektiv und nahezu unverzerrt auf die Luft überträgt. Erst von dort aus läuft er durch die Luft zu unserem Ohr.
Beim Aufprall des Tropfens auf die Wasserschicht passiert freilich noch einiges mehr. Beispielsweise streben kleine Rippel radial von der Auftreffstelle nach außen. Diese Kapillarwellen sind aber zu langsam, um ein hörbares Geräusch abzugeben. Weitere akustische Begleiterscheinungen tragen ebenfalls nur wenig zum typischen Klang bei.
Die Grenzflächenspannung von Wasser spielt insgesamt eine entscheidende Rolle. Das legt gleichzeitig eine einfache Maßnahme nahe, wie man den Effekt abmildern kann, sollte sich ein tropfender Hahn einmal nicht abstellen lassen. Spülmittel sorgt für Entspannung beim darunter befindlichen Wasser – und daraufhin hoffentlich auch beim Zuhörer.
WILFRIED SUHR; MIT FRDL. GEN. VON H. JOACHIM SCHLICHTING
WILFRIED SUHR; MIT FRDL. GEN. VON H. JOACHIM SCHLICHTING
Ein fallender Tropfen hinterlässt kurzfristig einen Hohlraum im Wasser (linkes Bild), der sich als Luftblase abschnürt, noch etwas absinkt und dann durch den Auftrieb wieder steigt (rechts).
Ein Wassertropfen fällt auf die Oberfläche des Wassers (a), formt eine Delle (b), durchbricht die Oberfläche (c), erzeugt einen Hohlraum, der sich sofort schließt (d), und lässt eine Luftblase zurück (e).
H. JOACHIM SCHLICHTING
Die vibrierende Blase koppelt ihre Schwingungen an die Wasseroberfläche, die den Schall anschließend auf die Luft überträgt. Die Doppelpfeile deuten die Schwingungen an.
QUELLEN
Minnaert, M.: On Musical Air-Bubbles and the Sounds of Running Water. In: Philosophical Magazine 16, 235–248, 1933
Phillips, S., Agarwal A. et al.: The Sound Produced by a Dripping Tap Is Driven by Resonant Oscillations of an Entrapped Air Bubble. In: Scientific Reports 8, 9515, 2018
Kleinste Flüssigkeitskugeln entstehen von selbst, wenn man ihnen nur auf die richtige Weise Energie zur Verfügung stellt.
spektrum.de/artikel/1567844
Der Sturm fängt das aufsprühende Wasser auf und treibt es in breiten Nebelgardinen an der Flutlinie entlang.
Harry Mulisch (1927–2010)
Wer am brandenden Meeressaum oder am Gradierwerk eines Kurorts die Brise genießt, atmet salzhaltige Wassertröpfchen ein. Auch sprudelnder Sekt entsendet winzige Perlen in den Raum und gelangt so als prickelndes Aroma in unsere Nase. Diese und viele weitere Flüssigkeiten werden als Schwebeteilchen zum Spielball der Luftströmungen. Das klappt nur, wenn sie sehr langsam zu Boden gehen, und dazu müssen sie ziemlich unscheinbar sein.
Jeder sich selbst überlassene Tropfen wird auf Grund seiner Gewichtskraft zur Erde hin beschleunigt. Dagegen übt die Luft eine Widerstandskraft aus. Diese wird mit zunehmender Fallgeschwindigkeit größer, bis schließlich beide Kräfte denselben Betrag haben. Sofern die Masse des Tropfens gleich bleibt, sinkt er fortan mit unveränderter Geschwindigkeit.
Die Luftwiderstandskraft bei einem bewegten Gegenstand hängt nicht nur von seiner Geschwindigkeit ab, sondern auch von der Querschnittsfläche: Kleinere Tropfen erfahren einen geringeren Widerstand. Mit der Größe ändern sich die Kräfteverhältnisse insgesamt. Denn mit ihr nimmt zwar ebenfalls die Masse und damit die Gewichtskraft ab, jedoch nicht in gleichem Maß. Darum ist die Sinkgeschwindigkeit für kleine Tröpfchen eine andere.
Reduziert sich der Radius eines fallenden Tropfens um den Faktor 10, verringert sich seine Fläche um den Faktor 100. Das Volumen und die dazu proportionale Masse nehmen allerdings mit dem Radius hoch drei, also um das 1000-Fache ab. Das Gewicht reduziert sich daher viel schneller als der Luftwiderstand. Deswegen halten sich beide Kräfte bei kleineren Tröpfchen bereits bei viel niedrigeren Geschwindigkeiten die Waage – das Objekt sinkt deutlich langsamer. Will man also Flüssigkeiten beziehungsweise die mit ihnen transportierten Stoffe lange in der Luft halten, muss man die Tropfen möglichst klein machen.
Das ist leichter gesagt als getan. Denn um aus einer Kugel zwei zu machen, braucht es etwa ein Fünftel mehr an Oberfläche. Und das kostet Energie. Wie viel davon nötig ist, um eine gewisse Wassermenge in Tröpfchen zu versprühen, berechnet man, indem man die entstehende Gesamtfläche mit der charakteristischen Oberflächenspannung des Wassers multipliziert. Winzige Tropfen sind annähernd rund. Ihre individuelle Oberfläche multipliziert mit ihrer Anzahl, die aus dem Wasservolumen insgesamt entstehen kann, ergibt die totale Fläche. Eine kurze Rechnung zeigt, dass aus einem Liter Wasser hergestellte Tröpfchen mit einem Radius von zehn Mikrometern eine Gesamtfläche von 300 Quadratmetern einnehmen würden. Dafür wäre eine Energie von etwa 22 Joule aufzubringen. Das ist durchaus beachtlich: Man könnte damit immerhin die gleiche Flüssigkeitsmenge um 2,2 Meter anheben.
Eine einfache Zerstäubungstechnik verschafft einen Eindruck von der bei der Tröpfchenproduktion benötigten Leistung. Dazu wird ein Röhrchen in einen Behälter beispielsweise mit Wasser gesenkt, und mit einem zweiten bläst man gegen die obere Öffnung des ersten (siehe Foto linke Seite). Ein durchsichtiger Strohhalm etwa lässt erkennen, wie währenddessen der Wasserspiegel darin steigt. Selbst wenn man es nicht sieht, hört man es an dem immer höheren Zischlaut – Ausdruck der sich ändernden Schwingungsfrequenz der schwindenden Luftsäule.
Was geschieht hier? Das erste Röhrchen behindert den dagegengeblasenen Atem. Dieser muss einen Umweg darüber hinweg und seitlich vorbei nehmen. Die Teilchen werden schneller, da sie eine längere Strecke zurücklegen müssen, damit in gleicher Zeit weiterhin das gleiche Volumen befördert wird. Die derart gewissermaßen auseinandergezogene Strömung hat infolgedessen weniger Druck. Um den Unterschied aufzuheben, zieht sie aus allen Richtungen Luft an, insbesondere aus dem senkrechten Röhrchen. Schließlich gerät die steigende Flüssigkeitssäule in den Strom und wird in viele kleine Tröpfchen zerfetzt.
Die Zerstäubung erzeugt einen spürbar größeren Widerstand beim Blasen. Die zusätzliche Energie ist vor allem nötig, um die Oberfläche der unzähligen Tröpfchen zu schaffen. Die Wassersäule wird zunächst ähnlich wie bei Seifenblasen zu einer dünnen Lamelle aufgepustet. Das zwingt das Wasser in eine Form mit sehr großer Oberfläche. Bei Seifenlauge würden sich jetzt Blasen abschnüren (siehe »Himmlische Sphären«, S. 16). Eine Wasserlamelle hingegen ist wegen der beträchtlichen Oberflächenspannung des Wassers sehr instabil und zerreißt ziemlich schnell (siehe Foto ganz oben). Getrieben durch die Tendenz der Natur, bei allen von selbst ablaufenden Vorgängen so viel Energie wie möglich an die Umgebung abzugeben, schnurren die Wasserfetzen sofort zu winzigen Kügelchen zusammen. Denn in dieser Form haben sie die geringste Oberfläche und benötigen am wenigsten Oberflächenenergie.
Seit Menschen erkannt haben, dass Substanzen mit kleinsten Flüssigkeitstropfen weiträumig und sehr fein dosiert verteilt werden können, entwickeln sie dem jeweiligen Verwendungszweck angemessene Verfahren, um solche Aerosole gezielt zu erzeugen. Für Zerstäuber gibt es zahlreiche wissenschaftliche und industrielle Anwendungen bis hin zum alltäglichen Auftragen von Parfüm oder Haarspray. Verbrennungsmotoren und Ölheizungen erreichen mit Einspritzung vor allem dank des großen Verhältnisses von Fläche zu Volumen eine optimale chemische Reaktion mit dem Sauerstoff. Die konkreten Techniken sind entsprechend sehr unterschiedlich. In jedem Fall ist die hineingesteckte Oberflächenenergie eine lohnende Investition.
H. JOACHIM SCHLICHTING
Eine solche Fixativspritze verwenden Maler zum Versprühen von Farbe oder Harzlösungen. Dazu stecken sie das dünnere Rohr in die Flüssigkeit und blasen in das dickere Mundstück.
H. JOACHIM SCHLICHTING
Bei Springbrunnen lässt sich im Großen beobachten, wie Flüssigkeitslamellen oder -strahlen in einzelne Tropfen zerfallen.
H. JOACHIM SCHLICHTING
Die Meeresbrandung wirbelt unzählige kleinste Salzwasserpartikel in die Luft.
Manche Wassertropfen driften eine Zeit lang auf einer Wasseroberfläche, ohne sofort mit dieser zu verschmelzen. Das könnte an einem Luftpolster liegen, doch womöglich sind die physikalischen Effekte komplizierter als gedacht.
spektrum.de/artikel/1527659
Wenn ich an einem Springbrunnen sitze, achte ich neuerdings immer wieder auf die winzigen Tropfen, die jeweils kurze Zeit über die Wasseroberfläche im Becken treiben. Ich warte dann auf den Moment, in dem sie mit der Oberfläche verschmelzen. Die flinken Tröpfchen verschwinden plötzlich und spurlos. Das unterscheidet sie von den meist größeren, träge auf dem Wasser ruhenden Blasen. Es drängt sich aber die Frage auf, warum die Tropfen überhaupt noch eine kleine Weile auf der Oberfläche kursieren und sich nicht sofort mit dem Wasser vereinigen, obwohl sie doch aus demselben Stoff bestehen.
Das Phänomen erinnert mich an einen ähnlichen Vorgang beim Kaffeezubereiten: Wenn der Kaffee vom Filter in die Kanne tropft, huschen oft ebenfalls kleine Kugeln über die Oberfläche des Getränks, um nach ihrem kurzen Ausflug ebenso unvermittelt zu verschwinden wie ihre Verwandten auf dem Teichwasser. In diesem Fall ist die Situation etwas anders, weil ein Temperaturunterschied zwischen der schon etwas abgekühlten Kaffeeoberfläche und dem heißen Tröpfchen besteht. Die Grenzflächenspannung ist nämlich temperaturabhängig, und durch einen Marangoni-Strömung genannten Effekt wird Flüssigkeit von einer Stelle mit einer geringeren Oberflächenspannung zu einer mit höherer transportiert. Das entspricht hier einer Ausgleichsströmung von der warmen Seite zur kühleren. Nähert sich ein heißer Tropfen der Oberfläche des Kaffees, erkaltet er an der Unterseite. Die dorthin laufende Mikroströmung von wärmeren Bereichen reißt angrenzende Luftpartikel mit und bildet temporär ein Luftpolster (siehe Illustration unten).
Im Prinzip kennen wir so etwas vom Leidenfrost-Effekt bei langlebigen Wassertropfen auf einer heißen Herdplatte (siehe »Wasser auf der Rennbahn«, S. 12). Von Temperaturdifferenzen zwischen Tropfen und Wasseroberfläche kann bei meinen Beobachtungen am Springbrunnen allerdings kaum die Rede sein. Offenbar ist dort trotz der phänomenologischen Ähnlichkeit ein anderer Effekt im Spiel.
Da die Erscheinung relativ leicht zu beobachten ist, haben sich Wissenschaftler schon früh damit auseinandergesetzt. Als Erster veröffentlichte 1889 Lord Rayleigh (1842–1919) Arbeiten dazu. Er hielt für den Zeitpunkt der Verschmelzung vor allem die Verdrängung der Luftschicht für ausschlaggebend. Bei seinen Untersuchungen stellte er zahlreiche Einflussfaktoren fest. Dazu zählen etwa die Oberflächenspannung, Viskosität und Löslichkeit der aufeinandertreffenden Substanzen sowie Verunreinigungen und statische elektrische Ladungen.
Die wissenschaftliche Diskussion ist seitdem nie ganz abgeflaut. Unter kontrollierten Bedingungen lässt sich die Menge der Einflussfaktoren immerhin verkleinern. Beschränkt man sich auf Tropfen aus reinem Wasser, die man auf eine ebenso reine Wasseroberfläche fallen lässt, ergibt sich folgender Forschungsstand: Ab einer bestimmten Mindesthöhe verschmilzt der Tropfen stets unmittelbar.
Auf unseren Springbrunnen bezogen heißt das, die aus relativ großer Höhe herunterfallenden Wassertropfen bleiben nicht selbst auf der Wasseroberfläche, sondern lösen durch ihren Aufprall Sekundärtropfen heraus. Diese fallen dann aus hinreichend niedriger Höhe zurück, wobei sich einige von ihnen einer sofortigen Vereinigung entziehen, um noch ein wenig umherzudriften. In den Laborexperimenten zeigte sich zudem, was wir von den auf dem Kaffee tanzenden heißen Tropfen kennen. Ab einer bestimmten Temperaturdifferenz zwischen Tropfen und Flüssigkeit lässt sich die Verschmelzung sehr lange hinauszögern. Das erreicht man auch, wenn man die Flüssigkeitsoberfläche in Schwingung versetzt. Anschaulich gesprochen unterbricht die Bewegung die einsetzenden Vermischungsvorgänge immer wieder. Außerdem kann man, wie bereits Lord Rayleigh festgestellt hat, den Zusammenschluss durch einen gezielten Einsatz elektrischer Ladungen verlangsamen oder beschleunigen.
Die wohl am weitesten verbreitete und am ehesten akzeptierte Erklärung für die driftenden Tropfen ist die Luftkissenhypothese. Demnach unterbleibt die Vereinigung so lange, bis die zwischen den Grenzflächen eingeschlossene Luft verschwunden ist. Viele Wissenschaftler sehen eine Bestätigung dafür insbesondere in »newtonschen Ringen« zwischen dem Tropfen und der Oberfläche. Sie sind der Ausdruck eines Interferenzphänomens, bei dem Lichtwellen in einer dünnen Luftschicht von der Größenordnung der Wellenlänge des sichtbaren Lichts gebrochen, reflektiert und zur Überlagerung gebracht werden. Das löscht bestimmte Anteile des Spektrums aus oder verstärkt sie, was sich an Stellen jeweils gleicher Schichtdicke durch farbige Ringe zeigt.
Allerdings führen einige Forscher alternative Erklärungen gegen die vermeintlichen Beweise an. So lasse die Reproduzierbarkeit des Phänomens zu wünschen übrig. Bei noch so großen Bemühungen, gleiche Versuchsbedingungen einzuhalten, wären sowohl sofortige Verschmelzungen als auch lange Lebensdauern der Tropfen feststellbar. Aus der Luftkissenhypothese sollte im Übrigen folgen, dass bei abnehmendem Luftdruck die Luftschicht zwischen Tropfen und Flüssigkeit ausgedünnt und damit die Verweildauer drastisch reduziert würde. Bei Wasser ist das aber mitnichten der Fall. In einigen Versuchen stellte man im Gegenteil sogar eine längere Lebensdauer fest.
Vor diesem Hintergrund schlagen US-Wissenschaftler ein anderes Modell für das Phänomen vor. Sie zeigen, dass auf der Grenzfläche zwischen Wasser und Luft teilweise größere Schichten geordneter Wassermoleküle existieren. Diese könnten – so ihre Argumentation – wie eine Barriere wirken und ähnlich wie bei der Luftkissenhypothese die Wassermoleküle des Tropfens so lange auf Abstand halten, bis die Schicht weit genug ausgedünnt ist. Erst dann überwiegen die molekularen Anziehungskräfte und führen eine Vereinigung herbei.
Das Geheimnis der driftenden Tropfen ist also noch nicht vollständig gelüftet. Das macht es umso spannender, sie am Springbrunnenteich und anderswo weiter zu beobachten.
H. JOACHIM SCHLICHTING
Das Strömungsfeld eines heißen Tropfens über einer kühleren Wasseroberfläche führt Umgebungsluft in die Zwischenschicht. Der Abstand ist übertrieben dargestellt, um die Bewegung des mitgenommenen Luftfilms zu zeigen.
WILFRIED SUHR; MIT FRDL. GEN. VON H. JOACHIM SCHLICHTING
Einzelne Tropfen, die aus der richtigen Höhe aufs Wasser treffen, driften manchmal noch ein wenig über die Oberfläche, bevor sie untergehen.
QUELLEN
Klyuzhin, I. S. et al.: