Spirit Dolls - Ria Radtke - E-Book + Hörbuch

Spirit Dolls Hörbuch

Ria Radtke

5,0

Beschreibung

Sie will das Geheimnis um ihr magisches Erbe lüften: Der fesselnde Romantasy-Roman »Spirit Dolls« von Ria Radtke als eBook bei dotbooks. Runa sehnt sich nach einem Neuanfang. Ein Studienplatz am Aconite Institute scheint daher perfekt. Hier kann sie endlich ihre ewigen Albträume und den Streit mit ihrer Mutter hinter sich lassen, die Runa einfach nicht verraten will, wer ihr Vater ist.  Doch kaum in Edinburgh angekommen, werden Runas Träume immer schlimmer – und realistischer. Schließlich erfährt sie von ihrem Mentor, dem viel zu arroganten Kyril, den Grund dafür: Sie ist eine Schattenspringerin und kann die Seelen Sterbender ins Jenseits geleiten. Auch bei der Suche nach ihrem Vater muss Runa ausgerechnet mit Kyril zusammenarbeiten. Dabei kommt sie ihm näher als geplant – genau wie dem schrecklichen Geheimnis, das hinter den efeubewachsenen Mauern des Instituts schlummert ... Jetzt als eBook kaufen und genießen: Mitreißende Fantasy mit prickelnder Romantik bietet »Spirit Dolls« von Ria Radtke – Fans der Tiktok-Sensationen Stella Tack, Sarah Sprinz und Nikola Hotel werden sich in dieses Buch verlieben; das Hörbuch ist bei SAGA Egmont erschienen. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Zeit:10 Std. 3 min

Sprecher:Magnus RookSabrina Scherer
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Über dieses Buch:

Runa sehnt sich nach einem Neuanfang. Ein Studienplatz am Aconite Institute scheint daher perfekt. Hier kann sie endlich ihre ewigen Albträume und den Streit mit ihrer Mutter hinter sich lassen, die Runa einfach nicht verraten will, wer ihr Vater ist. 

Doch kaum in Edinburgh angekommen, werden Runas Träume immer schlimmer – und realistischer. Schließlich erfährt sie von ihrem Mentor, dem viel zu arroganten Kyril, den Grund dafür: Sie ist eine Schattenspringerin und kann die Seelen Sterbender ins Jenseits geleiten. Auch bei der Suche nach ihrem Vater muss Runa ausgerechnet mit Kyril zusammenarbeiten. Dabei kommt sie ihm näher als geplant – genau wie dem schrecklichen Geheimnis, das hinter den efeubewachsenen Mauern des Instituts schlummert ...

»Spirit Dolls« erscheint außerdem als Hörbuch und Printausgabe bei SAGA Egmont, www.sagaegmont.com/germany.

Über die Autorin:

Ria Radtke sieht im Schreiben die Magie unserer Zeit. Dieser Zauber geht auch von ihren erfolgreichen Fantasy- und Liebesromanen aus.

Die Website der Autorin: riahellichten.de/

Die Autorin bei Facebook: facebook.com/Riahellichtenautorin/

Die Autorin auf Instagram: @ria_schreibt

Bei dotbooks erscheinen außerdem ihre Romane »Spirit Dolls« und »Matching Souls« als eBook.

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eBook-Ausgabe Oktober 2023

Copyright © der Originalausgabe 2023 by Ria Radtke und SAGA Egmont

Copyright © der eBook-Ausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de).

   

Dieser Roman wurde im Rahmen des Stipendienprogramms der VG Wort in NEUSTART KULTUR der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gefördert.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Paulina Ochnio unter Verwendung von Shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-98690-830-0

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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blog.dotbooks.de/

Ria Radtke

Spirit Dolls

Roman – Aconite Institute 1

dotbooks.

Die Menschen schlafen, wenn sie aber sterben, dann wachen sie auf.

Alī ibn Abī Talib

Für alle, die loslassen mussten,

was sie um alles in der Welt festhalten wollten.

Und für Sina, die mein Leben und mein Schreiben so viel schöner macht.

Playlist

Not Dead Yet – Lord Huron

Blinding Lights – The Weeknd

Lonely Eyes – Lauv

Take My Breath Away – Duncan Laurence

Your Soul – Rhodes

Cry You a River – Ruben

Small Disasters – Dean Lewis

Unloving You – Anson Seabra

Tree House – Lemaitre & Ruben

Soul Mate – Flora Cash

Kiss Me – Dermot Kennedy

Sign of the Times – Harry Styles

Like Real People Do – Hozier

Fix You – Coldplay

It’ll Be Okay – Shawn Mendes

It’s Only Love – Heather Nova

Triggerwarnung:

Dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte zu folgenden Themen: Verlust von nahestehenden Menschen, Depressionen, Alkoholmissbrauch.

Bitte lest dieses Buch nicht, wenn ihr euch psychisch derzeit nicht in der richtigen Verfassung seht.

Edinburgh, 46 Tage nach dem 2. November 1590

Ich sehe die Puppen, noch bevor ich verstehe, wo ich bin. Sie sind auf eine Holztruhe mit Schnitzereien gebettet. Ein Armleuchter taucht die mit Damast behangene Wand dahinter in flackerndes Licht. Schatten tanzen über ihre bemalten Gesichter, und die Luft ist getränkt mit dem beißenden Gestank von Aqua Vitae. Siebzehn Augenpaare verspotten mich: Du wolltest sterben? Willkommen im siebten Kreis der Hölle.

Fast sehne ich mich nach dem Dämmerschlaf der letzten Stunden zurück – oder waren es Tage? –, als Traum und Wirklichkeit haltlos ineinanderflossen und ich wie ein Schiffswrack im Strom dieser Gezeiten trieb. Ich hatte vergessen wollen, aber jetzt sehe ich alles umso deutlicher vor mir und begreife: Mein Grab werde ich teilen müssen. Mit den Puppen. Sie verkörpern alles, was ich verloren habe. Und doch hängt mein Herz an ihnen. Ich habe dieselben Hände gehalten, die auf dem hellen Holz im Laufe der Jahre zärtliche Spuren hinterließen, und die Lippen, die siebzehn Puppenmünder geküsst haben, lagen auch auf meinen Wangen. In einem anderen Leben.

Mit diesem Gedanken dreht der Wind; die Verzweiflung schlägt Wellen und brandet übermächtig in mir auf. Bittersüße Erinnerungen greifen nach mir. Ich will mich fallen und von ihnen verschlingen lassen, aber ein Geräusch holt mich in die Gegenwart zurück. Schritte hallen über den Flur, und ich weiß, mir bleibt nicht viel Zeit. Ich taste über meinen nackten Körper, um zu sehen, ob er unversehrt ist. Ein törichter, animalischer Instinkt, denn niemand verlässt solch ein Zimmer unversehrt. Da fühle ich es: Unter meinen Fingerkuppen, auf dem Brustkorb, wölbt sich eine stümperhaft vernähte Narbe. Gewachstes Leingarn und schiefe Stiche. Ich erstarre. Dann drücke ich mich ruckartig von der kalten Steinplatte hoch. Mein Blick fliegt suchend durch den Raum und bleibt an einer schlichten bleiernen Urne hängen. Ich muss sie haben, auch wenn ich mir nicht erklären kann, warum mir ihr Inhalt wichtig ist. Oder die Puppen. Warum irgendetwas jetzt überhaupt noch von Bedeutung ist.

Dennoch: Träge stehe ich auf und stolpere zu dem schweren Holztisch, der mit anatomischen Instrumenten übersät ist. In eisernen Sägen, Messern, Spateln, Zangen und Haken spiegelt sich bedrohlich der Kerzenschein. Die Schritte kommen näher, dann halten sie inne.

»Wie bringen wir ihn weg?«, fragt eine junge Männerstimme. »Er ist zu schwer, um ihn weit zu tragen.« Wer die Worte gesprochen hat, muss jetzt direkt vor der Tür zum privaten Sezierzimmer des Wundarztes stehen.

Zur Antwort erhält er das kehlige Lachen eines älteren Mannes. »Keine Sorge, wenn die medizinische Fakultät mit ihm fertig ist, passt er in eine Reisetruhe. Und warum auch nicht? Wir haben, was wir wollten. Der Professor sollte gleich da sein.«

Die Schritte verklingen und Erleichterung flutet mich. Gierig raffe ich die Puppen in meine bloßen Arme, versuche verzweifelt, sie alle zu halten. Aber sie sind zu viel Gepäck, denn ich werde durch das hohe vergitterte Fenster klettern müssen. Neben dem Instrumententisch liegt etwas auf dem Boden – ein schmutziges Leichentuch. Ich unterdrücke die Übelkeit, bücke mich danach und schlage meinen Schatz darin ein wie zu einem Wanderbündel. Dann nehme ich auch die Urne an mich, steige auf die Steinplatte, von wo aus man im Stehen das Fenster erreichen kann. Der Schmerz schenkt mir Kraft und das Gitter gibt unter dem Stoß meines Ellenbogens nach wie Papier. Als mir die eisige Winterluft ins Gesicht schlägt, erfüllt mich ein euphorisches Gefühl und ich weiß: Solange ich nicht tot bin, bin ich immer noch am Leben.

Tabula Rasa

RUNA

Mit dem ersten Schritt auf den Bahnsteig von Edinburgh Waverley kehrt mein schlechtes Gewissen zurück. Stickiger Dunst umfängt mich im Bahnhofsgebäude, das mit seiner Dachkonstruktion aus Glas und Stahl wie ein riesiges Gewächshaus wirkt. Mir wird ein bisschen übel und Zweifel keimen in mir auf. Wirre Gedanken, die ich den ganzen Tag lang mit alten Buffy-Folgen und eisernem Willen verdrängt habe.

Feigling, ruft die Stimme in meinem Kopf, obwohl ich eigentlich finde, dass es mutig von mir war, allein zu verreisen – zum allerersten Mal. Auch der letzte Streit mit Mum will mir nicht aus dem Kopf: Ich hätte mich lieber mit einer Umarmung als mit Vorwürfen von ihr verabschiedet. Ob man mich wenigstens hier mit offenen Armen empfangen wird?

Stopp, sage ich mir lautlos. Es ist immer noch mein Leben. Habe ich nicht ein Recht darauf, dass es überhaupt beginnt, bevor es irgendwann zu Ende gehen wird? Auf Flat Holm habe ich existiert, aber es muss doch noch mehr geben.

Ich sehe mich in der Bahnhofshalle um. An diesem Septemberabend ist sie erfüllt von verwaschenen Stimmen und hallenden Schritten. Dazu dumpfes Motorengedröhne. Edinburgh ist das komplette Gegenteil meiner idyllischen Heimatinsel. Aus dem Augenwinkel nehme ich wahr, wie Menschen in den dunkelgrauen Zug mit der gelben Schnauze strömen. Ein Teil von mir würde jetzt nichts lieber tun, als der Angst nachzugeben und ihnen zu folgen. Es fühlt sich so unwirklich an, hier zu sein. Bin ich tatsächlich vor knapp sieben Stunden von zu Hause weggelaufen, mit nichts als einem hastig gepackten Koffer und ein paar zerknitterten Scheinen im Portemonnaie?

Jupp, du hast sogar dein Gepäck an der Anlegestelle versteckt und Mum vorgelogen, dass du zum Shoppen nach Cardiff willst.

In Wahrheit bin ich im Anschluss an die fünfzigminütige stürmische Bootsfahrt über den Bristolkanal in den Zug nach Edinburgh gestiegen. Ohne mich zu verabschieden, weil ich Abschiede hasse. Ich habe nicht mal Rose einen letzten Kuss auf ihren flaumigen Babykopf gegeben. Den Geruch, der einem dabei in die Nase steigt – pudrig und ein Hauch von saurer Milch – werde ich nicht vermissen. Trotzdem zieht sich bei diesem Gedanken mein Brustkorb zusammen und eine explosive Mischung aus Aufregung und Wehmut flutet meine Adern. Ob Mum sich schon wundert, warum ich nicht zurückkomme? Vielleicht ist ihr vor lauter Windeln wechseln und Fläschchen machen noch gar nicht aufgefallen, dass ich nicht da bin. Und Steve wird erst recht nichts merken, denn seit Rose zahnt, ist er ständig unterwegs; angeln oder im Pub.

Ich unterdrücke einen Seufzer und ziehe meinen gefühlt hundert Pfund schweren Rollkoffer weiter über das Pflaster. Es hätte nicht so kommen müssen, schießt es mir zum hundertsten Mal an diesem Tag durch den Kopf. Ich hätte noch lange die liebe, brave Runa sein können, die ihre Nase die meiste Zeit in Comicheften vergräbt, weil das bis zur Erfindung eines Unsichtbarkeitselixiers das sicherste Mittel ist, niemanden zu sehen und von niemandem gesehen zu werden. Ich hätte mich weiter versteckt, weil es keinen Sinn hat, dazugehören zu wollen, wenn nichts an deinem Leben, deiner Familie oder an dir normal ist. Mum hat mir im Grunde keine Wahl gelassen.

Es tut weh, das nur zu denken, aber es ist wahr.

Mit knurrendem Magen und müden Knochen erreiche ich die Rolltreppe am Ende des Bahnsteigs. Dort gurren ein paar Tauben und tänzeln mit blutigen Schnäbeln um etwas herum. Als ich näher komme, erkenne ich, dass es ein Artgenosse ist. Der Vogel liegt auf dem Rücken, die Beine steif von sich gestreckt, der Brustkorb zerhackt.

Ich wende mich ab und versuche, die aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken. Der gewohnte Anblick sollte mich nicht erschüttern, aber entgegen aller Vernunft hatte ich gehofft, die Geister der Vergangenheit auf Flat Holm zurücklassen und hier neu anfangen zu können. Fröstelnd ziehe ich meinen Mantel enger zusammen.

Erst als ich am Taxistand eine schwarz glänzende Limousine mit runden Scheinwerfern entdecke, hebt sich meine Stimmung, denn der altmodische Wagen strahlt britischen Charme aus und in Cardiff würde man niemals ein echtes Cab zu Gesicht bekommen. Ein Lächeln zuckt um meine Mundwinkel – mein Gott, ich bin wirklich in Edinburgh. Das Castle, die malerischen Gassen, all das kannte ich bisher nur von Fotos, dabei stammen meine Vorfahren von hier. Jetzt bin ich mittendrin in dieser Stadt, die so lebendig und zugleich so voller Geschichte ist. Hier werde ich studieren, meinen Abschluss machen und … endlich meinen Vater treffen. Nichts und niemand kann mich jetzt noch davon abhalten, die Antworten zu bekommen, die Mum so unbedingt vor mir verbergen wollte. Ich habe mir geschworen, herauszufinden, wer er ist. Und wenn ich ihn gefunden habe, traue ich mich vielleicht sogar, die eine schmerzhafte, aber deshalb nicht weniger dringliche Frage nach dem Warum zu stellen.

Der Fahrer des Cabs nickt mir zu. Leider liegen Taxifahrten nicht im Budget, bis ich einen Job gefunden habe, also laufe ich weiter und ziehe im Gehen mein Handy aus der Manteltasche. Mit einem Knoten im Magen registriere ich drei Anrufe in Abwesenheit von Mum. Ich lasse mich von der Navigationsapp leiten und folge der Market Street.

Hier sieht es aus, als hätte jemand die Zeit um mindestens zwei Jahrhunderte zurückgedreht. Ein süßlich-herzhafter Geruch nach gebratenem Rindfleisch und Ale weht mir von unzähligen Pubs im Souterrain der viktorianischen Häuser entgegen, die den Gehweg säumen. Hinter einem steinernen Torbogen führt eine schmale Treppe den Berg hinauf. Stumm verfluche ich mich dafür, nicht das Taxi genommen zu haben, und zerre den Koffer Stufe für Stufe weiter. Diese Treppe und dann noch zwei weitere Treppen hoch. Mit jedem Schritt werde ich nervöser, bis mir vor Aufregung ganz übel ist. Der Himmel hat sich verdunkelt und die angrenzenden Gebäude ragen hier so hoch, dass ich nur noch einen schmalen Streifen Wolken zwischen den Häusern erahnen kann. Ich schleppe mich und mein Gepäck weiter, vorbei an Geschäften und Cafés und über pittoreske Straßen mit abgewetztem Kopfsteinpflaster. Dann bin ich endlich da.

Ich wische mir erschöpft über die kühle, feuchte Stirn. Zuerst fällt mir das Rosettenfenster über dem gigantischen Eingangsportal ins Auge, dann das schmiedeeiserne Tor, durch das ich den Innenhof erspähen kann. Er ist umschlossen von Gebäuden aus verwittertem Sandstein, die genauso verwunschen wirken wie die Straßenfront. Gerade eilen ein paar Studenten unter den Arkaden hindurch. Ihre Stimmen schwellen an und ab, ohne dass ich etwas verstehe.

Das ist also das ominöse Aconite Institute, dessen Name mir schon so oft im Traum begegnet ist. Im Internet konnte ich kein einziges Bild des Colleges finden und trotzdem, oder vielleicht genau deshalb, zieht es mich geradezu magisch an. Selbst in den beliebtesten Foren für Studienanfänger tauchten abgesehen von zwei gelöschten Beiträgen einer Userin namens goodgirlgonebad keine Informationen zu der Einrichtung auf. Lediglich eine Postadresse für Bewerbungen war zu finden und auch, als ich den Dekan der juristischen Fakultät und seine Assistentin zum Bewerbungsgespräch in Cardiff traf, konnte ich nicht viel aus ihnen herausbekommen. Offenbar ist das Aconite kein gewöhnliches College, sondern eine Art Bildungsinstitut, das mithilfe von Stiftungsgeldern Studierende aus Familien unterstützt, die sich ein Studium ansonsten nicht leisten könnten.

Beim Anblick des Gebäudes klopft mir das Herz bis zum Hals. Schlagartig begreife ich, dass es kein Zurück mehr gibt, sobald ich durch dieses Tor trete: Nach der Einführungswoche beginnt mein Studium. Ich werde täglich mit Menschen zu tun haben. Mit sehr vielen Menschen, nicht nur mit Mum, Steve oder meiner sechs Monate alten Halbschwester. Mit einem Mal wird mir bewusst, dass das einsame Leben auf Flat Holm mich nicht im Geringsten hierauf vorbereitet hat. Ich habe mehr Erfahrung im Umgang mit Möwen, Brandgänsen und Blindschleichen als mit meinesgleichen.

Aber obwohl ich mich sogar beim simplen »Guten Tag, ich bin Runa Davies und soll mich hier melden« am Pförtnerhäuschen verhasple, halte ich schließlich meinen Zimmerschlüssel in den Händen, der genau genommen ein Plastikkärtchen ist, und stehe verloren im Innenhof herum. Der Pförtner hat mir zwar erklärt, wo sich mein neues Zuhause befindet, aber vor Aufregung konnte ich mir die Wegbeschreibung nicht merken. Ich weiß nur noch, dass ich irgendwo eine Treppe erklimmen und dann links abbiegen muss. Aber nirgends sind Stufen zu sehen, dafür führen mehrere Bogengänge in angrenzende Innenhöfe. Während ich verzweifelt versuche, mich für eine Richtung zu entscheiden, bestaune ich den perfekt gestutzten, saftig grünen Rasen in der Mitte des Platzes, der sich leuchtend von den Arkaden abhebt. Am Rand der Grünfläche steckt ein kleines Schild im Boden. Ich senke den Kopf, ignoriere nach Kräften den schwarzen Mistkäfer, der mit überkreuzten Beinen danebenliegt, und lese: Betreten verboten.

Irritiert sehe ich wieder auf – und fahre vor Schreck zusammen. In meinem Sichtfeld ist ein braunes Augenpaar aufgetaucht. Ein junger Mann steht vor mir, knapp einen Kopf größer als ich, mit einer Stupsnase, rotbraunen Haaren und einer Umhängetasche.

»Kann ich dir irgendwie helfen?«

Trotz des eigentümlichen schottischen Akzents klingt seine Stimme freundlich.

»Nicht einmal barfuß?«, frage ich.

»Wie bitte?« Er legt die Stirn in Falten.

»Ich meine den Rasen!« Ich deute auf das Schild. »Darf man den nicht einmal barfuß betreten?«

»Die Professoren gehen dort manchmal mit ihren Schoßhündchen Gassi – allerdings tragen sie dabei Schuhe, soweit ich weiß.«

Ich muss schmunzeln.

Mein Gegenüber streckt mir schulterzuckend die Hand hin. »Du bist neu hier, oder? Ich bin Tristram.«

»Runa«, gebe ich zurück, umschließe zaghaft seine Finger und spüre, wie mir das Blut in den Kopf schießt.

Natürlich muss ich gleich beim ersten Kontakt mit einem gleichaltrigen Exemplar meiner Spezies rot anlaufen. Dabei hat dieser Tristram, auch wenn er sympathisch wirkt, mehr von einem großen Bruder als vom verboten gut aussehenden romantischen Helden einer Geschichte. Ich schüttle mich, um die abwegigen Gedanken zu vertreiben. »Und ja, ich bin gerade erst angekommen. Aus … Wales.«

»Keine Sorge.« Tristram lässt meine Hand wieder los. »Ich weiß noch genau, wie ich mich damals gefühlt habe – ich war total nervös. Suchst du dein Zimmer?«

»Erwischt. Hast du zufällig eine Ahnung, wo ich hinmuss?«

»Auf den Lucusta Quad – das ist einer der quadratischen Innenhöfe, gleich nebenan. Komm, ich zeige dir den Weg.«

Mit diesen Worten schnappt sich Tristram meinen Koffer und läuft entschlossen voraus, wobei er erst auf das Gras zuhält, sich aber in letzter Sekunde umdreht, mir zuzwinkert und dann an der Rasenkante vorbeizieht.

Kopfschüttelnd und mit einem Grinsen im Gesicht folge ich ihm.

Vom Hinfallen und wieder Aufstehen

KYRIL

Agnis Sampson, Doctor Fian alias Iohn Cunningham, Geillis Duncane, George Mott’s wife …

Ich weiß nicht, wie oft ich diese Aufzählung schon gelesen habe – häufig genug, um sie im Schlaf zu zitieren. So, als würden die Worte, die darauf folgen, mir ihr Geheimnis verraten, wenn ich sie nur lange genug anstarre: with innumerable others in that partes. Wer versteckt sich hinter diesen unzähligen anderen Männern und Frauen, vor allem Frauen, die für die wahnhaften Vorstellungen von King James VI. ihr Leben gelassen haben? Wer bist du, Anonima?

Frustriert drehe ich den Kugelschreiber zwischen meinen Fingern. Mein Kopf raucht. Ist es makaber, das zu denken, während man einen Essay über Menschen schreibt, die tatsächlich verbrannt sind?

Ich muss wirklich mal was anderes sehen. Vielleicht sollte ich endlich raus aus der Bibliothek, in den Park, an die frische Luft. Besser noch: Weit weg vom Institut, wo jeder Stein des alten Gemäuers stummer Zeuge der grausamen Geschichte Edinburghs ist.

Die deckenhohen Bücherregale flimmern vor meinen Augen und die winzigen Drucklettern sind kaum mehr als schwarze Schemen. Ein Blick auf die Uhr bestätigt, dass das Abendessen längst überfällig ist. Vielleicht hat Tris Zeit, in den Pub zu gehen. Im Brass Monkey in der Drummond Street gibt es nicht nur die besten Burger, sondern auch gemütliche Ledersofas zum Abschalten. Außerdem sagt mein Mitbewohner für gewöhnlich nicht Nein zu einem Burger. Eigentlich ist es inzwischen so etwas wie ein Ritual geworden, dass wir abends zusammensitzen, um nicht allein zu sein.

Ich packe meinen Notizblock, den Laptop und die Stifte ein, knipse die antike Schreibtischlampe mit dem grünen Glasschirm aus und schnappe mir meine Tasche. Dann stelle ich die Aufsatzsammlung, die zum Präsenzbestand der Bibliothek gehört und nicht ausgeliehen werden darf, zurück ins Regal. Auf der Treppe zum Foyer nehme ich immer zwei Stufen auf einmal. Der Barockteppich auf den weißen Marmorstufen verschwimmt zu einem roten Streifen. Schwungvoll trete ich durch das Portal nach draußen. Beim ersten tiefen Atemzug fällt eine unsichtbare Last von meinen Schultern. Ich habe den ganzen Tag gesessen und es fühlt sich gut an, mich bewegen zu können, wieder frei zu sein, zumindest für ein paar Stunden. So lange, wie es mir gelingt, nicht an den Abgabetermin meines Essays zu denken. Oder bis die Nacht anbricht.

»Kyril!«

Ich drehe mich nach der vertrauten Stimme um und erspähe Tristram in den angrenzenden Arkaden, die zum Lucusta Quad führen. Er hat einen riesigen Rollkoffer im Schlepptau. Und außerdem ein Mädchen mit kinnlangen dunkelbraunen Haaren, das sich staunend umsieht. Wahrscheinlich eine von den Neuen. Ich nicke meinem Freund zu.

Er beschleunigt seine Schritte und bleibt etwas außer Atem vor mir stehen. »Feierabend für heute?«

Ich werfe einen Blick zum rötlichen Abendlicht über den Dächern. »Ja, die Hexen müssen bis morgen warten. Gehen wir in den Pub, oder … hast du schon was vor?«

Tristram sieht leicht empört aus, aber ich weiß, dass er mir meine Anspielung nie übel nehmen würde. »Quatsch. Ich zeige Runa nur noch schnell den Weg zu ihrem Zimmer. Sie ist gerade angekommen.«

Diese Runa steht mit verschränkten Armen neben Tris und der Wind weht ihr die Haare in die Stirn. Trotz der dunklen Rehaugen und ihrer geringen Körpergröße hat sie etwas Entschlossenes, fast Erbittertes an sich. Alles an ihr scheint zu sagen: Leg dich bloß nicht mit mir an. Aber vielleicht überspielt sie nur ihre Nervosität.

Ich gebe mir Mühe, trotzdem höflich zu sein. »Hi«, setze ich an. »Willkommen am Aconite.«

»Darf ich vorstellen: Das ist Kyril, mein Mitbewohner, ebenfalls im dritten Jahr. Er studiert wie ich Geschichte.« Tristram unterstreicht seine Aussage mit einer knappen Geste.

Welch glorreiche Worte.

»Hallo«, erwidert sie knapp und mustert mich. Unter Runas forschendem Blick kriecht eine Gänsehaut über meinen Nacken. Obwohl ausgeschlossen ist, dass sie weiß, wer oder was ich bin, fühle ich mich durchschaut. Ob der entschlossene Ausdruck, den ich vorhin in ihrem Gesicht gesehen habe, verschwinden wird, wenn sie erfährt, warum sie hier ist?

»Ich muss los.« Mit dem Fuß kicke ich ein paar Kieselsteinchen beiseite. »Tris, kommst du jetzt mit oder nicht?«

»Moment.« Er verdreht die Augen und wendet sich an die Neue. »Der Eingang zu den Schlafräumen der Erstsemester ist gleich da drüben. Wie ist deine Zimmernummer?«

»Dreihundertzwölf.«

»Das müsste im dritten Stock sein. Soll ich dir noch helfen, dein Gepäck hochzutragen?«

Runa schüttelt energisch den Kopf. »Danke, das kriege ich schon hin.«

»Okay. Ich hoffe, du lebst dich gut ein. Bis bald!« Er strahlt über das ganze Gesicht.

Runa nickt, nimmt ihren Koffer und zieht ihn mühsam an uns vorbei.

Ich hingegen starre fassungslos zu Tristram. Wann habe ich ihn das letzte Mal so lächeln sehen?

***

Das Brass Monkey ist gut besucht, so wie jeden Freitagabend. Die Burger werden heute wohl etwas länger dauern. Aus den Boxen im stickigen Loungebereich wummert Blinding Lights. Ich stelle mein Ale ab, ziehe den Hoodie mit dem eingestickten Wappen über den Kopf und lehne mich auf dem Sofa zurück.

Tristram lässt sich neben mich auf das Lederpolster fallen. Natürlich trägt er keine Kleidung vom Institut, sondern einen Pullover und darunter das obligatorische Hemd. Er ist noch nie im Hoodie zur Vorlesung erschienen, obwohl es bei den Historikern keinen strengen Dresscode gibt. Normalerweise würde ich Tris jetzt mit seinem Outfit aufziehen und er würde einen blöden Spruch über das The-Killers-Bandshirt oder meine Lieblingsjeans machen, die ihre besten Tage lange hinter sich hat. Aber im Moment ist mir nicht nach Scherzen zumute. Auch nicht Audrey Hepburn alias Holly Golightly und Darth Vader, die uns von den Filmplakaten an der Wand gegenüber anstarren, können mir das Gefühl vermitteln, dass heute ein gewöhnlicher Freitagabend ist. Nicht nach dem, was ich in den Katakomben erlebt habe. Mir läuft die Zeit davon und ich muss mit jemandem darüber reden, jemandem die ganze Geschichte erzählen. Das Naheliegendste wäre wohl, mit meinem Vater zu sprechen, doch ihn will ich nicht sehen. Ich vertraue ihm nicht mehr.

Tristram kann ich sonst alles sagen, möchte ihn aber nicht in Gefahr bringen. Er hat genug eigene Probleme. Was, wenn es eine einfache Erklärung gibt und ich die Sache aufbausche, weil ich völlig überarbeitet bin? Wird man uns vom Institut werfen? Oder Schlimmeres? Ich brauche handfeste Beweise, bevor ich meinen besten Freund mit hineinziehe.

Seufzend greife ich nach meinem Ale. Wir stoßen an. Aber statt zu trinken, drehe ich die kühle, beschlagene Flasche zwischen meinen Fingern.

»Wie findest du Runa?«, fragt Tris unvermittelt und nimmt mir damit die Entscheidung über unser Gesprächsthema ab.

Ich atme erleichtert auf, aber gleich darauf steigt mir eine Hitze ins Gesicht, die hoffentlich nur an der Temperatur im Brass Monkey liegt. »Du meinst die Neue?«

Er nickt und sieht mich erwartungsvoll an.

»Scheint ganz in Ordnung zu sein, wieso?«

»Nur so.« Tris zuckt mit den Schultern, aber sein Grinsen widerspricht der gleichgültigen Geste.

Ich schnaube spöttisch. »Seit wann fühlst du dich denn für die Erstsemester verantwortlich?« Ein neckender Unterton schleicht sich in meine Stimme.

Tristram lacht, beugt sich an mir vorbei und stellt seine Flasche auf der hölzernen Armlehne ab. »Tu ich nicht. Aber wenn sie so verloren auf dem Hof herumstehen, weckt das meinen Beschützerinstinkt.«

»Ach so.« Mit Mühe unterdrücke ich ein Lachen. »In der Einführungswoche wird sie dir bestimmt öfter über den Weg laufen. Du könntest dich natürlich auch mit ihr verabreden – zeig ihr doch das Museum. Dein Wissen über die Jakobitenaufstände im achtzehnten Jahrhundert wird sie bestimmt beeindrucken.«

Tris scheint mir den Spott nicht übel zu nehmen, er betrachtet mich nachdenklich. »Klingt gar nicht so schlecht. Kommst du mit?«

»Seit wann nimmst du mich mit zu deinen Dates?«

»Das wird doch kein Date. Ich will sie bloß näher kennenlernen.«

»Wenn es sein muss, spiele ich von mir aus deinen Wingman.« Ich ziehe einen Mundwinkel hoch. »Und ich freue mich, wenn du dich wieder bereit fühlst für kein Date.«

Sofort weicht das Lächeln aus Tristrams Gesicht. Scheiße. Ich hätte wissen müssen, dass das Thema immer noch tabu ist. Seit Izzy ist gerade mal ein Jahr vergangen.

Er schüttelt den Kopf, greift nach seiner Flasche und trinkt einen großen Schluck. Als er mich danach ansieht, wirkt er entschlossen. »Was soll’s, hinfallen und wieder aufstehen.«

Ich lege ihm eine Hand auf die Schulter und lasse meine Flasche gegen seine klirren. »So ist es. Und jetzt sollten wir das alles vergessen und den Abend genießen, bis die Schicht losgeht, okay?«

Tris lacht, aber er widerspricht nicht.

Paper Hearts

RUNA

Es fühlt sich seltsam an, in einem vermutlich uralten Gebäude mit Zinnen, Türmchen und bröckelnden Mauern ein Zimmer mit einer Chipkarte zu öffnen. Aber das Lesegerät piepst, die LED blinkt grün und als ich etwas Druck ausübe, schwingt die Tür auf.

Der Raum ist spartanisch eingerichtet: Es gibt auf jeder Seite des Zimmers ein Bett, einen Schreibtisch und einen Kleiderschrank. Anatomische Poster zieren die Wand zu meiner Rechten und an der Stirnseite prangt ein riesiges, märchenhaftes Sprossenfenster. Ich stelle den Koffer neben dem Bett ab, gehe hinüber und spähe durch die leicht verstaubte Scheibe. Dabei hole ich mein Medaillon aus dem Ausschnitt meines Pullovers und lasse es verträumt durch meine Finger gleiten. Der Blick auf den Innenhof zeigt – wenig überraschend – gestutzten Rasen, ein paar Denkmäler mit lebensgroßen Statuen und verschnörkelte Zäune. Das Aconite kommt mir vor wie eine Festung. Nichts deutet darauf hin, dass das Gelände von einer pulsierenden Metropole mit einer halben Million Einwohnern umgeben ist.

»Hey!«

Erschrocken drehe ich mich um. Ich verstecke mein Medaillon wieder. Irgendwie ist es mir peinlich, dass etwas so Unscheinbares die Haare darin mein wertvollster Besitz ist.

Im Türrahmen steht eine hochgewachsene junge Frau mit langen schwarzen Haaren. Sie pustet sich eine Strähne aus dem Gesicht und sieht mich über den Rand ihrer Brille hinweg an. »Dann bist du wohl meine neue Mitbewohnerin.«

»Ähm … ich denke schon.« Ich erröte und frage mich, warum ich keine Unterbringung im Einzelzimmer gebucht habe. Weil das deutlich teurer gewesen wäre, natürlich.

Meine Mitbewohnerin grinst. »Na dann, fühl dich wie zu Hause. Ich bin Lali.«

»Runa.« Ich schiebe meine kalten Finger in die Hosentaschen, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, ihr die Hand geben zu müssen. »Studierst du auch Jura?«

Lali geht an mir vorbei und lässt sich auf ihr Bett fallen. »Gott bewahre, das würde ich nicht mal für Geld machen! Ich bin Medizinerin, im dritten Jahr.«

»Das erklärt die Poster.« Ich schiele zur Lehrtafel an ihrer Kleiderschranktür – Das menschliche Herz – und setze mich auf die Kante meiner Matratze.

»Anatomie ist mein Lieblingsfach.« Lali richtet sich wieder auf und lächelt mir aufmunternd zu. »Ich habe sogar eine kleine Sammlung selbst präparierter Insekten in Gießharz – möchtest du sie sehen?«

Ich brauche einen Moment, um ihre Worte zu verarbeiten, die nicht so recht zu ihrem begeisterten Gesichtsausdruck passen wollen. »Vielleicht später.«

»Na gut. Du wirst dich hier bestimmt wohlfühlen. Da drüben ist unser Bad«, sie deutet auf die Tür, die links vom Schlafraum abgeht, »und die Küche teilen wir uns mit den anderen auf dem Flur. Ich hoffe, du lässt kein dreckiges Geschirr rumstehen?«

Ich schüttle den Kopf und mache mir eine gedankliche Notiz, Ordnung zu halten, wenn ich es mir nicht gleich mit meiner Mitbewohnerin verscherzen will. Anscheinend sehe ich dabei ziemlich ernst aus, denn Lali mustert mich mit hochgezogener Augenbraue. »Hey, das war doch nur ein Scherz.« Sie wippt mit den Beinen vor und zurück. »Wie sieht’s aus, soll ich dich ein bisschen herumführen?«

Wahrscheinlich wäre es besser, Lalis Hilfe anzunehmen, aber ich fühle mich, als könnte ich im Stehen einschlafen. »Danke für das Angebot. Können wir das auf morgen verschieben? Ich bin hundemüde.«

Lali winkt ab. »Kein Problem.« Sie scheint kurz zu überlegen. »Was hältst du dann von Pizza? Ich hab noch nichts gegessen, und das Pizza Paradise ist gleich die Straße runter. Wir könnten uns dort was zum Mitnehmen holen.«

***

Eine Dreiviertelstunde später habe ich die wichtigsten Sachen ausgepackt und wir sitzen in der kleinen Küche am Ende des Flurs. Ich habe gerade einmal meine halbe Pizza Margherita verdrückt, als Lali auf ihre Armbanduhr schaut und aufspringt. »Ich muss los, bin noch verabredet!«

Eilig schlucke ich einen Bissen hinunter. »Okay, dann … ähm, viel Spaß!«

»Danke. Mach’s gut!« Lali stopft ihren leeren Pizzakarton in den Mülleimer und stürmt durch die Tür davon.

Einen Moment lang wundere ich mich darüber, dass sie mit mir gegessen hat, obwohl sie verabredet ist. Andererseits bin ich froh, endlich allein zu sein. Ich bin müde und will einfach nur schlafen. Ob das hier besser klappt als zu Hause? Am Aconite dürfte es zumindest keine Babys geben, die sich nachts die Seele aus dem Leib schreien. Trotzdem macht sich ein ungutes Gefühl in mir breit und ich ahne, dass diese Hoffnung vergebens sein könnte. Vielleicht habe ich Glück und Lali kehrt nicht allzu bald zurück. Oder sie übernachtet sogar auswärts. Es ist zwar schon länger her, dass ich geschlafwandelt habe, aber ich will meine Mitbewohnerin nicht gleich in der ersten Nacht vergraulen. Früher oder später wird sie wohl mitbekommen, dass ich ein Freak bin, aber bis dahin kann ich wenigstens ein bisschen Normalität genießen.

Zurück in meinem Zimmer, das mir noch völlig fremd vorkommt, fühle ich mich so einsam wie lange nicht. Eine Sekunde lang überlege ich sogar, Mum anzurufen. Oder ihr wenigstens zu schreiben: Es tut mir leid. Ich hab dich trotzdem lieb. Aber um diese Zeit ist sie meistens damit beschäftigt, Rose ins Bett zu bringen. Tränen steigen mir in die Augen und fast bin ich versucht, sie tatsächlich anzuklingeln, nur, um meine Vermutung bestätigt zu wissen.

Ich schlucke die aufsteigende Wut hinunter, räume die letzten Sachen aus dem Koffer und beziehe mein Bett. Dann putze ich mir die Zähne und greife nach den Tabletten, die verhindern sollen, dass ich irgendwo anders aufwache als in meinem eigenen Zimmer. Aber der Blister ist leer.

Verdammter Mist! Von all den Dingen, die ich hätte vergessen können, sind es ausgerechnet meine Medikamente? Panik steigt in mir auf. Jetzt nicht die Nerven verlieren. Ich werde ja wohl ein paar Nächte ohne die Pillen auskommen. Und überhaupt: Wie oft habe ich Mum insgeheim dafür verflucht, dass sie mich zwingt, Tabletten zu nehmen, deren Liste an Nebenwirkungen so lang ist, dass sie nur in Schriftgröße fünf und auf Bibelpapier gedruckt in die Verpackung passt? Jetzt habe ich die Chance, selbst über mein Leben zu bestimmen – ich muss mich nur trauen.

Ich atme tief durch, schlüpfe in meinen karierten Lieblingsschlafanzug und krieche unter das Laken. Während ich an die kahle, weiße Zimmerdecke starre, stelle ich mir vor, ich könnte jemandem von meinem Tag erzählen. Dad. Was er jetzt wohl gerade macht? Ob er glücklich ist? Vielleicht hatte er einen genauso anstrengenden Tag wie ich.

Ich weiß, dass er irgendwo in dieser Stadt sein muss. Einer unter einer halben Million, aber ich werde alles daransetzen, ihn aufzuspüren. Vielleicht denkt er ja in genau diesem Moment auch an mich. Oder aber er hat mich längst vergessen. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass ich ihm niemals wichtig war, denn sonst wäre er nicht gegangen, ohne mich überhaupt kennenzulernen.

Eines weiß ich jedenfalls: Auf all diese Fragen werde ich nur eine Antwort bekommen, wenn es mir gelingt, ihn zu finden.

Ich seufze und lausche in die Stille. Der Wind rüttelt an den einfachverglasten Fenstern, sonst ist nichts zu hören. Auch aus den anderen Schlafräumen im Gebäude dringen keine Geräusche. Ich hätte nie gedacht, dass es mal so weit kommt, aber in diesem Moment fehlt mir das Meer, das Flat Holm von allen Seiten umgibt. Ich vermisse die Nächte, in denen die raue See stürmisch an die Felsen klatscht und sogar das ewige Gekreische der Möwen.

Gefühlt stundenlang wälze ich mich im Bett hin und her. Nicht nur Nervosität hält mich wach, sondern auch Angst. Wie jeden Abend. Ich will nicht einschlafen. Dabei weiß ich, dass es nichts bringt, dagegen anzukämpfen. Früher oder später wird mein Körper den Schlaf einfordern, wie wenig erholsam er auch sein mag. Irgendwann spüre ich, wie die vertraute Schwere nach mir greift. Und obwohl es absurd ist, bin ich fast erleichtert, mich nicht länger wehren zu müssen.

Edinburgh, September 2023

Rauch. Seit Jahrhunderten verfolgt er mich im Traum. Fast kann ich ihn riechen, genau wie damals, an jenem Tag, der Geschichte schrieb. Für mich und für alle Schattenspringer.

Der Qualm brennt in meinen Augen und kratzt in meiner Kehle. Wie ein Pesthauch legt er sich über die Weiden unterhalb von Castle Hill, die einem lodernden Schlachtfeld gleichen. Und mittendrin sie. Was würde ich dafür geben, mit ihr zu tauschen! Mein Leben ist ohnehin bedeutungslos, wenn die Erde, auf der ich wandle, mit ihrem Blut getränkt ist und ihre Asche mit dem Wind zieht, der das Meer in schaumigen Wogen an die Küste treibt.

Ich suche ihren Blick, denn ich will bis zum Schluss bei ihr sein. Das habe ich ihr stumm versprochen, als ich nicht mehr mit ihr reden durfte. Aber als die blonden Ringellocken, die sie schon am Tag ihrer Geburt hatte, Feuer fangen, wende ich mich ab. Übelkeit wallt in meinem tauben Körper auf und auch die Flammen der Scheiterhaufen wärmen mich nicht. Sie lodern so kalt wie der Hass, der jede Faser meines Körpers durchdringt.

Sie ist nicht die Einzige, die brennt. Und doch ist sie für mich alles, was zählt. Vergeblich, mir einzureden, ich wäre nur einer der unzähligen Schaulustigen, die gekommen sind, um durch das Leid anderer ihr eigenes Elend für einen Moment zu lindern. Ich muss hinsehen, während alle anderen meinesgleichen wegsehen.

Ich sehe meiner Tochter in die Augen, als sie stirbt, und schwöre mir von Neuem, dass meine Rache so unerbittlich sein wird wie die Flammen, die an ihr fressen.

Wie jedes Mal erwache ich mit ungeheuerlichem Blutdurst. Das Warten quält mich, aber meine Zeit ist fast gekommen. Nichts ist verloren, solange ich mich erinnere. Und ich erinnere mich an jeden einzelnen Tag.

Vom Festhalten und Loslassen

RUNA

Ich weiß nicht, wie ich hergekommen bin. Träge laufe ich den Flur entlang, dessen sterile weiße Wände im Halbdunkel leuchten. In der Luft liegt der stechende Geruch von Desinfektionsmittel und darunter schwelt etwas anderes, ekelhaft Süßliches.

Die Brandschutztür schwingt automatisch auf, als ich näher komme. Vor einem der Zimmer halte ich inne. Ich will nicht hineingehen, aber eine unsichtbare Macht zwingt mich dazu, doch die Klinke hinunterzudrücken. Nur ein Traum, sage ich mir, trotzdem breitet sich Gänsehaut über meinen Körper aus.

Als Erstes sehe ich bunte, heliumgefüllte Ballons, die an der Zimmerdecke kleben. Und einen Plüschteddy auf dem Nachttisch, mit einem Halstuch und einer platt geliebten Schnauze. Mein Brustkorb schnürt sich so eng zu, dass mir das Luftholen schwerfällt. Im Bett liegt ein schmächtiger blonder Junge von sieben, vielleicht acht Jahren. Er hat Schatten unter den Augen und eingefallene Wangen. Die Finger sind trotzig zu Fäusten geballt, so, als wollten sie das bisschen Leben festhalten, wie schmerzhaft es auch ist.

Eine fremde Kraft zieht mich näher zu ihm. Ich möchte eine Hand auf seine Stirn legen und tröstend über die blassen Wangen streichen. Zögerlich hebe ich den Arm.

Aber bevor ich den Jungen berühren kann, ertönen Schritte hinter mir. Ich zucke zusammen und drehe mich um. Vor dem Fenster kommt jemand aus dem Schatten auf mich zu. Widerwillig gibt die Dunkelheit die Silhouette eines jungen Mannes preis und als der Schein der Straßenlaterne schräg auf sein Gesicht fällt, erstarre ich. Es ist Kyril, Tristrams Freund. Für einen Moment sieht er mich verwundert an, dann bleibt er stehen.

Was hat er vor, was sucht er hier? Sein Blick, der jetzt entschlossen auf den Jungen gerichtet ist, macht mir Angst und mit einem Mal vergesse ich vollkommen, dass ich träume. Ich stelle mich ihm in den Weg und breite schützend die Hände vor dem Bett aus. »Halt!«

Kyril schiebt sich mühelos an mir vorbei, aber dann dreht er sich noch einmal um. Ruckartig, so als hätte er mich jetzt erst erkannt. »Runa! Was machst du hier? Geh zurück ins Institut.«

Fassungslos halte ich seinen Blick. Einen Moment lang wirkt es, als wollte er noch etwas sagen, aber dann gilt seine Aufmerksamkeit ganz dem Jungen. Kyril legt ihm eine Hand auf die Stirn und lässt sie bis zu seinen Augen gleiten. Der Junge protestiert nicht, aber ich glaube, zu erkennen, dass Kyril zittert. Meine Zähne klappern lautstark aufeinander und mir ist plötzlich eiskalt. Alles in mir schreit danach, aus dem Zimmer und dem Gebäude zu stürmen, in die Nacht hinaus, die mir jetzt vertraut und einladend vorkommt. Aber meine Fußsohlen scheinen im Boden verwurzelt zu sein.

Der Moment vergeht und auch ich finde meine Fassung wieder. Was zur Hölle ist hier gerade passiert? Ich blinzle, bis die ruhende Form des Jungen Kontur annimmt. Kyril hingegen ist verschwunden. Instinktiv lege ich zwei Finger an den Hals des Jungen, um seinen Puls zu fühlen. Während ich lausche, halte ich die Luft an und warte, einen kümmerlichen Funken Hoffnung im Herzen, der gegen jede Vernunft glimmt und bereit ist, alles in mir in Brand zu setzten. Die schreckliche Gewissheit erstickt ihn erbarmungslos.

Nichts. Kein Pochen, kein Klopfen, nur mein eigener rasender Herzschlag. Bevor ich darüber nachdenken kann, was das bedeutet, umfasst jemand meinen Arm. Ich keuche erschrocken auf und will mich aus dem Griff winden, aber die fremde Hand hält mich fest. Dann wird die Welt dunkel und alles dreht sich schwindelerregend schnell.

Schwer atmend reiße ich die Augen auf und ringe in meinem kleinen Studentenzimmer um Luft.

***

So viel zu der Hoffnung, ich würde hier besser schlafen als auf Flat Holm – ich hätte kaum weiter danebenliegen können. Mein Körper fühlt sich an, als wäre ich in der Nacht von einem LKW überrollt worden. Jemand stößt einen gequälten Seufzer aus und erst im Nachhinein wird mir bewusst, dass ich selbst das war.

Bevor ich die Augen richtig geöffnet habe, donnert die Tür des Apartments gegen die Wand und eine gut gelaunte Stimme dringt an mein Ohr. »Guten Morgen, Dornröschen!«

Ich hole tief Luft und eine süße Patschulinote steigt mir in die Nase. Gleich darauf kitzelt mich etwas Weiches an der Wange. Mühsam zwänge ich die Lider auf und sehe direkt in das freundliche Gesicht von Lali, die sich über mich gebeugt hat. »Raus aus den Federn, du Schlafmütze!«

Ich gebe ein undeutliches Grummeln von mir und drehe den Kopf zur Wand. Lali scheint sich wieder vom Bett zu entfernen, denn ich höre knarzende Schritte auf den Dielen.

»Na schön, wenn du die Einführungsveranstaltung verpassen willst – bitte! Die wichtigen Vorlesungen fangen sowieso erst in einer Woche an …«

Sofort bin ich hellwach. Ich richte mich schlagartig auf und bereue es noch im selben Moment, denn in meinem Kopf explodiert ein Feuerwerk. Aber leider nicht die Variante bunter Lichtregen, sondern eher eines aus brutal lauten Chinaböllern. »Wie spät ist es?«, frage ich und reibe mir die Schläfen.

»Fast zehn. Um Viertel nach geht’s los.«

»Mist!«

»Wenn du dich beeilst, können wir uns vorher noch einen Kaffee bei Black Medicine holen.«

Richtiger Kaffee; nicht das hellbraune Gebräu, das Mums alte Filtermaschine ausspuckt. Das klingt überaus verlockend! »Bin gleich so weit.« Ich unterdrücke ein Gähnen. »Hab nur wirklich schlecht geschlafen.« Mühsam wuchte ich meinen schmerzenden Körper aus dem Bett und halte mich an der Fensterbank fest, um nicht zu fallen. Ich durchwühle meinen Schrank, schnappe mir die erstbesten Kleidungsstücke und schlurfe ins Bad.

»Wann bist du eigentlich gestern zurückgekommen?«, rufe ich durch die geschlossene Badezimmertür, während ich mir kaltes Wasser ins Gesicht schöpfe.

»Gar nicht.« Ich kann das Grinsen in Lalis Stimme hören. »Hab bei meiner Freundin übernachtet. Wieso?«

»Nur so«, sage ich und versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie erleichtert ich bin.

Eilig ziehe ich mich an, putze mir die Zähne und entwirre mit den Fingern meine Haare, die leider zu kurz sind, um einen Zopf zu binden. Vor ein paar Wochen reichten sie mir noch bis zur Taille, aber in einem Anflug von Trotz habe ich sie gegen Mums Willen abgeschnitten. Was sich damals befreiend angefühlt hat, aber auch ziemlich unpraktisch ist.

Ich packe ein paar Sachen zusammen, werfe meinen Rucksack über und folge Lali durchs Treppenhaus. Wir überqueren den Aureolus Quad und lassen das Pförtnerhäuschen hinter uns. Am Haupteingang biegt Lali rechts ab. »Das Black Medicine ist gleich da drüben«, erklärt sie, ohne sich umzudrehen. Das Stadtbild ist hier geprägt von windschiefen Häusern mit Ziergiebeln und grün oder blau gestrichenen Schaufensterfronten. »Ich kenne ja deine kulinarischen Vorlieben nicht, also mal abgesehen von Pizza«, sie zwinkert mir zu, »aber es gibt allein in dieser Straße ein italienisches und ein indisches Restaurant, einen Burrito-Imbiss, jede Menge Pubs und den Tesco Supermarkt – und im Umkreis von ein paar Hundert Metern im Prinzip alles, was das Herz begehrt.«

Staunend schüttle ich den Kopf. Obwohl ich nicht glaube, dass ich es mir oft leisten können werde, essen zu gehen, überwältigt mich die schiere Vielfalt des Angebots im Gegensatz zu dem einen Touristenpub auf Flat Holm. Das Studentenleben ist etwas ganz anderes als mein Alltag auf der Insel. »Ich glaube, ich bin im Paradies«, flüstere ich ehrfürchtig und nur halb im Scherz.

Lali hält inne, die Tür zum Black Medicine noch in der Hand, und sieht mich an. Einen Moment lang bilde ich mir ein, der Glanz, der eben noch in ihren Augen lag, sei verschwunden. Aber dann lächelt sie wieder so unbeschwert wie zuvor.

»Könnte man so sagen.« Sie deutet mit dem Kopf in Richtung des Eingangs. »Komm, unsere Koffeindosis und deine Vorlesung warten.«

Ich löse mich aus meiner schläfrigen Starre, nicke und folge ihr in das gemütliche Café. Trotzdem werde ich das Gefühl nicht los, dass sie eigentlich noch etwas anderes sagen wollte.

Mit dem Rücken zur Wand

KYRIL

»Wo willst du hin, Ruben?«

»Für dich immer noch Professor Doktor Leblanc. Und ich gehe nach Hause.«

»Jetzt schon?«

Ruben seufzt ungeduldig. »Ich habe dort noch ein paar Aufsatzsammlungen mit abgelaufener Leihfrist, die vor dem Kongress zurück in die Bibliothek müssen. Aber ich wüsste nicht, seit wann ich mich vor dir rechtfertigen muss.«

»Die Bücher kann ich doch holen.« Gewohnheitsmäßig rutschen mir die Worte heraus. Dabei habe ich am Ende des letzten Jahres die Stelle als Hilfskraft aufgegeben, um mich auf meine Abschlussarbeit, einen Essay über die Hexenprozesse von North Berwick, zu konzentrieren.

»Danke, aber ich bin sicher, dass du Besseres zu tun hast. Deinen Essay schreiben, zum Beispiel.« Mein Dozent lacht und greift nach der Aktentasche, aber ich kaufe ihm die aufgesetzte Leichtigkeit nicht ab. Seine Augen wirken genauso ruhelos wie an fast jedem Tag der letzten Wochen.

Ich lasse meinen Blick durch das zweckmäßig eingerichtete Büro gleiten. Dem Anschein nach sieht alles aus wie immer. Die schlichten weißen Bücherregale reichen bis unter die Decke, auf dem Schreibtisch herrscht ein heilloses Chaos aus Zetteln, Büchern und ungeöffneter Post und die Efeutute auf dem Fensterbrett reckt ihre staubigen Blätter dem Licht der Neonröhren entgegen. Trotzdem wirkt der Raum verändert: Ich bin sicher, dass einige Textsammlungen im Regal fehlen, die Kaffeetasse steht ausnahmsweise nicht auf dem Schreibtisch, sondern gespült am Waschbecken und der Papierkorb ist leer. Außerdem ist der alte Postkartenkalender verschwunden – Stadtansichten Venedigs von 2001. Das kitschige Ding hing schon an der Wand, als ich zum ersten Mal in Rubens Büro war. Warum sollte er es plötzlich abnehmen?

»Und nach dem Wochenende fliegst du zu einem Kongress in Palermo?« Ich schaffe es nicht, den Unglauben in meinem Tonfall zu verbergen.

»Genau. Ich bin sicher, du wirst auch mal ein paar Tage ohne mich auskommen, jetzt, wo deine Abschlussarbeit so gut wie fertig ist. Die Empfehlungsschreiben für dein Stipendium habe ich gestern abgeschickt, bestimmt flattert bald eine Zusage ein. Und wenn nicht, musst du eben tausend Kraniche falten.« Obwohl er lächelt, wirkt Ruben plötzlich erschöpft.

»Und was ist mit Dilan?«

»Sie kommt zurecht.«

Er wendet sich zur Tür, aber ich schiebe mich in letzter Sekunde dazwischen.

Verärgert schüttelt Ruben den Kopf. »Was auch immer es ist, weshalb du hergekommen bist, Kyril, kann das nicht warten, bis ich zurück bin?«

»Nein.« Ich halte seinem flehenden Blick eisern stand. »Ich muss jetzt mit dir reden. Ich war in den Katakomben.«

Für die Dauer eines Wimpernschlags lese ich blanke Furcht in Rubens Gesicht – oder bilde ich mir das nur ein? Im nächsten Moment hat er sich wieder gefangen und greift nach der Klinke. »Lass mich durch«, fordert er.

»Bitte, hör mir zu!«

Rubens Gesicht ist meinem jetzt ganz nah. Mein Professor sieht mich mit Zorn in den Augen an, die Stirn in tiefe Falten gelegt. Ich habe Ruben schon lange nicht mehr richtig lachen sehen und ihn selten so ernst erlebt wie jetzt. Bis vor Kurzem hätte ich gesagt, dass wir in den letzten drei Jahren, seit ich ihn in meiner ersten Geschichtsvorlesung mit unersättlicher Neugier und abstrusen Fragen zur Weißglut getrieben habe, auch so etwas wie Freunde geworden sind. Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher, denn er geht auf Distanz. Irgendetwas stimmt hier nicht.

»Es geht um Octavian«, sage ich. »Ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll und ich –«

Weiter komme ich nicht, denn Ruben legt mir eine Hand auf die Schulter. Seine Finger schließen sich so fest darum, dass es wehtut. Er schluckt und ich bilde mir ein, dass Tränen in seinen Augen stehen.

»Du wirst deinen Weg gehen, Kyril, daran habe ich keinen Zweifel. Du hast den Abschluss so gut wie in der Tasche.« Er holt tief Luft. »Aber bei allem, was heilig ist, tu mir einen Gefallen und nimm diesen Namen nie, nie wieder in den Mund, hörst du?«

Plötzlich ist es stickig im Raum. Mein Puls klopft gegen meine Schläfen, das Atmen fällt mir schwer. Ich nicke und schlucke ein Dutzend unbeantwortete Fragen hinunter, obwohl alles in mir protestiert. Wie gebannt sehe ich in Rubens nass glänzende Augen, eine unendliche Sekunde lang. Dann senkt er den Kopf, zwängt sich an mir vorbei und geht ohne ein weiteres Wort.

Erst als die Tür lautstark ins Schloss fällt, erwache ich aus meiner Starre und begreife, was geschehen ist. Ich versuche, mich zu beruhigen und mir einzureden, alles sei in Ordnung. Schließlich kann ich genauso gut mit Ruben sprechen, wenn er aus Palermo zurückgekehrt ist.

Aber der Knoten in meinem Magen straft diesen Optimismus Lügen und zieht sich immer fester zusammen, je länger ich auf die geschlossene Bürotür starre.

Freunde und Feinde

RUNA

Obwohl ich auf dem Weg zum Hörsaal einen großen Caffè Mocha getrunken habe und die harten Klappsitze alles andere als bequem sind, fällt es mir schwer, die Augen offen zu halten. Ein weißhaariger Professor in einer dunkelroten Robe begrüßt die Neuankömmlinge in dem heillos überfüllten Saal. Auf jedem der Plätze liegen Flyer mit einem Plan des Institutsgeländes und ich stecke dankbar einen ein, um mich besser zurechtfinden zu können. Es folgt eine Mischung aus Brandschutzeinweisung, Verbotspredigt und Lobrede auf die traditionsreiche Geschichte des Aconite, die bis ins Spätmittelalter zurückreicht. Auch die Regeln scheinen sich seither kaum geändert zu haben: Um zehn Uhr ist Nachtruhe, Alkohol ist abgesehen von formellen Anlässen verboten, Zigaretten und sonstige Drogen ebenfalls; genau wie Übernachtungsbesuch und laute Musik. Außerdem ist auf dem gesamten Gelände das Radfahren, Inlineskaten und Reiten – wer käme denn bitte auf so eine Idee? – untersagt.

Immerhin wird mir das alles nicht schwerfallen, denn Alkohol schmeckt mir nicht, ich habe in meinem ganzen Leben noch keine einzige Zigarette geraucht und fühle mich auf Partys meistens fehl am Platz. Ganz zu schweigen davon, dass Übernachtungsbesuch in meinem Fall eine völlig abwegige Idee wäre.

Trotzdem atme ich erleichtert auf, als sich der Vortrag nach anderthalb Stunden dem Ende zuneigt. Die anderen klopfen auf die Holztische und strömen zum Ausgang. Ich warte, bis sich der Saal etwas geleert hat, dann folge ich der Menge. Unschlüssig sehe ich mich auf dem Flur um, da blitzt ein vertrauter rotbrauner Haarschopf inmitten der Studierenden auf. Ich drehe mich zur Seite und winke Tristram zu. Lali hat sich bei ihm eingehakt und beschleunigt jetzt ihre Schritte. Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen, denn ihre ansteckende Unbeschwertheit hat mir in den letzten Stunden fast ein bisschen gefehlt.

Da bemerke ich, dass auch Kyril den beiden folgt. Unsere Blicke kreuzen sich. Seiner wirkt selbstgefällig, so als gäbe es irgendetwas, für das ich ihn bewundern sollte – die ausgeprägten Wangenknochen, die von einem Leberfleck auf der linken Seite noch betont werden, die eindringlichen Augen und die nur etwas zu markante Nase. Oder vielleicht seine athletische Statur. Aber um mich zu beeindrucken, müsste sein Gehirn schon genauso gut trainiert sein wie der Rest seines Körpers.

Gerade als ich mich frage, warum er mich so anstarrt, sieht er weg.

»Hey, wie war die erste Vorlesung?« Lalis Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Sie hat sich von Tristram gelöst und umarmt mich flüchtig.

»Möchtest du die Wahrheit hören oder die höfliche Version?«

Tristram lacht. »Ich glaube, das ist uns schon Antwort genug.«

Die Stimmung ist gelöst und mir kommt ebenfalls ein leises Schnauben über die Lippen. Nur Kyril steht mit verschränkten Armen da. »Vielleicht solltest du das Ganze ein bisschen ernster nehmen. Die ersten Wochen sind besonders hart, wenn man nicht weiß, was man tut.«

Einen Moment lang sehe ich perplex in seine zornigen grünen Augen. Bin ich ihm irgendwie auf den Schlips getreten? Schlagartig kehren die Bilder aus meinem Traum zurück und fast kommt es mir vor, als wäre ich wirklich in dem Krankenhaus gewesen. Genau wie Kyril. Aber das kann nicht sein.

Ich merke, dass ich ihn angaffe, und drehe hastig den Kopf weg.

»Hast du später noch Termine?«, fragt Lali.

»Gute Frage. Um ehrlich zu sein, war ich zu müde, um wirklich zuzuhören, aber ich habe irgendwas von einer Freshers’ Fair aufgeschnappt …«

Lali schlendert weiter und ich folge ihr. »Das ist die Messe für Neuankömmlinge, aber die ist erst morgen. Wir wollten Mittagessen gehen, warum kommst du nicht mit? Für den Nachmittag fällt uns bestimmt auch noch was ein.«

»Wie wär’s denn mit dem Royal Museum?« Tristram schließt zu uns auf und sieht mich hoffnungsvoll an. »Warst du schon mal da?«

»Nein, ich bin zum ersten Mal in Edinburgh.«

»Na, dann wird es höchste Zeit!«

***

Wir essen im Speisesaal gegenüber von dem Gebäudeflügel, in dem sich die Schlafräume befinden. Aber wir könnten genauso gut in einem Fünf-Sterne-Restaurant sitzen: Von der holzvertäfelten Decke hängen ein Dutzend Kronleuchter, üppige Bouquets aus Lilien und Rosen stehen auf den Tischen und verströmen einen schweren, süßen Duft. Die Wände sind mit Gemälden behangen, die irgendwelche wichtigen Männer mit ein und demselben verbitterten Gesichtsausdruck zeigen.

»Creepy, was?«, meint Lali.

»Kann man wohl sagen. Ich meine, wer steht schon auf Männer in Rüschenhemden und gepuderten Perücken?«

Meine Mitbewohnerin schmunzelt und auch Tristrams Mundwinkel zucken. Nur Kyril scheint das nicht witzig zu finden. Natürlich nicht. Anscheinend kann ich, was ihn angeht, sowieso nur das Falsche sagen.