Spunk - Michael Roes - E-Book

Spunk E-Book

Michael Roes

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Beschreibung

1978/79: Nach seiner Ausbildung zum Dachdecker entflieht Gabriel der gewalttätigen Enge seines rheinischen Elternhauses, indem er – gemäß alter Handwerkertradition – auf Wanderschaft geht. Bewehrt mit Stenz und Charlie, entdeckt er das Land seiner Herkunft in all seiner Schönheit und Zerrissenheit. Sein treuer Begleiter: ein Wanderbuch, dem er nicht nur seine Stationen und Bekanntschaften, sondern auch seine tiefsten Gedanken anvertraut. Sie drehen sich um Freiheit, Sexualität, Gesellschaft, Familie und die Macht der Worte. Als Gabriel in West-Berlin strandet und in einer Kreuzberger Hausbesetzer-WG den Punk Pille kennenlernt, erfährt er zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl inniger Freundschaft. Oder ist es Liebe? Für ein paar Wochen scheint es, als wäre er angekommen. Doch die Walz ist noch nicht vorbei – und die Suche nach einer eigenen Sprache gerade erst am Anfang … Nur wenigen Schreibenden gelingt es so eindrücklich, Epochen, Orte und Kulturen mit den Mitteln der Sprache zu vermessen wie Michael Roes. Sein neues Buch, das er ironisch als »Heimatroman« bezeichnet, ist eine literarische Walz von Wertherbruch in NRW bis nach Taizé in Frankreich. Mit jedem Kilometer, den sich der Ich-Erzähler weiter von "Vaddern" und "Muddern" entfernt, werden seine Gedanken spielerischer und seine Lust, die Grenzen der eigenen Herkunft zu sprengen, größer. So skizziert der Text nicht nur eine geografische Reise, sondern auch ein Entkommen aus dem tristen Schweigen der westdeutschen Vorwende-Provinz in die gelöste Rhetorik eines freien Geistes. Am Wegesrand: die Alpen, das Meer und eben jener lebensverändernde Abstecher in die vergangene Parallelwelt der Aussteiger-Insel West-Berlin, deren anarchistischem Geist "Spunk" ein Denkmal setzt.

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SPUNK

Verlagsinformation

1982: Nach seiner Ausbildung zum Dachdecker entflieht Gabriel der gewalttätigen Enge seines rheinischen Elternhauses, indem er – gemäß alter Handwerkertradition – auf Wanderschaft geht. Bewehrt mit Stenz und Charlie, entdeckt er das Land seiner Herkunft in all seiner Schönheit und Zerrissenheit. Sein treuer Begleiter: ein Wanderbuch, dem er nicht nur seine Stationen und Bekanntschaften, sondern auch seine tiefsten Gedanken anvertraut. Sie drehen sich um Freiheit, Sexualität, Gesellschaft, Familie und die Macht der Worte. Als Gabriel in Westberlin strandet und in einer Kreuzberger Hausbesetzer-WG den Punk Pille kennenlernt, erfährt er zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl inniger Freundschaft. Oder ist es Liebe? Für ein paar Wochen scheint es, als wäre er angekommen. Doch die Walz ist noch nicht vorbei – und die Suche nach einer eigenen Sprache gerade erst am Anfang …

Nur wenigen Schreibenden gelingt es so eindrücklich, Epochen, Orte und Kulturen mit den Mitteln der Sprache zu vermessen wie Michael Roes. Sein neues Buch, das er ironisch als »Heimatroman« bezeichnet, ist eine literarische Walz von Wertherbruch in NRW bis nach Taizé in Frankreich. Mit jedem Kilometer, den sich der Ich-Erzähler weiter von „Vaddern“ und „Muddern“ entfernt, werden seine Gedanken spielerischer und seine Lust, die Grenzen der eigenen Herkunft zu sprengen, größer. So skizziert der Text nicht nur eine geografische Reise, sondern auch ein Entkommen aus dem tristen Schweigen der westdeutschen Vorwende-Provinz in die gelöste Rhetorik eines freien Geistes. Am Wegesrand: die Alpen, das Meer und eben jener lebensverändernde Abstecher in die vergangene Parallelwelt der Aussteiger-Insel Westberlin, deren anarchistischem Geist „Spunk“ ein Denkmal setzt.

Michael Roes, geboren 1960 in Rhede / Westfalen, ist Autor und Filmemacher. Er verfasste zahlreiche Romane, Theaterstücke und Gedichte, schuf mehrere filmische Essays und dokumentarische Spielfilme. Sein Roman „Die Laute“ war 2012 für den Deutschen Buchpreis nominiert, 2020 erhielt er den Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis für sein literarisches Gesamtwerk. Zuletzt erschien im Albino Verlag sein Roman „Der Traum vom Fremden“. Michael Roes lebt in Berlin.

SPUNK, der, maskulin, landschaftlich auch Sprunk oder Spulk, eine plattdeutsche Substantivbildung zu spunken, derb für flunzen, spratzen oder kreiern.

Seit dem 17. Jahrhundert verbreitet, doch bis heute nur der vulgären Kinder- und Jugendsprache zugehörig, ohne – bis auf einige wenige Dialektwerke – in die Hoch- und Literatursprache Einzug gehalten zu haben.

Erste Erwähnung bei Adelung und Campe (DENN ZANK UN DENN TWIIFL, 1653):

Wat förn bludegn Man is dat? Kann vatelln, so wi he ütsüd, denn nejsten Schtand van denn Spunk.

In Rädleins Macbeth-Übersetzung ins Niederrheinische (1711) steht Spunk für Schlippe:

Wat heje ödon, Süsta?

Puggn ümmebrängen.

Süsta, wat ej?

On Wiff van nen Matrosn haf Kaschtanis

Up de Spunk

Un fratt, un fratt, un fratt.

Rädlein bemerkt, daß man hier (Xanten, Kleve) zwar gerne Schlippe oder Spratz sagt, aber Spunk der derben Redeweise von Shakespeares Hexen angemessener sei.

Bei Voss (1821) findet sich im Drama DIE JUNGFRAU LUISE der nächste Beleg:

Aber die Jungfrau eilte und mühte sich hustend am Feuer, des Vaters Spunk anzuzünden, welcher dem Alten schon während ihrer heftigen Philippika erloschen, reicht ihn dem Greise nun fauchend und spuckend und macht ein krauses Gesicht.

In Verbindung mit anderen Ausbrüchen aus dem Munde wandert der Begriff nordwärts und findet sich in recht freiem Gebrauch bei Jörn Uhl (JUGENDERINNERUNGEN EINES ALTEN MANNES, 1929):

Pervonte kriecht im Disteldickicht umher und flucht so ziemlich bald sein Bündel dürren Spunk zusammen.

Bei Jenssen schließlich (Schleswig 1907) im unveröffentlichten Nachlaß seines Prosafragments DIE SCHEITEL DER KÖNIGINNEN:

… daß die beiden edelsten Dinge, die es auf der ganzen Welt gibt, im Zank der beiden gekrönten Häupter sich in Spunk auflösten.

In Adams expressionistischem Poem LÜLLE, PRÜTT UND SPÖKSKEN (1921) ein letzter Verweis:

Er rotzte lauter Rosensyrup / und spuckte den zerbißnen Spunk / dem Pomeranzenblüthengott / ins fleischbezopfte Antlitz.

Komposita: SPUNKMAUKEN, regional für Wanderschuhe; milit. für Geschützmunition.

SPUNKKLÖTEN, (nur bei Rädlein 1721 nachweisbar) für ein prallgefülltes, zum Ergusse drängendes männliches Drüsengewebe.

MICHAEL ROES

SPUNK

ROMAN

1. Auflage

© 2023 Albino Verlag, Berlin

Salzgeber Buchverlage GmbH

Prinzessinnenstraße 29, 10969 Berlin

[email protected]

Umschlaggestaltung: Johann Peter Werth unter Verwendung eines Fotos von Benjamin Reding (Filmstill aus dem Kinofilm «Für den unbekannten Hund», Lukas Steltner)

Satz: Robert Schulze

Printed in the Czech Republic

ISBN 978-3-86300-365-4

Mehr über unsere Bücher und Autor*innen:

www.albino-verlag.de

INHALT

Schnotterbelle

Pillemann

Klöten

Kunte

Schmacht

Wichsgriffel

Schweißmauken

Döskopp

Kackstaaken

Spökenkieker

Matte

Lülle

Töle

Prütt

Bullemann

Bangebuchse

Röttematött

Schmackes

Pelle

Muffe

Ömmes

Plörre

Walz-Glossar

SCHNOTTERBELLE

Einen besseren Ort gibt es nicht.

Als den auf der Straße.

Unterwegs.

Und kein besseres Alter als achtzehn Jahre.

Nur, was das bedeutet, mich drei Jahre lang nicht mehr zu Hause blicken lassen zu dürfen, das kann ich mir noch nicht richtig vorstellen.

Egal. Erst mal weg. Sollen sie mich übers Ortsschild werfen. Vor dem 4. Juli 1981 wird mich hier in Wertherbruch kein Schwein mehr zu Gesicht bekommen. Hallo, Welt, ich komme!

Altgeselle Manfred und der neue Lehrling, Edgar, bringen mich noch bis zur Rheder Chaussee. Zu Edgar weiß ich nicht viel zu sagen, er ist erst seit einem halben Jahr bei Vadder in der Lehre, ein Schmachtfetzen, ein Spangerlangerhansel, und nicht ganz schwindelfrei, was ihn natürlich gerade für den Beruf eines Dachdeckers qualifiziert. Wenn er es bei Vadder aushält, wird er bei meiner Rückkehr wohl selbst Geselle sein.

Manfred hingegen war immer da. Er ist ein wenig älter als Vadder und hat nie in einem anderen Betrieb gearbeitet. Er ist wohl entfernt mit uns verwandt, wie genau, hat mir aber keiner gesagt. Doch ich hab auch nicht wirklich nachgebohrt. Was ihm an Grütze fehlt, macht er durch Freundlichkeit wett. Er ist wahrscheinlich der einzige Mensch, der trotz aller Schikanen und Sticheleien, die er tagtäglich im Betrieb über sich ergehen lassen muß, Vadder wirklich mag. Zumindest habe ich ihn nie ein schlechtes Wort über Vadder verlieren hören.

Anstatt mir, wie es sich eigentlich gehört, mit seinem Zimmermannshammer einen Nagel durchs linke Ohrläppchen zu jagen (links cool, rechts schwul), ist er vor meiner Fremdschreibung mit mir zum Juwelier Junghans in der Osterstraße gelatscht und hat es dort schießen lassen und den goldenen Ring aus eigener Tasche geblecht. Nur die Taschenuhr ist von Vadder, ein altes Erbstück. Sie geht jeden Tag genau zweieinhalb Minuten nach. Sonst hätte er sie mir vielleicht gar nicht mitgegeben. Bin mir nicht mal sicher, ob er selbst überhaupt je auf der Walz war, nach dem Krieg und so. Nie erzählt Vadder etwas über sich. Und ihn nach irgendwas zu fragen, wagt nicht mal Klaus, der einzige, der überhaupt mal das Maul gegenüber dem Alten aufkriegt. Aber Klaus hat sich ja schon vor einigen Jahren verdrückt, zur Polizei, wo man sich schon Sechzehnjährige vorknöpft, um sie zu richtigen Bullen zu kneten. Nur an jedem zweiten Wochenende ist er noch in Wertherbruch, ansonsten haust er in seiner Kaserne in Selm-Bork. Ist Klaus da, reißt Vadder sich ein bißchen zusammen, weil er inzwischen wohl Schiß vor seinem Ältesten hat. Doch ohne Klaus ist er so unberechenbar wie eh und je. Mechthild ist die nächste, die ein Au-pair-Jahr in der Schweiz nutzt, um abzuhauen und sich hinterm Matterhorn zu verkriechen. Ich bin natürlich wieder mal der letzte, der geht. Ob Vadder wirklich glaubt, daß ich in dieses Kuhkaff zurückkomme? Eigentlich hätte Klaus ja den Betrieb übernehmen sollen, ich hatte doch angeblich immer zwei linke Hände und allenfalls zum Friseur getaugt. Aber nachdem Klaus diesen eleganten Ausweg zu den Schupos gefunden hat, läßt Vadder mir keine Wahl, ich muß nach der Mittleren Reife von der Schule ab und bei ihm meine Lehre anfangen.

Mittlere Reife, ein Begriff aus einer Zeit, wo man vielleicht wirklich noch fürs Leben gepaukt hat. Ich war gut genug, um aufs Gymnasium zu wechseln und auch noch die höhere Reife zu erreichen. Aber das kam gar nicht in Frage, die Jugend hält sich auch ohne Abitur schon für klüger als die eigenen Eltern, diese Überheblichkeit muß man ihr beizeiten austreiben. Gibt es denn etwas Ehrbareres als das solide Handwerk? Man schaue sich doch nur mal dieses langmähnige und filzbärtige Studentenpack an, das man jeden Abend in den Nachrichten zu sehen kriegt! Statt in den Hörsälen treiben sie sich auf der Straße rum, brüllen Revoluzzerparolen und prügeln sich mit der Polente, und diese Typen sollen später mal unsere Kinder unterrichten oder auf der Richterbank sitzen?

Eigentlich sollte ich doch froh sein, mich endlich fremd zu machen. Aber es ist doch eher eine traurige Chose, dieser Aufbruch mit Manfred und Edgar im Troß, wo doch eigentlich eine ganze Gesellenschar mich bis zum Ortsschild und darüber hinaus begleiten sollte. Wie sollen diese beiden trübsinnigen Schlackse mich auffangen? Also verzichte ich darauf, über das Schild zu klettern und in ihre schmächtigen Arme zu hopsen und belasse es bei einer linkischen Umarmung und einem knappen Tschüß, wir sehen uns in drei Jahren wieder!

Manfreds Schnotterbelle hängt mir noch eine Weile am Kinn, und ich laß sie da erst mal hängen. Eigentlich ein ziemlich schönes Wort für ein so unappetitliches Erzeugnis, aber es gehört zu Manfred wie seine unerschütterliche Freundlichkeit. Schnotterbelle, klingt doch irgendwie nach zarter Elfe oder arglosem Schmetterling, ist aber nur ein ekliger Rotzfaden: He hätt de Schnotterbelle bes up’t daarde Spunkloch hangen. Manchmal schimpft man auch uns freche Bengel so (Rotznasen). Hat also wohl auch mit schnoddrig zu tun: rotzig, lässig, herausfordernd, mit oder ohne geputzten Zinken. Das mögen die Erwachsenen eben nicht, daß man den Rotzfaden da einfach hängen läßt.

Neben der sanften Schnotterbelle gibt es in den unergründlichen Nasenhöhlen auch noch den groben, ungehobelten Popel. Aber in unserer Sippschaft sprechen wir nicht von Popeln, sondern vom Bumang, den es nur in der Einzahl gibt. Es muß ein reines Familienwort sein, da ich es außerhalb unserer vier Wände noch nie gehört hab. Der salzige und ein wenig dreckige Geschmack kann einen glatt süchtig machen. Eklig sind immer nur die Popel der anderen. Falls man doch mal bei dieser Leidenschaft erwischt wird, entsorgt man das klebrige Ding unter der nächsten Tischplatte oder Sessellehne oder schnippt es irgendwo in die Botanik.

Ach, was haben wir gegrölt und uns auf die Schenkel geklopft, als Monsieur Hulot in Trafic an einer roten Ampel steht und nichts anderes zu tun hat, als seinen Mitwartenden beim Popeln zuzuschauen. Vom Arbeiter in seiner Ente bis zum Abgeordneten auf der Rückbank seiner Limousine glauben sich alle offenbar unbeobachtet und geben sich ganz schamlos dieser Unart hin. Selbst Vadder, dem Oberpopler unserer Mischpoke, der nun selbst im Politbüro der SBZ jeden Preis in Humorlosigkeit gewinnen würde, laufen die Lachtränen über die stoppeligen Wangen.

Als er merkt, wie lächerlich er sich gerade macht, springt er aus dem Sessel, murmelt: Was für eine Volksverdummung! und schaltet die Glotze aus. Niemand wagt, sich zu beschweren, und Mudder ist die erste, die sich in die Küche verzieht.

Mudder ist übrigens die einzige, die ein Taschentuch benutzt, um sich die Nase zu putzen. Vielleicht hat das mit ihrer protestantischen Erziehung zu tun, vielleicht hat sie auch nur die Familienpopel an allen unmöglichen Stellen satt. Diese Anständigkeit paßt nicht so recht ins katholische Milieu von Wertherbruch. Und ich brauche ziemlich lange, bis mir klar wird, was das für sie bedeutet, als Protestantin auf diesen katholischen Misthaufen verfrachtet worden zu sein. Aber Klaus war bereits unterwegs, wie wir neugierige Gören schon früh aus dem Vergleich von Geburts- und Heiratsdaten herausgefunden hatten, also blieb den Alten keine Wahl. Und wann immer es Mord und Totschlag im Hause Hermann Dunkers gab, haben Mechthild und ich insgeheim Klaus die Schuld dafür gegeben. Wie sehr habe ich immer jene Klassenkameraden beneidet, deren Mütter Witwen waren!

Ansonsten spielten körperliche Angelegenheiten eigentlich nie eine große Rolle. Womöglich konnten die beiden sich nicht einigen und ließen uns deshalb in Ruhe. Ob wir nun genußvoll popelten, die Nägel abkauten und nur alle zwei Wochen mal badeten oder erst die Socken wechselten, wenn wir uns schon selbst nicht mehr riechen konnten, das war unsere Sache. Am Ende sind es die Freunde oder Kumpel, die uns zu einem Mindestmaß an Sauberkeit erziehen, will man nicht immer der letzte sein, der in die Völker- oder Fußballmannschaft gewählt wird.

Einmal hatte Mechthild auf dem Schulhof einige Andeutungen aufgeschnappt, daß Babys wohl doch nicht in Krankenhäusern, sondern in einer undurchsichtigen Operation von Müttern und Vätern produziert würden. Ich erkläre ihr den undurchsichtigen Rest, soweit ich ihn selbst schon kapiert hab. Ich bin zwar nur ein Jahr älter als mein lästiges Schwesterlein, aber natürlich zählt ein Kinderjahr mehr als das eines Erwachsenen, und mich hat wiederum Klaus, der ein Jahr älter ist als ich, aufgeklärt, ja, nicht nur aufgeklärt, sondern auch gleich in die Praxis eingeführt. Eines Nachts kriecht er einfach ungefragt zu mir ins Bett, drückt sich schweigend an mich und versucht, mir seinen steifen Pimmel in die Poritze zu schieben. Trotz aller Verrenkungen ist sein Pillemann aber noch zu klein um mir wirklich weh zu tun. Schon klar, daß man so unter keinen Umständen schwanger wird.

Mechthild hingegen hat nichts Besseres zu tun, als mit ihrem neuen Wissen gleich bei Vadder hausieren zu gehen. Damals war sie noch Papas Liebling. Doch diesmal hört er ihr Geplapper erst gar nicht bis zu Ende an, sondern versohlt mir nach Strich und Faden den nackten Hintern und brüllt, wir hätten die Aufklärung seiner Blagen gefälligst ihm zu überlassen! Als hätten Vadder oder Mudder in unserer Gegenwart je ein Wort über Sex verloren!

Auch die Anatomielehrbücher, die Mudder aus ihrer Schwesternausbildung aufbewahrt hat, dicke, teure Schwarten, helfen uns nicht gerade weiter. Glied und Hoden ohne Haut zu sehen, ist zwar irgendwie aufregend, es gibt in der Mitte des Lehrbuchs diese Folien, die übereinander gelegt einen nackten Mann ergeben, dem man dann mit jedem Umblättern zunächst seine Haut, dann sein Fett, seine Sehnen und Muskeln, sein Nervenund Adernnetz abziehen kann, bis nur noch die Knochen bleiben und wir uns gruselnd fragen: Das ist also der Mensch? – bis Klaus die erste Bravo ins Haus bringt und die, wie sich nun herausstellt, doch ziemlich beträchtlichen Wissenslücken hinsichtlich des Gebrauchs unserer Geschlechtsorgane endlich von Doktor Sommer gefüllt werden.

Andererseits bin ich mir, acht Jahre später und um einige Erfahrungen reicher, noch immer nicht ganz sicher, alles über den Sex begriffen zu haben, von der Liebe ganz zu schweigen. Das, was meine Alten zusammenbleiben läßt, kann ja wohl keine Liebe sein. Und wie sie uns Gören fabriziert haben, will ich mir erst gar nicht ausmalen. Der Bravo-Pillekasten läßt da doch noch viel, vielleicht sogar das Ausschlaggebende offen. Und die Eltern selbst kann man zu diesem Punkt ja schlecht befragen.

Was soll’s, das liegt nun alles hinter mir. Es ist Montag, der 3. Juli, die Sonne scheint, mir ist es fast schon zu warm für Kreuzspanne und Wallmusch, dabei ist es noch nicht mal zehn. Aber was ich anhab, muß ich nicht tragen. Und der Rest, Unterwäsche zum Wechseln, eine Zahnbürste, Schuhputzzeug, mein Wanderbuch, eine Landkarte, meinen Zimmermannshammer und Wegzehrung für den ersten Tag, paßt locker in meinen Charlie. Wenn es gegen Mittag zu heiß werden sollte, hau ich mich einfach unter den nächsten Baum. Noch kommt mir diese Freiheit ganz ungewohnt vor, und ich muß mich zwingen, mir allein schon den Gedanken daran zu erlauben: Ich bin frei frei frei! schrei ich hinaus, noch ganz ohne wirkliche Überzeugung: Ich kann gehen, wohin ich will! (Nur nicht zurück nach Wertherbruch in den nächsten drei Jahren. Aber was hätte ich dort auch verloren!) Ich kann rasten, wann und wo ich will! Ich kann mir Arbeit suchen, kann es aber auch lassen und herumvagabundieren, bis der Schmacht oder Väterchen Frost mich dazu zwingen! Kann mir einen Tippelbruder suchen, aber auch alleine wandern, kann mich von Wildfremden auflesen und mitnehmen lassen, solange ich nur nicht dafür bezahlen muß, kann unterwegs laut schallern, vor mich hinbrabbeln oder auch tagelang das Maul halten, wenn mir danach ist!

In den letzten Monaten hab ich oft versucht, mir vorzustellen, wie das ist, auf der Walz sein, doch waberte vor allem Nebel in der Rübe. Aber selbst dieser trübe Dunst reichte, es bis heute, bis zum Tag meines Aufbruchs, daheim auszuhalten und nicht noch eine Dummheit zu begehen. Wenn Vadder es mir am Ende dann doch nicht erlaubt hätte, weiß ich nicht, was passiert wär. Es hätte wohl Tote gegeben. Aber was hätte er schon einwenden können? Ohne Walz kein Meister, hieß es doch immer. Ohne Walz kein Meister! war einer von Vadders Standardsprüchen, auch wenn er damit nur sagen wollte, ohne Fleiß kein Preis, oder so. Und selbst so ein unberechenbarer Knacker wie Vadder kann sein alltägliches Gebrabbel nicht von heute auf morgen einfach ins Gegenteil verkehren.

Der Kirchturm von St. Gudula in Rhede taucht auf. Das Land ist flach oder, wie man hier sagt, platt, platt wie ein Pavianarsch, platt wie die Sprache, die uns hier aus dem Maul fällt, platt wie ich und meine Kumpel am letzten Tag der Kirmes oder die Schläuche meiner Fietse mit Heike auf der Stange und Christian auf dem Gepäckträger. Meer und Eis wechseln sich ab. Immer wieder konnte man ja, ohne sich die Käsequanten naß zu machen, bis nach England rüberspazieren. Und wäre die Erde nicht rund, könnte man selbst nach zig Tagesmärschen noch den Kirchturm von St. Gudula sehen.

Die ersten sechs Kilometer habe ich hinter mich gebracht, die ersten Blasen bilden sich, die neuen Schuhe sind natürlich noch nicht eingelatscht. Früher mußte ich einfach die Klamotten und die Treter von Klaus nachtragen, sobald er herausgewachsen war, der typische Nachkriegsgeiz jener Generation, die ihre Kindheit im Krieg verbracht hat, das Sammeln-, Hortenmüssen, das Nichtwegwerfenkönnen ist ihnen in Fleisch und Blut übergegangen. Nur an Angebereien wie die chromglänzende Familienkarre hat Vadder nie gespart. Aber fettarme Milch mußte es sein, weil sie zehn Pfennig billiger war als Vollmilch und wir drei unersättlichen Bälger unseren armen Alten ja ohnehin schon die Haare vom Kopf gefressen haben.

Ich bin nie gerne zu Fuß gegangen. Aber trotz der Blasen will ich noch keine Rast machen und erst recht nicht den Daumen rausstrecken und ein Auto anhalten. Mehr noch als das lange Latschen habe ich das Autofahren gehaßt. Außerdem will ich mir von niemandem dieses Gefühl der Freiheit totlabern lassen.

Aber meine Fietse vermisse ich bereits jetzt. Bin quasi mit ihr auf die Welt gekommen. Konnte, wie alle hier an der Grenze, ja eher Radfahren als Laufen. Es ist fast wie fliegen, wie schwerelos sein. Meine Fietse war mir ein so unersetzlicher Kumpan wie einem Cowboy sein Pferd.

Vermiß ich sonst noch was von dem Zeug, das ich zurücklassen mußte? Mir fällt nichts Wichtiges ein. Aber nun bin ich auch gerade mal erst einen halben Tag unterwegs. Werde ja sehen, wie es mir in einem halben Jahr geht, im Januar, bei minus sieben Grad und Schnee und Eis auf der Piste.

Ist mir bisher noch gar nicht aufgefallen, wie ungastlich diese Gegend ist. Bis Gemen findet sich keine einzige Herberge. Und selbst dort werde ich eher mit Zurückhaltung aufgenommen.

Die Wasserburg muß man wohl eher ein Schloß nennen. Irgendwann im Lauf ihrer Geschichte sind die Wehranlagen durch Prunkräume ersetzt worden. Hier ist der Schloßkaplan der Chef, ich sage mein Sprüchlein auf, auch wenn meine Kluft ihm nicht fremd ist, zögert er, mir für die Nacht ein Quartier anzubieten.

Ich will es nicht umsonst, komme ich dem abweisenden Mann Gottes entgegen. Falls es was auszubessern gibt, arbeite ich Kost und Logis natürlich ab!

Wir stehen im Schloßhof, sein Blick wandert über die uns einschließenden Fassaden der Ringburg. Dachdecker, sagst du? Du könntest die Dachrinnen reinigen. Das ist meines Wissens seit Jahrzehnten nicht mehr geschehen. – Meine Augen folgen seinem Blick, vierstöckiges Herrenhaus, Bergfried mit Barockhaube, Kapellen- und Batterieturm mit steilen Runddächern, die auf der hofabgewandten Seite mit ihren Füßen direkt im Wassergraben stehen, eine halsbrecherische Arbeit, für die ein Mann allein, wenn er sie denn gründlich und vollständig macht, mindestens eine Woche braucht.

Wer weiß, was sich dort so alles im Lauf der Zeit angesammelt und eingenistet hat, brabbelt der Kaplan vor sich hin. Schon bei leichten Regenfällen laufen die Rinnen über. Und an Regen läßt es der liebe Gott uns wirklich nicht mangeln. Aber wem sag ich das, du kommst ja aus der Gegend.

Eigentlich sollte ich so schnell wie möglich den Bannkreis hinter mir lassen. Trotzdem sage ich zu, die Vielfalt der Dächer und das Halsbrecherische des Auftrags scheinen mir ein guter Anfang meiner Walz. Und wenn über allem gar der Segen Gottes hängt …

Heute nacht hast du den Schlafsaal noch für dich. Doch morgen erwarten wir eine Gruppe von Meßdienern aus Soest, die zu unseren Tagen der inneren Einkehr hier zu Gast sein werden. Dann ist das Haus voll!

Der gesunde Menschenverstand rät mir, in dem noch leeren Schlafraum mit seinen acht Doppelstockbetten eine Koje in der abgelegensten Ecke zu wählen und in dieser Nacht schon mal eine Runde vorzupennen.

Gibt es sonst noch einen Beruf, wo man so ungestört träumen kann? Auf dem Dach bin ich allein, niemand beobachtet mich, kommandiert mich herum oder kontrolliert, was ich tue. Wenn ich also nicht gerade den Schnodder der Jahre aufs Hofpflaster oder in den Wassergraben klatschen lasse, kann ich stundenlang auf den warmen Schindeln liegen und in den Himmel starren, bis mich die Langeweile, der Hunger oder ein zu spät bemerkter Sonnenbrand wieder zurück auf den festen Boden treiben. Ach, wie man hier doch überhaupt immerzu mit beiden Beinen auf dem festen Boden der Behauptung steht: Ich weiß Bescheid! Mir kann keiner! Man muß wohl in einem Erdbebengebiet aufgewachsen sein, um zu wissen, daß es diesen festen Boden gar nicht gibt.

Auf die Türme gelange ich leider nicht, weil die Leitern zu kurz sind und es keine Dachluken gibt. Selbst ein Schornsteinfeger gelangt dort nicht hinauf, aber er muß es auch nicht, da es keine Kamine gibt. Jahrhundertelang wurde hier nicht geheizt. Der eine war der Pulverturm, da versteht es sich von selbst, daß man dort nicht unbedingt Feuer machen will. Im anderen befindet sich die Burgkapelle, und gehört für uns Katholiken die kalte, unbeheizte Kirche nicht von jeher zum Gottesdienst?

Mit der Ankunft der Meßdiener ist es um meine Ruhe geschehen. Die Tage innerer Einkehr münden schon in der ersten Nacht in einer heidnischen Orgie, deren unbeteiligter Zeuge ich werde, weil sie wohl glauben, ich penne bereits. Vielleicht ist es ihnen auch egal. Es fängt so harmlos an, wie ich es auch von Klassenfahrten und Pfadfinderlagern kenne. Sobald der Gruppenleiter das Licht ausgemacht und sich auf sein Einzelzimmer verdrückt hat, werden die billigen Rotweinflaschen und Sixpacks, die man in den Schlafsaal geschmuggelt hat, aus den Sporttaschen geholt, und schon beginnt die unheilige Messe, in der sich tatsächlich der Wein in etwas Leibliches verwandelt. Die ersten Opfer sind die Jüngsten, die sich mit den Tricks und den gezinkten Karten der Älteren beim Bubenlegen noch nicht auskennen und so schon bald ihrer Pyjamas ledig sind. Alle sind sie jünger als ich, diese Meßdiener aus Soest, aber wesentlich abgebrühter, als ich in ihrem Alter war. Ja, der einzige Unschuldige in diesem mitternächtlichen Offertorium bin ich. Mag sein, daß ich in dieser Hinsicht meinen Altersgenossen immer schon ziemlich nachgehinkt bin. Aber das nicht aus Unreife, sondern schlicht aus mangelnder Gelegenheit, wie es sie in einem Kaff wie Wertherbruch einfach nicht gibt. Dazu muß man sich erst in dieser katholischen Jugendburg einnisten. Sind endlich alle Kleidungsstücke und jeder Rest an Zurückhaltung abgelegt, wird es handgreiflich. In der Realschule haben wir es unfein, aber treffend Eiercatchen genannt. Wichtig bei diesen Übergriffen ist, daß sich weder der Angreifer noch sein Opfer auch nur die geringste Lust anmerken läßt. Stattdessen Flüche, Schmerzensschreie, Racheschwüre. Und je länger ich dem Besäufnis und den plumpen Handgreiflichkeiten lausche, desto mehr zieht es mich runter. All dieses Verstecken und Vortäuschen, all diese Lügen, mit denen wir aufwachsen, und diese verkorksten ersten Erfahrungen, die nur im Suff möglich sind und die man eigentlich nicht Sex nennen kann, aber unser ganzes weiteres Liebesleben irgendwie prägen, Berührungen, die nur möglich sind, wenn sie als Prügel daherkommen – am nächsten Morgen will man nichts mehr davon wissen, oder hat es tatsächlich vergessen. Klar, der Suff ist schuld.

Trotzdem bleibe selbst ich in meiner Trübsinnsecke von den Erregungswellen, die durch den Schlafsaal branden, nicht unberührt. Es stimmt ja, am besten lernt man seinen Körper wohl bei einer zünftigen Keilerei kennen. Wie besoffene Teufelchen sehe ich die nackten, geröteten Leiber durch das Flackerlicht der Taschenlampen huschen oder von Doppelbett zu Doppelbett springen, der erste brutale Absturz scheint mir bloß eine Frage der Zeit. Allein die beiden Ältesten sind noch mit einer Unterhose bekleidet, das hinterhältige Spiel mit den Jüngeren scheint sie bereits zu langweilen, aber sich nun mit einem ebenbürtigen Partner zu vergnügen, trauen sie sich nicht. Klar, sie wollen richtigen Sex statt dieser Kindereien, ich verstehe das, spüre ja selbst ihre gegenseitige Neugier aufeinander, aber nun dem Kumpel an den Sack zu gehen und ihm die Eier zu quetschen, ist doch eine andere Liga als den Jüngeren zu zeigen, wer hier bereits ein echter Kerl ist. Statt noch den letzten Schritt zu wagen, prahlen die beiden sechzehn- oder siebzehnjährigen Rädelsführer nun mit ihrer Halbstarkenmucke, führen uns zwischen den Doppelbetten ihre Angeberübungen vor, so daß endlich mal jemand ihre stahlharten Brust- und Rückenmuskeln zu sehen bekommt, die während der Sonntagsmessen ja stets von diesen lächerlichen Rüschengewändern verdeckt bleiben, als sei man ein geschlechtsloses Wesen. Athleten haben am Altar nichts zu suchen. Und was ist mit Michelangelos Engeln in der Sixtinischen Kapelle? Weiß die Kirche überhaupt, was sie will? Uns ist immerhin klar, daß sich in diesem Alter alles nur um Sex dreht. Nicht das Wichsen und Spannen zehrt uns aus, sondern das schlechte Gewissen.

Seit meiner Gesellenprüfung in diesem Sommer bin ich zwar freigesprochen, aber ich kann’s mir noch so oft vorsagen und einreden, wirklich frei fühle ich mich noch nicht. Es scheint, als schleppte ich in meinem Charlie einen ganzen eichenen Beichtstuhl mit. Eigentlich heißt Freisprechung ja, von seinem Meister und seiner Familie und nicht zuletzt der ganzen Gemeinde losgesprochen zu werden. Aber man muß wohl mehr tun als nur abhauen und sich entfernen. Vielleicht sah Lots Weib – wie hieß sie noch mal? – gar nicht aus Neugier, sondern aus Brast zurück, aus Brast auf Lot, den Wüstling, Suffkopp, Vergewaltiger ihrer Töchter, aus Brast auf Gott, dieser beleidigten Leberwurst, der sich gleich mit einem Massenmord revanchiert. Lieber zur Salzsäule erstarren als unter der Pranke dieser beiden Pißnelken leben, hat sie sich gedacht.

PILLEMANN

Haltern am See. Weiter habe ich es heute nicht geschafft. Aber viel weiter muß ich ja auch nicht gehen. Nun bin ich wohl endlich außerhalb der Bannmeile, wenigstens fünfzig Kilometer von daheim entfernt. Fluglinie oder Straßenkilometer? Ich habe nicht gefragt, und ich werde es auch nicht nachmessen. Drei Jahre und ein Tag. Diese Bannzeit aber werde ich mit aller Gewissenhaftigkeit einhalten. Wüßte auch nicht, was ich auch nur einen Tag früher in Wertherbruch zu suchen hätte. Wahrscheinlich würde ich sofort zum Barras eingezogen. Bin für die Zeit der Walz ja nur freigestellt, ansonsten aber T1, voll verwendungsfähig, gemustert: Kampfschwimmer, Bomberpilot, vielleicht gar keine so schlechte Alternative. Vadder und Klaus haben es mir ja vorgemacht.

Andererseits hätte ich auch einmal im Leben ehrlich sein und, als sie mich nach meinem Berufswunsch fragten, antworten sollen, der erste, an den ich mich erinnern könne, sei AVON-Beraterin gewesen.

Ich schau erst mal im Rathaus vorbei und laß mir einen Stempel ins Gesellenbuch drücken: Bin hier gewesen! Sag mein Sprüchlein auf, aber es seien gerade Sommerferien, entschuldigt sich der Kämmerer und schickt mich zur Jugendherberge, sehr schön am Stausee gelegen. Würde heute gern hier übernachten, bin ja fast dreißig Kilometer getippelt, das reicht für einen Tag, die Socken qualmen, die Blasen sind blutgefüllt, doch der Herbergsvater besteht auf ein Übernachtungsgeld und will von der eisernen Regel nichts wissen, daß wir wandernden Gesellen für Essen und Unterkunft nicht mit Geld, sondern nur mit Arbeitskraft bezahlen dürfen. Was zu schaniegeln hat er allerdings nicht für mich, denkt nicht mal darüber nach, ob es nicht doch das eine oder andere auszubessern gibt. Würde mich für ein anständiges Abendessen sogar an den Spültisch stellen. Aber nichts da, liege mit knurrendem Magen am Seeufer und hoffe nur, daß es heute nacht nicht regnet. Warm genug ist es jedenfalls, um im Freien zu übernachten. Fast zu warm. Könnte heute nacht noch ein Gewitter geben. Das Münsterland hat ja nicht umsonst den Ruf, das Regenloch der Nation zu sein. Doch noch sehe ich den Sternenhimmel und verspüre, kaum eine Woche unterwegs, einen ersten Anflug von Verlorenheit und Heimweh. Ein kühles Bier, denk ich, würde dagegen ja schon helfen.

Hat wenigstens das Universum ein Zentrum, frage ich mich, eine Mitte, von der einmal alles ausging? Und wo befinden wir uns dann in diesem Universum? Nahe der Mitte oder doch eher am Rand? Und wenn diese irre Idee vom Urknall stimmt und das Universum seither unaufhörlich auseinanderfliegt, wo fliegt es dann hin? Welchen Raum gibt es denn da noch außerhalb des Universums? – Sieh mal einer an, man kann auch ganz ohne Alk besoffen sein.

So eine Walz ist ja immer eine Wanderung ins Ungewisse. Aber es gibt schon einige Möglichkeiten, erwartbaren Malessen aus dem Weg zu gehen. So sollte ich mich im Herbst zum Beispiel rechtzeitig Richtung Süden aufmachen, um die kalten Monate an der Adria oder der Côte d’Azur abzuhängen. Auf vereisten Dächern schaniegelt es sich einfach nicht gut, wenn es überhaupt was zu malochen gibt. Und wenn man es nicht rechtzeitig über die Alpen schafft, sollte man zumindest einen verläßlichen Meister gefunden haben, der einen nicht beim ersten Schneefall vor die Tür setzt.

Jetzt fängt es Choddvadomme doch wirklich noch an zu regnen. Ich verzieh mich unter ein Freidach, das man hier für Picknicker ans Seeufer geknallt hat, nun aber einfach nur nach Pisse stinkt. Ich mach es meinen Vorgängern nach, pule meinen Pillemann aus dem Hosenlatz und leiste meinen Beitrag zum Mißbrauch dieses Unterstandes. Hingehauen hätte ich mich hier ohnehin nicht, auch wenn der Boden außerhalb meines Sprengkreises im Augenblick noch trocken ist.

Ich bleibe, auch wenn ich hundemüde bin, an der Dröppelkante stehen, nicht mal ordentliche Rinnen haben sie dem Flachdach verpaßt! und starre einfach in den tristen münsterländischen Dauerregen. Wenn es wenigstens ein fetter Wolkenbruch mit Blitz und Donner wäre, damit man am Ende nicht noch wie das letzte Schwein um einen Platz auf der Arche betteln muß, sondern einigermaßen menschlich ersäuft!

Ich halte meinen Pillemann noch immer in der Flosse, es schaut ja niemand zu, denke ich, hier am einsamen Strand des Haltener Stausees, kein Mensch, kein Gott, nirgends, während das Wasser langsam, aber unaufhaltsam über die Ufer tritt, dieses warme Würmchen in der Hand hat etwas Tröstliches, als wäre es gar kein Teil von mir, sondern ein fremdes Wesen, eine Art Haustier. Warum fallen mir überhaupt diese Kindheitswörter wieder ein, wer sagt denn noch Pillemann? Dabei ist es doch ein vollkommen unschuldiges Wort. In allen, die wir danach in den Mund nehmen, Schwanz, Latte, Pimmel, Schwengel, Bolzen, hört man ja schon die erweiterten Verwendungszwecke heraus. Selbst die Pisse ist noch nicht Pisse, sondern reines Pipi, das jeder Pilzkranke anstandslos gurgeln kann. Der Pillemann ist noch nicht Privateigentum, sondern Allgemeingut, alle spielen mit dem kleinen Piephahn, Mütter, Onkel Tanten, Brüder, Schwestern, nur für die Väter ist er tabu. Ist das von Bedeutung? Ich stopf mir das Zipfelchen zwischen die Beine, drücke und reibe es; daß es dabei steif wird, findet noch keine weitere Beachtung, es fühlt sich einfach gut an und hilft beim Einschlafen.

Wann wird uns dieses Stehaufmännchen fremd? Fängt es mit dem veränderten Geruch an, mit der sich verändernden Größe? Wir haben bereits entdeckt, daß einige Kumpel und Vereinskameraden schon keinen Pillemann mehr, sondern einen Schwanz haben, und hoffen und befürchten, daß es uns bald auch so gehen wird, ohne schon genau zu wissen, was da eigentlich mit uns passiert.

Was hat überhaupt der Mann schon im Pillemann zu suchen? In Wertherbruch nennt man in vollem Ernst auch den Patenonkel Pillemann, und wir Kinder spielen ganz arglos mit einem Ding, das wir Pillemann nennen, einem an beiden Enden zugespitzten Stöckchen, das wir aus einer kleinen Grube oder Mulde mit einem größeren Holzstück herausschlagen.

Oder habe ich mir das bloß ausgedacht? Müßte Klaus fragen, von ihm habe ich immerhin die meisten dieser Wörter gelernt. Kann mich nicht erinnern, daß Mudder je ein Wort wie Dödel oder Klöten in den Mund genommen hätte. (Vadder ist da ein ganz anderes Kaliber.) Pillemann, ja, das ging gerade noch, aber als examinierte Krankenschwester sagte sie meistens einfach Gliedchen. Was ihr wohl jetzt dazu einfiele? Während ihrer vielen Dienstjahre hat sie fraglos unzählige Dödel in der Hand gehabt, und sei es auch nur, um die schlaffen Pimmel mal zu waschen.

Mudder hat sich immer geweigert, das Wertherbrucher Platt zu sprechen oder auch nur zu verstehen. Genauso wenig mochte sie es, wenn man sie Mudder, Mutti oder Mama nannte. Aber selbst wenn Vadder sich bemühte, Mutter zu sagen, klang es doch immer nur wie Mudder. Und wir haben es ihm einfach nachgemacht. Sprachen sie untereinander kein Platt, so palaverten Oma und Opa oben im Haus nichts anderes und wollten Mudder nicht verstehen, wenn sie ihr Sauerländer Hochdeutsch sprach. Mag sein, daß sie im Sauerland mit Gott und Religion nichts am Hut hatte, Wertherbruch jedenfalls hat sie zur Protestantin gemacht. Sie achtete auf die Sprache, kümmerte sich um die Finanzen, beglich die Rechnungen, sorgte dafür, daß die Schulden, die Vadder anhäufte, nicht Überhand nahmen, ließ sich nicht anmerken, was sie wirklich dachte oder empfand, da blieb natürlich auch kein Raum für viel Zärtlichkeit. Mich hat sie wegen einer Brustentzündung bereits nach vier Wochen abgestillt. Das war’s dann auch für die kommenden Jahre.

Doch wenn man in der Teutonenstraße aufwächst, lernt man ein gewisses Maß an protestantischer Nüchternheit zu schätzen.

Ich bin zwölf Jahre alt, Mechthild ist elf, als wir gemeinsam in ein Sommerlager der Arbeiterwohlfahrt nach Südtirol verfrachtet werden. Schon auf der Hinfahrt entdecke ich Alex, einen Mitschüler aus der Parallelklasse, genauso alt wie ich, sogar im selben Monat geboren. Wir werden beide noch in diesem Sommer dreizehn. Dreizehn! das heißt: Teenager! Ich sorge dafür, daß wir dieselbe Bude beziehen, ein Zweibettzimmer. Alex hat nichts dagegen, auch er findet es cool, unter den sechzig Lagerteilnehmern eine vertraute Visage entdeckt zu haben.

Unsere Bude ist spartanisch eingerichtet, zwei schlichte Holzbetten, ein blauer Metallspind, kein Tisch und kein Stuhl. Ich hätte unsere Fallen gerne zusammengeschoben, ich bin sicher, Alex hätte das auch geil gefunden. Aber unsere Stubentür läßt sich nicht verriegeln, und wir sind beide bereits abgebrüht genug, um zu ahnen, in welchen Verdacht wir geraten, wenn wir einfach den Spint vor die Tür schieben. Also richtet sich jeder in seiner einsamen Ecke ein.

Alex hat vergessen, einen Schlafanzug einzupacken; behauptet er zumindest. Natürlich könnte man selbst in den Tiroler Bergen im August auch ohne Pyjama pennen, aber ich schmeiß ihm großzügig meinen zweiten Schlafanzug rüber, auch wenn ich nun in den drei Lagerwochen keinen mehr zum Wechseln hab. Was soll’s, mit dem Wäschewechseln ist es ohne Mudder ohnehin nicht weit her. Eine gute Vorübung für die Walz, wo man ja auch mit derlei Luxus geizen muß. Noch hat man ja gar keinen Sinn dafür, wie man in den Nasen der anderen ankommt. Nicht mal unsere Bude hin und wieder zu lüften fällt uns ein. Die frische Bergluft könnte ihr ja den vertrauten, nesthaften Mief rauben!

Mechthild ist im Mädchenhaus gleich gegenüber untergebracht. Wenn sie sich weit genug aus ihrem Barackenfenster lehnt, kann sie sogar in unsere Hütte blicken. Ansonsten haben wir nichts miteinander zu schaffen, ja, wenn wir uns doch mal über den Weg laufen, tun wir so, als kennten wir uns gar nicht. Wer fährt schon gern mit seiner jüngeren Schwester ins Sommerlager!

Die anderen Burschen nennen mich Gabi. Spitznamen sind ja nichts Ungewöhnliches und selten schmeichelhaft. Aber bei den älteren Typen mischt sich ein dreckiger Unterton in die Art und Weise, wie sie mich anreden. Vielleicht haben sie die Zweideutigkeit nicht mal bemerkt, sie sind sicher stärker, brutaler, aber nicht unbedingt auch klüger, und viel Spielraum zu Abkürzungen und Verballhornungen bietet der Name Gabriel nun mal nicht, trotzdem verwirrt und nervt mich dieser Spitzname. Wissen diese Typen mit ihren pubertären Instinkten bereits mehr über mich als ich selbst? Nur Alex bleibt bei Gabriel, und es braucht ziemlich lange, bis ich mich mit Gabi abfinde und ihn irgendwann sogar als Ehrenname umwerte. Und ganz ohne eigenes Zutun ist dieser Spitzname bis heute an mir hängen geblieben.

Aber jetzt, im Rückblick, denke ich, daß dieser Spitzname mitverantwortlich dafür ist, daß Alex und ich den Sommer nicht genutzt haben, unserer gegenseitigen Neugier nachzugeben. Auch wenn wir auf unserer Bude alleine waren, haben wir uns irgendwie beobachtet gefühlt. Und was die täglichen Raufereien anging, haben wir den älteren Blödmännern in Brutalität und Rücksichtslosigkeit in nichts nachgestanden. Und gleich an einem der ersten Tanzabende suchte sich jeder von uns eine von den Keulen aus der Weiberhälfte zum Schwofen. Obgleich kaum älter als wir, hatten die schon Brüste und geschwollene Lippen und eine gewisse Verachtung für unseren fast Dreizehnjährigenflaum, irgendwie monströse Paare, die sich da zusammengefunden hatten und sich bei Tie a Yellow Ribbon Round the Ole Oak Tree oder Flying through the Air fast panisch und zugleich angewidert aneinanderpreßten. Und obwohl wir das alles längst durchschaut hatten, quatschten wir die halbe Nacht dann nur über unsere Keulen und ob wir auch noch nach dem Lager miteinander gehen würden.

Meine Kriemhild heißt Beatrix, ist einen Kopf größer und doppelt so schwer wie ich. Wenn sie nachts in meinen Träumen ihre Rüstung ablegt, ist es doch immer nur Alex in meinem Schlafanzug, den sie enthüllt. Da liegt er, kaum eine Armlänge entfernt, und täuscht wie ich den Schlaf der Unschuldigen nur vor, flüstert hin und wieder den Namen seiner Angebeteten vor sich hin, damit ich ihn auch ja nur höre und nicht auf dumme Gedanken komme, Marianne oder Anne, was weiß ich. Jedenfalls nicht Gabi.

Warum schleich ich mich nicht einfach rüber, kriech zu ihm unter die Decke, was kann denn schon passieren, wir tun immer so cool, so mutig, doch wenn’s drauf ankommt, ziehen wir den Schwanz ein. Dabei bin ich mir sicher, Alex hätte mich wohl nicht gleich aus dem Bett geschmissen. Aber vielleicht bestand genau darin das Problem.

Auf den Stuben der Älteren wird Nacht für Nacht zünftig gesoffen, klar, eigentlich fühlen sie sich schon viel zu alt für so ein Sommerlager, und natürlich haben wir Welpen bei ihnen auf der Bude nichts zu suchen, es sei denn, man wollte sich mit uns mal einen billigen Spaß erlauben. Es gibt ja sonst nichts zu tun. Nach zwei Pappbechern Rotwein bin ich bereits breit und kotze das Zimmer von Gerhard und Paul voll. Muß die Dielen mit meinem Pyjama aufwischen und merke schon gar nicht mehr, daß ich zum Gaudi der anderen nackt bin, bis Alex dem Spuk ein Ende bereitet und mich in unsere Höhle zurückschleppt. Wie ich in die Falle gekommen bin und was sonst alles noch passiert ist, weiß ich am nächsten Morgen nicht mehr. Alex, munter wie eh und je, sagt nur: Nichts, nichts ist passiert. Zumindest nichts, wofür du dich schämen mußt. Hast dir einfach nur den Deetz wegschießen lassen.

Allerdings sind es nun auch Gerhard und Paul, die sich in meine Träume pirschen, ohne daß ich wirklich zu fassen bekomme, was sie dort eigentlich zu suchen haben, zwei großmäulige Macker, denen ich überall sonst aus dem Weg gehen würde. Mag sein, daß die Mädchen das anders sehen, jeden Tanzabend haben die beiden mit einer anderen Keule rumgemacht und offenbar freie Wahl.

Der Geburtstag kommt, und trotz ständiger Kontrolle finde ich nichts an meinem Körper, was mit diesem entscheidenden neuen Lebensjahr mitgehalten hätte. Alexanders Beine und Achseln sind bereits so dicht behaart wie Gerhards und Pauls, und mit den mir verborgenen Teilen, stelle ich mir vor, wird es nicht anders sein. Während die nächtlichen Gelage der Großen am nächsten Morgen eine gewisse Fortsetzung in den Duschräumen finden, meiden Alex und ich diese Orgien und waschen uns nur, wenn wir dort ungestört sind.

Soweit ich zurückdenken kann, fand ich nie, daß Sex irgendwie dreckig oder sündhaft sein könnte. Aber vielleicht merkt man einfach nur nicht, wie dann doch was von den Predigten und dem Gerede hängenbleibt und langsam die eigenen Ansichten vergiftet. Zehn Jahre Meßdiener können nicht ohne Folgen bleiben, und achtzehn Jahre Teutonenstraße, da soll einer noch wissen, wer er wirklich ist. Dabei bin ich mir sicher, daß uns nichts so glücklich macht wie erfüllter Sex. Hätte man uns nicht ein Leben lang eingetrichtert, Sex ohne Liebe sei des Teufels und Sex in der Liebe zumindest etwas die Liebe Beschmutzendes, würde ich in der unergründlichen Weisheit meiner achtzehn Jahre behaupten: Sex ist Lebenssinn. Wer geilen Sex hat, muß sich jedenfalls gar keine weiteren Fragen stellen, er freut sich einfach seines Daseins.

Einmal weckt mich Alex mitten in der Nacht auf, ich erschrecke zutiefst vor seiner unerwarteten Berührung. Was ist los? stammle ich. Du hast im Schlaf geweint, antwortet er verlegen.

Geweint? Echt jetzt?

Vielleicht Liebeskummer?

Wegen Beatrix? Mach keine Witze.

Immerhin hat sie gestern abend fast nur mit Gerhard getanzt.

Der Typ hat sie halt alle durch.

Tu nicht so, als pißt es dich nicht an.

Glaub mir, diese untreuen Weiber sind mir scheißegal!

Kaum hab ich die Augen wieder geschlossen, sehe ich nach dem Abschlußschwof Gerhard und Beatrix gemeinsam den Speisesaal verlassen und in Richtung Geräteschuppen verschwinden. Gerhard bricht brutal die Tür auf und wirft Beatrix auf die rauhen Turnmatten. Er küßt sie mit offenem Mund, zwingt sie, auch ihren Mund zu öffnen, seine Zunge schmeckt nach billigem Rotwein und Zigaretten, Beatrix ekelt sich ein wenig, aber denkt, so müssen richtige Kerle schmecken. Gerhard ergreift ihre Walkürenpranken und schiebt sie unter seinen Hosenbund, sein steifer Schwanz kommt ihren Fingerspitzen bereits entgegen, sie berühren die pralle, glitschige Eichel – oder sind es meine eigenen Wichsgriffel? Das Laken ist feucht, als ich erwache. Alex tut so, als hätte er nichts bemerkt. Dabei gäb es nun ja wirklich mal was zu feiern: meinen ersten Spunk. Endlich. Endlich kein Kind mehr.

Niemand holt uns vom Bus ab, und auch zu Hause fragt keiner, wie’s war. Doch kaum sind die Koffer ausgepackt, fragt Mudder, wo die beiden Schlafanzüge geblieben seien, die sie mir extra für die kalten Nächte im Gebirge gekauft und eingepackt hatte (echtes Frottee!). Ich zucke gleichgültig die Achseln, könne mich an keine Schlafanzüge erinnern. Hätte sie auch gar nicht gebraucht, auf den Zimmern sei es immer warm gewesen.