Spuren von Licht - Julianna Grohe - E-Book
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Spuren von Licht E-Book

Julianna Grohe

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Beschreibung

Kann Hass zu Liebe werden?Grundschullehrerin im Vorbereitungsdienst zu sein ist nicht einfach. Doch wenn du dich dann ausgerechnet in den Mann verliebst, der dein Leben zerstören will, wird die Sache richtig kompliziert Bisher war es die größte Herausforderung im Leben der schüchternen Phina, sich nicht von den Kindern auf der Nase herumtanzen zu lassen.Doch als ihre beste Freundin Lara bei einem Autounfall ums Leben kommt, stirbt auch ein Teil von ihr selbst.Sie muss nicht nur mit ihrer Trauer zurechtkommen, da ist auch noch Laras großer Bruder David. Er denkt, Phina wäre schuld am Tod seiner geliebten Schwester und seine Rache ist mehr als heimtückisch.Als in David jedoch Gefühle für Phina erwachen, die so nicht geplant waren, ändert sich alles.Aber wer hätte gedacht, dass die junge Lehrerin eigentlich in einer weitaus größeren Gefahr schwebt?Und was hat es mit diesen merkwürdigen Lichtstrahlen auf sich?

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Spuren von Licht

Julianna Grohe

Copyright © 2019 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

http: www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Stephan R. Bellem

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout: Michelle N. Weber

Umschlagdesign: Alexander Kopainski

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-256-3

Alle Rechte vorbehalten

Für Jonas

Inhalt

Prolog

1. Wildwechsel

2. Licht

3. Untröstlich

4. Schatten

5. Familie

6. Machtlos

7. Julius

8. Schule

9. Blue Moon

10. Pläne

11. Polizeieinsatz

12. Sonnenstrahlen

13. Prävention

14. Not im Tod

15. Projektwoche

16. Fußball

17. Geburtstagsparty

18. Bruderherz

19. Verdächtigungen

20. Beziehungsprobleme

21. Seelenschmerz

22. Rockerbraut

23. Hilflos

24. Flucht

25. Aussichtslos

26. Überzeugt

27. Atemnot

28. Halb tot

29. Besorgt

30. Böses Erwachen

31. Abstinent

32. Geständnisse

33. Gefunden

34. Ins Licht

Epilog

Danksagung

Prolog

Die alte Dame stieß einen markerschütternden Schrei aus und krümmte sich auf der verschlissenen Matratze.

Der Fremde lächelte und legte das Messer beiseite, während er gespannt umherblickte. Doch noch war auf der Kellerwand nichts zu erkennen.

Der Schmerz ließ die Einundachtzigjährige an den Fesseln zerren, obwohl sie wusste, dass es sinnlos war. Sie hatte keine Chance. Niemand würde sie in den nächsten Stunden – ja vielleicht sogar Tagen – vermissen, denn ihre Kinder und Enkelkinder lebten weit entfernt und auch ihre Freunde würden so rasch nichts bemerken.

Keuchend rang sie nach Atem. »Was wollen Sie denn bloß von mir?«, schluchzte sie heiser. »Meinen Schmuck und das Bargeld können Sie sich einfach holen, ich habe Ihnen die Kombination des Safes doch schon genannt!« Verzweifelt blickte sie zu dem hochgewachsenen, dunkelhaarigen Mann auf, der direkt neben der Matratze stand und die Wand anstarrte.

»Na, komm schon«, murmelte er in seinen kurz gehaltenen Vollbart hinein und ließ den Blick erneut durch den Raum schweifen.

»Bitte …«, flehte die alte Dame. »Ich will Ihnen ja alles geben!« Sie wimmerte, während Tränen über ihre faltigen Wangen liefen. »Habe ich nicht schon genug gelitten?«

Nun wandte der Fremde sich ihr wieder zu. »Das haben Sie, meine Beste, das ist ja das Gute.« Seine Augen blitzten erwartungsvoll.

Die alte Frau weinte. Dieser Mann war wahnsinnig.

»Ich könnte es Ihnen noch ein drittes Mal erklären und Sie würden es immer noch nicht verstehen«, sagte ihr Peiniger. »Aber das macht nichts. Wichtig ist, dass Ihr Mann mich versteht.«

»Aber der ist vor zwei Wochen verstorben«, rief sie.

»Genau das ist es ja«, sagte der Bärtige mit erhobenem Zeigefinger und lächelte milde. »Allerdings hat er diese Welt nicht ganz verlassen. Wir wollen doch einmal sehen, wo der Gute steckt.«

Gelassen nahm er das Messer erneut zur Hand. »Er könnte es Ihnen viel leichter machen.«

»Aber er hat es mir doch nie schwer gemacht. Er war ein guter Ehemann!«, stieß sie hervor.

»Geben Sie uns ein Zeichen und ich lasse von Ihrer Frau ab«, rief der bärtige Mann laut. Er schaute sich erwartungsvoll um, dann hob er ohne zu zögern das Messer.

Die alte Dame verspürte im linken Oberschenkel einen stechenden Schmerz, der Sterne vor ihren Augen tanzen ließ.

Als sie den Blick endlich wieder fokussieren konnte, betrachtete der Bärtige sie mit triumphierendem Blick. Dann deutete er auf die Wand gegenüber dem Lichtschachtfenster. Als sie ihren Kopf drehte, um sehen zu können, was er meinte, sah sie Lichtpunkte über die Steine tanzen.

Schockiert riss sie die Augen auf.

Eins

Wildwechsel

Phina

Fahr bitte nicht so schnell«, bat ich Lara und starrte in die Dunkelheit hinaus.

Doch meine Freundin verdrehte nur die Augen. »Mach dich locker, Finchen, ich hab alles im Griff.«

Sie wusste genau, dass ich es hasste, wenn sie mich so nannte. Lara jedoch meinte, dass das ziemlich gut zu mir passte, weil ich auch so klein und süß wäre wie die Schnecke aus der Sesamstraße.

Ich schnaubte. »Mensch, Lara, mein Schutzengel kommt nicht hinterher.« Mit der Hand krallte ich mich am Griff über der Beifahrer­tür fest.

»Ja, Frau Lehrerin«, antwortete sie in diesem gruselig lang gezogenen Tonfall, mit dem die Schüler mich morgens begrüßten, und ging netterweise ein wenig vom Gas.

Ich verpasste ihr einen Klaps auf den Oberschenkel. »Ich hätte lieber fahren sollen«, maulte ich müde, woraufhin sie mich übermütig auslachte und ihre schulterlangen braunen Locken zurückwarf.

Wir kamen gerade aus einem Kieler Club. Es war eine wild durchtanzte Nacht gewesen und Lara hatte einen heißen Flirt gehabt.

Ich liebte es, mit ihr tanzen zu gehen, es entspannte mich von all dem Stress bei der Arbeit. Jetzt, wo ich mein Referendariat in Mühlen­see machte, ganz in der Nähe unserer Heimatstadt, war es wieder leichter geworden, sich zu treffen.

»Gut, dass wenigstens der Schnee weggetaut ist und die Straßen nicht mehr glatt sind«, brummte ich finster und dachte an die Pausen­aufsichten, bei denen ich wenig erfolgreich versucht hatte, unkontrollierte Schneeballschlachten auf dem Schulhof zu unterbinden.

»Wieso? Schnee ist doch schön!« Vergnügt summte sie die Melodie von ›Drei Haselnüsse für Aschenbrödel‹.

»Als ich vor Kurzem nach der sechsten Stunde aus der Schule kam, haben drei Achtklässler den Sozialdienst, bei dem sie eigentlich die Wege freischippen sollten, genutzt, um das Auto ihres Musiklehrers bis zum Fenster mit Schnee zuzuschaufeln«, erzählte ich und musste bei der Erinnerung daran ein bisschen grinsen.

»Und? Wie hast du reagiert?«, fragte Lara neugierig.

»Ich konnte mich nicht zwischen schimpfen und applaudieren entscheiden«, antwortete ich. »Es war der Wagen von Herrn Grenzer, du weißt schon: Mein Mentor …«

Markus Grenzer war nicht gerade für seine Liebenswürdigkeit bekannt. Daher hatte es mich nicht überrascht, dass die Strafdienst-Jungs ausgerechnet sein Auto ausgesucht hatten.

»Da bin ich doch mal wieder froh, dass ich mich für einen anderen Beruf entschieden habe«, bekundete Lara fröhlich.

»Apropos, wie läuft es eigentlich mit deiner Ausbildung?«

Lara hatte vor Kurzem eine Ausbildung zur Physiot­herapeutin begonnen. Lange Zeit war sie unsicher gewesen, was sie beruflich machen sollte, und hatte mehrere Ausbildungen abgebrochen. Ebenso wie das Pädagogikstudium, bei dem wir uns damals kennengelernt und festgestellt hatten, dass wir beide aus Kiel und Umgebung stammten.

»Super, bis jetzt! Ich habe das Gefühl, dass es diesmal klappt. Macht auf Dauer echt keinen Spaß, das schwarze Schaf der Familie zu sein …«

»Du übertreibst. Dich kann man doch nur lieb haben«, sagte ich aufmunternd und rieb meine kalten Hände aneinander.

Lara seufzte tief.

Ich wusste, wie sehr ihr das Gefühl, die Erwartungen nicht erfüllen zu können, zu schaffen machte, und es tat mir in der Seele weh, ihr nicht helfen zu können.

»Du erlebst wenigstens etwas«, versuchte ich sie zu trösten.

»Ich wohne bei meiner Tante im Keller«, erinnerte sie mich mit Grabesstimme und ich musste lachen.

Weil sie ein schwieriges Verhältnis zu ihren Eltern hatte, lebte sie dort schon, seit ich sie kannte.

»Na gut, aber das ist ja nur vorübergehend. Wie läuft es denn mit Clemens?«

Lara bog auf die Bundesstraße ab, ohne den Blinker zu setzen. Ein paar Bierflaschen, die sie – warum auch immer – auf dem Rücksitz gelagert hatte, schepperten aneinander und der Auspuff des betagten Kleinwagens klapperte, als das Gefährt sich in die Kurve legte.

»Welcher Clemens?«, fragte sie mit schiefem Grinsen.

»Na, heißt dein aktueller Freund nicht Cl… Oh.« Ich begriff. Es war mir schon seltsam vorgekommen, dass sie heute Abend so offensiv mit anderen Männern herumgeflirtet hatte. »Ist es wieder aus?«

»Er wollte für mich seine Frau verlassen.«

»Ja, aber das wäre doch gut für dich«, sagte ich verständnislos. »Das hätte mal etwas Dauerhaftes werden können.«

»Nee, der rückt mir zu sehr auf die Pelle. Ich fand es ganz in Ordnung so, wie es war. Erzähl mal lieber, wie es bei dir und Julius läuft«, versuchte sie abzulenken.

Sie betonte seinen Namen so, als wäre er etwas Ekliges. Dummerweise mochte Lara meinen Freund nicht sonderlich, was ich gar nicht verstehen konnte.

»Zählt es als Liebesleben, wenn einem ungeduldige Erstklässler auf den Busen tatschen, weil sie unbedingt ihre neue Zahnlücke zeigen wollen?«, fragte ich geknickt. »Julius habe ich schon seit zwei Wochen nicht mehr gesehen.«

Lara feixte. »Da lobe ich mir diese interessante kostenlose Internet­seite, die ich neulich entdeckt habe: ›Wewewe Punkt Poppen …‹«

Ich hielt mir die Ohren zu. »Lalala!«, sang ich laut. »Ich hör dich nicht, ich hör dich nicht.«

Lachend brach Lara ab. »Keine Verpflichtungen«, erklärte sie achselzuckend.

»Mann, Lara, werd endlich erwachsen«, ermahnte ich sie und schlagartig sanken ihre Mundwinkel herab, was mir ein schlechtes Gewissen bereitete. Das hätte ich nicht sagen dürfen. Es musste an meiner Müdigkeit liegen, schließlich war es mittlerweile drei Uhr nachts. Ich war froh, dass Lara bei mir übernachten würde und nicht plante, sich mitten in der Nacht allein auf den Rückweg nach Kiel zu machen.

»Das sagen meine Eltern auch ständig.« Bedrückt zupfte sie an ihrem Lippenpiercing.

Ich wunderte mich, dass sie über ihre Familie sprach. Diesem Thema wich sie sonst immer aus.

»Weihnachten war die Hölle«, fuhr sie fort. »Du hättest mal ihre Blicke sehen sollen, als sie erfuhren, dass ich die Beziehung mit Moritz beendet habe. Autsch! Dabei würde ich sie so gern auch einmal stolz machen, aber der Typ ging echt gar nicht. Er wollte drei Kinder! Diesmal muss es mit der Ausbildung unbedingt klappen, damit sie nicht schon wieder meckern, weil ich etwas nicht zu Ende gebracht habe.« Sie klang auf einmal ziemlich melancholisch.

»Ich kenne deine Eltern ja nicht, aber ich wette, sie lieben dich«, sagte ich mitfühlend und strich ihr über den Oberarm.

»Wenn sie mich auch nur ein Mal so zufrieden ansehen würden wie meine Brüder, oder bei den Bekannten mit mir angeben könnten … Ich hoffe wirklich, dass ich sie diesmal nicht enttäusche. Immer heißt es nur: ›Lara, so langsam musst du mal die Kurve kriegen‹ oder ›Nimm dir ein Beispiel an deinen Brü…‹« Ihr Atem stockte, weil plötzlich ein großer dunkler Schatten aus dem Gebüsch auf die Straße sprang. Ein Reh.

Als Lara mit aller Kraft auf die Bremse trat, hatten wir es bereits gerammt.

Ich sog heftig die Luft ein, während der betagte Kleinwagen nach links ausbrach. Instinktiv riss Lara das Steuer herum, woraufhin wir nach rechts schleuderten.

Dann kam der Baum.

Ich schrie.

Kurz darauf war alles still.

Lara war so still.

Mühsam hob ich den Kopf und warf einen Blick zur Fahrerseite.

»Lara?« Ich stieß sie behutsam an, doch sie zeigte keine Reaktion. »Lara?«, wiederholte ich mit schriller Stimme. Nichts. Ihre Augen blieben geschlossen. Also schnallte ich mich ab und öffnete die Beifahrertür. Sie klappte knirschend auf und ich fiel aus dem Auto, weil meine Beine sich nicht koordinieren ließen. Es roch streng nach Bier. Die Flaschen vom Rücksitz mussten durch den Aufprall im Wagen umhergeflogen und zerbrochen sein.

Alle Kraft zusammennehmend rappelte ich mich auf. Ein gewaltiger Druck auf meiner Brust und ein Stechen in meiner Seite ließen mich keuchend nach Atem ringen. Mein Gesicht brannte. Das musste vom Aufprall auf den Airbag kommen.

Ungelenk zog ich mich an der Tür hoch. Mit dem einen Bein konnte ich nicht auftreten, doch ich empfand keinen Schmerz. Erschöpft lehnte ich mich an die verformte Seite des Wagens. Etwas Warmes lief mir übers Gesicht. Meine Knie zitterten so sehr, dass ich mich nicht aufrecht halten konnte. Wie eine losgelassene Marionette sackte ich in mich zusammen.

Da ertönte ein leises Stöhnen.

Lara.

Auf allen vieren kroch ich um den Wagen herum. Es roch merkwürdig. Nach Benzin und verbranntem Kunststoff.

Scherben waren unter meinen Händen, doch ich spürte sie kaum. Vor meinen Augen hingen Schlieren.

Konzentrier dich, Phina. Du darfst jetzt nicht ohnmächtig werden.

Ich umklammerte den Türgriff der völlig verbeulten Fahrerseite und zerrte daran. Die Tür klemmte. Die Angst gab mir Kraft, mich hochzuziehen.

Mit meinem gesamten Gewicht zog ich am Griff und schließlich gab die Tür mit einem hässlichen Geräusch nach. Ich stürzte nach hinten, als sie aufklappte, und landete unsanft auf dem Boden. Rauch quoll unter dem hervor, was einmal die Motorhaube gewesen und nun eine Symbiose mit dem Baum eingegangen war.

Wieder ein Stöhnen. Angsterfüllt kroch ich um die geöffnete Tür herum, meinen linken Fuß hinter mir herziehend, als würde er nicht zu mir gehören. Ich stoppte kurz, um mir etwas aus dem Gesicht zu wischen. Es war rot.

Überall dieses Rot.

Ich stemmte mich hoch, griff um die bewusstlose Lara und versuchte, sie aus dem Auto zu ziehen. Es ging nicht. Der Gurt! Ich löste ihn mühsam und versuchte es wieder. Sie wimmerte.

Der Wagen wollte sie nicht hergeben. Flammen schlugen unter der Motorhaube hervor. Sie musste da raus.

Ich zerrte weiter und endlich gelang es mir, ihren Körper zu befreien. Es wurde heller und heiß, als die Flammen höher schlugen.

Lara hinter mir herschleppend, kroch ich vom Wrack fort.

Nein.

Nein, nein, nein!

Das hier konnte nicht wirklich geschehen. Es musste ein Albtraum sein.

»Lara?« Ich zog ihren Oberkörper auf meinen Schoß.

Sie war blass. Kleine Schnitte waren auf Wangen und Stirn und ihre Beine waren merkwürdig verdreht. Ich schob eine feuchte Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Die Haut glänzte im Flammenschein. Ihre sonst so wunderschöne brünette Mähne war ganz verklebt.

Überall warmes, zähes Rot.

Hilflos klopfte ich auf ihre Wange. »Du darfst jetzt nicht schlafen. Bleib bei mir!«

Ein Schluchzen. War ich das gewesen?

»Phina.« Ein schwaches Flüstern, ich konnte sie über die Geräusche des Feuers kaum verstehen. »Es tut mir leid.« Sie hustete.

»Das sollte es auch, du dummes Ding. Dafür erhältst du eine Tracht Prügel von mir, wenn du wieder fit bist.« Ich lächelte ihr unter Tränen zu.

»Ja.« Es war nur ein Hauchen.

Lara öffnete ihre Augen nicht und eine schreckliche Angst schlug ihre Klauen in meinen Magen, raubte mir die Luft.

»Lara?« Meine Stimme klang hysterisch. Wieder klopfte ich leicht auf ihre Wange, damit sie wach blieb.

»Meine Eltern …« Sie pausierte, weil jedes Wort zu viel Kraft zu kosten schien. »Jetzt habe ich schon wieder Mist gebaut …«

»Aber du kannst doch gar nichts dafür!« Ein Wagen näherte sich.

»Phina … Bitte!« Ihr Atem rasselte so seltsam.

Wieder schlug das Monster in meinem Magen zu. In diesem Moment hätte ich ihr jeden Wunsch erfüllt.

»Kein Problem. Ich sage, dass ich gefahren bin. Hauptsache, du wirst schnell gesund.«

Wieder ein keuchender Atemzug. »Phina …«

Ich schluchzte laut auf. »Ich verspreche es!«

Ein leichtes Lächeln glitt über ihre Züge. Ihr Atem ging noch schwerer als zuvor.

Mir war übel.

Türen schlugen. Aufgeregte Stimmen näherten sich.

»Hallo? Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«

In Ordnung?

»Wir rufen einen Krankenwagen. Gleich wird alles gut!«

Gut? Würde es jemals wieder gut werden?

Lara war so still, während es um uns herum immer lauter zuging.

Noch ein Wagen hielt an. Jemand legte eine Decke über uns. Ein Martinshorn erklang. Weitere Menschen, die durcheinanderzurufen begannen.

»Hallo? Können Sie mich verstehen?« Eine behutsame Hand an meiner Schulter.

»Ja«, flüsterte ich. Meine Stimme klang fremd.

»Wie geht es Ihnen?«

Das sollte wohl ein Witz sein. Ich blickte auf Lara hinab, die gerade aus meinem Griff genommen wurde. Ich musste mich zwingen, sie nicht festzuhalten.

»Wir heben Sie jetzt hoch.« Starke Arme verfrachteten mich ebenfalls auf eine Trage.

Schmerz begann in meinem Fuß und in meinem Brustkorb zu wüten.

Ein älterer, freundlich aussehender Polizist trat näher und berührte mich leicht am Arm. Er schien in meine Richtung zu schnuppern. Vermutlich roch er das ausgelaufene Bier. »Wie ist Ihr Name?«

»Phina Rosenberg.«

Mehrere Feuerwehrleute waren damit beschäftigt, den brennenden Wagen zu löschen.

»Frau Rosenberg, Sie werden jetzt in die Klinik nach Kiel gebracht. Bitte verraten Sie mir vorher noch rasch den Namen der Fahrerin.«

Die Fahrerin.

Ich atmete tief durch und stellte fest, dass das wehtat.

›Lara‹, wollte ich antworten, aber dann fiel mir ein, was ich ihr versprochen hatte. Was, wenn es das Letzte war, was ich zu ihr hatte sagen können? Was, wenn ich sie nie mehr lebend wiedersah?

Ich war keine Lügnerin, aber ich war auch niemand, der ein gegebenes Versprechen brach – vor allem, wenn es um meine beste Freundin ging.

»Ich bin gefahren«, sagte ich schließlich mit rauer Stimme, ohne dem Polizisten in die Augen sehen zu können. »Meine Freundin war nur Beifahrerin. Sie heißt Lara. Lara Wolf.«

Oh Gott! Was, wenn sie es nicht schaffte?

Der Polizist schaute zu Lara, die eben in den Rettungswagen geschoben wurde, dann zum Auto und wieder zu mir. »Sie sind gefahren?«, fragte er und runzelte die Stirn.

Ich nickte mit geschlossenen Augen. Es war zu anstrengend, sie weiter offen zu halten. Alles drehte sich.

Vom Polizisten hörte ich ein zweifelndes »Mhm …«, dann hoben die Sanitäter meine Trage an.

Schmerz explodierte in meinem Kopf und in meiner Seele.

Zu viel, um es aushalten zu können.

Zu viel für einen Menschen.

Zwei

Licht

Lara

Kalt.

Es war arschkalt hier.

Und könnte bitte endlich jemand diesen nervtötenden Wecker ausschalten? Würde meine Tante gleich rufen? »Lara, steh endlich auf!«, oder so etwas in der Art? Es wurde echt Zeit, dass ich dort auszog.

Nun veränderte sich das Geräusch. Wurde holperig und ging dann in einen lang gezogenen Piepton über.

Ein Mann rief: »Wir verlieren sie!«

Ich wunderte mich über die Aufregung.

Einfach loslassen, Lara. Der Gedanke kam aus dem Nirgendwo und setzte sich in meinem Kopf fest. Eine wunderbare Vorstellung.

Und dann tat ich es – verließ meinen Körper, legte ihn wie einen lästigen Mantel ab und stieg ein kleines bisschen in die Höhe.

Von hier oben konnte ich alles viel besser beobachten.

Unter mir lag eine junge Frau auf einem OP-Tisch. Ihr Brustkorb war geöffnet, aus dem Mund ragte ein Schlauch. Aber … das war doch … Ich betrachtete ihr Gesicht. Tatsächlich!

Das war ich.

Merkwürdig. Und wie hektisch die Leute um mich herum waren.

»Wir können sie nicht zurückholen, wir kriegen sie nicht!«

Warum regten die sich bloß so auf? War doch alles okay. Ich empfand keine Schmerzen, nur ein leichtes Erstaunen.

Ein Gefühl der Entspannung, ja sogar des Glücks erfasste mich. Es war wie eine Heimkehr nach einer langen, anstrengenden Reise. Ein Zustand, der bei mir Leichtigkeit und vollkommene Ruhe auslöste. Eine Ruhe, die ich lange nicht mehr empfunden hatte.

Ich stieg höher und höher, durch das Dach des Krankenhauses hindurch, als ob es gar nicht da wäre, und freute mich darüber, dass ich es konnte.

Eine ganze Weile genoss ich es, mich treiben zu lassen, berauschte mich an dem grandiosen Ausblick, den ich von hier oben hatte. Doch irgendetwas zog mich weiter in die Höhe.

Und dann war da dieses Licht.

So etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen. Eine sanft glimmende Helligkeit und Wärme, die in mir die Sehnsucht nach dem tollsten Strandurlaub meines Lebens entfachte. Je näher ich dem Licht kam, desto verlockender wurde es.

Wie wunderschön! Und ich durfte dort hinschweben! Das würde ich gern Phina zeigen.

… Phina?

Ich hielt inne, obwohl das Licht mich mit aller Kraft zu sich zog.

Wie es ihr wohl ging? Ob sie auch in diesem Krankenhaus lag? Ich könnte zumindest einmal nach ihr suchen.

Phina war meine Herzensfreundin, meine Seelenverwandte. Eigentlich schon seit fast fünf Jahren, als wir das erste Mal bei einer Pädagogik­vorlesung nebeneinandergesessen hatten. Ich hatte spöttische Kommentare über den spießigen Dozenten abgegeben und sie musste so laut losprusten, dass sie beinahe aus dem Hörsaal geflogen wäre.

Danach hatte sie mir immer einen Sitzplatz frei gehalten, was sehr praktisch war. Pünktlichkeit zählte nicht gerade zu meinen Stärken.

Phina hatte Deutsch und Musik auf Lehramt studiert und ich Sport und … ähm … An mein zweites Fach konnte ich mich kaum noch erinnern. Musste daran liegen, dass ich mich bei den Seminaren nie gezeigt hatte …

Um Phina zu suchen, widerstand ich dem Sog des Lichts. Zunächst kehrte ich in den OP zurück, aber hier befanden sich nur noch zwei Pfleger, die sauber machten. Eigenartig. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war.

Durch die Wände schwebte ich von Raum zu Raum und traf schließlich auf meine Eltern. Weinend saßen sie an einem Krankenhausbett.

Was war denn da los? Ich kam näher.

In dem Bett lag mein Körper unter einer Bettdecke.

Puh, sah ich übel aus! Als hätte ich die ganze Nacht durchgesoffen­ – Augenringe bis zum Bauchnabel. Die braunen Haare ungepflegt an den Kopf gedrückt. Und die vielen kleinen Schnitte im Gesicht von den Splittern der Windschutzscheibe … Wehe, wenn das Narben hinterließ! Wenigstens hing ich nicht mehr an Kabeln oder irgendwelchen Schläuchen. Warum eigentlich nicht?

Meine Mutter hielt meine Hand und schluchzte. Irgendwie ein bisschen peinlich. Ich wollte sie berühren und ihr tröstend über den Kopf streichen, aber meine Hand glitt einfach durch sie hindurch. Ich versuchte es wieder, mit dem gleichen Ergebnis.

Das war jetzt aber echt ätzend.

Mein Vater beugte sich zu ihr und nahm sie in den Arm.

Und während sie sich lange Zeit gegenseitig hielten, geschüttelt von Schluchzen, dämmerte es mir endlich:

Ich war tot.

Mausetot. Und ich sah dabei noch nicht mal hübsch aus.

So hatte ich mir meinen Abgang nicht vorgestellt.

Ich war doch gerade mal sechsundzwanzig Jahre alt und hatte noch so viele Dinge erleben wollen. Eine Weltumseglung, den Himalaya besteigen, Popstar werden! Mein Ende kam jetzt doch ein wenig … unerwartet.

Dämliches Reh! Hoffentlich machte es sich wenigstens nützlich und wurde zu leckerem Ragout verarbeitet.

Vermutlich hätte ich eine tiefe Verzweiflung und Traurigkeit verspüren sollen – aber so war es nicht. Ganz im Gegenteil, ich fühlte eine friedliche Heiterkeit und Leichtigkeit, wie ich sie nie zuvor empfunden hatte. Ich war ja noch da, auch wenn es dummerweise keiner bemerkte. Ich konnte alles hören und sehen und es ging mir super. Total gechillt.

Erneut versuchte ich, Kontakt zu meinen Eltern aufzunehmen, ihnen klarzumachen, dass ich hier war, dass ich sie hören konnte. Dass es mir gut ging. Und dass das Ganze hier irgendwie ziemlich irre war.

Vergeblich. Sie bemerkten mich nicht. Allerdings stellte ich dabei fest, dass ich das Licht ein wenig verändern und brechen konnte. Spaßeshalber schrieb ich mit Lichtstrahlen Buchstabe für Buchstabe »Hallöchen« an die weiße Wand.

Cool! Das war lustig!

Also lenkte ich ein paar der ersten Sonnenstrahlen, die durch das Fenster fielen, auf meine Eltern, um ihnen eine Freude zu machen. Sie bemerkten es nicht. Schade.

Eine ganze Weile lang blieb ich bei ihnen, bis sie irgendwann den Raum verließen. Dann beschloss ich, weiter nach Phina zu suchen.

Im ersten Stock des Krankenhauses wurde ich endlich fündig.

Na, die sah aber auch scheiße aus. Keinen Deut besser als ich.

Ziemlich blass, die zierliche Gestalt unter der weißen Krankenhausdecke. Phina hatte ebenfalls Schnittwunden im Gesicht und trug eine dicke Halskrause. Eine Braunüle ragte aus ihrem Arm. Beide Hände waren bandagiert.

Ein klein wenig erinnerte sie an einen Bären.

Schmunzelnd überlegte ich, was sie machen würde, wenn es sie an der Nase juckte.

Ich erkannte, dass ihr linkes Bein unter der Bettdecke viel dicker war. Vermutlich ein Gips. Schade, dass ich nicht mehr darauf unterschreiben konnte.

Armes Finchen. Liebevoll ließ ich ein paar Lichtstrahlen über sie glitzern, aber ihre violett verfärbten Augenlider blieben geschlossen.

Die Zimmertür öffnete sich und eine Schwester kam herein.

»Frau Rosenberg?« Sie berührte Phina leicht an der Schulter. »Hallo, Frau Rosenberg? Können Sie mich hören?«

Phinas Lider flatterten.

»Wie geht es Ihnen? Möchten Sie etwas gegen die Schmerzen?«

Phina nickte leicht.

»Na, dann werde ich mal Ihre Werte kontrollieren und gleich bringe ich Ihnen ein Schmerzmittel.« Sie legte Phina eine Manschette um den Oberarm.

Jetzt öffnete meine Freundin mühsam die Augen. Man sah ihr an, dass sie viel lieber in Ruhe gelassen werden wollte.

Na, der nervigen Dame hätte ich aber gern mal ein paar Takte erzählt. Das sah doch ein Blinder, dass Phina Ruhe brauchte.

Weil sie meine beste Freundin ärgerte, blendete ich die Schwester mit einem Lichtstrahl, doch die zog kurzerhand den Vorhang etwas weiter zu, nachdem sie Phina die Manschette wieder abgenommen hatte.

»Wie sieht es nachher mit ein paar Happen Frühstück aus?«, fragte die Schwester mit professioneller Freundlichkeit und hielt Phina einen Becher an die Lippen. »Vielleicht ein wenig Obstbrei?«

Phina trank einen Schluck. Dann hob sie in Zeitlupe ihre Hand und schaute fragend auf den Verband.

»Wir werden Sie füttern, keine Sorge! Sie verhungern uns hier schon nicht.«

Die Schwester verließ den Raum und kam kurz darauf wieder. Sie kontrollierte den Tropf und spritzte etwas in den Beutel hinein. Vermutlich das Schmerzmittel.

»Wo ist Lara?«, fragte Phina mit dünner Stimme.

»Hier! Anwesend!«, hätte ich gern gerufen. Aber das ging ja leider nicht mehr. Also wackelte ich nur mit einigen Lichtstrahlen über die Zimmerdecke.

»Es tut mir sehr leid, Frau Rosenberg.« Jetzt klang die Stimme der Schwester plötzlich verunsichert. Sie griff nach Phinas Arm und streichelte ihn beruhigend. »Frau Wolf ist … leider in der Nacht … ihren Verletzungen erlegen.«

Phina reagierte nicht.

Keine Worte der Trauer. Kein schmerzverzerrtes Gesicht. Kein Schluchzen. Nichts.

Na, also etwas mehr Dramatik hätte ich mir schon gewünscht, schließlich war ich ihre beste Freundin!

»Wir haben Ihre Mutter informiert, Frau Rosenberg. Sie wird bald hier sein.« Die Schwester drückte Phina einen Klingelknopf in die verbundene Hand, was sich gar nicht so leicht gestaltete. »Ich komme bald wieder und dann schauen wir mal, ob Sie nicht etwas essen mögen. Klingeln Sie bitte, wenn Sie sonst noch etwas benötigen.« Auch die Schwester schien hilflos angesichts von Phinas Reaktionslosigkeit.

Die Tür klappte hinter ihr zu.

Neugierig beobachtete ich, was weiter geschehen würde.

Aber es geschah nichts. Phina blickte starr zur Decke, völlig regungslos und stumm. Und so blieb es auch, als die Ärzte zur Visite kamen, als die Schwester erfolglos versuchte, sie mit einigen Löffeln Brei zu füttern und als Phinas Mutter sich völlig aufgelöst neben sie setzte.

Frau Rosenberg war eine schlanke, gepflegte Frau mit den gleichen blonden Haaren wie Phina. Sie hatte ihrer Tochter bequeme Kleidungsstücke, eine Zeitschrift und ein paar Schokopralinen mitgebracht.

Phina beachtete ihre Mutter nicht, obwohl man sie kaum übersehen konnte. Sie trug ein bordeauxrotes Filzkleid, darunter einen schlammgrünen Pullover, eine lilafarbene Leggins und dazu farblich passend geringelte Stulpen an den Armen. Zum Glück hatte meine Freundin nicht auch den Modegeschmack ihrer Mutter geerbt …

Die Krankenschwester erklärte, dass Phina sich bei dem Unfall Frakturen am linken Außenknöchel und an zwei Rippen zugezogen hatte. Hinzu kämen ein Schädel-Hirn-Trauma und eine gestauchte Halswirbelsäule. Nicht zu vergessen die Schnittverletzungen und Prellungen an verschiedensten Körperteilen.

Oha! Kein Wunder, dass sie so ramponiert aussah.

Nachdem sie die aufgeregten Fragen von Frau Rosenberg zu Phinas Gesundheitszustand beantwortet hatte, ließ die Krankenschwester Mutter und Tochter allein.

»Möchtest du vielleicht fernsehen?« … »Oder noch etwas trinken?« … »Soll ich dir ein Radio besorgen, damit es nicht so still ist?« … »Oder vielleicht ein paar Hörbücher?« … »Möchtest du lieber in ein Zweibettzimmer, damit du nicht so allein bist?«

Ihre Mutter bemühte sich redlich, mit der Situation zurechtzukommen, doch Phina zeigte keine Reaktion auf ihre Fragen.

Nachdem Frau Rosenberg sich über eine Stunde vergebens bemüht hatte, sagte sie: »Ach Mäuschen, es tut mir wirklich leid, aber ich bekomme gerade eine Migräneattacke. Sobald es mir besser geht, komme ich wieder, versprochen!«

Sie war schon immer sehr sensibel gewesen und bekam bei Stress regelmäßig Kopfschmerzen. Die Zeit, in der sie praktisch alleinerziehend gewesen war, nachdem sie sich vor neun Jahren von Phinas Vater getrennt hatte, war sicher nicht leicht für sie gewesen. Für Phina aber wohl auch nicht.

Frau Rosenberg verließ mit hängendem Kopf das Krankenzimmer. Auch darauf zeigte Phina keine Reaktion.

Am Nachmittag kam Espen zu Besuch. Er war angehender Sozialpädagoge und sah immer ein wenig spitzbübisch und verwegen aus. Seine blonden Haare waren ständig verwuschelt und er trug meistens einen Dreitagebart. Ich mochte ihn, auch wenn er Phina mit seiner chaotischen Art regelmäßig in den Wahnsinn trieb.

Im Gegensatz zu ihr nahm er das Leben leicht und genoss seine Unabhängigkeit in vollen Zügen.

»Mensch, Schwesterherz, was machst du für Sachen?«, begrüßte er sie besorgt und stellte ebenfalls eine Packung Schokopralinen auf den Nachttisch.

Dann setzte er sich zu ihr. Als sie stumm blieb, erzählte er ihr Anekdoten von seiner Arbeit. Doch auch er schaffte es nicht, Phina aus ihrer Lethargie zu reißen. Dabei wusste ich, dass sie ihn von Herzen liebte, sonst hätte sie sich nicht nach wie vor um ihn gekümmert, wenn er mal wieder in Schwierigkeiten steckte. Da war sie meinen Brüdern ziemlich ähnlich. Die hatten mir auch so manches Mal aus der Patsche geholfen …

Als Espen schließlich das Krankenzimmer verließ, hatte Phina sich immer noch nicht gerührt. Nur ihre Augen bewegten sich und verfolgten die Lichtstrahlen, die ich an der Decke für sie tanzen ließ.

Und so blieb es die nächsten zwei Tage.

»Ach Mensch, Finchen«, hätte ich gern gerufen, als ich von einem Besuch bei meinen Eltern zu ihr zurückkehrte und versuchte, ihr ein paar freundschaftliche Stupse zu verpassen. »Ich bin doch bei dir. Ich fühle mich so toll wie vermutlich noch nie in meinem Leben! Das Einzige, was nervt, ist dieser Drang zum Licht und dass wir uns nicht unterhalten können. Also sei doch bitte nicht so traurig.«

Am dritten Tag führte eine Schwester zwei uniformierte Polizei­beamte in Phinas Zimmer.

»Guten Tag, Frau Rosenberg«, sprach die Polizistin Phina an und trat ans Bett, während ihr männlicher Kollege mitten im Raum stehen blieb. »Mein Name ist Seliger, das ist mein Kollege Brinkmann. Wir bringen Ihnen Ihr Handy vorbei, das wurde am Unfallort gefunden.«

Phina schaute sie an, blieb aber stumm.

Achselzuckend legte Frau Seliger das Smartphone auf den Nachttisch. »Außerdem ermitteln wir in Ihrer Unfallsache und müssen Ihnen noch ein paar Fragen stellen.«

Phina guckte die Beamtin weiterhin nur still an.

»Nun ja«, fuhr diese ein wenig unbehaglich fort, »wissen Sie, am Unfallort wurde starker Alkoholgeruch festgestellt.«

Mir fielen die Bierflaschen ein, die auf dem Rücksitz meines Wagens gelegen hatten. Ups! Ich hatte die Flaschen heute zum Geburtstag eines Bekannten mitnehmen wollen.

»Entschuldigen Sie die direkte Frage, aber: Haben Sie Alkohol getrunken, bevor Sie gefahren sind? Bevor Sie antworten: Sie müssen sich nicht selbst belasten und können einen Anwalt einschalten.«

Außer dass meine Freundin blinzelte, geschah nichts.

Ich musste grinsen, weil Phina der einzige Mensch war, den ich kannte, der noch nicht einmal ein halbes Glas Sekt zu sich nahm. Sie trank grundsätzlich keinen Alkohol. Nie.

»Wir haben die Blutwerte von Frau Rosenberg kontrolliert, Frau Seliger, null Promille«, warf jetzt die Schwester ein.

Die Polizistin warf ihrem Kollegen einen kurzen Blick zu. Der trat daraufhin näher und übernahm die Gesprächsführung. »Frau Rosenberg, Sie müssen sich keine Sorgen machen wegen unserer Ermittlungen. Wild tritt meist unvermittelt auf die Straße, wir haben bislang keinen Anlass, davon auszugehen, dass es sich nicht um einen ganz normalen Wildunfall handelt. Anhand der Bremsspuren konnten wir feststellen, dass Ihr Wagen nicht zu schnell war.«

Phina schloss ihre Augen, als ob es zu anstrengend wäre, sie aufzuhalten.

»Wie ich Ihnen bereits gesagt habe: Sie ist beunruhigend apathisch«, erklärte die Krankenschwester nun. »Vermutlich eine Folge des Unfalls und der Nachricht vom Tod ihrer Freundin. Der Schock, wissen Sie? Nicht einmal als gestern ihr Freund zu Besuch kam, hat sie reagiert.«

Julius Wedekind (›das Kindchen‹ – wie ich ihn in Gedanken wegen seiner Milchbubi-Ausstrahlung zu nennen pflegte – aber das durfte Phina nicht wissen) hatte ihr einen bombastischen pinkfarbenen Strauß Blumen auf die Fensterbank gestellt. (Leider hatte der Blödmann nicht bedacht, dass Lilien viel zu stark für ein Krankenhauszimmer dufteten. Die Schwestern hatten den Strauß später entfernen müssen.) Er hatte Phinas Hand gehalten, gefleht, dass sie doch etwas sagen möge, und sie die ganze Zeit mit einem Hundeblick angeschaut.

Merkte er denn nicht, dass er jetzt mal der Starke sein musste?

Phina und Julius waren seit der Schulzeit zusammen, sahen sich durch die Entfernung aber nur zwei bis drei Mal im Monat. Julius war Jurist und lebte im anderthalb Fahrtstunden entfernten Hamburg. Fand ich nicht weiter tragisch, denn er war ein fürchterlicher Langweiler, dem zu allem Übel auch noch jeglicher Humor abging. Mir drängte sich die Vorstellung auf, wie es bei den beiden im Bett abgehen mochte … Wahrscheinlich erzählte er noch während des Aktes, was er alles zu tun hatte, wie gut er in seinem Job war und welche wichtigen Chefs ihn gelobt hatten. Meine Abneigung hatte ich natürlich Phina gegenüber nicht so sehr heraushängen lassen. Wenn sie glücklich mit ihm war, sollte es mir recht sein.

Irgendwann hatte Julius seine Bemühungen um Phinas Aufmerksamkeit aufgegeben und sich nach einem Kuss auf ihre blasse Stirn vom Acker gemacht.

»Frau Rosenberg, wir verstehen, dass es Ihnen nicht gut geht, aber wir benötigen ein paar Antworten«, versuchte der Polizist es erneut.

»He, Herr Wachtmeister! Lassen Sie bloß meine Freundin in Ruhe. Sonst … äh … beschieße ich Sie mit Lichtstrahlen!«

Natürlich hörte er mich nicht.

»Sie haben kurz nach dem Unfall zu einem Kollegen gesagt, dass Sie die Fahrerin des Wagens waren?«

Nun schlug Phina doch die Augen auf. Ihr Blick wanderte zu seinem Gesicht.

Oh, verdammte Scheiße!

Siedend heiß fiel mir ein, dass sie mir versprochen hatte, meinen Eltern nichts zu sagen. Was natürlich wiederum bedeutete, dass sie niemandem verraten durfte, dass in Wahrheit ich gefahren war.

Aber da hatte ich doch nicht gewusst, dass ich kurz darauf abkratzen würde! Sonst hätte ich so was doch niemals von ihr verlangt!

Auweia! Ob man sie deswegen drankriegen konnte? Wie schnell war ich gefahren? Auf jeden Fall unter 100 km/h, nach Finchens Rumgejammer über meinen Fahrstil. Verdammt, sie hatte recht gehabt.

Scheiße, Scheiße, Scheiße! Was hatte ich da bloß angerichtet? Ich war so ein Vollidiot. Wie war ich nur auf diese hirnrissige Idee gekommen, zuzulassen, dass sie sich als Fahrerin ausgab?

Rückblickend verstand ich mein Verhalten nicht. Mit dieser tiefen Zufriedenheit in mir, diesem Gefühl endloser Liebe, erschien es mir völlig unerheblich, dass ich selbst es gewesen war, die mein Leben an die Wand (beziehungsweise an den Baum) gefahren hatte.

Meine Eltern liebten mich, egal ob ich erfolgreich war oder nicht, das war mir nun klar. Sonst hätten sie in den letzten beiden Tagen nicht stundenlang im Beerdigungsunternehmen gesessen, wo mein Körper aufgebahrt worden war. Wie hatte ich mich nur derart von meiner Familie entfremden können?

Mehrfach hatte ich in den Tagen nach dem Unfall meine Eltern besucht und hilflos zugesehen, wie sie um mich trauerten.

Sie hatten mir ein schickes Kleid ausgesucht und der Bestattungsunternehmer hatte mit Schminke ein kleines Wunder vollbracht. (Die Schminktipps hätte ich gern zu Lebzeiten gehabt!)

Dass ich schön aussah, fanden auch meine beiden Brüder, die ebenfalls zeitweise an meiner Seite wachten. Flüsternd hatten sie sich über all die Streiche unterhalten, die ich als Kind ausgeheckt hatte.

Ich war so gerührt, dass ich beschloss, dem lockenden Ruf des Lichtes noch ein wenig länger zu widerstehen und mir meine eigene Beerdigung anzuschauen.

Aber zurück zu Phina, die ich in diese furchtbare Zwickmühle hineinmanövriert hatte.

»Das ist richtig«, antwortete sie dem Beamten gerade schleppend, »ich habe den Wagen gefahren.« Ihre Stimme klang rau. Sie hatte lange nicht gesprochen.

»Sie müssen verstehen, es ist unser Job, diese Fragen zu stellen«, erklärte die Polizistin entschuldigend. »Aber keine Sorge. Da Sie anscheinend weder unter Alkoholeinfluss standen noch zu schnell gefahren sind, werden zwar die Fakten für die Staatsanwaltschaft zusammengetragen, aber ich vermute, dass das strafrechtliche Ermittlungsverfahren rasch eingestellt wird, da es sich hier anscheinend um einen normalen Wildunfall handelt.«

Ich atmete zutiefst erleichtert auf, während Phina keine Reaktion zeigte.

Als die beiden, gefolgt von der Krankenschwester, kurz darauf hinausgingen und Phina allein zurückließen, fühlte ich mich mies. Und das wollte etwas heißen, denn normalerweise begleitete mich in meinem neuen Daseinszustand eher eine glückliche Scheißegal-Haltung.

Um Phina zu trösten, schwebte ich ganz nah an sie heran und kuschelte mich an sie und versuchte, ihr all die flauschig rosafarbenen Gefühle zu senden, die ich zu Lebzeiten so nicht gekannt hatte.

Auf einmal glitzerten in Phinas Augen Tränen. Stumm begann sie zu weinen. Zuckend, bebend, hilflos.

»Ach Lara, es tut mir so unendlich leid! Ich werde dein Vertrauen niemals missbrauchen. Dein Geheimnis ist bei mir sicher. Für immer«, brach es aus ihr heraus. »Ach, weshalb bin ich bloß nicht gefahren! Vielleicht hätte ich es verhindern können …«

Sie sagte es, als spürte sie, dass ich neben ihr war.

Niemand außer mir konnte sie hören. Und mir wäre es lieber gewesen, hätte ich sie ebenfalls nicht hören können … Die Schuldgefühle schafften es, meine Glückswolke zu durchdringen, und wollten mich schier zerreißen.

Am vierten Tag nach dem Unfall kam eine Frau von der Klinikseelsorge in das Krankenzimmer. Einer der behandelnden Ärzte musste sie angerufen haben, weil er sich Sorgen um den Gemütszustand der Patientin machte. Ich konnte es ihm nicht verdenken.

Die Dame begrüßte Phina, stellte sich als Pastorin vor und zog sich einen Stuhl ans Bett. Dann schwieg sie eine Weile, während sie sanft über Phinas Arm streichelte.

Misstrauisch beobachtete ich sie. Aber meine Freundin zeigte keinerlei Zeichen der Abwehr. Genau genommen reagierte sie mal wieder überhaupt nicht.

Schließlich brach die Pastorin die Stille. »Mir wurde erzählt, dass Ihre Freundin bei dem Unfall ums Leben kam, Frau Rosenberg«, begann sie mit ruhiger Stimme. »Das tut mir sehr leid.«

Ha! Endlich mal jemand, der mit Phina darüber sprach. Sowohl das Pflegepersonal als auch Phinas Mutter, ihr Bruder und Julius hatten das Thema ›Unfall‹ bisher vermieden. Ein bisschen konnte ich es nachvollziehen. Schließlich war es nicht leicht, die richtigen Worte zu finden.

Phina atmete tief ein. Schwerfällig drehte sie den Kopf zur Pastorin. »Wollen Sie mir jetzt erzählen, dass der liebe Gott das so gewollt hat und dahinter ein tieferer Sinn liegt?« Ihre Stimme klang heiser und zornig.

Überraschenderweise wurde der Gesichtsausdruck der Pastorin daraufhin weich. »Ich verstehe Ihre Wut«, sagte sie. »Möchten Sie über Ihre Freundin sprechen?«

Ich war beeindruckt. Die Frau war gut. Neugierig wartete ich ab, was nun geschehen würde.

Phina schluckte. Und dann begann sie tatsächlich von mir zu erzählen. Zunächst stockend, immer wieder unterbrochen von Schluchzern, dann flüssiger.

Sie schilderte, wie wir uns an der Uni kennengelernt hatten, erzählte von gemeinsamen Unternehmungen und davon, wie stolz ich auf den betagten Kleinwagen gewesen war, den ich von meiner verstorbenen Tante geerbt hatte und der nun leider in die ewigen Jagdgründe eingegangen war.

Sie sprach darüber, dass sie in unserer Freundschaft wohl eher der ruhigere und besonnenere Part gewesen war, was das Ganze so gut funktionieren ließ. (Okay, damit hatte sie vielleicht nicht ganz unrecht, auch wenn ich es nicht gern hörte.) Sie berichtete, dass sie wegen ihrer Verletzungen noch nicht einmal zu meiner Beerdigung gehen könne, die morgen stattfinden sollte, weil sie das Krankenhaus noch nicht verlassen durfte.

Am Ende musste sie unter Tränen sogar lächeln, während sie davon erzählte, wie ich mir einmal wegen einer verlorenen Wette ein Herzchen-Tattoo um meinen Bauchnabel hatte stechen lassen müssen.

Die Pastorin ermunterte sie zum Weitersprechen, ohne über das Gehörte zu urteilen oder es zu werten, was ich ihr hoch anrechnete.

Ich blieb die ganze Dauer des Gespräches über bei ihnen, weil es wunderschön war, Phina von mir sprechen zu hören. So viel Warmherzigkeit und Zuneigung leuchtete aus ihren Worten.

Voller Dankbarkeit hauchte ich ihr einen Lichtkuss auf die Wange.

Als meine Freundin schließlich schwieg, sagte die Pastorin ernst: »Dieser Schmerz, den Sie fühlen, er darf genau so sein.« Immer noch hielt sie unaufdringlichen Körperkontakt zu Phina.

»Aber es tut so weh. So verdammt weh, dass ich es nicht aushalten kann!« Wieder schluchzte Phina zum Steinerweichen.

Die Pastorin nickte bedächtig, dann sagte sie: »Ich glaube, Sie vermissen sie genau so sehr, wie Sie können.«

Phina dachte einen Moment über ihre Worte nach. Dann blickte sie die Seelsorgerin ernst an und nickte.

»Ich fühle mich schuldig, weil ich Laras Tod hätte verhindern können«, sagte Phina mit zitternder Stimme und ängstlich blickenden Augen, woraufhin die Pastorin ihre Hand kurz an Phinas Wange legte.

Ich fragte mich, ob das bei solchen Gesprächen üblich war, freute mich aber für meine Freundin über diese Geste.

»Es war ein Wildunfall, richtig?«

Phina nickte.

»Und Sie glauben, Sie hätten einen Wildunfall verhindern können?«

Meine Freundin zuckte unsicher mit den Schultern, was wegen der Halskrause ein bisschen lustig aussah.

»Sehen Sie, manche Dinge können wir einfach nicht beeinflussen.«

Phina guckte zweifelnd.

»Wie fänden Sie es, wenn wir gemeinsam für Ihre verstorbene Freundin beten würden?«, schlug die Pastorin vor.

»Aber ich kann ja nicht einmal glauben, dass Lara tot sein soll«, rief Phina. »Ich spüre sie doch noch. So, als wäre sie hier im Raum!«

Bingo! War ich ja auch.

»Und ist das ein schönes Gefühl?« Die Seelsorgerin sah sie interessiert an.

Nach kurzem Überlegen nickte Phina.

»Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir einfach nicht begreifen können«, sagte die Pastorin bedächtig und ich konnte ihr nur zustimmen. »Aber ich denke, dass es trotzdem schön und tröstend sein könnte zu beten. Was meinen Sie?«

Und so beteten die beiden, was mich schon wieder ziemlich rührte.

Am nächsten Tag fand meine Beerdigung statt. Das wollte ich mir nicht entgehen lassen, schließlich hatte ich dafür extra dem Sog des wundervollen Lichtes so lange widerstanden. Anschließend würde ich loslassen und mich in das warme Leuchten aufmachen.

Freude, Leichtigkeit und Frieden.

Ich verabschiedete mich schweren Herzens von Phina, die weinend unter der Bettdecke steckte, weil sie nicht dabei sein und von mir Abschied nehmen konnte. Dabei war es ihr anscheinend völlig egal, dass sie mittlerweile eine Zimmergenossin bekommen hatte, die sie verunsichert beobachtete.

Die Schwester brachte Phina etwas zur Beruhigung.

Obwohl ich sie in guten Händen wusste, fiel es mir schwer, sie endgültig zu verlassen.

»Auf Wiedersehen, mein Finchen, halt die Ohren steif. Wir treffen uns irgendwann im Licht.«

Zum Trost malte ich ihr lächelnde Lichtstrahlsmileys und Herzen an die Wand und gab ihr noch einen dicken Kuss.

Es ärgerte mich, dass der Lichtschein, den ich umzulenken in der Lage war, nur so schwach war, dass es niemand bemerkte.

»Ich hab dich lieb, mein Finchen.«

Dann schwebte ich zur Friedhofskapelle.

Wow! Mein Sarg war über und über mit Ranunkeln in allen möglichen Farben bedeckt. Sie hatten daran gedacht, dass ich die so gern mochte. Am liebsten hätte ich meine Eltern umarmt. Die sahen nicht gut aus, genauso wie meine Lieblingstante Mareike, bei der ich hatte wohnen dürfen. Sie hatten dunkel unterlaufene Augen. Es tat mir unendlich leid, dass schon wieder ich es war, die ihnen Schmerz zufügte. Ich ließ sanfte Lichtstrahlen über sie gleiten, als könnte ich sie auf diese Weise umarmen und streicheln.

Um den Sarg herum war alles voll mit Kerzen, Kränzen und Blumengebinden. Auf einer Staffelei hatten sie ein großes Foto von mir aufgestellt. (Zum Glück eines der wenigen, auf denen ich vorteilhaft aussah …)

Ich schaute mich um. Die Kapelle war bis auf den letzten Platz belegt, stellte ich erstaunt fest. Meine Eltern, Tante Mareike und meine Brüder sowie der Rest der Verwandtschaft saßen vorn in den ersten Reihen. Aber auch mein kompletter Physiotherapie-Kurs samt Ausbilder war angereist, ehemalige Lehrer und Klassenkameraden aus Schulzeiten, die Mädels aus meiner Volleyballmannschaft, Freunde und Bekannte, ja sogar zwei meiner Ex-Freunde.

Ich war gerührt, dass so viele Menschen von mir Abschied nehmen wollten.

Nur dass alle so ernst und still waren, fand ich blöd. Ich verdrehte die unsichtbaren Augen. Sie sahen furchtbar steif aus in ihren dunklen Klamotten. Wenn die wüssten, dass ich hier war und alles beobachtete …

Im Anschluss an die wirklich sehr bewegende Trauerfeier wurde mein Sarg von sechs Trägern würdevoll zum Grab gebracht.

Zu gern hätte ich mich mit Phina über deren Schlapphüte und die Tortendeckchen um ihre Hälse lustig gemacht. Gut, dass sie nicht meine beiden fast zwei Meter großen Brüder dazu genommen hatten, die zwischen den Trauernden herausragten. Dann hätte der Sarg ziemlich schief gehangen.

Als schließlich alle zum Beerdigungskaffee davonströmten, hielt ich den Zeitpunkt für gekommen, mich von meiner Familie zu verabschieden.

Ich küsste meine Eltern ein letztes Mal mit Licht und versuchte ihnen zu sagen, wie sehr ich sie lieb hatte. Dann schwebte ich zum Abschied zu meinen Brüdern, die gemeinsam ein wenig abseits standen und mit finsteren Gesichtsausdrücken heiß diskutierten.

Was war denn bei denen los?

Drei

Untröstlich

Phina

Es war nicht bloß mein Körper.

Alles in mir schmerzte. Die Art von Schmerz, der so tief geht, dass man nicht mehr weinen kann, keine Worte mehr dafür findet.

Mit zitternder Hand wischte ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Meine Augen waren trocken. Keine Tränen. Nur noch diese furchtbare Leere, die mich zu erdrücken schien und mir den Atem raubte.

Alle waren sie mich im Krankenhaus besuchen gekommen: Meine Mutter, meine Großeltern, mein Bruder Espen, nach ein paar Tagen sogar mein Vater. Weinend hatte er an meinem Bett gesessen und ich hatte mich schuldig gefühlt, weil ich ihm Sorgen bereitete.

Zum Glück war er nur kurz geblieben und hatte sich freundlich und ganz normal verhalten.

Espen war sogar mehrfach vorbeigekommen und hatte versucht, mich aufzumuntern, und dann kam auch Julius noch ein zweites Mal zu Besuch.

»Hallo, Schatz«, sagte er leise, als er hereinkam und die Tür behutsam hinter sich schloss. Wie eigentlich meistens trug er ein Hemd.

Er warf einen Blick zum Nachbarbett, in das ein ›Blinddarm‹ eingezogen war, doch meine neue Bettnachbarin schlief.

»Hallo«, antwortete ich und betätigte den Knopf, der mein Bett so aufrichtete, dass ich in eine sitzende Position kam. Meine Stimme klang rau. Ich hatte wenig gesprochen in den letzten Tagen.

Julius stellte eine riesige Packung Pralinen, die ich ebenso wenig wie die anderen beiden essen würde, auf den Nachtschrank, setzte sich auf die Bettkante und ergriff meine mittlerweile nicht mehr verbundene Hand. Lediglich Pflaster zeugten noch von den Schnittwunden, die ich mir zugezogen hatte. Ich zuckte zusammen und entzog ihm meine Finger, denn es schmerzte immer noch.

Julius seufzte. »Geht es dir ein bisschen besser?«

Ich nickte matt. Einfach, weil er es so erwartete.

Sicher, mein Körper heilte, aber besser ging es mir deshalb noch lange nicht.

Weil ich weiterhin schwieg, erzählte er mir von seiner Arbeit und dem aktuellen Fall, mit dem er beschäftigt war.

Stumm hörte ich zu. Früher hätte ich ab und zu etwas nachgefragt, aber heute fehlte mir schlicht und ergreifend die Kraft dazu. Es interessierte mich noch nicht einmal.

»Ich würde jetzt gern ein bisschen schlafen«, murmelte ich irgendwann und fühlte mich schlecht, als ich sein verkniffenes Gesicht bemerkte

Er fuhr sich mit dieser hilflosen Geste durch die Haare, bei der mein Herz früher immer so heftig gekribbelt hatte. »Kann ich dir noch irgendetwas Gutes tun?«, fragte er. »Vielleicht einen Kaffee? Ich habe einen Automaten auf dem Flur gesehen.«

Ich schüttelte den Kopf, denn ich brauchte nichts. Nur meine Ruhe.

»Also … dann werde ich mal wieder nach Hause fahren. Morgen muss ich früh raus, ich stecke bis über beide Ohren in Arbeit.«

Er gab mir einen liebevollen Kuss auf den Mund und ich bemühte mich, ihn zu erwidern. Schließlich konnte Julius nichts dafür, wie es mir ging. Dass ich zurzeit nicht in der Lage war, irgendetwas zu fühlen außer Schmerz.

Er hatte es nicht gerade leicht mit mir.

»Ich hab dich lieb«, sagte er und stand auf.

»Ich dich auch«, hauchte ich und fuhr das Bett in Liegeposition. Noch bevor die Tür hinter ihm zugefallen war, musste ich eingeschlafen sein.

 

Nach einer Woche wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen. Meine Mutter holte mich ab und nahm mich mit zu sich nach Hause, um mich weiter aufzupäppeln. Sie sagte, sie könne mich auf keinen Fall allein lassen, solange ich nicht wieder ordentlich aß und so melancholisch war.

Widerspruchslos ließ ich mich von ihr in ihre Dreizimmerwohnung in Kiel bringen. Meine gesamte Familie lebte hier in der Nähe. Nicht nur Espen und meine Eltern, sondern auch meine Großeltern väterlicherseits.

In den nächsten Tagen merkte ich zwar, dass meine Mutter mich nach Strich und Faden verwöhnte, aber ich empfand nichts dabei. Körperlich ging es mir bald deutlich besser, aber in meinem Inneren war ich wie abgestorben.

Da war nur diese Verlorenheit, Machtlosigkeit und der Schmerz.

Als ich mich nach mehreren Tagen endlich aufraffen konnte, versuchte ich Laras Eltern zu erreichen, um ihnen mein Beileid auszusprechen.

»Wie können Sie es wagen, hier anzurufen?«, fuhr mich ihr Vater an, nachdem ich mich gemeldet hatte. Im Hintergrund hörte ich eine Frau aufschluchzen. »Haben Sie nicht schon genug angerichtet?«

Ich schluckte. »Aber …«

Noch bevor ich ausgeredet hatte, ertönte ein Tuten in der Leitung. Am ganzen Körper zitternd legte ich ebenfalls auf und vergrub mein Gesicht in den Händen.

Konnte ich ihnen ihr Verhalten verdenken? Schließlich dachten sie, dass ich schuld am Unfall war.

Stundenlang hatte ich darüber nachgedacht, ob ich ihnen erzählen sollte, wie es sich wirklich verhielt, jetzt, wo Lara tot war. Aber es fühlte sich für mich noch tausendmal schlimmer an, Laras Andenken zu beschmutzen, als wenn ich zu ihren Lebzeiten die Wahrheit gesagt hätte. Wenn ich im Nachhinein alles gestanden hätte, wäre das gewesen, als wollte ich meiner besten Freundin Schaden zufügen. Und bestimmt hätten alle gedacht, ich würde versuchen, die Schuld auf jemanden abzuwälzen, der sich nicht mehr verteidigen konnte.

Also schwieg ich und hoffte darauf, dass ich nicht wegen des Unfalls verurteilt würde. Zumindest hatte Julius mir gesagt, dass die Chancen gut stünden, wenn ich nicht fahrlässig gehandelt hätte, und der musste es schließlich wissen.

 

 

Meine Mutter bemühte sich redlich um mich, doch ich wollte meine Ruhe, anstatt ihr weiter zur Last zu fallen. Daher ließ ich mich, nachdem ich mittlerweile eine ganze Woche bei ihr verbracht hatte, zurück in meine Einzimmerwohnung in Mühlensee bringen, einem Ort mit etwa dreitausend Einwohnern, der zwanzig Minuten Fahrt von Kiel entfernt lag.

Beim Abschied tat ich, als würde ich den gut gemeinten Ratschlägen meiner Mutter zuhören und winkte mit meiner Krücke. Sobald sie verschwunden war, fiel das Lächeln, das ich ihr zuliebe aufgesetzt hatte, von meinem Gesicht ab und ich sank kraftlos auf das Sofa.

Es war anstrengend, sich die ganze Zeit verstellen zu müssen, aber ich wollte niemanden mehr mit meiner Traurigkeit belasten.

Endlich allein.

Schwerfällig streifte ich den einen Schuh ab, was wegen des Gipses am anderen Bein eine Herausforderung darstellte. Zum Glück wohnte ich im Erdgeschoss.

Zur Schule konnte ich wegen der Verletzungen noch nicht gehen. Die Ärzte hatten prognostiziert, dass ich bis zu den Osterferien zu Hause bleiben müsse, sodass ich mich nicht einmal durch die Arbeit ablenken konnte. Das waren noch acht Wochen!

Mit zusammengebissenen Zähnen starrte ich auf ein Selfie von Lara und mir, das am Rahmen des Flurspiegels steckte. Es war das erste Mal seit dem Unfall, dass ich ihr Gesicht sah.

Der Anblick setzte etwas in meinem Inneren frei – ein Gefühl, dessen Wucht mich erneut eiskalt erwischte, das mir die Luft aus der Lunge presste. Wimmernd sackte ich auf den Fußboden und rollte mich zusammen. Mir war, als würden die Wellen des Schmerzes mich in tiefschwarzes Wasser drücken, mir den Atem rauben.

Da waren so viele Worte in mir, die ich Lara noch gern gesagt hätte. Wie lieb ich sie hatte, und dass ich sie toll fand – so wie sie war. Und wie sehr sie mir fehlte.

Aber stattdessen blieb ich zusammengekauert und stumm liegen und versuchte, die Qual wegzuatmen.

Vergeblich.