SpurenElemente - Franziska Franz - E-Book

SpurenElemente E-Book

Franziska Franz

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Beschreibung

Franziska Franz, Krimiautorin, folgt gemeinsam mit dem Rechtsmediziner Professor Dr. Marcel A. Verhoff den Spuren historischer Kriminalfälle in Frankfurt. Zu den berühmtesten Verbrechen zählt nicht nur der Mord an Rosemarie Nitribitt. Auch Hammermörder Arthur Gatter, Giftmörder Karl Hopf, Hessenripper Manfred Seel und viele weitere Fälle werden untersucht und in einem neuen Licht betrachtet.

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Franziska Franz

SpurenElemente

Das Buch zum True-Crime-Podcast

Kriminalroman

Vorwort

Podcasts waren für mich vor 2020 nur »Radiosendungen zum Nachhören«. Als eigenständiges Genre oder Medium hatte ich sie bis dahin nicht wahrgenommen. Die Pandemie brachte weitreichende Änderungen der sozialen Kontakte und Interaktionen. Einerseits fehlten mir die Studierenden – Vorlesungen und Kurse in Präsenz waren nicht mehr möglich. Andererseits hatte ich über Jahre an vielen populärwissenschaftlichen Veranstaltungen, wie beispielsweise dem Gießener Krimifestival oder der Frankfurter Kriminacht in der Brotfabrik teilgenommen. Kurz gesagt: Ich vermisste das Publikum. In dieser Situation schrieb mich im März 2020 eine Studierende der Rechtswissenschaften aus Bonn, Vanessa Nischik, an und schlug mir einen gemeinsamen Podcast vor. Ich war sofort begeistert und bereits am 8. Mai 2020 erschien die erste Folge von »Rechtsmedizin – Dichtung und Wahrheit«. Im Nachhinein haben viele Studierende deutschsprachiger Unis berichtet, dass sie den Podcast zur Prüfungsvorbereitung genutzt haben. Der Podcast hat mir sehr viel Freude bereitet. Es ist allerdings nicht zu vernachlässigen, dass der Großteil des Arbeitsaufwandes bei Vanessa lag, die nicht nur die Skripte erstellt, sondern den gesamten technischen Part inklusive des Schneidens und Hochladens übernommen hat. Nach Ende ihres Studiums ist sie nach Berlin gezogen und hat eine journalistische Karriere begonnen, die ihr nicht mehr genug Zeit für dieses »Hobby« ließ. Damit endete dieser Podcast mit einer Spezialfolge »Fragen an die Rechtsmedizin« am 3. Juni 2022.

Ende 2022 telefonierte ich nach längerer Zeit wieder einmal mit Franziska Franz, die einige ihrer Ideen für einen neuen Roman mit mir zur rechtsmedizinischen Absicherung durchgehen wollte. Nachdem die Fakten schnell geklärt waren, haben wir uns Nebensächlicherem zugewandt, und dabei berichtete Franziska, dass ihr Verlag sie für einen Podcast gewinnen wollte. Sofort stiegen wir intensiver in dieses Thema ein. Es sollte um Frankfurter Kriminalfälle gehen. Ich äußerte die Idee, dass doch eine Krimiautorin und ein Rechtsmediziner gemeinsam ermitteln könnten – so etwas gab es bislang nicht. Mir gefiel nach der ersten Podcast-Erfahrung die Vorstellung sehr gut, dass ein Verlag dahintersteht, der sich um technische Umsetzung, Marketing und Vertrieb kümmert. In den nächsten Wochen entwickelten wir dann in Rücksprache mit Frau Thoms das gemeinsame Konzept mit den drei Folgen pro Fall, das so ebenfalls bislang einzigartig ist. Die wahrscheinlich schwierigste Geburt war der Titel: Viele, die uns ein- und gefielen, waren so oder ähnlich schon existent. Irgendwann stieß der spontane Einfall »SpurenElemente« auf die Akzeptanz von uns beiden. Damit man aber nicht fälschlicherweise auf die Idee kommt, es könnte bei unserem Podcast um Nahrungsergänzung gehen, haben wir die Schreibweise »SpurenElemente« gewählt. Schon sehr früh war klar, dass der erste Fall, den wir angehen wollten, der vielleicht berühmteste Frankfurter Fall, zumindest, was die mediale Aufarbeitung betrifft, sein würde: der Mord an Rosemarie Nitribitt. So ging am 3. März 2023 die erste Folge online.

SpurenElemente

Das Buch zum True-Crime-Podcast

Podcasts und insbesondere True-Crime-Podcasts erfreuen sich derzeit zunehmender Beliebtheit.

Das hat Professor Marcel A. Verhoff und mich dazu inspiriert, über zumeist historische Kriminalfälle unserer Heimatstadt Frankfurt am Main und Umgebung zu sprechen.

Mein Podcastpartner, Professor Verhoff, ist der Direktor der Frankfurter Rechtsmedizin. Ich hingegen bin Krimiautorin, mit Schwerpunkt regional, besser gesagt Frankfurt-Krimis.

Unsere gemeinsame Arbeit besteht darin, dass wir uns nicht nur über die Fälle und ihre Hintergründe unterhalten. Professor Verhoff spricht über Fallakten und die Arbeit der Rechtsmedizin in den einzelnen Fällen. Wir glauben, dass unsere gemeinsame Herangehensweise, nämlich das Fachgebiet der Rechtsmedizin gepaart mit der Fiktion der Krimiautorin Fälle ganz speziell beleuchten kann. Unsere Staffeln gliedern sich dabei überwiegend in drei Teile.

Im ersten Teil sprechen wir über den Fall an sich, so wie der in der Öffentlichkeit bereits bekannt sein dürfte. In der zweiten Folge geht es um die Herangehensweise und die Ergebnisse der Rechtsmedizin. In der dritten und letzten Folge sprechen wir mit Zeitzeugen, Sachverständigen oder Kriminalisten. Folge 3 ist beinahe die aufwändigste Arbeit des Podcasts, denn nicht immer lassen sich Zeitzeugen oder Sachverständige finden. Ein Grund sind die Jahre, die vergangen sind. Dazu kommt, dass nicht immer die Bereitschaft besteht, sich noch einmal in die Tat hineindenken zu wollen. Dennoch freuen wir uns, dass wir bislang immer spannende Lösungen gefunden haben.

Da unser Podcast eine große Anzahl von Hörerinnen und Hörern gefunden hat, ist über die Staffeln des Jahres 2023 dieses Buch entstanden. Hierin können alle Verbrechen, über die wir gesprochen haben, nachgelesen und auf andere Weise erfahren werden. Der gesprochene Text wurde der Schriftsprache angepasst.

Kapitel 1

Staffel: Maria Rosalia Auguste »Rosemarie« Nitribitt. Geboren am 1.2.1933, verstorben am 29.10.1957

Es gibt wohl kaum einen Kriminalfall, der im Nachkriegsdeutschland so viel Aufsehen erregt hat, wie der Mord an der Edelprostituierten Rosemarie Nitribitt. Noch heute gibt es kaum eine Stadtführung durch Frankfurt am Main, bei der das Leben und der nie aufgeklärte Mord, an der damals 24-jährigen nicht thematisiert wird. Und ihre Bekanntheit führt noch immer weit über die Grenzen Deutschlands hinaus.

Rosemarie Nitribitt wurde nur 24 Jahre alt, als sie in ihrer eigenen Wohnung von vermutlich einer Person brutal ermordet wurde. Bis heute ist der Fall ungelöst und führt bis in die höchsten Kreise der Frankfurter Gesellschaft. 1957 schien die Polizei mehr zu vertuschen, als aufklären zu wollen.

Professor Verhoff und Franziska Franz widmen dem Fall drei Folgen. Außerdem wird Franziska Franz mit der Leiterin des Frankfurter Kriminalmuseums, Anja Lange, ein Interview führen.

Folge 1

Rosmarie Nitribitt ist nie ein glücklicher Mensch gewesen. Sie wuchs bei einer minderjährigen Mutter auf, den Vater kannte sie nicht. Sie hatte zwei jüngere Geschwister, ist aber nur kurze Zeit in der Familie, besser gesagt bei der Mutter geblieben, da diese straffällig geworden ist und eine Gefängnisstrafe verbüßen musste. Alle drei Kinder kamen daraufhin in Kinderheime, wurden aber von dort aus in unterschiedliche Familien vermittelt.

Rosemarie hatte Glück. Sie wurde von einem kinderlosen Ehepaar aus Niedermendig in der Eifel adoptiert. Die Pflegemutter war bereits 50 Jahre alt, der Pflegevater 70. Die Adoption hatte für das Ehepaar zwei Gründe: Zum einen bekam man damals für ein Pflegekind 30,- DM im Monat, was für damalige Verhältnisse viel Geld war. Zum anderen mochte das Ehepaar Kinder und freute sich über das kleine Mädchen, das sich dort schnell geborgen fühlte. Rosemarie verbrachte dort die glücklichsten Jahre ihres Lebens, vielleicht sogar die einzigen Jahre, in denen sie je glücklich war. Sie ging von da an regelmäßig zur Schule und die Pflegeeltern waren sehr lieb zu ihr. Rosemarie dankte es, indem sie aufgeschlossen war. Außerdem knüpfte sie zu dieser Zeit viele Freundschaften. Sie fühlte sich rundum wohl.

Doch ein paar Jahre später, als sie elf Jahre alt war, wendete sich das Blatt. Sie wurde von einem 18-jährigen Nachbarsjungen vergewaltigt. Das war ein Skandal für diesen kleinen beschaulichen Ort. So wurde die Tatsache, die vermutlich jedem bekannt war, unter den Teppich gekehrt. Rosemarie zeigte in ihrem Wesen von dem Tage an deutliche Veränderungen. Sie begann zu lügen und sich zurückzuziehen. Mit dreizehn Jahren befreundete sie sich dann mit zwei Prostituierten und hat sich wenig später selbst vor französischen Soldaten ebenfalls prostituiert. Sie soll mit vierzehn Jahren das erste Mal abgetrieben haben. Die Pflegeeltern waren mit der Situation und der Veränderung ihrer Pflegetochter völlig überfordert, und Rosie musste zurück ins Heim. Dort jedoch hielt sie es nicht lange aus und ist weggelaufen. Zuerst ging sie nach Koblenz, bald darauf aber nach Frankfurt.

Sie hat sich dort ebenfalls prostituiert, außerdem als Kellnerin versucht, Fuß zu fassen. Vor allem aber wollte sie ihren Traum verwirklichen und Model werden. Dieser Traum jedoch ließ sich nicht realisieren, da sie sich offenbar nicht gut benehmen konnte und noch dazu einen starken Eifler Dialekt hatte. Sie begann aus diesem Grund Geld in Benimm- und Sprachkurse zu investieren, denn sie wollte ernstgenommen werden. Sie lernte dann einige Zeit später einen türkischen Freier kennen, der ihr 1954 einen Opel Kapitän schenkte. Durch das Fahrzeug wurde sie flexibel und ihr Wirkungskreis ließ sich deutlich vergrößern. Ihr Leben veränderte sich zum Vorteil. Sie war nun keine Straßendirne mehr. Und nicht nur das sollte sich ändern. Bald bekam sie sogar von einigen Freiern Urlaubseinladungen und mehr und mehr Zugang zur gesellschaftlichen Oberschicht. Eines Tages dann besaß sie den legendären schwarzen Mercedes SL mit den roten Ledersitzen – ein Auto, das Auto, das zu dieser Zeit durch Rosemarie Nitribitt stadtbekannt wurde. Das wiederum hatte zur Folge, dass die Damen der Gesellschaft ihre schwarzen Mercedes abstießen, aus Angst in Verruf zu geraten. Rosemarie nutzte das auffällige Fahrzeug unter anderem dazu, Männer anzulocken, indem sie häufig Pannen vortäuschte und um Hilfe bat. Aber das allein reichte ihr nicht, um Kundschaft anzulocken. So schaffte sich Rosie zusätzlich einen Pudel an, den sie, laut einer Kaffeehausbesitzerin, darauf abrichtete, im Café allein sitzenden Männern zuzulaufen, mit denen Rosemarie dadurch ins Gespräch kommen konnte. Sie legte Wert auf gutsituierte Herren. Bald bestanden enge Verbindungen zu namhaften Freiern, wie Harald Quandt, Gunther Sachs und Harald von Bohlen und Halbach, um nur einige zu nennen. Der Krupp-Erbe war ein ganz besonderer Freund. Sie schien nämlich in ihn verliebt gewesen zu sein. Auch er schrieb ihr Liebesbriefe und besuchte sie häufig. Doch als Rosemarie ihn eines Tages fragte, ob er sie nicht heiraten wolle, antwortete er: »Nur auf dem Mond.« Das soll sie zutiefst verletzt haben.

Der ehemalige Rennfahrer Huschke von Hanstein sagte einmal, dass Rosie Männer gern erpresste. So soll sie häufig behauptet haben, schwanger zu sein, um zusätzliches Geld von ihren Freiern für Abtreibungen zu bekommen. Möglicherweise hatte sie auch Harald von Bohlen und Halbach erpresst. Einen Skandal aber konnte sich die Familie Krupp keinesfalls leisten.

Als man später Rosemaries Notizbuch durchsuchte, fanden sich über einhundert Kontakte. Wobei sich später nicht genau sagen ließ, welche der Personen Freier waren.

Rosemarie hatte bereits in ihren jungen Jahren mit ihrer Tätigkeit ein beachtliches Vermögen angespart. In ihrem letzten Lebensjahr soll sich ihr Einkommen auf etwa 100.000 DM belaufen haben. Das war für damalige Verhältnisse eine beachtliche Summe Geld. Das wiederum sprach eindeutig dafür, dass sie finanziell potente Freier sorgfältig auswählte. Bekannt war von ihr außerdem, dass sie viel Geld bei sich zu Hause aufbewahrte.

Rosemarie hatte einen Hausfreund, der bei ihr ein und aus ging: der Handelsvertreter Heinz Pohlmann. Er kümmerte sich um sie, war ein reger Gesprächspartner und bekochte sie häufig. Pohlmann war homosexuell, sodass er wohl nie ein Verhältnis mit ihr hatte. Außerdem war er stets in Geldnöten. Dennoch umgab sie sich gern mit ihm, denn sie empfand in seiner Gegenwart eine gewisse Sicherheit, da sie keinen Zuhälter hatte, der sie schützen konnte. Sie lebte nämlich in großer Sorge davor, dass ihr etwas zustoßen könne. Mit Pohlmann konnte sie außerdem über alles sprechen. Oft verlangte sie von ihm, dass er bei ihr blieb, bis der jeweilige Freier kam. Erst wenn sie sich sicher fühlte, durfte er ihr Apartment verlassen.

Doch Pohlmann wurde tatverdächtig, da er nach Rosemaries Tod offensichtlich keine Geldsorgen mehr zu haben schien. Er kaufte sich ein neues Auto, bezahlte seine Gläubiger und lebte in Saus und Braus, offenbar, ohne sich über den Tatverdacht Sorgen zu machen. Lange Zeit blieb er der Hauptverdächtige und kam deshalb sogar in Untersuchungshaft. Der Prozess gegen ihn wurde aber wegen Mangel an Beweisen eingestellt. Es wurden interessanterweise nach seiner Freilassung keine weiteren Ermittlungsversuche unternommen. So geriet kein Freier unter Mordverdacht.

Der Mordfall an Rosemarie Nitribitt galt als spektakulär und ging in die Frankfurter Geschichte ein. Das Haus in der Stiftstraße 36, in der sich die Wohnung der Nitribitt befand, wurde ihretwegen sogar zum Kulturdenkmal erklärt. Auch an der Fassade wurde bis heute nichts verändert; selbst das Detektiv-Tudor-Schild, das fast jede Frankfurterin, jeder Frankfurter vermutlich schon einmal gesehen hat, hängt noch immer an der Fassade.

Rosemaries Wohnung war für damalige Verhältnisse luxuriös eingerichtet, wenn auch nicht besonders geräumig. Aber das Apartment war bereits mit einer Fußbodenheizung versehen. Das war in der damaligen Zeit eine große Besonderheit. Außerdem leistete sich Rosemarie in ihren jungen Jahren eine Zugehfrau.

Es wurde später von Zeugen berichtet, dass sie Tage vor ihrem Tod mehrfach mit dieser Zugehfrau lautstarke Auseinandersetzungen gehabt habe, da die Frau versehentlich eine ihrer Vasen zerschlagen hatte. Natürlich fragte man sich, ob sie daraufhin aus Wut den Mord begangen haben konnte. Rosemarie ist nämlich zunächst niedergeschlagen worden, bevor sie erdrosselt wurde, was deutliche Würgemale an ihrem Hals zu erkennen gaben. Am 1. November 1957 wurde sie schließlich in ihrer Wohnung ermordet aufgefunden. Doch letztendlich wurden in der Wohnung keine ausreichenden Spuren gesichert, die zur Ergreifung des Täters geführt haben. Später hieß es mehrfach, es seien damals nicht nur Spuren verwischt, sondern möglicherweise sogar vertuscht worden. Vielleicht war der Grund dafür ein namhafter Freier, dessen Name nicht mit dem Mord in Verbindung gebracht werden durfte.

Professor Verhoff führt in unserem Gespräch an einen hypothetischen Tatort und erklärt, dass man bei einer Leichensichtung am Tatort manchmal Entscheidungen vor der Untersuchung des Verstorbenen treffen muss. Es ist eine Ermessensfrage. Was hat die höhere Priorität? Ist es wichtiger, zunächst die Spuren zu sichern, und zwar vom Rand zur Mitte hin, dann muss die Leichenschau warten. Oder soll zuerst der Leichnam untersucht werden, dann ist in Kauf zu nehmen, dass dadurch Spuren verwischt werden könnten.

Ich als Krimiautorin habe immer gedacht, dass die Untersuchungen am Tatort stets gleich ablaufen, doch Professor Verhoff belehrt mich eines Besseren.

Wenn ein Leichnam längere Zeit liegt, so wie es bei Rosemarie Nitribitt der Fall war, wird der Leichengeruch immer stärker. Man ist nachvollziehbarerweise geneigt, die Fenster zu öffnen. Allerdings darf man ein Fenster erst öffnen, wenn zuvor die Raumtemperatur gemessen wurde, weil das relevant ist, um im Zusammenhang mit der Leichentemperatur die Todeszeit einzugrenzen. Das ist im Fall der Frau Nitribitt aber offenbar leider missachtet worden. Dadurch kam es zu erheblichen Schwierigkeiten, die Todeszeit zu schätzen. Dies ist ein Fakt, der später dazu führen sollte, dass der Täter nicht überführt werden konnte.

Die Fußbodenheizung in der Wohnung war voll aufgedreht, dadurch kam es zu einer Wärmeübertragung auf den Leichnam, wie Professor Verhoff sagt. Deshalb kann es sogar sein, dass ein Leichnam nicht etwa abkühlt, sondern sogar aufgewärmt wird. Dann gibt es kaum Anhaltspunkte, um die Todeszeit zu ermitteln.

Wir sind uns einig, dass wir uns in dieser ersten Folge ein Bild über Rosemaries Leben machen konnten. Dennoch glaubt Professor Verhoff, dass es nicht ganz leicht ist, sich in die Zeit des Nachkriegsdeutschlands hineinzuversetzen. Und damit hat er recht. Rosemaries Ruf war skandalös, aber insgeheim bewunderte die eine oder andere Person gewiss ihr außergewöhnliches Leben. Kurz vor ihrem Tod jedoch hat Rosemarie noch darüber nachgedacht, ihre Tätigkeit zu beenden, um entweder eine Bar oder eine Pension zu eröffnen. Sogar an ein Gestüt dachte sie. Etwas Seriöses sollte es sein. Ein paar Tage vor ihrem Tod besuchte sie ihre beste Freundin aus Kindertagen in Niedermendig. Rosemarie bewunderte die Freundin, die mittlerweile Kinder hatte und geborgen in einer richtigen Familie leben konnte. Das sagte sie der Freundin während ihres kurzen Besuchs sogar. Das heißt, es bestand für sie der starke Wunsch nach einer eigenen Familie. Diesen Wunsch hätte sie sich gern mit einem Mann an ihrer Seite, wie Harald von Bohlen und Halbach erfüllt, doch es sollte ganz anders kommen.

Folge 2

Rechtsmedizinische Fakten

Im Jahr 1957 in der Stiftstraße 36 in Frankfurt am Main wurde Rosemarie Nitribitt entweder am 29. oder 30. Oktober in ihrer Wohnung ermordet.

Am 1. November kam die Zugehfrau und wunderte sich, dass sich Brötchentüten vor der Wohnungstür der Frau Nitribitt stapelten. Sie hat dann die Polizei gerufen. Zwei Beamte kamen und brachen die Wohnungstür auf. Sie entdeckten den Leichnam im Wohnzimmer auf dem Boden liegend. Die Polizeibeamten rissen wegen der starken Geruchsbildung sogleich die Fenster auf.

Frage an Professor Verhoff: »Warum ist das ganz genau ein Fehler?«

»Ein wichtiger Parameter ist die Umgebungstemperatur, die wir als Rechtsmediziner brauchen, um anhand der Leichentemperatur die Todeszeit zu schätzen. Man hat eine Körperkerntemperatur von 37° Grad. Sobald der Tod eingetreten ist, wird der Körper nach und nach abkühlen. Wie schnell er abkühlt, ist davon abhängig, welche Umgebungstemperatur herrscht. Ist es wärmer, kühlt er langsamer, ist es kälter, kühlt er schneller ab. Deswegen ist es so wichtig, die Umgebungstemperatur so exakt wie möglich zu kennen. Wenn ein Leichnam auf warmem Boden liegt, entstehen bereits nach ein paar Stunden Fäulnisgerüche. Dass man natürlich, wenn die Wohnung warm und stickig ist, das Bedürfnis hat, das Fenster aufzureißen, ist nachvollziehbar, aber eben unprofessionell. Auch heutzutage, also in jüngeren Fällen, gibt es das immer wieder mal. Meistens sind das aber Fälle, in denen man gar nicht an eine Tötung gedacht hat und wo das Ganze erst später brisant wird. In dem Fall Nitribitt war die Tötung aber eindeutig.«

Meine Frage: »Wenn die Polizei einen Tatort besichtigt und eindeutig eine Tötung erkennt, wird dann in jedem Fall die Rechtsmedizin gerufen?«

Professor Verhoff: »Das ist Sache der Polizei, ob sie das möchte oder nicht. Wir werden dann geholt, wenn die Sachlage unklar ist und von unserer Untersuchung abhängt, ob große Ermittlungen angestellt werden, oder ob Entwarnung gegeben werden kann. Typische Beispiele sind Blutungen aus der Speiseröhre bei Alkoholabhängigen, die bereits eine Leberzirrhose haben und es dann zu spontanen Blutungen kommt. Das können brutal aussehende Leichenfundorte sein. Dabei handelt es sich um eine natürliche Todesart aufgrund einer Erkrankung. Hier werden wir häufig geholt, um die Sache von einer Tötung abzugrenzen, aber auch in Fällen, wo es klar um eine Tötung geht, aber darauf ankommt, das Bild der Leichenauffindung exakt zu sehen und auch zusätzlich die Blutspuren zu analysieren, denn die Blutspurenanalyse ist eine Kernaufgabe der Rechtsmedizin. Wir werden nicht an Leichenfundorte geholt, wenn der Täter, beispielsweise der Ehemann, mit dem Messer noch daneben sitzt und sagt, er habe gerade seine Frau getötet.«

Ich frage, wie man sich bei der Spurensicherung verhält.

Professor Verhoff: »Alle, die in den Bereich des Tatortes kommen, ziehen Ganzkörperanzüge mit Überschuhen, mit Handschuhen, mit Mund-Nasenschutz an, damit man keine DNA von sich hinterlässt. Im Fernsehen ist das natürlich falsch dargestellt, da der Hauptdarsteller in einer solchen Montur gar nicht zu erkennen wäre. Wie dann letztendlich der Tatort abgearbeitet wird, bespricht man individuell. Da werden alle Beteiligten mit einbezogen. Wenn man sich —entscheidet, zuerst die Spuren zu sichern, muss die Temperaturmessung zurückstehen. Dadurch wird dann die Todeszeitschätzung ungenauer. Umgekehrt, wenn die Todes­zeit­-schätzung besonders relevant ist, nimmt man in Kauf, dass Spuren dadurch zerstört werden können. Natürlich kann man im Nachhinein auch falschgelegen haben.«

Ich frage, ob es gravierende Unterschiede zwischen den Untersuchungen von 1957 und heute, 2023, gibt. Nach meiner Recherche hat Rosemarie zwar einen Schlag auf den Kopf bekommen, es soll aber einen erbitterten Kampf gegeben haben. Sie hat sich mit aller Kraft gegen das Würgen des Täters gewehrt und sogar noch versucht, das Telefon an sich zu reißen. Heute würde man meiner Einschätzung nach, nach Schuppen oder Hautpartikeln gesucht haben, die den Täter überführen könnten?

Professor Verhoff: »Damals untersuchte man die Haare aufgrund ihrer morphologischen Merkmale. Haare können sich sehr gut unterscheiden. Wenn man Vergleichshaare hat, kann man Zuordnungen treffen. Jahrzehnte später stellte sich aber heraus, dass diese Ergebnisse oftmals nicht so zuverlässig waren, wie ursprünglich angenommen. DNA-Unter­suchungen von Haaren haben zwar etwas Mystisches beibehalten, aber so einfach wie im Krimi dargestellt ist es nicht. Damals waren sie morphologisch notwendig, um einen Täter zu überführen. Dann hat man geglaubt, man könne einfach DNA an Haaren finden. Allerdings sind Haare, die ausgefallen sind, nicht besonders hilfreich, denn da sind die Wurzeln nicht mehr ganz intakt. Sie sind nicht umsonst ausgefallen. Ohne Wurzeln kann man nicht gut DNA gewinnen. Hingegen findet man deutlich mehr DNA bei Haaren, die beispielsweise bei einem Kampf ausgerissen wurden. Das Beste, was es damals gab, war Blut, allerdings das Blut des Täters. Dafür muss sich aber der Täter bei der Tat verletzt haben, sonst wird man kein Blut von ihm finden. Das Blut des Opfers bringt nichts für den Täternachweis. Aber für die Rekonstruktion des Tatgeschehens mit einer Blutspurenanalyse kann es schon wichtig sein, Blut von Täter und Opfer am Tatort auseinanderzuhalten. Man sichert Blut am Tatort von unterschiedlichen Stellen. Dann muss man genau interpretieren, auf welche Weise das Blut dorthin gekommen ist, z.B. gespritzt, geschleudert oder getropft. Darin, das zu lesen, waren damals die Kriminaltechniker, aber auch die Rechtsmediziner fast besser als heute, weil es ja nicht viele andere Möglichkeiten gab. Als die DNA, Mitte der Achtziger aufkam, ist die Expertise von der Blutspurenanalyse zunehmend in Vergessenheit geraten, weil man gedacht hat, man könne mit DNA alles herausfinden. Später wusste man, dass gerade in Hinblick auf die DNA die Blutspurenanalyse wichtig ist. Denn wenn ich auf der einen Seite den Mechanismus erkenne, nämlich, wie das Blut dahingekommen ist, dann kann ich mit dem DNA-Ergebnis, also dem Wissen, von wem die einzelne Blutspur stammt, mehr anfangen, wenn es um Tatrekonstruktionen geht.

1957 war es wichtig, Blutspuren von der Entstehungsweise voneinander unterscheiden zu können, um nicht jede entstandene Blutspur untersuchen zu müssen. Man hat die Spuren damals serologisch untersucht. Das heißt, man ist auf Blutgruppeneigenschaften gegangen. Bei der serologischen Untersuchung nimmt man eine kleine Blutmenge, löst diese in einer Flüssigkeit, gibt einen Antikörper dazu und wenn das Blut die entsprechenden Eigenschaften hat, verklumpt es mit dem Antikörper oder eben nicht. Die bekanntesten Blutgruppen, die immer noch Bedeutung haben wegen der Transfusion oder wegen der Geburt, sind das A-B-0-System und der Rhesus-Faktor. Aber es gab schon 1957 über 20 weitere Blutgruppen. Das wusste der Normalbürger nicht, weil es für die Transfusion keine Bedeutung hat. Aber damit lassen sich gute Zuordnungen treffen. Und wenn jemand mit diesen zwanzig untersuchten Blutgruppen übereinstimmt, wird die Täterschaft wahrscheinlich. Das konnte man statistisch berechnen. Allerdings brauchte man dafür Blut. Heute kann man von jeder Zelle, jedem Sekret, das der Täter hinterlässt, das DNA-Profil bekommen, es mit einem Vergleichsprofil, also einer Speichelprobe des Tatverdächtigen abgleichen. Das kann ein Einzel- oder Massentest sein. Beim Massentest machen sich allein die verdächtig, die keine Probe abgeben. Man kann es aber auch mit Daten des BKA abgleichen, wo Profile von Menschen angelegt werden, die schwere Straftaten begangen haben und verurteilt wurden.«

»Frau Nitribitt ist erwürgt worden. Man hat bei den Würgemalen Fingernagelspuren entdeckt. Ist das ein Zeichen dafür, dass da jemand lange Fingernägel hatte?«, will ich wissen.

»Nägel führen zu Oberhautabschiebungen, die wiederum zu Vertrocknungen führen. Der Unterschied zwischen Drosseln und Würgen besteht darin, dass man fürs Drosseln ein Werkzeug braucht, während man beim Würgen die Hände nimmt. Beim Drosseln kommt es aufs Werkzeug an. Ist es glatt, wie beispielsweise beim Schlips ist an der Oberhaut nicht viel zu sehen. Beim Würgen mit der Hand entstehen durch die Fingernägel Kratzer. Das müssen aber nicht unbedingt lange Nägel gewesen sein. Wenn jemand lange Fingernägel hat, werden die Nägel oft nach außen durchgebogen.«

Ich kam darauf, weil die Haushälterin eine Weile unter Verdacht gestanden hat und man sich deshalb fragt, ob das mit weiblichen Fingernägeln zusammengehangen haben könnte.

Ich sah kürzlich eine Dokumentation vom Profiler Axel Petermann, der nach wie vor davon überzeugt ist, dass Heinz Pohlmann den Mord begangen hat. Da der genaue Todeszeitpunkt nie ermittelt werden konnte, und Pohlmann für gewisse Uhrzeiten Alibis hatte, war man sich aber nicht sicher. Pohlmann hat allerdings nach dem Mord seine Hose in eine Reinigung gebracht, weil daran angeblich ­Rostflecken waren. Danach ließen sich aber keine Blutspuren in der Hose nachweisen.

»Könnte man heute trotz einer Reinigung im Nachhinein noch Blutspuren finden?«, frage ich.

»Heute würde man wahrscheinlich schon durch den Luminoltest, der auf dem Prinzip der Wasserstoffperoxidreaktion beruht, Spuren finden können. Man hätte die Hose mit Luminol eingesprüht und hätte im Dunkeln ein blaues Leuchten erkannt, wenn es sich um Blut gehandelt hätte. Man hätte dann die Stelle aus der Hose geschnitten und für eine DNA-Analyse ins Labor gegeben. So würde man selbst nach einer chemischen Reinigung ein vollständiges Profil bekommen. Er könnte dann natürlich behaupten, sie habe sich in seiner Gegenwart verletzt.«

Bei der Obduktion stellte man fest, dass er ihre letzte Mahlzeit zubereitet hatte. Es handelte sich um Reisbrei, den sie sehr mochte. Etwas davon stand noch auf dem Herd. Er hatte diesen für sie gekocht. Pohlmann war wegen Rosemarie zehn Monate in Untersuchungshaft, kam aber wegen des nicht mehr genau zu beurteilenden Todeszeitpunktes wieder frei. Kaum aber war er frei, hat er seine Erinnerungen an Rosemarie für 18.000 Mark an die Zeitung Quick verkauft. Trotz aller verdächtigen Indizien jedoch wurde Pohlmann nicht verurteilt. Er ist 1990 gestorben und hat sein Geheimnis mit ins Grab genommen. Es hat danach keine weiteren Verdächtigen gegeben, was vermutlich viele Prominente beruhigt hat.

Professor Verhoff geht auf die Verletzungen ein. »Da war als Zeichen der stumpfen Gewalt die Quetschrisswunde an der Stirn, dazu die Strangulation mit petechialen Blutungen. Somit eine tödliche Strangulation. Aber es gab auch Zeichen eines erbitterten Kampfes. Wenn es um eine normale gerichtliche Leichenöffnung geht, haben sich die Sektionsprotokolle bis heute nicht geändert, außer dass diese damals mit Schreibmaschine geschrieben wurden. Natürlich gibt es heute neben der DNA auch die forensische Toxikologie und verbesserte mikroskopische Untersuchungen. Man kann heute einzelne Zelltypen anfärben. Man kann auch das Wundalter genauer bestimmen. Dennoch ist die Obduktion, also die gerichtliche Leichenöffnung die gleiche wie 1957.«

»Ist es also möglich, dass auch heute ein solcher Fall unaufgeklärt bliebe?«, will ich wissen.

»Ist nicht auszuschließen, denn wir wissen nicht, welche Spuren die Täterin oder der Täter dort tatsächlich hinterlassen hat«, antwortet Professor Verhoff. »Die Stellen, die durch abwehrtypische Lokalisation beim Kampfgeschehen entstanden sind, also frische Hämatome, steigern die Wahrscheinlichkeit, dass auch DNA vom Täter gefunden wird. Da hätten wir heute sicher mehr auswertbare Spuren gewinnen können.«

Einen Menschen mit den Händen zu erwürgen, bedeutet eine enorme Kraftanstrengung, deshalb denke ich, dass die Tat von einem Mann, besser gesagt doch von Heinz Pohlmann durchgeführt wurde.

Professor Verhoff bestätigt, dass es eine gewisse Zeit braucht, bis im Gehirn der Zirkulationsstopp eintritt. Beim Würgen besteht das Problem, dass man die Hände immer gleichmäßig um den Hals legen muss, um den Druck gleichmäßig aufrechtzuerhalten. Während ein Strangwerkzeug, zum Beispiel ein Seil, an dem man zieht, ist der Druck überall gleichmäßig stark. Eine wichtige Anmerkung: Dies soll natürlich keinesfalls eine Anleitung sein!

Ab etwa fünf Kilogramm Gewicht, das auf die Halsschlagader drückt, kommt im Gehirn kein Blut mehr an. Bei weniger Gewicht dringt noch Blut durch die Halsschlagader, es kann jedoch nicht mehr abfließen. Somit kann auch kein neues Blut einfließen. Wenn drei Minuten die Zirkulation im Gehirn unterbrochen ist, entstehen unwiederbringliche Schäden. Nach fünf Minuten tritt dann sicher der Tod ein. Entweder ist der Täter also stärker oder die Kraft wird durch Emotionen verstärkt.

Der Schädel der Rosemarie Nitribitt stand bis 2008 im Frankfurter Kriminalmuseum, wurde auch zu Ausbildungszwecken der Kriminalpolizei dort aufbewahrt. Erst danach wurde er auf Drängen der Schwester dem Grab der Frau Nitribitt beigesetzt.

»Man hatte früher keine andere Chance als Schädel oder ganze Knochen zu Aufklärungszwecken aufzubewahren«, sagt Professor Verhoff. Die Knochen werden dabei mazeriert, chemisch gereinigt. Im Gerichtsverfahren konnte man dann demonstrieren, wo die Gewalt eingewirkt hat. Bis vor nicht allzu langer Zeit war das immer noch Standard bei den Beweismitteln. Heute allerdings gibt es die postmortale Computertomografie. Vor der Obduktion wird eine hochauflösende Computertomografie des Leichnams angefertigt. Man kann dort mit höheren Strahlendosen als beim lebenden Menschen arbeiten. Aus diesen Aufnahmen kann man beliebige Skelettanteile, den Schädel oder den Brustkorb dreidimensional rekonstruieren. Man kann sogar aus den Aufnahmen den Schädel oder die Knochen aus Kunststoff drucken lassen. Deswegen kann man den nachgedruckten Schädel dann zu Demonstrationszwecken in die Gerichtsverhandlung mitnehmen. Das gab es damals noch nicht.«

»Wie ist es mit dem sogenannten Hutkrempenrand?«, will ich wissen.

»Die Hutkrempenregel ist noch immer ein wichtiger Anhaltspunkt. Es ist die Linie, wo der Hut fest auf dem Kopf sitzt. Oft sind die Schädelverletzungen oberhalb der Hutkrempenlinie durch fremde Hand herbeigeführt. Fällt man aber hin, zu ebener Erde, befinden sich die Verletzungen unterhalb dieser Linie. Es gibt aber auch Ausnahmen. Wenn jemand stürzt und kommt beim Fallen auf einer Stuhlkante oder auf einer Tischkante auf, kann die Verletzung oberhalb des Hutkrempenrandes liegen. Die Verletzung an der Stirn von Frau Nitribitt war über der Linie. Das spricht dafür, dass es sich nicht um ein Sturzgeschehen handelte. Zumal man bei Verletzungen mit einem Gegenstand auch Antragungen von Blut oder Haaren zu sehen wären. Das hätten die Ermittler damals auch festgestellt, wenn es so gewesen wäre. An Nitribitts Schädel konnte man einen Bruch am Stirnbein erkennen. Das ist eine erhebliche Verletzung und nicht nur eine Quetschrisswunde, die von außen sichtbar war.«

»Man kann sich trotz einer so massiven Verletzung noch wehren?«, frage ich.

»Ja, es gibt sicher eine Gehirnerschütterung. Wie groß die Auswirkung der Gehirnerschütterung ist, ist schlecht vorherzusagen. Es kann zu einer kurzzeitigen Bewusstlosigkeit kommen, auch zu einem Erinnerungsverlust, aber mehr passiert im ersten Moment eher nicht. Die nächste Frage ist, ob es eine Blutung ins Schädelinnere gibt, Gefäßverletzungen des Gehirns, der Hirnhäute, die zu Blutungen führen. Da am Stirnbein keine großen Blutgefäße laufen, hat man eher keine Blutungen im Schädelinneren. Der kleine Knochenbruch ist also nicht sehr schlimm. Manchmal ist es besser, einen Schädelbruch bei einer Kopfverletzung zu haben. So hat das Gehirn genügend Platz sich auszudehnen.«

»Ist das dann ähnlich wie bei einem Hirnschlag?«

»Da unterscheiden wir zwischen Hirninfarkt, wo ein Gefäß unterbrochen wird oder der Hirnblutung, dass also ein Gefäß einreißt und es zur Blutung kommt. Aber klar kann das zu ähnlichen Symptomen führen.«

Folge 3

Polizeiliche Betrachtungen

Gerade befinde ich mich im Kriminalmuseum des Frankfurter Polizeipräsidiums. Meine Gesprächspartnerin ist Polizeihauptkommissarin Anja Lange. Wir stehen vor der Vitrine mit den Exponaten des Kriminalfalls der Rosemarie Nitribitt.

»Frau Lange, was sehen wir darin?«

»Neben einigen privaten Fotos von Rosemarie Nitribitt, liegen dort erkennungsdienstliche Fotos. Drei Fotos von ihr, als sie achtzehn Jahre alt war und in Frankfurt wegen Landstreicherei festgenommen wurde. Dazu kommt ein Foto vom Tatort, vom Schädel, aber auch von Handabdrücken, die am Tatort festgestellt und sichergestellt wurden.«

»Nicht nur Handabdrücke«, werfe ich ein, »da stehen auch zwei Gläser mit echten abgetrennten Händen.«

»Das machen wir normalerweise nicht, dass wir die Hände abtrennen, um Abdrücke zu nehmen«, sagt Frau Lange. »Aber in diesem Fall war der Verdächtige verstorben. Er ist exhumiert worden, die Hände wurden abgetrennt, um die Handabdrücke zu nehmen.«

»Es hat sich dann aber herausgestellt, dass er nicht der Täter war?«

»Zumindest war er nicht derjenige, der am Tatort Handabdrücke hinterließ«, erklärt Frau Lange.

»Wir sehen des Weiteren ein Bild vom Tatort. Rosemarie liegt am Boden. Ein Bein auf dem Sofa, das andere darunter. Unter ihrem Kopf liegt ein blutdurchtränktes Handtuch, weil sie einen Schlag auf den Kopf bekommen hat. Das sieht beinahe wie liebevoll drapiert aus«, sage ich.

»Es zeigt eine gewisse Fürsorge. Wer aber das Handtuch daruntergelegt hat, können wir im Nachhinein nicht sagen. Sie ist nicht an der Kopfwunde gestorben, sondern sie wurde erwürgt.«

»Sie hat sich trotz der Kopfwunde massiv wehren können. Hat sogar noch das Telefon runtergerissen. Sie hatte auch am ganzen Körper Abwehrverletzungen.«

Frau Lange bestätigt.

»Auch wenn es so aussieht, als sei Heinz Pohlmann der Mörder gewesen, es könnten auch zwei Täter gewesen sein?«, frage ich.

»Theoretisch wäre es möglich, dass einer sie getötet und der andere das Geld genommen hat.«

»Heinz Pohlmann war in ewiger Geldnot und hatte diverse Gläubiger. Nach der Tat jedoch hatte Pohlmann plötzlich keine Geldsorgen mehr. Er konnte zum größten Teil seine Schulden bezahlen.«

»Das stimmt, er war ein Lebemann und er war verschuldet. Zu Rosie hatte er eine enge Beziehung und wusste, wo sie ihr Geld versteckt hatte. Die Wohnung war nicht durchwühlt. Das heißt, dass zumindest der Dieb also wusste, wo er nachschauen musste.«

»Natürlich kannte sich auch die Haushälterin in der Wohnung gut aus«, werfe ich ein. »Sie hatte vor Rosemaries Tod einen heftigen Streit mit ihrer Chefin, denn sie hatte versehentlich eine Vase zerschlagen. Vielleicht hat die Haushälterin das Handtuch unter den Kopf der Ermordeten gelegt, einfach um eine Verschmutzung der Wohnung zu vermeiden.«

»Das ist prinzipiell möglich, aber eher unwahrscheinlich, denn Frau Erna Krüger war mehr als dreißig Jahre älter als Rosemarie Nitribitt. Und wir vermuten, dass sie sich in diesem Fall erfolgreich gewehrt hätte. Die Kraft hätte Frau Krüger vermutlich nicht gehabt.«

Über die Schwierigkeit des Erwürgens haben wir bereits in der Folge zuvor gesprochen.

»Ich sehe in der Vitrine das Foto des Schädels von Frau Nitribitt. Der wurde jahrelang hier im Präsidium aufbewahrt?«

»Der Schädel war bis 2008 hier ausgestellt. Er wies schwere Frakturen auf. Daran kann man Rückschlüsse auf Tatwerkzeug und Größe des Täters ziehen. Da wir eine Lehrmittelsammlung auch für Polizeischüler sind, konnte er hier ausgestellt werden. Der Schädel ist auf Wunsch der Familie und durch Unterstützung des damaligen Polizeipräsidenten dann aber beigesetzt worden.«

»Sie sagten, dass sich anhand der Verletzungen auch die Größe des Täters ermitteln lässt? Kann man also sagen, wie groß er gewesen ist?«

»Man kann im Allgemeinen Rückschlüsse ziehen, auch ob er Rechts- oder Linkshänder war, die führten allerdings nicht zur Ermittlung des Täters.«

Ich bedanke mich herzlich bei Frau Lange.

Nun spreche ich mit Professor Verhoff über das Interview.

»Es ist klar, alle Tatzeugen und Verdächtigen sind verstorben. Es gibt nicht sehr viel Neues zu berichten, außer der gesichteten beiden Hände, die sich in den Gläsern der Vitrine befanden.«

Ich frage Professor Verhoff, ob es ähnliche Fälle in seiner Laufbahn gab, die sich auf Hände beschränkt haben.

»Wenn man kein anderes Material hat und auch keine an­dere Spur, sind auch heute noch die Fingerabdrücke sehr wichtig. Es ist selten, dass jemand keine DNA verliert, aber Fingerabdrücke. Wenn aber eine Person schon mal erkennungsdienstlich behandelt wurde, liegen Fingerabdrücke vor. Dann hat man die Vergleichsmöglichkeit, ohne dass man die DNA von dem Verdächtigen hat. Es ist martialisch, sich vorzustellen, dass einem Leichnam die Hände abgeschnitten werden, um Fingerabdrücke zu nehmen. Aber zur damaligen Zeit gab es kaum andere Möglichkeiten. Man konnte sie nicht elektronisch speichern, wollte bestmögliche vergleichbare Fingerabdrücke. Da war es am besten, die Hände zu asservieren, also vom Leichnam zu entfernen, um dann in Frankfurt unter Laborbedingungen die Fingerabdrücke gewinnen zu können. Heute gibt es digitale Scanner. Man würde vom Leichnam direkt die Fingerabdrücke unter verschiedener technischer Vorbereitung nehmen. Wenn ein Leichnam sehr faul ist und sich die Oberhaut abgelöst hat, kann man die Haut wie einen Handschuh abziehen. Die Papillarleisten sind auch in der Haut darunter. Man kann also von darunter die Abdrücke nehmen, kann aber auch die abgezogene Haut über die behandschuhte eigene Hand stülpen und dann Fingerabdrücke gewinnen.

Wenn der Leichnam aber vertrocknet und anmumifiziert ist, sind die Fingerbeeren verschrumpelt. Man kann dann das Gewebe mit einer Flüssigkeit füllen, damit sich die Fingerbeeren und die Haut wieder entfalten können. Früher musste man dazu die ganze Hand einlegen, heute kann man eine Vene oder Arterie, die zur Hand führt, präparieren und dort die Flüssigkeit einspritzen, dann müssen die Hände nicht entfernt werden.«

Leider wissen wir nicht, wie viel Zeit zwischen Tod und Exhumierung vergangen ist.

Ich erfuhr, dass in ihrer Wohnung über 100 Spuren zu finden waren. Davon waren die meisten unbrauchbar. Außerdem lagen überall Zigarettenkippen, sowohl von den Ermittlern als auch von Journalisten oder sogar vom Täter selbst.

»Am Tatort stand eine geöffnete Rotweinflasche, auf der konnte man beinah den gesamten Handabdruck von Harald von Bohlen und Halbach identifizieren. Auch er gehörte lange zu den verdächtigen Personen. Aber die Hausangestellten haben ihm ein Alibi verschafft.« Sie sagten allesamt aus, dass er sich zur Tatzeit im eigenen Haus befunden habe.

»Aber selbst, dass jemand am Tatort war, heißt ja nicht, dass er der Täter gewesen sein muss«, wendet Professor Verhoff ein. Er kann die Flasche zu einem anderen Zeitpunkt dort hingestellt haben. Selbst wenn die Flasche nicht ausgetrunken wurde, kann das Tage und Wochen her sein. Aber Frau Nitribitt war nicht unordentlich, deshalb kann man davon ausgehen, dass sie die Flasche weggeräumt hätte.«

Ich frage, ob man nicht feststellen kann, ob der Wein abgestanden war.

»Nein, selbst wenn er sauer geworden wäre, könnte es allein daran gelegen haben, dass der Korken undicht war. Heute wäre das eher möglich. Durch Schraubverschlüsse oder Glaskorken kann man die Flaschen nämlich besser abdichten. Wichtige Kriterien sind heute, wenn man etwas zum Alter einer Spur sagen kann. Bei Blut kontrolliert man, wie es sich verändert, wenn es sich auf bestimmten Oberflächen befindet. Wir haben dazu eine Versuchsreihe gemacht, ob es einen Unterschied gibt, wenn jemand beispielsweise Blutverdünner nimmt. Und das macht einen Unterschied.«

»Es konnte festgestellt werden, dass sie nicht bewusstlos war, denn sie hat sich noch massiv gewehrt«, erwähne ich nochmal.

»Eine Alternative könnte sein, dass bei dem Schlag gegen den Kopf das Kampfgeschehen stattgefunden hat. Aber das können wir nicht mehr aufschlüsseln.«

»Ich glaube immer noch, dass Heinz Pohlmann das wichtigste Motiv hatte. Denn er brauchte Geld, ging bei ihr ein und aus und kannte die Wohnung. Er hat in diesem Fall aber sein Geheimnis mit ins Grab genommen.«

»Aber wie schon gesagt könnte es auch so gewesen sein, dass er in die Wohnung kam, sie war schon verstorben und er dachte sich, dann könnte er sich wenigstens das Geld nehmen, ehe es jemand anders tut. Die Gefahr, dafür verdächtigt zu werden, hätte ihm bewusst sein müssen. Vielleicht aber glaubte er, dass er als Schlüsselberechtigter ohnehin unter Verdacht geriete. Aber selbst, wenn er der Hauptverdächtige war, hat es für eine Verurteilung nicht ausgereicht.«

Ich wundere mich, dass er sich nie verraten hat.

»Die Frage ist aber, wie evident das ist. Wie viele Fälle gibt es, in denen sich niemand verrät. Was noch interessant am Fundort ist, dass man damals noch keine vernünftigen Spuren an Zigarettenkippen finden konnte, da sie ohne Blut sind. Heutzutage werden gerade durch Kippen viele Fälle aufgeklärt. Ob das nun Einbrüche oder Gewaltdelikte sind. Oft rauchen Täter in der Aufregung und denken nicht darüber nach, dass sie damit Spuren hinterlassen. Wenn man alle Kippen im Umfeld eines Tatorts sammelt, ist die Chance, dass man die DNA des Täters findet, groß. Ob da aber damals Hautschuppen von einem Journalisten oder Ermittler liegengeblieben sind, das hatte keine große Relevanz. Solche Fälle als Altfälle heute zu untersuchen ist schwer. Die DNA-Untersuchungen, die nach etwa zwanzig Jahren durchgeführt werden, funktionieren nur bei den Fällen, bei denen man damals spurenschonend gesichert hat. In den Fünfzigern, also im Nachkriegsdeutschland, hätte man Möglichkeiten, die es siebzig Jahre später gab, nicht erahnt. Niemand wusste, dass im Jahre 2010 oder 2020 die DNA-Analyse soweit fortgeschritten sein würde, dass man mit den Spuren etwas anfangen kann und man deswegen Ganzkörperanzüge braucht.«

Ich dachte immer, dass einhundert Spuren an einem Tatort enorm viel sind, doch Professor Verhoff verneint. Heute hat man allerdings durch das 3-D-Scannen des Tatorts und der umgebenden Räumlichkeiten andere Möglichkeiten Spuren zu qualifizieren. Man kann in das Programm individuell eingeben, um welche Spuren es geht. Man kann das Laborergebnis als Datei anheften oder auch die DNA-Analyse. Dann kann man anhand des Profils alle Blutspuren leuchten lassen, bei dem wir das Profil A haben. Alle, bei denen wir das Profil B haben und alle, wo wir das Profil des Opfers haben. Dadurch kann man größere Datenmengen bewältigen und übersichtlich darstellen, was damals kaum möglich war. Zu der Zeit gab es Fotodokumentationen und die berühmten Spurenaufsteller, die man aus Krimis kennt. Bis wohin die gingen, was genau sie dabeihatten, kann ich nicht sagen.

Heute gibt es die Aufsteller immer noch, die man als Referenz einbringen kann. Da ist man schnell im dreistelligen Bereich.«

»Um noch mal auf den Schädel zu sprechen zu kommen: Wie Frau Lange betonte, kann man anhand der Höhe der Verletzungen Rückschlüsse auf die Größe des Täters ziehen. Macht man das heute auch noch so?«

»Solche Überlegungen werden natürlich angestellt. Dafür brauche ich die Verletzungslokalisation und das Werkzeug, also die Waffe, mit der verletzt wurde. Dann werden Körperhaltungen durchgespielt. Man macht das am besten mit Probanden, die dieselbe Körpergröße haben. Man kann das aber heute auch digital machen, dabei ist der Aufwand deutlich größer. Das Gute daran ist, dass man schnell Parameter ändern kann. Man kann prüfen, ob der Angreifer, wenn er zehn Zentimeter kleiner ist, noch an die Stelle gekommen wäre. Das erspart, immer neue Probanden zu finden, die die entsprechende Körpergröße haben. Man schaut, was die Verletzung verursacht hat und was das vermeintliche Tatwerkzeug war. Auch die mögliche Stelle, gegen die die Person gefallen sein könnte, wie zum Beispiel der Treppenabsatz, das Geländer oder ein anderer Gegenstand, auf den jemand gefallen sein kann, wird in Augenschein genommen. Dafür ist es nötig, sich in der Wohnung umzuschauen. Was käme als Gegenstand in Betracht und wo haben wir mögliche Antragungen, in Form von Blut, Haaren oder Fasern. So wird man viele Varianten auf Plausibilität überprüfen.«

Mehr können wir auch im Nachhinein zu dem Fall nicht sagen. Auch die Verschwörungstheorien werden wir nicht aufklären können.